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„Mächtiger als alles Schicksal ist die Seele“: in diesem königlichen Satze gipfelt die dem Leben überlegene, zum Letzten entschlossene Weisheit Senecas, die ihre erhebende und tröstende Wirkung über die Jahrhunderte hin bis auf Friedrich den Großen und Schopenhauer übte. Aus dem tätigen Leben des Staatsmannes und vielseitigen Denkers erwachsen, der unter Caligula, Claudius und Nero mit römischer Willenshaltung die Würde des Menschen und des Gemeinwesens verteidigte, – unter Caligula verbannt, nach Claudius' Tode (54) Erzieher Neros und fünf Jahre mit der Regierung des Imperiums betraut, schließlich zum Tode verurteilt – wird seine Lehre mehr und mehr die über Tod und Leben erhabene Weisheit des schaffenden Menschen, der seinen Pfad von Unsicherheit, Gefahr und Bosheit umlauert sieht und dennoch sich und sein Werk vollendet in innerem Verzicht auf vergängliche Güter, in gesundem, natürlichem Leben, im Bemühn um sittliche Vervollkommnung und um unerschütterliche Festigkeit den Stürmen des Daseins gegenüber. Hier sind die bedeutendsten und schönsten Stücke seiner Schriften vereinigt zu einer Anleitung, sich und den Alltag täglich neu zu überwinden.

 

 

SAMMLUNG DIETERICH
HERAUSGEBER: RUDOLF MARX
BAND 53

 

 

SENECA


MÄCHTIGER
ALS DAS SCHICKSAL

EIN BREVIER

Übertragen und herausgegeben
von

WOLFGANG SCHUMACHER

 

 

IN DER
DIETERICH'SCHEN VERLAGSBUCHHANDLUNG
ZU LEIPZIG

Alle Rechte vorbehalten · 1942

Einbandentwurf: H. Hußmann
Satz und Druck der Offizin Poeschel & Trepte, Leipzig

 

 

INHALT

Einführung. Von Dr. Wolfgang SchumacherVII
Senecas Bedeutung für die Gegenwart VII – Der Mensch und sein Werk VIII – Der Philosoph XXVI 

 
Von der Kürze des Lebens1
Von der Vorsehung16
Moralische Briefe an Lucilius26
Lies nur bewährte Autoren! 26 – Lege die kindische Geisteshaltung ab! 28 – Suche nicht aufzufallen! 29 – Ich freue mich des Lernens, um lehren zu können 32 – Ziehe dich in dich selbst zurück! 34 – Ich betreibe die Sache kommender Generationen 36 – Einsamkeit ist gefährlich 38 – Wähle dir ein Vorbild! 39 – Erwarte kein langes Leben! 40 – Wenn du philosophierst, steht es gut 42 – Habe Ausdauer! 43 – Gewöhne dich an die Armut! 45 – Bestätige deine Worte mit der Tat! 47 – Verachte den Lohn der Vielgeschäftigkeit! 48 – Lerne dich freuen! 50 – Bereite dich auf den Tod vor! 53 – Deine Fehler mögen vor dir sterben 56 – Nie wollte ich der Masse gefallen 56 – Mach dich selber glücklich! 57 – Beeile dich! 60 – Übernimm selbst das Kommando! 62 – Gott ist in dir 64 – Dinge, die uns die Freiheit rauben 66 – Ein gutes Gewissen 66 – Unsere geistige Haltung verleiht uns Adel 67 – Ich habe mich keinem Meister überantwortet 69 – Sklaven sind Menschen! 72 – Die Menschen strecken dir hilfesuchend die Hände entgegen 74 – Arbeite täglich an deiner Besserung 76 – Ich muß mich durch innere Widerstände hindurchkämpfen 78 – Nimm dir Zeit für moralische Selbstbesinnung 82 – Ich werde nicht vor dem Ende zittern 85 – Wenn nur hier innen keine Unruhe ist 86 – Wie können mich Platons Ideen besser machen? 88 – Mit römischer Willenshaltung philosophieren 92 – Ich bin marschbereit 94 – Überall gehöre ich mir selbst 95 – Sei nicht undankbar gegen das Schicksal 96 – Vermehren wir die empfangenen Einsichten! 97 – Vom Rang der Werte 100 – Die strenge soldatische Zucht des Schicksals 104 – Übe Kritik an dir selbst 106 – Ich habe gesiegt 110 – Wir steigen zu den Göttern auf 110 – Rede und Leben sollen zusammenstimmen 112 – Ich gehe noch in die Schule 116 – Beschäftige dich mit dem besseren Teil deines Wesens 119 – Betrachte dich innerlich 124 – Es geht hier nicht um Lohn 127 – Die Philosophie sei eine uneinnehmbare Mauer 129 – Der heutige Tag war erfüllt mit Wesentlichem 132 – Man muß Schreiben und Lesen vereinen 135 – Aller Besitz ist vom Schicksal geborgt 138 – Weisheit besteht nicht in wissenschaftlichen Kenntnissen 140 – Die Weisheit verdankt jeder sich selbst 145 – Nach den Taten wollen wir unser Leben messen 146 – Das Zusammentreffen mit weisen Männern bringt Segen 150 – Leben heißt Kämpfer sein 150 – Kein Zeitalter ist von Schuld frei 152 – Nicht der Gefangene seines Besitzes sein 152 – Wir sollten nichts aufschieben 153 – Täglich droht dem Menschen vom Menschen Gefahr 155 – Suche dir bessere Genossen! 156 – Aus unseren Worten sollen Taten werden 162 
Vom zurückgezogenen Leben170
Die Trostschrift an Marcia177
Von den Wohltaten187
Naturwissenschaftliche Untersuchungen211
Vorrede 211 – Von den himmlischen Lichterscheinungen 215 – Vom Gewitter 218 – Vom Erdbeben 220 – Von den Kometen 226 
Vom Zorn231

 
Textkritische Bemerkungen243
Verzeichnis der vom Teubnertext abweichenden Lesarten247
Zum Bildnis Senecas250
Verzeichnis der ausgewählten Stücke251
Register254

 

 

[VII]

EINFÜHRUNG

SENECAS BEDEUTUNG FÜR DIE GEGENWART

»Sie mögen die finsteren Leute nicht – aber glauben Sie mir, sie helfen sehr.« So äußerte sich Friedrich der Große zu seinem Vorleser de Catt[1] in einem besonders schwierigen Augenblick seines Lebens. Dankbar gedachte der von seinen Feinden eingeschlossene, von seinen politischen Freunden verlassene Herrscher der Hilfe, die ihm in schweren Stunden die Beschäftigung mit der stoischen Philosophie gebracht hatte. »Glauben Sie mir – sie helfen sehr« – treffender könnte man die Schriften Senecas nicht charakterisieren.

Wirklich ist Seneca als ein großer Nothelfer durch die Jahrhunderte gegangen. Seine Schriften fanden die Bewunderung des Kirchenvaters Hieronymus, sie trösteten den römischen Senator Boethius im Gefängnis, sie wurden von Dante zitiert und von Rubens verehrt, sie entlockten sogar dem Erasmus[2], der mit Lob sparsam umzugehen pflegte, das Bekenntnis, sie müßten von allen gelesen werden, die nach einem sittlichen Leben streben. Noch vor 150 Jahren nannte J. Weber[3], der Herausgeber einer Seneca-Auswahl, [VIII]in überschwenglichen Worten, aber mit rührender Verehrung Senecas Werk »die einzig wahre Philosophie«. Unzählbar aber sind die Namen derer, denen Seneca im Mittelalter wie in der neueren Zeit Freund und Tröster wurde, ein Halt in schweren Stunden, ein mahnender Warner in Augenblicken der Schwäche, ein dauernder Ansporn zu ernster Arbeit an sich selbst. Heiden und Christen haben Seneca geschätzt; denn seine Schriften stehen in ihrer Weite und Toleranz über den Konfessionen und reichen in ihrer Tiefe bis zu den Quellen des lebendigen sittlichen Empfindens, das für alles echte religiöse Suchen der Menschheit Voraussetzung und Grundlage bildet. Gerade in Zeiten großer äußerer und innerer Erschütterungen hat Seneca seine helfende Kraft zu wiederholten Malen bewiesen. Mit tiefem Verständnis für das Wesen Senecas sagt Knoche[4], es bleibe das Geheimnis seiner Lehre, daß sie plötzlich wieder aktuell werden könne. Vielleicht ist gerade die Gegenwart eine Zeit, in der Senecas Wort wieder lebendig werden kann, lebendig und heilsam für alle ernsthaft strebenden Menschen, die in stürmischer Zeit nach einem Halt und Führer in weltanschaulichen und sittlichen Fragen suchen.

DER MENSCH UND SEIN WERK

Lucius Annaeus Seneca wurde um Beginn unserer Zeitrechnung in Corduba in Spanien als Sohn eines römischen Ritters geboren. Senecas Vater ist uns bekannt als der Verfasser eines Buches über Rhetorik. Wir dürfen also annehmen, daß der Sohn schon vom Vater zur Pflege eines guten und eindrucksvollen [IX]Stiles angehalten wurde. Seneca kam früh nach Rom und genoß bei tüchtigen philosophischen Lehrern eine gründliche Erziehung. Als junger Mann unternahm er eine längere Reise nach Ägypten, von der er so tiefe Eindrücke heimbrachte, daß sein Interesse an diesem eigenartigen Lande bis in sein hohes Alter wach blieb. Nach der Rückkehr aus Ägypten beschritt er, wie dies bei vornehmen Römern üblich war, die politische Laufbahn. Es war dies die Laufbahn des kaiserlichen Beamten. Die politischen Würden des Konsuls und Praetors waren nicht mehr von jenem Mythos römischer Freiheit umwoben, wie zu Ciceros Zeit. Der Konsul war praktisch nur ein Titelträger ohne eigene Machtbefugnisse, und auch die übrigen Würdenträger waren nur noch ergebene kaiserliche Beamte. Als Augustus 14 n. Chr. starb, machte keiner dieser hohen Staatsbeamten mehr den Versuch, die republikanische Freiheit wieder herzustellen. Widerspruchslos fügte man sich in die von Augustus festgelegte Erbfolge des Tiberius. Hatte Augustus noch die republikanische Form gewahrt, von Zeit zu Zeit Berichte vor dem Senat über seine Regierungstätigkeit abgegeben und sich seine Machtbefugnisse formell neu bestätigen lassen, so trat Tiberius bereits als unumschränkter Monarch auf. Sein Nachfolger Caligula ging noch einen Schritt weiter und ließ sich bereits zu Lebzeiten als Gott verehren. Die Rechtsunsicherheit wuchs. Hunderte von unschuldigen Bürgern fielen der Verdächtigungssucht des Tiberius und Caligula zum Opfer. Unter Caligula trat Seneca zuerst stärker hervor. Schon damals – etwa um das Jahr 37 – erregten seine rednerischen Erfolge solches Aufsehen, daß der Kaiser Caligula auf den jungen Quaestor eifersüchtig wurde und ihn beseitigen wollte. [X]Nur das Gerücht von einer schweren Erkrankung Senecas hinderte Caligula an der Ausführung seines Vorhabens. In dieser Zeit verfaßte Seneca eine uns nur als Fragment erhaltene Schrift über die Ehe und die erste vollständig überlieferte Abhandlung, die »Trostschrift an Marcia«. Die Schrift ist an eine vornehme und gebildete Römerin anläßlich des Todes ihres Sohnes gerichtet und trägt noch in schulmäßiger Weise die damals üblichen philosophischen Trostgründe gegenüber den Wechselfällen des Schicksals vor. Bald darauf setzte eine Verschwörung dem hemmungslosen Treiben des Caligula ein gewaltsames Ende. Die kaiserliche Leibwache erhob nun dessen Onkel Claudius auf den Kaiserthron. Äußerlich war Claudius keine heroische Erscheinung; denn er hinkte und stotterte. Nach den furchtbaren Greueln der Caligula-Zeit aber mußte der philologisch und historisch ernsthaft interessierte, wenn auch weltfremde Claudius als Repräsentant einer neuen besseren Zeit erscheinen. Damals veröffentlichte Seneca seine große Abhandlung »Über den Zorn«, in der er Selbstbesinnung, Selbsterziehung und Menschenliebe predigte. Die Schrift fand großes Interesse und soll sogar den Kaiser Claudius, der sehr jähzornig war, veranlaßt haben, Besserung zu geloben.

Aber die Zeit der öffentlichen Anerkennung Senecas sollte nicht lange dauern. Auf Betreiben der Kaiserin Messalina, die in ihm einen politischen Gegner sah, wurde er nach Korsika verbannt.

Furchtbar muß dieser Schlag für den jungen, erfolgreichen Politiker und Schriftsteller gewesen sein. Aus dem Zentrum der Bildung, aus einem reichen Wirkungskreis wurde er herausgerissen und unter fremdsprachige Bergstämme versetzt. Aber sein Selbstgefühl [XI]ist noch nicht gebrochen. Er verfaßt[5] den Dialog »Über die Unerschütterlichkeit des Weisen«. Als wolle er sich selbst ermahnen, schreibt er dort: »Den nenne ich einen tapferen Mann, den Kämpfe nicht niederzwingen, den feindliche Gewalt nicht schreckt, der sich selbst unter trägen Völkern nicht unnützem Nichtstun ergibt. Schweres soll man gelassen tragen und Erfreuliches mit weiser Mäßigung.« Was das Schicksal nicht gibt, kann es nicht nehmen. Den sittlichen Charakter kann uns niemand rauben. »Der Weise aber kann nichts verlieren, alles Gewicht liegt in ihm selbst, nichts verdankt er dem Schicksal, seine wahren Werte hat er in Sicherheit gebracht, er begnügt sich mit dem Bewußtsein der Rechtmäßigkeit seines Verhaltens.« Als Ideal erscheint ihm der Philosoph Stilpon, der dem Eroberer und Plünderer seiner Vaterstadt Megara auf die Frage, ob er etwas verloren habe, das stolze Wort entgegenhielt: »All mein Eigentum trage ich bei mir[6]

In der ersten Zeit seiner Verbannung schreibt Seneca ferner eine Trostschrift für seine Mutter Helvia, die sich über seine Zukunft schwere Sorgen machte. Er erklärt ihr, der Ortswechsel sei nichts Schlimmes. Der geistig rege Mensch sei überall zu Hause. Die Werte des Geistes stünden ihm in jedem Lande zur Verfügung. Als er noch acht lange Jahre auf Korsika verbringen muß, wird seine Stimmung jedoch trüber und der Wunsch, nach Rom zurückzukehren, immer stärker. So sucht er jede Gelegenheit wahrzunehmen, [XII]die ihm eine Änderung seiner Lage bringen könnte. Er schreibt eine Trostschrift für einen ihm wohlgesinnten Günstling am Hofe[7], in der auch mit freundlichen Worten für den Kaiser nicht gespart wird. Man hat ihm später – nicht ganz mit Unrecht – wegen dieser Schrift den Vorwurf der Schmeichelei gemacht. Doch solche Worte gehörten zum Stil der römischen Kaiserzeit. Auch Horaz, Ovid und Martial nehmen den Mund oft recht voll. Senecas Versuch, sich dem Kaiser in Erinnerung zu bringen, blieb jedoch erfolglos.

Erst die zweite Gemahlin des Claudius, Agrippina, setzte im Jahre 49 n. Chr. die Rückberufung des nun über Fünfzigjährigen durch. Seneca wurde Praetor und Erzieher Neros, ihres Sohnes. In dieser Zeit schrieb Seneca sein Buch »Über die Kürze des Lebens«, in dem er Hinweise auf eine würdige Lebensgestaltung im Dienste hoher sittlicher Aufgaben gibt. Im Jahre 54 stirbt Claudius, und Seneca verfaßt eine boshafte Spottschrift auf ihn, die »Verkürbissung«. Nach dem Tode des Claudius regierte Seneca zusammen mit seinem Freunde Burrus, der die militärische Gewalt in Händen hatte, als Berater des jugendlichen Nero 5 segensreiche Jahre lang (von 54–59) fast unumschränkt das römische Weltreich. Als ernste Mahnung richtet er an Nero eine Schrift »Über die Milde«, in der er dem jungen Kaiser seine hohen Pflichten als Herrscher vor Augen führt. Die Regierungsgrundsätze, die er dem jungen Herrscher empfiehlt, sind hohe Ideale. Ihre Verwirklichung durch Nero schwebt ihm vor. Er knüpft an ein Erlebnis seines Freundes Burrus an. Burrus hatte dem jungen Nero ein Urteil gegen Straßenräuber zur Unterzeichnung [XIII]vorgelegt. Nero schob die Unterzeichnung immer wieder hinaus und rief schließlich aus: »Ich wollte, ich könnte nicht schreiben!« Dieses Erlebnis zeugt dafür, daß in Nero manch gute Charakteranlage steckte, die aber später bei seiner großen Willensschwäche von niederen Triebkräften überwuchert wurde. Anknüpfend an diesen Ausspruch Neros, empfiehlt Seneca dem Kaiser, immer wieder mit großer Eindringlichkeit, auf dem Weg der Milde und Zurückhaltung weiterzuschreiten: »Schonung soll man sogar den Bürgern, die Unrecht tun, zuteil werden lassen, wie man dies auch mit ermattenden Gliedern zu tun pflegt, und wenn einmal Blutvergießen nötig ist, soll man die Hand zurückhalten, damit sie nicht tiefer als nötig einschneidet[8].« Das Schreckensregiment des Caligula steht Seneca noch deutlich vor Augen, und so betont er, daß die Zusammenfassung aller Macht in einer Hand dem Herrscher eine gewaltige sittliche Verantwortung aufbürdet. Wie die Königin der Bienen ohne Stachel ist, so soll auch der Herrscher der Menschen milde und edel sein: »Ein guter Monarch beherrscht sich selbst und dient dem Volke. Keines Menschen Blut achtet er gering: Es ist das Blut eines Feindes, aber eines Mannes, der einmal mein Freund werden kann. Es ist das Blut eines Schädlings, aber doch eines Menschen[9]

Eine »konstitutionelle Monarchie« unter aktiver Mitwirkung des Senats scheint Senecas Ideal gewesen zu sein, ein Ideal, das die späteren Kaiser Trajan und Hadrian, z. T. in bewußter Anlehnung an Seneca, in die [XIV]Wirklichkeit umzusetzen strebten. Seneca suchte den Einfluß des Senats wieder zu stärken und wollte im Kaiser nur den Ersten unter Gleichberechtigten sehen: »Über Sklaven zu herrschen ist ein Unterfangen, das wenig Lob verdient. Wieviel richtiger ist es dagegen, freie und edle Menschen, die Ehrgefühl haben, nicht wie Sklaven zu behandeln, sondern wie Gleichberechtigte, denen man nur um einen Schritt voraus ist[10].« Die Liebe des ganzen Volkes sichert das Leben eines solchen Herrschers. Die guten Wünsche aller begleiten ihn auf jedem Schritt. Im geheimen spricht man über ihn ebenso wie in der Öffentlichkeit. Seneca betont immer wieder, er habe die feste Zuversicht, daß Nero dieses hohe Herrscherideal verwirklichen werde. Eigenartig aber mutet es inmitten dieser vielfachen Beteuerungen seines Zutrauens an, wenn Seneca sagt: »Niemand kann auf die Dauer eine Maske tragen. Wer eine bestimmte Haltung nur zum Scheine angenommen hat, fällt bald wieder in seine wahre Natur zurück[11]

Ahnte Seneca schon, welche Gefahren in Neros zwiespältigem Charakter lagen? Zunächst setzte er wohl noch große Hoffnungen auf die Früchte seiner Erziehungsarbeit. Aber er sollte bald enttäuscht werden. Die üblen Anlagen und Neigungen des psychopathischen Kaisers traten immer stärker hervor. Seneca suchte sie zunächst in ungefährliche Bahnen zu lenken. Auch als Nero seine Mutter Agrippina ermorden läßt, tritt Seneca noch nicht zurück. Wohl hofft er noch immer, durch seinen Einfluß den Größenwahn und Blutrausch Neros eindämmen zu können, wenn er auch spürt, daß seine Macht im Sinken ist. Aus seinen Schriften können wir seine damalige Stimmung [XV]ablesen. Wir dürfen sie als »Bruchstücke einer großen Konfession« ansehen. In einer damals verfaßten Abhandlung »Von der Gemütsruhe« spricht er von der heroischen Haltung des Soldaten, der auch auf verlorenem Posten noch seine Pflicht tut: »Sei Soldat im Geiste! … Wenn dich das Schicksal vom ersten Platz im Staate verdrängt, bleibe auf deinem Posten und hilf durch deinen Zuruf; und wenn man dir die Kehle zudrückt, bleibe auf deinem Posten und hilf durch dein Schweigen. Niemals ist die Anstrengung eines guten Bürgers nutzlos. Sein Wort, seine Erscheinung, seine Miene, sein Wink, seine schweigende Beharrlichkeit, sein Kommen und Gehen ist von segensreicher Wirkung. Wie manche Heilmittel, ohne daß man sie schmeckt und berührt, schon durch ihren Geruch heilsam wirken, so wirkt rechtes sittliches Verhalten segensreich auch aus der Entfernung und im Verborgenen[12]

Auf diesen segensreichen Einfluß seiner bloßen Anwesenheit am Hofe Neros mag Seneca in den drei letzten Jahren (von 59–62) seiner politischen Tätigkeit gehofft haben. Aber seine Macht schwindet immer mehr und damit auch die Hoffnung, den Cäsarenwahnsinn Neros noch bändigen zu können. Als sein Freund Burrus, der Präfekt der Garde, stirbt, tritt er zurück. Wieder klingt es wie ein mutiges Selbstbekenntnis, wenn er jetzt[13] schreibt: »Wenn der Staat so verdorben ist, daß ihm nicht mehr geholfen werden kann, wenn die minderwertigen Elemente die Oberhand gewonnen haben, dann wird sich der Weise nicht mehr unnütz anstrengen noch seine Kräfte ohne zweckvolle Wirkung verschwenden.« Jetzt erscheint [XVI]ihm das Erziehungswerk, das die großen Philosophen an der Menschheit vollbrachten, bedeutender als alle politische und militärische Tätigkeit. Das zurückgezogene Leben dieser Männer habe über Zeiten und Grenzen hinweg der Menschheit mehr Segen gebracht als alle Geschäftigkeit der anderen. Nach diesen alten Vorbildern gestaltet er nun sein eigenes weiteres Leben.

Mit unermüdlicher Energie macht er sich an die Arbeit und vollendet in diesen letzten Lebensjahren (von 62–65) seine bedeutendsten Werke: Die »Moralischen Briefe an Lucilius«, die »Naturwissenschaftlichen Untersuchungen«, die Abhandlung »Von der Vorsehung«, die leider verlorenen Schriften: »Über den Aberglauben« und die systematische Darstellung der moralischen Probleme. Wahrscheinlich noch kurz vor seinem Ausscheiden aus dem Amte hatte er die Abhandlung »Von den Wohltaten« geschrieben, ein Werk, das unter seinen Schriften eine Sonderstellung einnimmt. In dieser weniger bekannten Schrift zeigt sich Seneca, der Lehrer praktischer Lebensweisheit, der lebensvolle und geistreiche Darsteller stoischer Weltanschauung, von einer ganz anderen Seite. Wenn Seneca schon in seinen Dialogen und Briefen den oft spröden Stoff lebensnah und interessant zu gestalten weiß, wenn er niemals in den trocknen Ton des überheblichen Sittenpredigers verfällt, wenn er immer Worte warmen, menschlichen Verstehens findet, so zeigt er in seiner Abhandlung »Von den Wohltaten« soziales Verständnis und menschliche Hilfsbereitschaft von einem Ausmaß, das selbst der beste Kenner seiner übrigen Schriften bei ihm nicht vermutet hätte. Was über das Helfen, über die Beziehungen von Mensch zu Mensch an großen und [XVII]edlen Gedanken gedacht werden kann, hat Seneca hier zusammengefaßt. Dieses warme menschliche Mitempfinden trübt ihm aber den Blick nicht für all die Mißgriffe und Fehler, die möglich sind, wenn ein Mensch dem anderen helfen will. Soziale Anschauungen, die noch vor 20 Jahren auf völlige Verständnislosigkeit in der bürgerlichen Gesellschaft gestoßen wären, werden von einem Senator des römischen Weltreichs mit selbstverständlicher Klarheit vorgetragen. Doch spricht aus diesen Schriften nicht die kühle Unnahbarkeit des über die Welt erhabenen Richters, sondern die menschliche Wärme eigenen Erlebens, die Sprache des Freundes, der aus eigener Erfahrung und eigenem Ringen Rat und Hilfe spendet. Trotz mancher Anklänge an christliche Gedanken ist ein Einfluß des Christentums auf Seneca nicht nachgewiesen. Der überlieferte Briefwechsel zwischen Seneca und Paulus ist eine spätere Fälschung.

L. ANNAEUS SENECA
(Quelle: Wikipedia)

Auch eine Anzahl Tragödien, in denen Stoffe der griechischen Sagenwelt behandelt werden, sind unter Senecas Namen überliefert. Schon die Titel dieser Tragödien lassen ihren Inhalt ahnen: Im »Thyestes« wird dem Titelhelden von seinem rachsüchtigen Bruder das Fleisch seiner eigenen Kinder vorgesetzt. »Der rasende Herkules« erschlägt in einem Anfall von Geistesverwirrung seine Frau und seine Kinder. »Oedipus« blendet sich selbst. »Medea« zerstückelt ihre eigenen Kinder. Auch »Agamemmnon« und »Herkules auf dem Oeta« sind nicht minder grausig. Greuelszenen, von denen man in den gleichnamigen griechischen Tragödien nur durch Botenerzählungen erfährt, werden bei Seneca voll ausgespielt. Man hat aus diesem Grunde bezweifelt, ob die Tragödien zur Aufführung bestimmt waren. Vermutlich mit Unrecht; denn die [XVIII]Nerven des an Gladiatorenspiele gewöhnten römischen Publikums waren abgestumpft.

Lessing urteilt[14] noch sehr milde, wenn er vom Autor der Tragödien sagt: »Er ist mit den poetischen Farben allzu verschwenderisch umgegangen.« Treffender hat man Senecas Tragödienstil »gladiatorisch« genannt[15]. Trotz dieser offensichtlichen Mängel haben aber die Tragödien lange Zeit hindurch – von der Renaissance bis zu Andreas Gryphius, Corneille und Racine – als anregende Vorbilder bedeutenden Einfluß auf die Entwicklung des modernen Dramas gehabt. Die Verurteilung dieser Tragödien, die man im vorigen Jahrhundert aussprach, ist durch verdienstvolle neuere Arbeiten einer Revision unterzogen worden[16]. So fremd uns heute die grausigen Themen dieser Tragödien anmuten, so seltsam die übersteigerten Affektausbrüche ihrer Helden auf uns wirken, es läßt sich nicht bestreiten, daß mit diesem Interesse am menschlichen Affekt ein bedeutsamer Schritt in Richtung auf das moderne psychologische Drama getan ist.

Eine große Anzahl schöner Sentenzen in den Tragödien zeugt zudem davon, daß Seneca bemüht war, auch auf diesem Wege im Sinne der moralischen Erziehungsarbeit seiner philosophischen Abhandlungen zu wirken.

Eine zentrale Stellung nimmt der Gedanke des Todes in Senecas Tragödien ein, wie er auch in den Prosaschriften immer wieder auftaucht. Die Todesbereitschaft seiner Helden steigert sich nicht selten zu einer [XIX]überschwenglichen Todessehnsucht, und manche Chorlieder der Tragödien sind wahre Hymnen auf den Tod, der als »rettender Ausweg«, als »stiller Hafen« und »erhabener Friede« gepriesen wird[17]. Hier spiegeln die Tragödien ohne Zweifel die Stimmung einer Zeit wider, deren Menschen unter der Schreckensherrschaft eines Caligula und Nero in ständiger qualvoller Ungewißheit lebten und für die nach einem Ausspruch der Tragödien »das Sterben manchmal eine Strafe, oft aber ein Geschenk« war[18]. So sind Senecas Tragödien für uns heute noch als Marksteine in der Geschichte des Dramas und als Kulturdokumente der neronischen Zeit interessant und aufschlußreich.

Die Abfassungszeit der Tragödien fällt in die Jahre 52 bis 65 n. Chr., also in Senecas Hauptschaffensperiode. Noch bis in die letzten Lebensjahre haben ihn Tragödienstoffe beschäftigt.

Nur bei äußerster Anspannung aller Kräfte – so bekennt er in der Einleitung zu den »Naturwissenschaftlichen Untersuchungen« – konnte diese Arbeitslast bewältigt werden: »Es drängt mich das Alter und macht mir die Jahre zum Vorwurf, die ich unter sinnlosen Bestrebungen versäumt habe. Um so mehr müssen wir vorwärts drängen und den Verlust der schlecht ausgenutzten Zeit durch stärkere Anstrengung gut machen. Die Nacht muß zum Tage hinzugenommen werden, die Alltagsbeschäftigungen müssen zurückgestellt werden. Man muß ganz für sich Zeit haben und zur Betrachtung seiner selbst wenigstens am Lebensende kommen[19]

Mitten in diesem unermüdlichen Schaffen traf ihn [XX]Ende April 65 n. Chr. das lange erwartete Todesurteil Neros. Kurz vorher noch hatte er an seinen Freund Lucilius geschrieben: »Ich beobachte mich, als käme wie eine Bewährungsprobe der Tag, der über alle meine Jahre das Urteil sprechen wird, und ich sage mir: Ohne Bedeutung ist, was ich bisher mit Wort und Tat geleistet habe. Das sind nur schwache und trügerische Beweise meiner Gesinnung, umhüllt mit mancherlei Prunk. Meinen Fortschritten kann ich erst im Angesicht des Todes Glauben schenken. Furchtlos bereite ich mich daher auf den Tag vor, wo ich ohne viele Worte ungeschminkt über mich werde urteilen können, ob ich nur tapfere Worte machte oder wirklich so empfand, ob es nur Verstellung und Komödie war, was ich an trotzigen Worten gegen das Schicksal schleuderte. Laß das Urteil der Menschen beiseite, es wird immer zweifelhaft sein. Laß auch die wissenschaftlichen Studien außer acht, die du dein ganzes Leben lang betrieben hast: Der Tod wird über dich das Urteil sprechen![20]«

Diese letzte Bewährung hat Seneca dann wirklich mit sokratischer Ruhe und Sicherheit bestanden. Die Wahl der Todesart wurde ihm überlassen. Er tröstete die versammelten Freunde und öffnete sich im Bade die Pulsadern.

Selten hat wohl das Schicksal einen Menschen so durch alle Höhen und Tiefen des Daseins geführt wie Seneca. Selten auch hat ein Mensch soviel Ruhm genossen und soviel Neid und gehässige Nachrede erfahren wie er. Selten hat ein Philosoph soviel Macht in einem Staate besessen oder ein Staatsmann so starke philosophische Interessen gehabt. Dem Tode hat er oft ins Auge gesehn. An ihm offenbart sich [XXI]»jene ergreifende Todesbereitschaft der römischen Aristokratie … die Todvertrautheit einer ganzen sozialen Schicht, die zu sterben verstand wie wenige vorher und nachher in der Welt[21]

Ein so ungewöhnliches Leben und Wirken läßt sich nicht mit dem Maßstab bürgerlicher Wohlanständigkeit messen. Es war ein recht billiges Unterfangen, wenn neuere Gelehrte nachweisen wollten, wie Seneca in dieser oder jener Situation seines bewegten Lebens hätte handeln sollen. Wohl hat er sich zu manchem Zugeständnis bereit gefunden, wohl hat er manche unwürdige Tat seines Herrschers gedeckt: aber die letzten Motive seines Handelns sind uns verborgen, und so sollten wir auch mit unserem Urteil zurückhaltend sein. Wohl stand sein ungeheurer Reichtum in Gegensatz zu der unermüdlichen Verherrlichung der Armut in seinen Schriften. Er war sich aber seiner Unvollkommenheit selbst bewußt und hat sich nicht gescheut, auf Fehler in seinem Charakter selbst hinzuweisen. Seine Briefe und Dialoge zeigen sein ernstes Ringen um moralischen Fortschritt und erhalten dadurch ihre warme, menschliche Nähe. An Lucilius schreibt er drastisch: »Was ich in der Zurückgezogenheit treibe? Ich heile mein Geschwür[22].« Seneca stellt sich nicht auf den Boden einer dem Durchschnittsmenschen unerreichbaren Vollkommenheit, sondern lehrt unermüdlichen Kampf um menschliche Größe gegen menschliche Schwächen.

Als einen Sachwalter der Götter hat Seneca sich selbst bezeichnet, und als Sachwalter hoher sittlicher Ideen, geistiger Bildung, edler Menschlichkeit und großzügiger [XXII]Milde durfte er sich auch am Hofe eines Nero fühlen. Ganz umsonst war sein Mühen nicht; denn ein so strenger Kritiker wie der spätere Kaiser Trajan sagte von den ersten fünf Jahren der Regierung Neros, sie seien die glücklichsten gewesen, die Rom je gesehen habe. Sein geistiges Erbe aber hat den Untergang Roms überlebt. Was er seinem Freunde Lucilius versprach, ist eingetroffen: »Die Anerkennung der Nachwelt ist mir sicher, ich vermag den Namen, die ich nenne, Dauer zu verleihen[23]

 

Senecas Sprachstil ist sehr gewählt, manchmal sogar etwas gekünstelt. Den klassischen Periodenbau Ciceros sucht er nicht nachzuahmen. Knapp und gedrängt ist oft sein Ausdruck. Jedes Wort ist auf seine Wirkung berechnet. Auch an Senecas Prosa merkt man, daß er Verse schreiben konnte. Die großen rhetorischen Mittel der persönlichen Anrede, der Wiederholung, der Steigerung und der Antithese wendet Seneca gern an, nicht immer mit genügender Zurückhaltung. Er ist ein Meister der Antithese. Die Freude an der Formulierung verführt ihn manchmal zu gewagten Behauptungen. Man darf ihn dann nicht immer aufs Wort festlegen. So zieht er in den »Naturwissenschaftlichen Untersuchungen« die Astronomie allen anderen Wissenschaften vor, weil sie den Menschen über das Irdische erhebt und sein Gesichtsfeld weitet. Das war vermutlich seine wirkliche Meinung; denn auch an vielen anderen Stellen äußert er sich ähnlich. Die gleiche Astronomie aber verdammt er in einem Brief an Lucilius und bezeichnet sie als überflüssige Fachwissenschaft, weil er jetzt den Nachweis führen will, daß die Philosophie wertvoller ist als die beschränkten [XXIII]zweckgebundenen Fachwissenschaften. Solche Widersprüche sind bei ihm nicht selten. Sein Stil war in rhetorischer Manier oft ganz auf Augenblickswirkung eingestellt[24]. Es entging ihm wohl, daß darunter die Einheitlichkeit und die Klarheit der Gedankenführung leiden mußten. Wenn man aber angesichts dieser rhetorischen Manier manchmal in Versuchung kommt, Zweifel an dem Ernst seines philosophischen Denkens zu hegen, so wirkt doch die klare Selbstkritik und die überraschende Offenheit, mit der er gesteht, er habe sich noch nicht ganz von rhetorischen Spielereien freigemacht, wieder versöhnend[25].

Weiter hat Seneca eine ausgesprochene Vorliebe für Anekdoten. Jede Behauptung weiß er durch packende Beispiele aus der Geschichte zu belegen. Mit Vorliebe erwähnt er Cato oder die alten Philosophen und Weisen. Aber auch aus dem heroischen Kampf des römischen Adels gegen die Willkürherrschaft der ersten römischen Cäsaren hat er manche bemerkenswerte Einzelheit überliefert, so die ergreifende Geschichte vom Tode des Canus[26], einem Opfer des Caligula. Bis zur Todesstunde trieb Canus nach seiner Verurteilung im Gefängnis ein Brettspiel und verabschiedete sich dann, als die Henker ihn abholten, ruhig von seinen Freunden mit den Worten: »Was seid ihr traurig? Ihr stellt noch Untersuchungen an, ob die Seelen unsterblich sind. Ich werde es bald wissen.« Seneca verweist auf ihn als auf ein leuchtendes Vorbild unermüdlichen Wahrheitsstrebens: »Nicht nur bis zum Tode, sondern sogar aus dem Tode selbst noch hat er gelernt. Niemand hat länger philosophiert.« So weiß Seneca immer durch das geschichtliche [XXIV]Beispiel zugleich seinen moralischen Thesen Nachdruck zu verleihen.

Neuere Forscher haben Seneca geradezu als einen Denker römischer Willenshaltung bezeichnet. Sie trafen damit einen charakteristischen Zug seines Wesens. Liebt er doch den zwei Generationen älteren römischen Philosophen Quintus Sextius besonders, weil er »zwar mit griechischen Worten, aber in römischer Willenshaltung philosophiert«. Die Entschlossenheit, der Wirklichkeitssinn und die Unbeugsamkeit des Römers spricht aus jeder Zeile, die Seneca geschrieben hat. Auch seine Vorliebe für Beispiele aus der militärischen Sphäre entspringt dieser römischen Willenshaltung: Wie eine Festungsmauer soll uns die Philosophie vor den Unbilden des Lebens schützen. Wie in einer geschlossenen Schlachtlinie soll der Mensch durchs Leben gehen, sich nach allen Seiten sichern, von allen Seiten Angriff und Überfall erwarten.

So hat Seneca in seinem Werk die edelsten Züge des Römertums unsterblich gemacht, und dies, ohne daß dadurch die Weite seines Blickfeldes eingeengt wurde. Als Mensch ragt Seneca weit über seine Zeit hinaus. Als einziger im heidnischen Altertum erhebt er seine Stimme gegen die Sklaverei, gegen die Tierhetzen und die blutigen Gladiatorenspiele.

Erstaunlich ist Senecas Bescheidenheit. Fünf Jahre lang hat er die damals bekannte Welt regiert. Aber nicht ein einziges Mal erwähnt er in seinen zahlreichen Schriften diese seine politische Tätigkeit, obwohl er sonst gern Beispiele aus der jüngeren Geschichte anführt und sich auf den Vorgang Ciceros hätte berufen können, der keine literarische Gelegenheit versäumte, seine politische Tätigkeit ins Licht zu rücken. [XXV]Wenn wir bei Kenntnis der politischen Zusammenhänge auch in Senecas Schriften vielfach versteckte Bekenntnisse eigener Erfahrungen sehen dürfen, so würde doch ein Leser, der diese Zusammenhänge nicht kennt, niemals auf den Gedanken kommen, dieser bescheidene Philosoph und Gelehrte sei einer der mächtigsten Staatsmänner der Welt gewesen.

Von der Lebendigkeit seines Geistes zeugt sein eifriges Bildungsbedürfnis. Noch als alter Mann besucht er die Vorlesungen eines Philosophen und weist den leichten Spott seines Freundes Lucilius zurück mit dem Bemerken, man müsse, solange man lebt, lernen, wie man leben soll.

Er ist kein Freund der lauten Geselligkeit. Die philosophische Lektüre auf dem Ruhebett zieht er dem Theater und Zirkus vor. Seine stets anfällige Gesundheit mag diese Neigung begünstigt haben. Gern versammelt er auch einen Kreis gebildeter Freunde um sich und läßt nach einem einfachen Mahle das Werk eines griechischen oder römischen Philosophen vorlesen. Doch begnügt er sich nicht mit der theoretischen Fortbildung. Am Leben selbst und aus den eigenen Fehlern sucht er zu lernen. In einer Selbstbetrachtung am Abend läßt er jeden Tag noch einmal an sich vorüberziehen und unterwirft sein Verhalten einer kritischen Prüfung: »Alle Kräfte unserer Seele müssen gefestigt werden. Von Natur sind sie bildsam, wenn wir sie nicht selbst herabwürdigen. Wir müssen uns daher täglich zur Rechenschaft ziehen. Das tat Sextius, wenn er sich nach vollbrachtem Tagewerk fragte, sobald er sich zur nächtlichen Ruhe begeben hatte: Welchen schlechten Charakterzug hast du heute bei dir geheilt? Welcher schlechten Anlage hast du widerstanden? In welchem Punkte bist du besser [XXVI]geworden? … Auch ich mache von dieser Möglichkeit Gebrauch und halte täglich eine Gerichtsverhandlung bei mir ab. Sobald das Licht fortgetragen ist und meine Frau, die meine Gewohnheit schon kennt, schweigt, durchforsche ich meinen ganzen Tag und überdenke in der Rückschau, was ich getan und gesagt habe. Nichts verberge ich mir, nichts übergehe ich. Warum sollte ich auch meine Fehler fürchten, da ich doch sagen kann: Sieh zu, daß du es nicht wieder tust, heute verzeihe ich dir[27]

Unermüdlich ist Seneca auf eigene und fremde Besserung bedacht, fuchtlos sieht er dem Tode entgegen, jeden Tag nützt er so aus, als ob es der letzte wäre, und so darf er seine Lebensweisheit in die schönen Worte zusammenfassen: »Bevor ich ein alter Mann war, bemühte ich mich um ein würdiges Leben, jetzt im Alter aber um ein würdiges Sterben[28]

DER PHILOSOPH

Als Philosoph hat Seneca ein eigenes System nicht geschaffen. Er stützt sich vor allem auf die Stoiker. Chrysippos, Zenon und Kleanthes, die Väter der stoischen Schule, werden oft erwähnt, ebenso die Stoiker Ariston von Chios, Hekaton Panaitios und Poseidonios. Die stoische Schule wurde im 4. Jahrhundert v. Chr. von Zenon in Athen begründet. Ihm folgten Kleanthes und Chrysippos. Letzterer war literarisch sehr fruchtbar und ließ sich die systematische Ausarbeitung der Schullehre besonders angelegen sein. Wie schon Heraklit, vertritt die Stoa die Lehre von einer ordnenden Weltvernunft, dem Logos, der zugleich als aktives Prinzip gedacht wird. Der Logos durchdringt [XXVII]die ganze Welt. Durch ihn wird das kosmische Geschehen vernünftig und zweckmäßig. Aus dieser Anschauung leitet sich die stoische Lehre von der Vorherrschaft der Vernunft in allen Lebensfragen ab. Der Rationalismus prägt auch das Gesicht der stoischen Ethik. »Richtig« leben heißt für die Stoa: in Übereinstimmung mit der Vernunft leben. Die unvernünftigen Affekte gelten als Verwirrungen des Geistes und sollen der Vernunft untergeordnet werden. Dabei vertritt die Stoa einen moralischen Optimismus: der Mensch ist von Natur gut, nur die unvernünftigen Triebe haben seine vernünftige Anlage gestört. Übereinstimmung mit der Vernunft ist also zugleich auch Übereinstimmung mit der eigensten Natur des Menschen. Es ist Sache des Menschen, sein Leben würdig, nach den Grundsätzen der Vernunft zu gestalten.

Die Stoa schuf das Idealbild des »Weisen«, der frei von Leidenschaften ist und mannhaft sein Schicksal trägt. Nur wer vernunftgemäß und sittlich lebt, ist glücklich. Die Tugend ist der höchste Wert. Aus der tugendhaften Haltung entspringt die rechte Tat. Tätigsein ist sittliche Pflicht. Das Ethos der Arbeit wird von der Stoa im Gegensatz zu Epikur hoch geachtet. Besonders die Arbeit für die Gemeinschaft, für den Staat gilt als sittlich wertvoll. Der soziale Sinn der stoischen Schule vertieft sich später zu umfassender Menschenliebe.

Manche Einseitigkeiten der ursprünglichen stoischen Lehre sind von den späteren Stoikern gemildert oder beseitigt worden. So tritt schon bei Panaitios aus Rhodos (180–110 v. Chr.), dem Begründer der sogenannten mittleren Stoa, die wirklichkeitsfremde Theorie vom Weisen mit allen ihren paradoxen Konsequenzen [XXVIII](alle Nichtweisen sollten geisteskrank sein) zurück hinter dem Interesse am »Fortschreitenden« mit seinen individuellen Sorgen, seinen Möglichkeiten und Schwierigkeiten. Neben das Wissen von allgemeingültigen sittlichen Gesetzen tritt hier die bedeutsame Einsicht in den Wert der individuellen moralischen Persönlichkeit[29].

Da Panaitios als Lehrer des jüngeren Scipio Africanus längere Zeit in Rom lebte und auf diese Weise in nahe Berührung mit der römischen Welt kam, gewann seine Lehre besonderen Einfluß auf den sich entwickelnden römischen Stoizismus. So darf man wohl auch in Senecas Neigung, mit seiner Darstellung der sittlichen Probleme an die individuellen Besonderheiten eines einzelnen Menschen oder einer bestimmten Situation anzuknüpfen, einen Nachhall der Neuerung des Panaitios sehen, der die stoische Ethik aus der weltfremden Ferne rationalistischer Spekulationen wieder in die lebendige Problematik des Alltags hineingestellt hatte.

Sein Schüler Poseidonios (135–51 v. Chr.), der ebenfalls stark auf den römischen Stoizismus wirkte, betonte vor allem die grundlegende Wichtigkeit der Naturphilosophie. Er verfaßte eine Reihe Abhandlungen astronomischen, meteorologischen, geologischen und geographischen Inhalts, die Seneca manche Anregung bei der Arbeit an seinen »Naturwissenschaftlichen Untersuchungen« gegeben haben.

Das war die Gedankenwelt, in der Seneca aufwuchs. Gern erwähnt er auch später noch die Namen seiner stoischen Lehrer und Vorbilder. Ein Dogmatiker der [XXIX]stoischen Schule aber ist er nicht geworden. Er hielt sich für bedeutsame Gedanken offen, auch wenn sie aus dem gegnerischen Lager kamen. So tritt Seneca wiederholt mit warmen Worten für den vielgelästerten Epikur (geb. 342 v. Chr.) ein und entnimmt dessen Werken manche Anregung. Die gepflegte Geistigkeit Epikurs, seine Aufgeschlossenheit für alles Wertvolle, seine Abneigung gegen unnütze Spekulation fanden Senecas volle Zustimmung. Die zentrale Lehre Epikurs freilich, die in der Lust das höchste Gut und im Schmerz das einzige Übel sah, mußte Seneca ablehnen. Auch erkannte er klar, daß Epikurs Lebensregel: »Lebe im Verborgenen« bei aller Lebenskultur leicht zu egoistischer Abgeschlossenheit führen kann. Er suchte die stoische Tatkraft mit dem epikureischen Sinn für Beschaulichkeit zu verbinden, wenn er auch im ganzen die Stoa über Epikur stellt.

Noch andere Philosophen haben auf Senecas geistige Entwicklung eingewirkt. Sein Lehrer Sotion war Pythagoräer. Im Sinne des Pythagoras hat Seneca schon früh körperliche Askese geübt und sich vegetarisch ernährt. Auch den Gedanken der Seelenwanderung entnahm er dem pythagoräischen Gedankenkreis.

Schließlich war Seneca auch mit der Ethik des Atomisten Demokrit bekannt. Das gleiche gilt von den großen systematischen Philosophen Platon und Aristoteles, wenn Seneca auch eine nähere Auseinandersetzung mit ihnen meidet. Nur die platonische Lehre, nach welcher das wahre Sein in der Welt der Ideen liegt, findet sein besonderes Interesse.

Dem Kyniker Demetrios, dem Nachfahren jenes Propheten der Bedürfnislosigkeit in der Tonne, Diogenes, bezeugt er seine Verehrung.

So kreuzen sich bei Seneca die verschiedensten Richtungen, [XXX]und nicht ohne Berechtigung hat man ihn einen Eklektiker genannt. Nicht alles, was Seneca schreibt, ist auf eigenem Boden gewachsen. Er fühlt sich mehr als Vermittler griechischer Weisheit, nicht so sehr als selbständiger Schöpfer. Wahrscheinlich hat er sich sogar in einigen Schriften stark an griechische Vorbilder angelehnt. Aber das ändert nichts an dem Wert dieser Schriften. Ihre Fassung, ihr Stil, die Art, wie das Thema angepackt wird, ist bei Seneca immer originell. Er selbst hat bekannt, er sei gern bereit, den alten Weisen Gefolgschaft zu leisten, aber zum Sklaven eines Systems lasse er sich nicht machen: »Ich werde zwar den alten Weg benutzen, wenn ich aber einen besseren und bequemeren gefunden habe, werde ich den ausbauen. Wer vor uns Philosophie getrieben hat, ist nicht unser Herr, sondern unser Führer. Die Wahrheit steht allen offen; noch ist sie nicht mit Beschlag belegt[30]

 

Auffallend und oft getadelt ist die Unsicherheit in Senecas metaphysischen Begriffen und Vorstellungen. Bei näherer Prüfung aber gewinnt man den Eindruck, daß diese Nachlässigkeit wenigstens teilweise bewußt ist, daß ihm die metaphysische Spekulation unwichtig erschien angesichts der drängenden moralischen Aufgaben des Menschen. Seine Verachtung der Metaphysik ist Absicht. Er befürchtet offenbar, daß der Mensch durch solche Spekulationen von vordringlichen anderen Problemen, vor allem auf dem Gebiete der Ethik, abgelenkt wird. Seine Philosophie beschränkt sich bewußt auf die Ethik. So verwendet er auf die metaphysische Begründung seiner Lehre wenig Sorgfalt.

[XXXI]

Schon seine Gottesvorstellung ist unscharf und fließend. Einzelne Sätze lassen ihn als einen Bekenner rein monotheistischer Gottesvorstellung erscheinen. Andere Aussprüche wieder erinnern an Spinozas Pantheismus. Das Wort »deus sive natura« könnte schon im Seneca stehen. »Was ist die Natur anderes als Gott und göttliche Vernunft, die dem ganzen Weltall und seinen Teilen eingepflanzt ist[31].« Er glaubt fest an einen Baumeister und Lenker des Universums, aber schon alle näheren Einzelheiten läßt er unbestimmt. Sein Glaubensbekenntnis ist weit gefaßt. Scharf wendet er sich nur gegen die primitiven Göttervorstellungen der Antike. Er nennt Jupiter »den Lenker und Erhalter des Universums, Seele und Geist der Welt, den Herren und Erbauer dieses Werkes, dem alle Namen zukommen: Willst du ihn Schicksal nennen, so wirst du nicht irren. Er ist es, von dem alles abhängt, die Ursache der Ursachen. Willst du ihn als Vorsehung bezeichnen, so wirst du recht daran tun; denn er ist es, nach dessen Plan Vorsorge getroffen ist, daß diese Welt ungehindert ihre Bahn zieht und ihre Bewegungen ausführt. Willst du ihn Natur nennen, so wirst du keinen Fehler begehen. Er ist es, aus dem alles entstanden ist, durch seinen Geist leben wir. Willst du ihn Welt nennen, so wirst du nicht irren; denn er ist alles, was du siehst. Sein Wesen lebt auch in den Teilen, und er hält sich und das Seine aufrecht[32]

Die ganze Weite der Gottesvorstellung Senecas aber kommt uns erst zum Bewußtsein, wenn wir lesen: »Magst du nun von Natur sprechen oder von Bestimmung und Schicksal, all das sind Namen desselben [XXXII]Gottes, der nur seine Macht in verschiedener Weise anwendet. Auch Gerechtigkeit, Redlichkeit, Klugheit, Tapferkeit, Mäßigkeit sind Werte eines Geistes. Wenn du diese sittlichen Werte anerkennst, dann tust du das gleiche auch mit dem Geiste selbst[33]

Es kommt also Seneca nicht auf Namen und Begriffe an, sondern auf Wesen und Inhalt. Das Wesen der Gottesvorstellung ist ihm die Gewißheit einer höheren Welt, einer sittlichen Weltordnung. In den sittlichen Werten blitzt für den Menschen eine höhere Welt auf. Wie er sie nennt, ist unwichtig. Wichtig ist, daß sie ihn berührt, ihn ergreift und zu wahrer Menschenwürde emporführt.

In schärfsten Worten wendet sich Seneca gegen die grausamen Riten des antiken Götterkultes mit dem Bemerken, Götter, die durch Blut und Selbstverstümmelung verehrt werden wollten, seien keiner Verehrung würdig. Über die wahre Gottesverehrung sagt er: »Wollt ihr euch Gott nicht groß und friedlich denken, als ein Wesen, das wegen seiner sanften Hoheit ehrwürdig ist, als einen Freund, der immer nahe ist, der nicht mit blutigen Opferhandlungen verehrt werden will – denn wie sollte er Freude haben an der Hinschlachtung Unschuldiger? Vielmehr soll er mit reiner Gesinnung, mit gutem und würdigem Vorsatz verehrt werden. Es ist nicht nötig, ihm Tempel aus aufgetürmten Felsblöcken zu errichten: im Herzen eines jeden soll er verehrt werden[34]

So kommt Seneca von seiner kurzen metaphysischen Exkursion rasch wieder dorthin zurück, wo für ihn das Schwergewicht der Philosophie liegt: zur Ethik. [XXXIII]Im rechten Lebenswandel sieht er, wie später Kant, die einzig würdige Gottesverehrung.

Ganz ähnlich geht es ihm mit der Betrachtung des metaphysischen Problems der Vorsehung. Er wirft die Frage auf, warum es die Vorsehung dulde, daß es den Guten so oft schlecht geht, aber er gibt nicht wie Leibniz eine umfassende »Rechtfertigung Gottes«, sondern isoliert aus dem Gesamtproblem den ethischen Teil. Nicht was, sondern wie man es trägt, ist von Bedeutung. Das Unglück ist eine Gelegenheit für den guten Menschen, seine Tapferkeit zu zeigen. So werden Widerstände zu Übungsgelegenheiten, und der gute Mensch sieht es als Zeichen seiner höheren Bestimmung an, daß er Gelegenheit findet, im Unglück seine Kraft zu beweisen. Hegels großartiger Gedanke, daß das Gute nur im Kampf errungen werden könne und nur im Kampf wachse, ist schon bei Seneca vorgebildet. Seine Rechtfertigung Gottes erfolgt allein aus dem Ethos des Menschen.

Metaphysik, Logik und Dialektik sind für Seneca nie Selbstzweck, und auch als Mittel zum ethischen Zweck sind sie ihm nur mit Einschränkung willkommen. »Mehr als genug wissen zu wollen, ist eine Art Maßlosigkeit« – das geht gegen die unlebendige »Wissenschaftlichkeit« mit ihrer Anhäufung eines wertlosen und unwichtigen Wissensstoffes. »Vernimm, welch schlimme Folgen zu große Spitzfindigkeit hat und wie gefährlich sie für die Wahrheit ist« – das geht gegen die Überschätzung des Wertes logischer Ableitungen auf ethischem Gebiete. »Die Wahrheit liegt nicht in den Buchstaben« – das geht gegen die Wortspiele und die Buchstabenweisheit der Dialektiker. »Die Philosophen haben zu viel Ballast bei sich. Sie wollen in der Silbenstecherei mit den Grammatikern wetteifern. [XXXIV]So kommt es, daß sie besser zu reden, als zu leben verstehen[35]

Nur was praktisch-ethischen Wert hat, erscheint ihm wichtig. Es kam ihm weniger auf theoretische Spekulationen als auf praktische Verwirklichung ethischer Grundsätze an. Senecas Philosophie ist Erlebnisphilosophie. Man muß mit ihr leben, sonst bleibt sie stumm. Dem theoretischen Logiker und Dialektiker hat sie nichts zu sagen. Philosophieren heißt für Seneca Ringen um Besserwerden. Weisheit ist für ihn nie theoretisch oder nur verstandesmäßig zu erfassen. Senecas Lebensweisheit schafft aus richtiger Erkenntnis und Wertung der Dinge Impulse zum praktischen sittlichen Handeln. Gerade die moderne Philosophie mit ihrer Überbewertung von Logik und Dialektik kann von der ethisch-zweckhaften Einstellung Senecas sehr viel lernen.

Bezeichnend ist auch Senecas Haltung gegenüber der Naturwissenschaft. Hier wehrt er sich ebenfalls gegen das Übergewicht der grauen Theorie. Er verschließt sich nicht den Forschungsergbnissen seiner Zeit, aber er sucht alles in Beziehung zum Menschen zu setzen. Mag auch manche seiner Erklärungen von Naturerscheinungen, die er übrigens nie als unanfechtbar hinstellt, in der heutigen Wissenschaft als überholt gelten, seine ganze Einstellung zur Natur und Forschung verdient auch heute noch stärkste Beachtung. Mit Ehrfurcht und Bewunderung tritt er den kosmischen Erscheinungen gegenüber. Immer wieder aber fragt er sich: Wie bringt mich diese Erkenntnis als Mensch vorwärts, wie kann ich sittliche Impulse aus ihr ziehen? »Aus jeder Untersuchung, mag sie noch so wenig mit der Philosophie zu tun haben, [XXXV]suche ich eine segensreiche Anregung zu gewinnen[36].« Nichts von der Exaktheit der Forschung wird geopfert, aber es wird der ganze Mensch befriedigt, nicht nur der Intellekt.

In der Religion, in der Philosophie, in der Naturwissenschaft – immer sucht Seneca die innige Bindung mit dem praktisch-sittlichen Leben herzustellen. Die praktische Moralphilosophie steht im Mittelpunkt seines Interesses. Sie bildet den Kern seiner Lehre. Auf die Wichtigkeit und die Vorrangstellung der Ethik mit solchem Nachdruck hingewiesen zu haben, darin liegt Senecas Größe und Bedeutung als Philosoph.

 

Seine Ethik will Seneca nur auf ein unerschütterliches Fundament bauen. Metaphysik und Logik erwiesen sich ihm dafür nicht als genügend sicher: »Von welcher Tatsache sollen wir ausgehen? – Wenn es dir recht ist, vom Tode. – Vom Letzten? – meinst du. Aber auch vom Größten[37].« Daß wir einmal sterben müssen, ist das einzige, was wir sicher wissen auf dieser Erde. Gegen alles Hasten und Zusammenraffen, gegen allen Haß und Zorn, gegen Größenwahn und Überheblichkeit stellt er die Überlegung: »Über ein Kleines – es kommt der Tod, der euch gleich macht[38].« So gewinnt er Abstand gegenüber allem Irdischen. Er predigt keine Askese, aber er hält die Gaben und Güter des Lebens nur locker in der Hand, bereit, sie jeden Augenblick fahren zu lassen. »Ich verbiete dir nicht den Besitz von Reichtum, aber ich möchte erreichen, daß du darum nicht zitterst[39].« »Bereite dich auf den Tod vor, das will sagen, bereite dich [XXXVI]auf die Freiheit vor. Wer sterben gelernt hat, hört auf, Knecht zu sein[40]

Immer wieder klingt in Senecas Schriften dieser Ton auf, manchmal gedämpft, nur angedeutet, manchmal mit mächtigem Pathos vorgetragen. Diese Todesbereitschaft und Todessehnsucht findet ihre höchste pathetische Steigerung in dem paradoxen Satz der Trostschrift an Marcia: »Leben, ich liebe dich um der Wohltat des Todes willen!« Daneben fehlt es jedoch nicht an nüchterner, sachlicher Betrachtung der Tatsache des Todes. Wohl glaubt Seneca an ein besseres Jenseits, wohl hofft er, nach dem Tode in die Gemeinschaft der erlauchten Geister zu treten, denen er schon bei Lebzeiten zugetan war. Aber nicht deshalb betont er immer wieder die Bedeutung des Denkens an den Tod. Er würde nicht anders zum Tode stehen, auch wenn für ihn kein metaphysischer Gedanke im Hintergrund stände: »Ich scheide nicht deshalb mit größerem Mut aus dem Leben, weil ich erwarte, es müßte mir menschlichem Ermessen nach der Weg zu meinen Göttern offenstehen. Zwar habe ich verdient, dort zugelassen zu werden; denn ich habe mich ja schon jetzt dort aufgehalten und mein geistiges Wesen dort heimisch gemacht, wie auch die Götter in mir Wohnung nahmen. Aber nimm an, ich würde hinweggerafft, und es bliebe vom Menschen nach dem Tode nichts übrig – ich würde mich ebenso mutig zeigen, auch wenn ich abscheide, um nirgendwo wieder aufzutauchen[41]

Eine »Philosophie der Defensive« hat Marchesi[42] mit feinem Verständnis Senecas Haltung genannt. Gegen alle Möglichkeiten sucht er sich zu sichern. An die [XXXVII]nüchternen Tatsachen will er sich halten und daraus seine Konsequenzen ziehen. Innere Sicherheit in aller Unsicherheit des Lebens sucht er zu gewinnen.

Defensiv ist auch Senecas Haltung gegenüber dem Schicksal. Stets ist er auf Schicksalsschläge gefaßt: »Niemals habe ich dem Schicksal vertraut, auch wenn es Frieden zu halten schien[43]

Aus dieser Haltung der Defensive, der ständigen Bereitschaft, entspringt jedoch keine pessimistische Resignation. Die heroische Haltung des alten Stoizismus gegenüber dem Schicksal verbindet Seneca aufs glücklichste mit den traditionellen soldatischen Tugenden des Römertums. Tapferkeit, Mut, nie verzagende Ausdauer und energische Überwindung aller Schwierigkeiten – das sind die alten Römertugenden, die Seneca gegen das Schicksal mobilisiert: »Leben, mein Lucilius, heißt Kämpfer sein[44].« Ein bequemes Leben ist nach Seneca eines rechten Mannes nicht würdig. Erst in schwierigen Situationen kann der Mensch die Stärke seines Willens und Charakters beweisen.

Stolzes Zutrauen in die eigene Kraft und innere Siegesgewißheit steht hinter Senecas kämpferischer Haltung gegenüber dem Schicksal: »Mächtiger als alles Schicksal ist der Menschengeist[45]

Ebenso sicher wie die Gewißheit des Todes ist Seneca die Absolutheit der sittlichen Werte und ihrer Unterschiede. Der Unterschied zwischen gut und böse ist ein absoluter und objektiver, er wird nicht von menschlicher Meinung gesetzt, wie die Sophisten gelehrt hatten. Der Mensch besitzt in seinem Gewissen ein unmittelbares lebendiges Empfinden für gut [XXXVIII]und böse. Er muß das Gute von Natur vorziehen. Auch der Schuft, der den Erfolg seiner bösen Tat ernten will, sucht wenigstens den Schein des Guten zu wahren: »Niemand hat sich soweit vom Naturgesetz entfernt und sich seiner Menschenwürde entkleidet, daß er mit Vorsatz böse ist[46].« Dieser These liegt eine tiefe psychologische Beobachtung zugrunde.

Der Übeltäter strebt im allgemeinen nicht das Böse als solches in seinem Unwert an. Er folgt einer Begierde oder Leidenschaft und befriedigt diese, auch wenn er dadurch Werte verletzt. Aber er betrügt sich dabei selbst und redet sich ein, es sei dies notwendig und unumgänglich. Daß ein Übeltäter ein Verbrechen aus bloßer Gemeinheit um des Bösen willen begeht, ist äußerst selten. Solche Ungeheuerlichkeit ist Satanismus und fällt eigentlich schon aus dem Reich des Menschlichen heraus.

Das Gute gilt bei Seneca, wie wir sahen, absolut; es soll aber auch nur um seiner selbst willen angestrebt werden. Mit der Ablehnung der Lohnmoral erhebt sich Seneca weit über seine Zeit und nimmt Gedanken vorweg, die sich erst später wieder bei Kant finden. Daß begehrliche Hintergedanken, die einen Lohn für jede gute Tat erwarten, die sittliche Handlung in ihrer Wurzel verfälschen, hatte schon Seneca klar erkannt: »Was könnte schändlicher sein, als jemandem vorzurechnen, für welchen Preis er ein anständiger Mensch sein soll, da doch das sittlich gute Verhalten nicht durch Aussicht auf Gewinn gefördert werden und sich auch nicht durch drohenden Nachteil abschrecken lassen soll. Die Tugend will niemanden durch Hoffnung und Versprechen bestechen, vielmehr verlangt sie volle Hingabe und fordert mehr [XXXIX]Opfer, als sie Lohn gewährt. Unter Ausschaltung aller Nützlichkeitserwägungen muß man sich ihr zuwenden. Wohin sie dich auch ruft oder schickt, du mußt dich auf den Weg machen, ohne auf dein Vermögen Rücksicht zu nehmen, manchmal sogar, ohne mit deinem Blut zu sparen. Niemals darfst du dich ihrer Forderung entziehen. – Was erreiche ich mit dieser tapferen, mit dieser dankbaren Handlung? – Nur, daß du sie vollbracht hast. Mehr hat dir die Tugend nicht zu versprechen. Wenn gelegentlich ein Vorteil hinzukommt, so hast du ihn als Zugabe anzusehen. Der Lohn sittlich guter Handlungen liegt in ihnen selbst[47]

Stärker zeitgebunden erscheint Seneca bei flüchtiger Betrachtung, wenn man ins Auge faßt, wie er sich den Weg des Besserwerdens denkt. Scheinbar ist er ganz auf die Vernunftmoral der Stoiker festgelegt. Für die stoische Lehre fällt Tugend mit rechter Erkenntnis zusammen. »Tugend ist rechte Einsicht«; »die rechte Einsicht macht das Glück des Menschen vollkommen«; »was ist das Gute an dir? Vollendete Vernunft[48].« Hier macht sich Seneca also ganz zum Sprachrohr der starren stoischen Schulphilosophie.

Die ganze Antike hat, ähnlich wie später die Aufklärung, den Wert und die Bedeutung der Erkenntnis auf sittlichem Gebiet sehr hoch eingeschätzt und ist schließlich zu einer Überschätzung der Erkenntniskraft gekommen. Man übersah, daß nicht selten eine Kluft zwischen Erkenntnis und Handeln besteht. Trotz rechter Einsicht kann der Mensch oft nicht die Kraft zum rechten Tun finden, weil seine Willenskraft zu schwach ist oder weil eine starke, leidenschaftliche Erregung ihn gegen alle bessere Erkenntnis [XL]wider seinen Willen mit sich fortreißt. Dieses Erlebnis der eigenen sittlichen Schwäche war der Antike im allgemeinen fremd. Besonders in der klassischen Philosophie bei Sokrates und Platon sowie später bei den Stoikern wurde die rechte Erkenntnis fast allein einer Erwähnung wert befunden[49]. So konnte der Eindruck entstehen, daß mit der Erkenntnis des Rechten der Kampf bereits gewonnen sei. Obwohl Seneca sonst ein so guter Psychologe war, hat er sich doch von dieser »ererbten« Vernunftmoral der Stoa nicht frei machen können. Aber das ist nicht der ganze Seneca. Oft ist ihm die Distanz zwischen Erkennen und Tat zum eigenen schmerzlichen Erlebnis geworden, und so finden sich bei ihm viele Aussprüche, in denen sein ernstes Ringen mit den eigenen Fehlern und der inneren Schwäche ergreifenden Ausdruck findet. Ihm ist also die Problematik des ethischen Intellektualismus mit seiner Überschätzung des reinen Erkennens durchaus zum Bewußtsein gekommen, wenn er sah, daß sein Wille oft nicht ausreichte, das als recht Erkannte auch zur Tat werden zu lassen. Dieses Erlebnis der Kluft zwischen Erkennen und Handeln klingt deutlich wieder in folgenden Sätzen: »Die Natur schenkt uns die Tugend nicht. Es ist eine Kunst, sittlich gut zu werden.« »Sieh vor allem zu, ob du nur in der Philosophie oder auch im Leben selbst Fortschritte machst.« »Die Tugend muß ihre Fortschritte durch die Tat beweisen. Es kommt nicht darauf an, sich theoretisch darüber klar zu sein, was man tun soll, sondern man muß auch einmal Hand anlegen und die Gedanken in die Wirklichkeit umsetzen[50]

[XLI]

Solche Worte klingen schon wesentlich anders als die dogmatische Behauptung der Stoa von der allein selig machenden vernünftigen Erkenntnis. Das ist also Senecas wahre Ansicht: Mit der bloßen Erkenntnis ist wenig getan. Der Weg des Besserwerdens ist mühsam und steinig. Es gehört viel Kraft dazu, die rechte Erkenntnis zur Tat werden zu lassen.

Auch über die Wege zum Besserwerden hat Seneca intensiv nachgedacht. Wir erfuhren bereits von seiner Gewohnheit abendlicher Selbstbetrachtung. Die kritische Selbstbetrachtung ist nach seiner Meinung für den sittlichen Aufstieg des Menschen besonders wichtig. Im Affekt sind wir oft blind und sehen nicht, daß wir fehlen. Bei der Selbstbetrachtung aus der Entfernung aber, wenn die Färbung und Fälschung durch den Affekt fehlt, gelingt es uns leichter, das Rechte zu erkennen und den Entschluß zu besserem Verhalten zu fassen. »Es ist ein Beweis dafür, daß wir schon auf dem Wege zum Besseren sind, wenn wir Fehler, die wir bisher nicht sahen, erkennen[51].« Die philosophische Lektüre und das Zusammensein mit wertvollen Menschen soll die Selbstbetrachtung ergänzen. Schließlich soll der Mensch ein Idealbild menschlicher Würde in sich tragen und sich bei jedem Gedanken, bei jedem Wort und jeder Tat fragen, wieweit dieses sein Verhalten dem Idealbild entspricht: »Wir sollten uns einen ethisch hochstehenden Menschen ausersehen und ihn immer vor Augen haben, damit wir so leben, als sähe er uns zu, und so handeln, als geschähe alles vor seinen Augen[52]

 

Aber nicht nur um eigene Besserung und eigenen Fortschritt ist Seneca besorgt. Er sieht es als Lebensaufgabe [XLII]des Philosophen an, sich auch um die sittliche Höherentwicklung der anderen Menschen zu kümmern. Für Seneca ist der Philosoph der »Erzieher des Menschengeschlechtes[53].« Gegenüber der Nachwelt noch fühlt er sich verantwortlich: »Ich betreibe die Angelegenheiten kommender Geschlechter[54].« Seine ganze leidenschaftliche Energie verströmt er in diese Aufgabe des Lehrers und Führers der Menschen, ohne daß er sich deshalb Illusionen über den möglichen Erfolg solcher Bestrebungen hingibt. Zwar ist er bereit, zu jedem zu sprechen, der ihn hören will. Stand und Beruf sollen kein Hindernis sein. Aber wenn er unter den Menschen kein Verständnis finden sollte, will er sich mit dem Wort des Epikur trösten: »Das schreibe ich nicht für die Masse, sondern für dich; denn einer sind wir dem anderen eine Zuhörerschaft von genügender Größe[55].« Er weiß, daß er möglicherweise nur zu wenigen sprechen wird. Aber es genügt ihm, wenn er diesen wenigen Helfer und Führer sein darf. Durch Ermahnung will er sie zur Besinnung rufen. In der Handhabung dieser eindringlichen sittlichen Ermahnung ist er Meister. Er redet immer einen bestimmten Menschen seines Freundeskreises an. Dadurch verstärkt er die Wirkung: Jeder Leser fühlt sich persönlich angesprochen. Das blasse »man soll« ist durch das direkte lebendige »du sollst« des Gespräches, der persönlichen Anrede ersetzt.

Wenn auch die persönliche Ermahnung im Vordergrund steht, so hat Seneca die Wirkungsmöglichkeit der Ermahnung nicht überschätzt. Allein mit Vorschriften ist es nicht getan. Er weiß: es kommt schon [XLIII]in der Jugenderziehung viel auf die moralische Persönlichkeit des Lehrers an, und was für die Jugend gilt, hat ebenso Bedeutung für die allgemeine Menschenbildung: »Lang ist der Weg der sittlichen Besserung durch Vorschriften, aber kurz und wirkungsvoll durch das eigene Beispiel. Kleanthes hätte Zenons Lehre nicht so anschaulich geschildert, wenn er ihn nur gehört hätte: Aber er lebte mit ihm, hatte Einblick in die geheimsten Dinge und konnte ihn beobachten, ob er auch nach seiner Moralvorschrift lebte. Platon und Aristoteles und alle jene weisen Schüler des Sokrates, deren Lehren sich nach den verschiedensten Richtungen entwickelten, haben mehr Gewinn aus der sittlichen Lebensführung des Sokrates gezogen als aus seinen Worten. Metrodor, Hermarch und Polyainos sind nicht durch die Schule des Epikur große Männer geworden, sondern durch die Wohngemeinschaft mit ihm[56].« »Schon das Zusammentreffen mit weisen Männern ist von segensreicher Wirkung; man wird von einem bedeutenden Mann, auch wenn er schweigt, innere Förderung erfahren[57].« Schon das bloße »Sein« des sittlich hochstehenden Menschen ist von segensreichem Einfluß auf dessen Umgebung. Seneca hat mit dieser Einschätzung der Bedeutung des »Seins« Erkenntnisse der modernen Wertethik vorweggenommen.

Wenn Seneca die Vorbildwirkung des bloßen »Seins« in seiner vollen Bedeutung erkannte, so wußte er auch, daß in diesem »Sein« die tiefste Schicht des Menschen berührt war. Aus dem Allerinnersten heraus strahlt der sittlich hochstehende Mensch die Kraft des Guten aus. Aber auch der unvollkommene, noch strebende Mensch muß sich bemühen, mit seinem [XLIV]Besserungswillen bis in diese tiefste Schicht vorzudringen. Mit dem Wollen allein kann der Mensch aber seinen Charakter nicht von heute auf morgen ändern. Die sittliche Haltung des Menschen wurzelt tiefer als im Wollen. Der Mensch kann so schlecht »sein«, daß sein Wollen diesem »Sein« gegenüber zunächst machtlos ist. Der Mensch kann so schlecht sein, daß er nicht ohne weiteres alles Gute wollen kann.

Dieses Sein, diese Größe der eigenen Person, kann aber vom Menschen nicht willkürlich gesetzt werden. Guter Wille ist wertvoll, aber Wollen ist noch kein Sein. Dieses »Sein«, der Charakter, kann nur langsam wachsen. Seneca schildert uns diesen Vorgang, den er als guter Psychologe oft an sich und anderen beobachtet haben mag: »Mehr Mühe macht es, Vorsätze festzuhalten, als edle Entschlüsse zu fassen. Man muß Ausdauer haben und seinen Entschluß durch ständige Anstrengung stärken, bis endlich guter Charakter geworden ist, was jetzt noch guter Wille ist[58]

Solche Gedanken und solche Tiefe der Wesensschau stehen in scharfem Gegensatz zu der landläufigen stoischen Überschätzung der Erkenntnis des Guten, aber auch zu den stoischen Thesen (»Tugend ist nichts anderes als rechte Erkenntnis«), die Seneca selbst an anderen Stellen seiner Werke anführt. Seneca war wohl zu sehr Stoiker, um den grundsätzlichen Bruch mit den Irrtümern der Stoa vollziehen zu können, um den unhaltbaren Standpunkt, daß Tugend und rechte Erkenntnis eines seien, auch in der Theorie zu verlassen. Er war aber andererseits zu stark selbsttätige moralische Persönlichkeit, um die Überbewertung der Vernunft in der Stoa widerspruchslos anzuerkennen[XLV]. Er war vielleicht zu wenig systematischer Denker, um die Unvereinbarkeit der starren, stoischen Vernunftmoral und des lebendigen eigenen Erlebens zu bemerken. So gelang ihm die Befreiung vom stoischen Dogma wenigstens in der Theorie nicht vollständig. Wir spüren aber deutlich, daß sein Herz unbewußt ganz vom richtigen Erleben des schwierigen und dornenvollen Weges der moralischen Besserung erfüllt war.

Es darf trotzdem wundernehmen, daß man einen Mann wie Seneca nicht als Philosophen ernst nehmen wollte, der in Einzelfragen so tief in den Aufbau der Welt des Sittlichen hineingeleuchtet hat und ein so feines Organ für die geheimsten Dinge des moralischen Lebens besaß.

 

Aber Senecas Bedeutung als Philosoph ist nicht auf die Ethik beschränkt. Für die gesamte Philosophie und Wissenschaft hat er in seiner grundsätzlichen Haltung zu allen Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung eine bedeutsame Leistung vollbracht.

Die naive Selbstsicherheit des Propheten und die kurzsichtige Überheblichkeit manches von seiner Unfehlbarkeit überzeugten Fachwissenschaftlers sind ihm fremd. Seine kritische Zurückhaltung richtet sich nicht nur gegen fremde Ansichten, sondern vor allem gegen die Ergebnisse der eigenen Forschung. So kann die Wissenschaft vor allem eines bei Seneca lernen: Die Bescheidenheit des echten Forschers. Stolz auf die großen Ergebnisse der Forschung in den letzten Jahrhunderten vergißt man heute vielfach, daß viele unserer Deutungen nur Menschenmeinungen sind. Wahre Forschung sucht sich über die jeweils geltenden Anschauungen zu erheben [XLVI]und wägt auch den Wahrheitsgehalt einer ganz anders gearteten Anschauung unvoreingenommen ab. Wenige Forscher werden wohl die Ehrlichkeit haben, ihr Werk zu beschließen mit Worten, wie Seneca sie braucht: »Es wird eine Zeit kommen, in der man sich wundern wird, daß uns so offensichtliche Tatsachen unbekannt waren[59]

Senecas Betrachtung naturwissenschaftlicher Probleme kann für alle wissenschaftliche Arbeit vorbildlich sein. Niemals schließt er Deutungsmöglichkeiten einer bestimmten Erscheinung aus, weil sie nicht in sein System passen. So vermeidet er die Rückschläge, die wissenschaftliche Forschung immer dann erlitt, wenn sie sich durch vorgefaßte Meinungen an der unvoreingenommenen Betrachtung der Erscheinungen hindern ließ. Seneca erörtert z. B. ganz offen die Möglichkeit, daß nicht die Welt sich um die stehende Erde drehe, wie es dem damaligen Weltbild entsprach, sondern daß vielleicht die Erde sich selbst drehe und die Drehung der Welt nur Schein sei.

Man vergleiche diese unvoreingenommene Aufgeschlossenheit Senecas gegenüber der damals unpopulären Anschauung von der Erddrehung mit der dogmatisch-engen Auffassung des Mittelalters.

Weil die Lehre von der Erddrehung »nicht in der Schrift steht«, nicht in ein bestimmtes System paßt, verschließt sich die Wissenschaft jahrhundertelang dieser fruchtbaren Deutung des Weltgeschehens. Sie »weiß« schon alles, sie bedarf keines Fragens mehr, denn »es steht geschrieben«. In solcher Haltung – das hat Seneca klar erkannt – liegt ein entscheidendes Hemmnis für alle wissenschaftliche Entwicklung. Fortschritt ist auf geistigem und wissenschaftlichem [XLVII]Gebiet nur möglich, wenn man noch Fragen sieht. Alle Wissenschaft, die mit dem Errungenen zufrieden ist, die an die Unumstößlichkeit ihrer Ergebnisse glaubt, die sich auf bestimmte Theorien festgelegt hat und so ihre Beweglichkeit gegenüber den Erscheinungen verliert, ist zu Stillstand und Rückschritt verurteilt. Seneca dagegen sucht sich für alle Möglichkeiten offen zu halten. Er scheut sich aber auch nicht, als unvoreingenommener und kritischer Forscher die Grenzen unserer Erkenntnis aufzuzeigen und offen zu bekennen, daß wir bestimmte Erscheinungen zwar beobachten, aber nicht erklären können. Es ist durchaus nicht Resignation, sondern nur kritische Zurückhaltung, wenn er sagt: »Zur Erforschung so großer Probleme genügt ein Zeitalter nicht, und würde es sich auch ganz der Betrachtung des Himmels widmen.« Probleme sehen, Fragen stellen, sich offen halten für kritische Zweifel – das ist nach Seneca die hohe, oft undankbare Aufgabe des wissenschaftlichen Forschers, dem es nur auf Wahrheit ankommt. Seneca hatte dieses Prinzip nicht nur auf die damalige Naturwissenschaft erfolgreich angewandt. Er läßt es auch in der ganzen Philosophie gelten. Rückschauend erkennen wir, daß seine Haltung zur Gottesvorstellung von der gleichen Zurückhaltung bestimmt ist. Er läßt die verschiedensten Möglichkeiten gelten. Auch gegenüber der Frage, welches Schicksal den Menschen nach dem Tode erwartet, will er sich offenhalten für verschiedene Lösungen. Auf dem Gebiete der Ethik hindert ihn seine Zugehörigkeit zur stoischen Schule nicht, die sittlichen Phänomene mit unbefangenem Blick zu betrachten und so zu ganz anderen Ergebnissen zu gelangen, als die Schule vorschreibt. Niemals wird ihm die Vorliebe für eine bestimmte Hypothese [XLVIII]den klaren Blick für die Wirklichkeit trüben. Er zeigt die Probleme auf und bekennt gegebenenfalls offen, daß er eine überzeugende Antwort nicht geben könne. Seine Stellung als Vermittler der unterschiedlichen Lehren verschiedener griechischer Philosophenschulen, die sich nicht auf einen Nenner bringen ließen, mag ihm diese Zurückhaltung erleichtert haben.

Daß Seneca kein eigenes System geschaffen hat, kann heute kein Vorwurf mehr gegen ihn sein: denn »die Zeit der philosophischen Systeme ist vorbei«. Die einander widersprechenden und einander ablösenden Systembauten der Philosophie haben gleich dem babylonischen Turmbau nur eine völlige Verwirrung hinterlassen. Aber neben den Systemen mit ihren unreifen Lösungen und ihrer Wirklichkeitsferne steht eine andere Denkweise: »das forschende Problemdenken[60]

Seneca ist trotz seines Ausgehens vom stoischen System kein Systemphilosoph; denn das stoische Gewand ist ihm überall zu eng. Auch gegen das System gibt er der Wirklichkeit ihr Recht. Gerade in diesem Mut, mit eigenen Augen zu sehen und unbequeme Fragen aufzuwerfen, liegt eine beachtliche philosophische Leistung Senecas.

Alle dogmatische Enge liegt ihm fern. Er ist – wenn man ein Wort Nicolai Hartmanns auf ihn anwenden darf – »der allem Offenstehende, alles Aufnehmende, ewig Zulernende, nie Auslernende. Alles wird ihm zum moralischen Wachstum und … zur Wertpotenzierung des eigenen Lebens – zugleich aber, sofern er auf andere ausstrahlt, auch zur Wertpotenzierung von deren Leben[61].« Seneca besaß dieses offene Organ für die in der Welt gegebene Fülle der Werte.

[XLIX]

Ob Seneca Kometen oder Sterne betrachtet oder in Bajae das Strandleben beobachtet, ob er in Neapel den Zirkuslärm hört oder seine Sänfte über den einsamen Strand von Cumae tragen läßt, ob er auf seinem Landgut zwischen den in seiner Jugend gepflanzten Bäumen weilt oder als Seekranker schwimmend der rettenden Küste zustrebt, immer sucht er aus der Situation eine innere moralische Bereicherung zu gewinnen.

Ob er vom heroischen Sterben des Canus berichtet oder von der Wirkung der Schriften des Philosophen Sextius, ob er von Caesars Nachsicht und Milde oder von der Bedürfnislosigkeit des Demetrios erzählt, immer weiß er den Wertgehalt der Situation zu erfassen und auszuschöpfen. Er versteht es, den Blick des Lesers auf das Wesentliche, auf die beispielhafte Verwirklichung sittlicher Werte zu lenken.

Als Künder der zentralen Bedeutung des Ethos im Menschenleben ist Seneca durch den Sturm der Zeiten und Völker geschritten. Seine beschwörende Mahnung, im Gedränge des Alltags die höheren sittlichen Aufgaben des Menschseins nicht zu vergessen, spricht auch heute noch mit unverminderter Eindringlichkeit zu uns.

 

 

SENECA


MÄCHTIGER
ALS DAS SCHICKSAL

 

 

[1]

VON DER KÜRZE DES LEBENS

Die meisten Menschen, mein lieber Paulinus[62], beschweren sich über die Bosheit der Natur, die uns nur eine winzige Spanne Zeit zum Leben gegeben habe. Sie beklagen sich, daß auch diese uns zugemesene Zeit zu schnell vergeht. So kommt es, daß das Leben den meisten Menschen bereits entgleitet, während sie noch Anstalten machen, das Leben zu beginnen. Über diesen vermeintlichen allgemeinen Übelstand jammert aber nicht nur die Masse und der Durchschnittsmensch; diese Empfindung hat auch berühmte Männer zu Klagen verleitet. So hadert ein so urteilsfähiger Mann wie Aristoteles mit der Natur und läßt Äußerungen fallen, die eines weisen Mannes unwürdig sind: »Die Natur habe sich den Tieren so wohlwollend gezeigt, daß sie ein Alter von fünf- oder zehnfacher Dauer eines Menschenlebens erreichen könnten, dem Menschen aber, der für so viele und große Aufgaben geboren sei, habe sie ein viel früheres Ende bestimmt.«

Wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern wir vergeuden zuviel. Das Leben ist lang genug und reicht auch zur Vollendung der größten Aufgaben aus, wenn es im ganzen recht angewendet wird. Lassen wir aber [2]das Leben in Luxus und Nachlässigkeit sinnlos dahinfließen und setzen wir es für keine wertvolle Aufgabe ein, dann spüren wir erst unter dem Zwange der letzten Notwendigkeit, daß es vorübergegangen ist, während wir den Ablauf selbst nicht bemerkten. Es ist schon so: Wir bekommen nicht ein kurzes Leben zugeteilt, sondern wir machen es selbst kurz. Wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern wir verschwenden zuviel. Wie ein reiches und fürstliches Vermögen im Augenblick vertan ist, wenn es an einen schlechten Besitzer kommt, während ein weit mäßigeres Vermögen unter guter Obhut bei vorsichtigem Gebrauch wächst, so bietet uns auch unser Leben genügend Raum, wenn wir es in der rechten Weise anwenden.

Was beklagen wir uns über die Natur? Sie hat sich uns gütig gezeigt: das Leben ist lang, wenn man es zu nutzen weiß. Aber den einen hält unersättliche Habsucht gefangen, den anderen eine emsige Geschäftigkeit bei überflüssigen Beschäftigungen. Der eine ergibt sich dem Trunke, der andere überläßt sich trägem Nichtstun. Den einen treibt ein glühender Ehrgeiz, der sich von fremdem Urteil abhängig macht, bis zur Erschöpfung umher, den anderen schleift seine Gewinnsucht und sein niederer Krämergeist weit über Länder und Meere. Manche Leute reiben sich auf in der Pflege ihrer Beziehungen zu einflußreichen Männern und unterwerfen sich freiwilliger Knechtschaft – wahrlich ein undankbares Geschäft! Viele Leute sind ganz erfüllt von dem Wunsche, es möge ihnen so ergehen, wie es anderen geht, oder sie bewegen sich in Klagen über ihr eigenes Geschick. Die meisten aber verfolgen kein bestimmtes Ziel. Ein unsteter Leichtsinn, verbunden mit innerer Unzufriedenheit, treibt sie immer wieder zu neuen Plänen. – [3]Durchmustere sie alle, von den kleinen Leuten bis zu den Höchstgestellten: der eine tritt als Sachverständiger auf, der andere als Zeuge, dieser klagt an, jener übernimmt die Verteidigung, wieder ein anderer ist Richter. Niemand tritt für sich selbst ein, einer verzehrt sich im Dienste des anderen. Der eine kümmert sich um diesen, der andere um jenen. Um sich selbst kümmert sich keiner. Dann noch die äußerst törichte Empörung dieser Leute: Sie beklagen sich über die abweisende Haltung der Höhergestellten, die für ihre zudringlichen Aufwartungen keine Zeit haben. So wagt es jemand, sich über den Hochmut eines anderen zu beklagen, der selbst nie für sich Zeit hat.

Es ist auch nicht nötig, solche Dienstfertigkeit jemandem hoch anzurechnen: Als du deine Dienste anbotest, wolltest du nicht für einen anderen da sein, sondern konntest es mit dir selbst nicht mehr aushalten.

Die großen Geister aller Zeiten sind in diesem Punkte einer Meinung und können sich nicht genug über die menschliche Kurzsichtigkeit auf diesem Gebiete wundern. Die Menschen dulden es nicht, daß ihr Grundbesitz von jemandem mit Beschlag belegt wird. Ja, wenn nur ein unwesentlicher Streit über den Verlauf der Grenze entsteht, greifen sie schon zu den Waffen. Aber in ihr Leben lassen sie andere einbrechen, sie ebnen sogar denen die Wege, die in Zukunft über ihr Leben verfügen sollen. Niemand will sein Geld teilen, sein Leben aber – an wie viele verteilt es ein jeder! Engherzig halten die Menschen ihr Vermögen zusammen, wenn es aber um Zeitverlust geht, sind sie äußerst verschwenderisch, wo doch hier allein Geiz sittlich berechtigt wäre.

Nehmen wir einen aus dem Kreise der alten Männer: Wir sehen, du hast das höchste Alter erreicht, das [4]einem Menschen beschieden ist. Hundert Jahre oder mehr hast du auf dem Rücken. Wohlan, laß dein Leben noch einmal zur Abrechnung an dir vorbeiziehen! Von deiner Lebenszeit ziehe ab, was dir der Gläubiger, die Freundin, der König, der Klient raubte, was verlorenging durch ehelichen Streit, durch Maßregelung der Sklaven, durch geschäftiges Umherlaufen in der Stadt. Hierzu rechne Krankheiten, die wir selbst heraufbeschwören, und die Zeit, die zwecklos vertan ist. Du wirst sehen, dir bleiben viel weniger Jahre, als du dir nach deinem Geburtstag ausrechnest. Rufe dir ins Gedächtnis zurück, wann deine Entschlüsse fest waren, welcher Tag so verlief, wie du es dir vorgenommen hattest, wann du zu sinnvoller Anwendung deiner Fähigkeiten kamst, wann deine Miene ruhig war und deine Stimmung furchtlos. Überlege dir auch, was du in dieser langen Zeit wirklich geleistet hast. Wieviel Leute haben dir, ohne daß du es merktest, Teile deines Lebens geraubt? Wieviel Zeit hast du selbst vertan, wieviel hat dir törichter Schmerz, alberne Lustigkeit, häßliche Begierde, leeres Geschwätz weggenommen? Bedenke, wie wenig dir von deinem Leben bleibt! Du wirst sehen, daß du als unfertiger Mensch in den Tod gehst.

Woran liegt das alles? Ihr lebt, als ob ihr immer leben würdet. Niemals kommt euch eure Hinfälligkeit zum Bewußtsein. Ihr bemerkt nicht, wieviel Zeit schon verflossen ist. Als ob ihr aus dem Vollen, aus dem Überfluß zu geben hättet, verschwendet ihr eure Zeit. Aber dieser Tag, der irgendeinem Menschen oder einer gleichgültigen Angelegenheit gewidmet war, ist vielleicht schon euer letzter.

Man hört immer wieder die Worte: mit fünfzig Jahren setze ich mich zur Ruhe, mit sechzig Jahren ziehe [5]ich mich ganz aus dem öffentlichen Leben zurück. – Und wer bürgt dir dafür, daß dein Leben überhaupt länger dauert? Wer gibt dir die Gewähr, daß alles so geht, wie du es dir gedacht hast? Schämst du dich nicht, nur den Rest deines Lebens für dich selbst aufzusparen und nur die Zeit für die Pflege der höheren Seelenkräfte zu bestimmen, die zu nichts anderem mehr zu brauchen ist? Wahrlich, zu spät beginnt man erst dann mit dem Leben, wenn es ans Aufhören geht! In unserer Verblendung vergessen wir ganz, daß wir einmal sterben müssen. Wir schieben segensreiche Entschlüsse bis zum fünfzigsten oder sechzigsten Jahre auf und wollen mit dem Leben erst zu einem Zeitpunkt anfangen, den überhaupt nur wenige erreichen.

Der verewigte Augustus, dem die Götter mehr als irgend einem anderen geschenkt hatten, wünschte sich sein ganzes Leben lang Ruhe und Freisein von Staatsgeschäften. Immer wieder kam er im Gespräch auf diesen Punkt zurück: er erhoffe sich Freiheit von Geschäften. So tröstete er sich mit der erfreulichen – wenngleich trügerischen – Hoffnung, er werde einmal dazu kommen, für sich selbst zu leben, und suchte sich so die Mühsal des Alltags erträglicher zu machen.

M. Cicero war unter Männer wie Catilina und Clodius, Pompeius und Crassus geraten. Teils waren es offene Feinde, teils zweifelhafte Freunde. Inmitten der Aufstiegs- und Abstiegsbewegungen des Staates suchte er den Untergang der Republik zu verhindern, wurde aber schließlich doch politisch ausgeschaltet. Cicero vermochte es nicht, glückliche Situationen mit Ruhe und unglückliche mit Fassung zu ertragen. Wie oft hat er gerade die Zeit seines Konsulates verflucht; [6]das er nicht ohne Grund, aber ohne Ende gepriesen hatte. In einem Briefe an Atticus läßt er weinerliche Äußerungen vernehmen, als Pompeius, der Vater, schon besiegt war und sein Sohn in Spanien immer noch versuchte, die Niederlage auszugleichen. Er schreibt: »Was ich hier treibe, fragst du? Ich halte mich in meinem tusculanischen Landgut auf als ein halbfreier Mensch.« –

Wahrlich, niemals wird sich ein weiser Mann eine so niedere Bezeichnung beilegen, niemals wird er halbfrei sein, seine Freiheit ist immer unangetastet und gesichert. Selbständig ist er, sein eigener Herr. Er steht über allem anderen. Denn was sollte über dem stehen, der über das Schicksal erhaben ist?

Es erübrigt sich, noch weitere Beispiele aufzuführen von Leuten, die zwar anderen als besondere Günstlinge des Glücks erschienen, sich selbst aber ein richtiges Zeugnis ausstellten und mit tiefem Abscheu auf alle ihre bisherige Tätigkeit zurückblickten.

Es ist eine allgemeine Erfahrung, daß ein vielbeschäftigter Mann nichts recht zustande bringt. Das gilt für die Pflege der Beredsamkeit wie für die Fachwissenschaften. Ein zerstreuter Mensch prägt sich nichts tief ein, sondern gibt alles schnell wieder von sich, als wäre es in ihn hineingestopft worden. Am wenigsten aber versteht ein vielbeschäftigter Mann zu leben, denn das ist von allem die schwierigste Aufgabe.

Lehrer anderer Künste mag man oft und in großer Zahl treffen. Manches zwar scheinen die Knaben von ihnen nur dazu zu lernen, damit sie es wieder lehren können. Leben aber muß man das ganze Leben lang lernen, und was dich vielleicht noch mehr wundern wird, auch sterben muß man das ganze Leben lang [7]lernen. Viele große Männer haben alle Schwierigkeiten überwunden, haben sich von Reichtum, Pflichten und Vergnügungen losgesagt und haben nur dies eine bis ins höchste Alter betrieben, nämlich leben zu lernen. Viele von ihnen haben am Ende ihres Lebens bekannt, daß sie diese Kunst noch nicht verstünden. Wie sollten sich da jene Vielgeschäftigen darauf verstehen?

Es gehört zu den Eigentümlichkeiten eines bedeutenden und über die menschlichen Irrtümer erhabenen Mannes, daß er sich nichts von seiner Zeit wegnehmen läßt. Deshalb ist sein Leben, gleichgültig, welchen Zeitraum es umfaßt, immer sehr lang. Stand es ihm doch ungekürzt zur Verfügung. Kein Augenblick blieb ungenutzt und unausgefüllt, keine Minute gehörte einem anderen. Als sparsamer Haushalter fand er nichts, was wert gewesen wäre, gegen seine Zeit eingetauscht zu werden. Daher genügte sie ihm. Fehlen aber muß sie denen, deren Leben zum beträchtlichen Teil von anderen mit Beschlag belegt wird. Glaube aber nicht, jene Leute wüßten nicht um ihren Verlust: die meisten, die unter dem Druck ihres Glückes seufzen, hört man im Gedränge ihrer Klienten, unter der Arbeit für ihre Prozesse und bei ihren anderen Ehrenämtern jammern: »Ich komme nicht zum Leben.« – Warum nicht? Weil alle, die dich für sich in Anspruch nehmen, dich dir selbst entziehen. Wieviel Tage hat dir jener Angeklagte gestohlen, wie viele jener Kandidat? Wie viele dieses alte Weib, das erschöpft ist vom Beerdigen ihrer Erben? Wie viele Tage raubte dir jener, der sich krank stellte, um die Habsucht der Erbschleicher zu reizen? Wie viele jener einflußreiche Freund, der dich nicht als Freund schätzt, sondern dich nur in [8]seinem Hofstaat führt? Durchmustere und beurteile die Tage deines Lebens: du wirst sehen, daß nur lächerlich wenig Tage auf deinem Konto bleiben.

Wer aber jeden Augenblick zu eigenem Nutzen anwendet, wer jeden Tag so sorgsam einrichtet, als wäre es der letzte, der wünscht den morgigen Tag nicht herbei und fürchtet ihn auch nicht.

Es besteht kein Grund zu glauben, es habe einer lange gelebt, weil er graue Haare und Runzeln hat. Er hat nicht lange gelebt, er ist nur lange dagewesen. Meinst du denn etwa, es sei jemand viel zur See gefahren, wenn ihn ein wilder Sturm aus dem Hafen schleudert, hierhin und dorthin wirft, wenn verschiedene wechselnde Winde ihn an derselben Stelle im Kreise herumwirbeln? Er ist nicht lange zur See gefahren, sondern er ist viel umhergeworfen worden.

Ich wundere mich immer, wenn ich sehe, wie die Menschen die Zeit anderer Leute in Anspruch nehmen und wie diese letzteren sich darin gar zu freigebig zeigen. Jeder achtet nur auf den Grund, um dessentwillen man die Zeit beansprucht, auf die Tatsache als solche achtet niemand, als ob nichts beansprucht und nichts gewährt würde. Man spielt mit dem allerkostbarsten Wert. Man täuscht sich nämlich leicht über das Wesen der Zeit, weil sie etwas Unkörperliches ist, weil man sie nicht mit Augen sehen kann. Daher wird ihr Wert äußerst gering veranschlagt, sie wird nahezu für wertlos angesehen. Jahresgehälter und Geschenke nehmen die Menschen gern an und verwenden Arbeit, Mühe und Sorgfalt auf eine entsprechende Gegenleistung. Die Zeit achtet keiner. Man verbraucht sie so leichtfertig, als sei sie nichts wert. Nun beobachte aber dieselben Leute, wenn sie krank sind, wenn der Tod in gefährliche [9]Nähe gerückt ist, wie sie die Kniee der Ärzte umklammern, oder wenn sie Todesstrafe fürchten, wie sie bereit sind, all ihren Besitz daranzugeben, um weiterzuleben. Solcher Zwiespalt der Gefühle herrscht in ihnen.

Aber niemand ersetzt dir deine Jahre, niemand gibt dich dir selbst zurück. Du bist beschäftigt, das Leben aber eilt dahin. Inzwischen tritt der Tod heran, für den du, magst du nun wollen oder nicht, Zeit haben mußt.

Ein Leben aber, das fern von allen geschäftigen Händeln verläuft, wie sollte das nicht lang sein! Kein Augenblick wird fremder Verfügung überlassen oder an nichtige Ziele verschwendet. Keine Minute bleibt dem Zufall überlassen oder geht durch Nachlässigkeit verloren. Kein Augenblick wird durch Verschenken vertan. Keine Minute ist überflüssig. Solches Leben steht sozusagen ganz auf der Haben-Seite. Mag es auch in Wirklichkeit nur kurz sein, es reicht hinlänglich aus. So wird denn der Weise, wenn der letzte Tag naht, ohne Zögern und mit festem Schritt in den Tod gehen.

Bei manchen Leuten aber ist sogar das Nichtstun von Geschäftigkeit erfüllt. In ihrem Landhaus, auf ihrem Bett, mitten in der Einsamkeit, von allem abgesondert, sind sie sich selbst zur Last. Ihr Leben ist nicht Müßiggang zu nennen, sondern nichtsnutzige Geschäftigkeit. Willst du etwa einen Mann frei von Geschäftigkeit nennen, der korinthische Vasen, die nur durch die Sammelwut einiger Sonderlinge wertvoll geworden sind, mit ängstlicher Sorgfalt ordnet und den größten Teil seiner Tage bei grünspanbehaftetem Blech verbringt? Willst du solche Leute müßig nennen, die viele Stunden beim Barbier zubringen, [10]bis ausgezupft ist, was in der letzten Nacht nachgewachsen ist? Da wird über einzelne Haare beratschlagt, da wird schütteres Haar zusammengeholt oder, wenn eine kahle Stelle vorhanden ist, das Haar so oder so in die Stirn gekämmt. Wie zürnen sie dem Friseur, wenn er etwas weniger ängstlich ist, da er doch glaubt, er habe einen Mann unter den Händen. Sie alle würden es eher ertragen, wenn im Staate etwas in Unordnung geriete als in ihrer Frisur. Um den äußeren Putz seines Kopfes ist man besorgter als um dessen innere Ordnung. Man will lieber gut gekämmt als ein anständiger Mensch sein. Und solche Leute, die den ganzen Tag mit Kamm und Spiegel beschäftigt sind, willst du müßig nennen?

Es würde zu weit führen, wenn ich im einzelnen dem Lebenslauf mancher Leute nachgehen wollte, die ihr Leben mit Würfeln oder Ballspiel verbringen oder sorgsam ihren Körper in der Sonne rösten lassen. Müßig kann man sie nicht nennen; denn ihre Vergnügungen machen viel Arbeit. Aber auch die Leute, die bei unnützen literarischen Studien verweilen, bringen mit ihrer Vielgeschäftigkeit unzweifelhaft nichts Vernünftiges zustande. Diese Unsitte fängt jetzt an, auch bei uns Römern eine Rolle zu spielen. Ursprünglich war es eine griechische Krankheit, zu untersuchen, wieviel Ruderer Odysseus gehabt habe, ob die Ilias oder die Odyssee früher geschrieben sei, ob sie von demselben Autor stammen und was es sonst noch an Untersuchungen dieser Art gibt. Solch totes Wissen hilft dir nicht weiter, wenn du es für dich behältst. Wenn du es aber veröffentlichst, wird es nicht als wissenschaftliche Leistung, sondern als Belästigung empfunden werden. So hat nun auch uns Römer der traurige Ehrgeiz gepackt, überflüssige [11]Dinge zu lernen. Ich hörte dieser Tage einen Vortrag, in dem ausgeführt wurde, was römische Heerführer erstmalig getan hätten: Duilius siegte als erster in einer Seeschlacht, Curius Dentatus führte als erster Elefanten im Triumphzug mit. Solches Wissen ist ohne jeden Nutzen, und dennoch fesselt es uns bei aller Nichtigkeit des Gegenstandes, weil es sich gefällig anhört. Nehmen wir einmal an, das alles würde in gutem Glauben vorgetragen, und die Verfasser könnten für die Wahrheit ihres Geschreibsels einstehen. Wen können sie durch derartige Spielereien vor Irrtum bewahren, wen zur Beherrschung seiner Begierden bringen? Wer wird dadurch tapferer, gerechter, freigebiger? Man muß tatsächlich im Zweifel sein – so sagte unser Fabianus[63] einmal –, ob man nicht besser sich von allen wissenschaftlichen Studien fernhält, als daß man Gefahr läuft, sich in solche Spitzfindigkeiten zu verlieren.

Frei von Unruhe sind allein die Menschen, die für die Weisheit Zeit haben. Sie allein leben. Nicht nur ihre eigene Lebenszeit hüten sie sorgsam. Die Errungenschaften aller Zeiten machen sie sich dienstbar. Selbst die früheren Zeiten wissen sie zu nützen. Wenn wir nicht sehr undankbar sein wollen, so sind jene hochberühmten Schöpfer erhabener philosophischer Lehren für uns geboren, haben für uns Lebensregeln aufgestellt. Die herrlichsten Schätze, durch fremde Arbeit aus der Finsternis ans Licht gehoben, werden uns zugänglich. Keine Zeit ist uns verschlossen. Zu jeder haben wir Zugang. Wenn wir die Kraft finden, uns in kühnem geistigen Aufschwung über menschliche Enge und Schwäche zu erheben, dann liegt ein großer Zeitraum vor uns, in dem wir uns [12]ergehen können. Du kannst mit Sokrates diskutieren, mit Karneades zweifeln, mit Epikur[64] der Ruhe pflegen, mit den Stoikern die menschliche Natur überwinden, mit den Kynikern[65] über das gewöhnliche Menschenmaß hinausgehen. Wenn uns die Natur gestattet, uns mit jedem Zeitalter geistig zu verbinden, sollten wir uns da nicht in diesem kurzen und vergänglichen Augenblick des Überganges mit ganzem Herzen dem Unendlichen zuwenden, dem Ewigen, dem, was wir mit besseren Menschen gemein haben?

Manche Leute laufen dagegen geschäftig umher und versetzen sich und andere in Unruhe. Sie gebärden sich wie toll, täglich stürmen sie über jede Schwelle, an keiner offenen Tür gehen sie vorüber, in den verschiedensten Häusern machen sie ihren bezahlten Kratzfuß. Aber wen konnten sie wirklich antreffen in dieser ungeheuren und von mannigfachen Begierden zerrissenen Stadt? Wie viele Herren laufen mit geheuchelter Eile durch die Reihen ihrer Besucher, die sie durch langes Wartenlassen gemartert haben! Wie viele meiden es, durch die mit Klienten vollgestopfte Vorhalle zu gehen, und flüchten durch den Hinterausgang! Im Gegensatz hierzu aber – so dürfen wir behaupten – verrichten die Freunde der Weisheit [13]echte Ehrfurchtsbezeugungen, wenn sie Zenon, Pythagoras, Demokrit[66] und die übrigen Meister der edlen Bestrebungen, weiter Aristoteles und Theophrast zu vertrauten Freunden haben wollen. Jeder dieser Philosophen wird für sie Zeit haben, wird sie glücklicher entlassen und ihre Liebe noch vermehren. Keiner wird einen Besucher mit leeren Händen wieder gehen lassen. Tag und Nacht stehen sie jedem Sterblichen zur Verfügung.

Keiner dieser Weisen wird dich zwingen zu sterben, aber alle werden es dich lehren. Keiner wird deine Jahre zunichte machen, er wird dir noch die seinen dazuschenken. Das Gespräch mit diesen edlen Geistern birgt keine Gefahren in sich, ihre Freundschaft ist nicht lebensgefährlich. Die Ehrerbietung ihnen gegenüber ist nicht kostspielig. Man hat in ihnen Freunde, bei denen man sich über die kleinsten wie über die größten Dinge Rat holen, die man täglich in eigener Sache befragen kann. Von ihnen kann man ohne Schande die Wahrheit zu hören bekommen. Von ihnen kann man auch Lob annehmen, ohne daß man dahinter Schmeichelei vermuten müßte. Solchen Vorbildern soll man sich bemühen ähnlich zu werden.

[14]

Wir pflegen zu sagen, wir hätten uns unsere Eltern nicht wählen können, sie wären uns vielmehr vom Schicksal zugewiesen worden. Im Gegenteil, die Gestaltung unseres Lebens ist in unsere Hand gegeben. Hier sind die Familien der edelsten Geister. Wähle dir, in welche du aufgenommen werden willst. Nicht nur dem Namen nach wirst du adoptiert werden, sondern du wirst sogar in den Genuß der Güter dieser Familie gelangen. Diese Güter aber wirst du nicht in schmutziger und knausriger Gesinnung bewachen müssen. Werden sie doch um so größer, je mehr Menschen du daran teilnehmen läßt. Diese edlen Geister zeigen dir, wie man zur Ewigkeit gelangt, und erheben dich dorthin, wo es keinen Sturz mehr gibt. Das ist also eine Möglichkeit, die Grenzen unseres sterblichen Daseins zu erweitern, ja dieses Dasein in Unsterblichkeit zu verwandeln. Ehrentitel und Denkmäler und was sonst noch ein ehrgeiziger Machthaber durch Erlasse anordnet oder an Bauwerken auftürmt, das alles stürzt bald in sich zusammen, das alles wird mit der Zeit zerstört und geändert. Aber den Werten, denen die Weisheit die höhere Weihe gegeben hat, kann das Alter nichts anhaben. Kein Zeitalter kann sie zerstören oder in ihrem Wert mindern. Jedes folgende und weitere steigert vielmehr noch die Verehrung. Während bei naheliegenden Dingen oft Neid im Spiele ist, bewundern wir alles, was uns fernliegt, mit größerer Unbefangenheit.

Das Leben des Weisen also umspannt einen weiten Zeitraum. Es sind ihm nicht wie dem anderer Menschen enge Grenzen gesteckt. Er allein ist unabhängig von den Gesetzen, die das Menschengeschlecht binden. Alle Zeitalter dienen ihm wie einem göttlichen Wesen. Die Vergangenheit bewahrt er in der [15]Erinnerung, die Gegenwart nutzt er voll aus, die Zukunft nimmt er vorweg. Diese Zusammenfassung aller Zeiten bewirkt, daß sein Leben lang ist.

Jetzt, solange das Leben noch frisch ist und wir noch auf der Höhe der Kraft stehen, sollten wir uns dem Besseren zuwenden! Es wartet deiner bei solcher Lebensart eine Fülle wissenschaftlicher Einsichten, die Liebe zur sittlichen Vollkommenheit und die Möglichkeit ihrer praktischen Betätigung. Deine früheren Leidenschaften wirst du vergessen, du wirst lernen zu leben und zu sterben, du wirst eine erhabene Ruhe allen irdischen Dingen gegenüber gewinnen.

 

 

[16]

VON DER VORSEHUNG

Du hast mich gefragt, mein Lucilius, wie es möglich ist, daß guten Menschen soviel Schlimmes widerfährt, wenn doch eine Vorsehung die Welt regiert. Diese Frage ließe sich besser im Rahmen eines größeren Werkes abhandeln, in dem ich beweisen will, daß eine Vorsehung die Welt regiert, und daß uns eine göttliche Kraft innewohnt. Du willst aber ein Teilproblem vom Ganzen abtrennen und eine einzelne Frage gesondert gelöst haben. Das Hauptproblem mag derweilen noch offen bleiben. So werde ich denn die dankbare Aufgabe übernehmen und die Sache der Götter vertreten.

Ich werde dich wieder mit den Göttern aussöhnen, die mit allen guten Menschen gut umgehen. Es wäre auch ganz unmöglich, daß eine gute Macht den guten Menschen schadet. Zwischen den guten Menschen und den Göttern besteht Freundschaft. Die sittliche Vollkommenheit spielt hierbei die Rolle eines Vermittlers. Besteht denn nur Freundschaft zwischen Göttern und guten Menschen? Nein, notwendige Verbundenheit und Ähnlichkeit, da sich der gute Mensch nur durch die Dauer seines Gutseins von Gott unterscheidet. Er ist Schüler und Nacheiferer Gottes, sein rechtgeborener Sohn, den jener erhabene Vater als energischer Hüter der Tugend etwas streng erzieht. Siehst du daher, daß gute Menschen und [17]Freunde der Götter sich mühen und plagen und durch Schwierigkeiten hindurchkämpfen müssen, während schlechte Menschen sich ausgelassenen Vergnügungen hingeben, dann bedenke, daß auch wir nur Freude haben an gesittetem Benehmen unserer Söhne, daß uns dagegen die Ausgelassenheit junger Sklaven belustigt. Unsere Söhne halten wir in strenger Disziplin, wir unterstützen dagegen den Übermut junger Sklaven. Nimm nun das gleiche von Gott an: Er verzärtelt den jungen Menschen nicht, er legt ihm Prüfungen auf, er läßt ihn durch harte Proben hindurchgehen, er formt ihn nach seiner Idee.

Warum begegnet aber dem guten Menschen soviel Widerwärtiges? Dem guten Menschen kann nichts Böses zustoßen; denn Gegensätze vermischen sich nicht. Wie die zahlreichen Ströme, die mächtigen Regengüsse, die kräftigen Heilquellen den Geschmack des Meerwassers nicht ändern, nicht einmal abschwächen, so kann auch der Ansturm feindlicher Gewalten die Geisteshaltung des tapferen Mannes nicht wankend machen. Er bleibt bei seiner aufrechten Haltung und teilt allen Ereignissen eine bestimmte Färbung mit. Steht er doch über allem äußeren Geschehen. Ich behaupte nicht, daß er von den feindlichen Gewalten nichts spürt. Er besiegt sie jedoch und erhebt sich in Ruhe und Gelassenheit über alle Angriffe. Alle Schwierigkeiten faßt er als Übungsgelegenheiten auf. Welcher Mann aber wünschte sich nicht in seinem Streben nach Ehre rechte Anstrengung, und wer wäre nicht bereit, seine Pflicht zu tun, auch wenn es mit Gefahren verbunden wäre? Für den Mann der Tat ist das Nichtstun eine Strafe. Wir sehen, wie Athleten, denen es um ihre Kraft zu tun ist, gerade mit den Tapfersten kämpfen. Sie verlangen [18]von denen, mit deren Hilfe sie sich auf den Kampf vorbereiten, sie sollten alle ihre Kraft gegen sie anwenden. Sie lassen sich zerschlagen und verletzen und wenn sie einen einzelnen Gegner, der ihnen gewachsen ist, nicht finden können, dann treten sie zugleich gegen mehrere an. Die Tapferkeit schwindet, wenn sie keinen Gegner hat. Erst wenn sie zeigen kann, was sie zu tragen vermag, wird ihre Größe und Kraft offenbar.

Wisse, daß auch gute Menschen sich ebenso verhalten müssen. Sie dürfen sich vor harten und schweren Schlägen nicht fürchten und dürfen sich über das Schicksal nicht beklagen. Was auch geschieht, sie müssen damit zufrieden sein und es zum Guten wenden. Nicht was, sondern wie man es trägt, ist wichtig.

Zu den vielen großartigen Aussprüchen meines Demetrius gehört auch dieser, der mir noch gut in Erinnerung ist. Tönt und klingt er mir doch noch in den Ohren:

»Der Mensch«, so sagte er, »ist meiner Meinung nach am unglücklichsten, dem niemals feindliche Gewalten entgegentraten.« So fand er keine Gelegenheit, sich auf die Probe zu stellen. Mag alles nach seinem Wunsche gegangen sein, mag alles so glücklich gekommen sein, bevor er es wünschen konnte – die Götter haben doch eine ungünstige Meinung von ihm. Er schien ihnen nicht würdig, einmal einen erfolgreichen Kampf mit dem Schicksal zu bestehen. Das Schicksal meidet den Feigling, als wolle es sagen: »Was soll ich mir diesen Schwächling zum Gegner wählen? Er wird sofort die Waffen sinken lassen. Gegen ihn habe ich nicht meine ganze Kraft einzusetzen. Er wird schon durch eine leichte Drohung umgeworfen. Nicht einmal meinen Blick kann [19]er ertragen. Ich werde mich nach einem anderen umsehen, mit dem ich den Kampf aufnehmen könnte. Ich müßte mich schämen, mit einem Menschen zu ringen, der bereit ist, sich besiegen zu lassen.«

Der Gladiator faßt es als Schande auf, wenn man ihm einen schlechteren Partner zuteilt. Er weiß, daß ein Sieg ohne Gefahr auch ein Sieg ohne Ruhm ist. Das Schicksal verfährt ebenso: Es sucht sich die Tapfersten als Partner aus. An manchen Menschen dagegen geht es mit Verachtung vorüber. An Menschen mit großer Widerstandskraft und starkem Willen zur Selbstbehauptung macht das Schicksal sich heran. Gegen solche Menschen richtet es seine ganze Kraft: Das Schicksal versuchte es bei Mucius mit Feuer, bei Fabricius mit der Armut, bei Rutilius mit Verbannung, bei Regulus[67] mit Folterqualen, mit Gift bei Sokrates, mit dem Tode bei Cato. Ein großes Beispiel kann man nur im Unglück geben.

Äußeres Glück kann auch der Masse und gewöhnlichen [20]Geistern zufallen; aber Unglück und alle Schrecken der Menschheit bezwingen, ist das Vorrecht eines großen Mannes. Immer glücklich sein und stets in ungetrübter guter Stimmung leben, heißt die andere Seite der Welt nicht kennen. Du bist ein großer Mann. Woher aber soll ich Gewißheit darüber bekommen, wenn dir das Schicksal nicht Gelegenheit gibt, deine hohen moralischen Eigenschaften zu beweisen? Du bist nach Olympia gezogen, aber außer dir niemand. Du hast den Kranz gewonnen, aber nicht den Sieg. Ich beglückwünsche dich nicht als Helden, sondern wie einen Mann, dem die Würde eines Konsuls oder Prätors zugefallen ist: Du bist um eine Ehre reicher geworden. Ebenso kann ich zu einem guten Menschen sagen, wenn ihm keine schwierige Situation Gelegenheit bietet, seine Charakterstärke zu zeigen:

»Ich halte dich für unglücklich, weil du niemals unglücklich warst. Ohne auf Widerstand zu stoßen, bist du durchs Leben geschritten. Niemand kann beurteilen, was in deinen Kräften steht, nicht einmal du selbst.«

Um sich kennenzulernen, bedarf es der Probe. Was man kann, erfährt man nur bei einer Prüfung. Daher haben sich manche Menschen dem Unglück sogar in die Arme geworfen, wenn es ihnen nicht von selbst in den Weg kam. Sie haben eine Gelegenheit gesucht, bei der sie ihre sittliche Vollkommenheit, die sonst hätte im Verborgenen bleiben müssen, leuchten lassen konnten. Ich behaupte, daß große Männer sich manchmal über Schwierigkeiten freuen, ähnlich wie tapfere Soldaten sich über den Krieg freuen. Gott ist besonders auf das Wohl der Menschen bedacht, deren moralische Höherentwicklung er wünscht. Er schafft [21]ihnen die Voraussetzungen für eine kühne und tapfere Tat. Um diese Situation zu schaffen, bedarf es immer gewisser äußerer Schwierigkeiten. Den guten Steuermann lernt man erst im Sturm kennen, den guten Soldaten erst in der Schlacht. Woher soll ich wissen, daß du Armut mit innerer Größe tragen würdest, wenn du im Reichtum erstickst? Woran soll man die Größe deiner Widerstandskraft gegen Schande, Schmach und allgmeine Verachtung erkennen, wenn dir bis ins hohe Alter nur Anerkennung zuteil wird, wenn dich stets unerschütterliches Wohlwollen mit herzlicher Zuneigung begleitet? Woher soll ich wissen, ob du den Verlust deiner Kinder mit Gleichmut tragen würdest, wenn du deine Familie vollzählig um dich versammelt siehst? Ich hörte, wie du anderen Trost zusprachst. Nun hätte ich gern gesehen, ob du dich auch selbst trösten könntest, ob du dem eigenen Schmerz Einhalt gebieten kannst.

Fürchtet also nicht die Schwierigkeiten – ich beschwöre euch –, die die unsterblichen Götter bei euch gleichsam als Ansporn verwenden! Das Unglück ist eine Gelegenheit, tapfere Gesinnung zu zeigen. Mit Recht sind die Menschen unglücklich zu nennen, die in übergroßem Glück allen Schwung verlieren. Wie ein Schiff auf regungslosem Meer liegen sie in träger Untätigkeit fest.

Flieht das entnervende Glück! Durch das Glück werden die Menschen weichlich. Sie leben dann wie in ständiger Trunkenheit dahin, wenn sie nicht durch einen Zwischenfall daran erinnert werden, daß sie nur Menschen sind. Wen Fensterscheiben[68] ständig vor Zugluft schützen, wer seine Speisezimmer mittels [22]Warmluft heizt, die unter dem Fußboden und hinter den Wänden dahinströmt[69], für den ist schon ein leiser Hauch gefährlich. Was das rechte Maß überschreitet, ist schädlich. Das Übermaß des Glücks jedoch bringt ganz besondere Gefahren mit sich: Es versetzt das Gehirn in Aufruhr, spiegelt uns Wahnbilder vor und hüllt Irrtum und Wahrheit in undurchsichtiges Dunkel.

Die Götter wenden also den guten Menschen gegenüber dasselbe Prinzip an wie die Lehrer bei ihren Schülern. Sie verlangen höhere Leistungen von denen, auf die sie größere Hoffnungen setzen. Glaubst du etwa, die Spartaner hätten ihre Kinder gehaßt, wenn sie deren charakterliche Anlagen durch öffentliche Züchtigung auf die Probe stellten?

Was ist also verwunderlich daran, wenn Gott edlen Geistern harte Prüfungen auferlegt? Eine Tapferkeitsprobe kann nie schonend sein. Das Schicksal schlägt uns tiefe Wunden. Ertragen wir diese Schläge! Ist es doch nicht blindes Wüten, sondern ein edler Wettkampf. Je öfter wir zu diesem Wettkampf antreten, um so tapferer werden wir. Wir müssen uns dem Schicksal zur Verfügung stellen und uns vom Schicksal gegen alle Schicksalsschläge abhärten lassen. Allmählich werden wir uns dem Schicksal gewachsen fühlen. Weil wir dauernd in Gefahr schweben, kommen wir schließlich zur Verachtung aller Gefahren. So sind Seeleute gegen die Seekrankheit gefeit, Bauernhände sind hart, die Muskeln des Soldaten sind [23]stark genug, um Wurfgeschosse zu schleudern, die Glieder eines Läufers sind beweglich. Bei einem jeden ist die Fähigkeit am besten ausgebildet, die er geübt hat. Zur Verachtung des Leidens gelangen wir auch erst durch das Erdulden des Leidens.

Nur dann ist ein Baum fest und widerstandsfähig, wenn er oft vom Winde gezaust wird, denn gerade infolge dieser heftigen Bewegungen wurzelt er tiefer und klammert sich mit seinen Wurzeln fester an. Bäume, die in einem heiteren Tale wachsen, sind nicht so widerstandsfähig. Es geschieht also im eigenen Interesse der guten Menschen, wenn sie oft in gefährliche Situationen kommen. Unerschrockene Kämpfer sollen aus ihnen werden. So lernen sie Schicksalsschläge mit Gleichmut ertragen, denn nur für einen, der solche Schläge nicht zu ertragen weiß, sind sie vom Übel.

Manche Dinge lassen sich nicht trennen. Sie hängen unteilbar zusammen. Energielose Menschen, die zum Schlaf neigen oder zu einem Wachen, das dem Schlafen ähnelt, sind aus trägen Elementen aufgebaut. Damit aber ein Mann im wahren Sinne des Wortes zustande kommt, bedarf es eines härteren Schicksals. Sein Weg darf nicht auf ebener Bahn verlaufen. Er muß über Höhen und Tiefen hinwegschreiten. Er wird umhergeworfen und muß sein Schiff im Sturm lenken. Gegen das Schicksal muß er Kurs halten. Vielen schwierigen und gefährlichen Situationen muß er begegnen, aber er macht sie sich erträglich und ebnet sich selbst die Wege. Im Feuer erweist sich das Gold als echt, im Unglück der tapfere Mann.

Trotz alledem, warum läßt Gott es zu, daß den guten Menschen etwas Böses geschieht? Er läßt es gar nicht [24]zu. Alles Böse hält er von ihnen fern, nämlich Verbrechen und ehrlose Handlungen, schändliche Gedanken und habgierige Absichten, blinde Begierde und Habsucht, die nach fremdem Besitz trachtet. Ihr wahres Selbst behütet und beschützt er. Will man etwa von Gott verlangen, er solle auch noch auf das Gepäck der guten Menschen aufpassen? Sie verlangen solche Fürsorge nicht einmal selbst von Gott, denn sie verachten alle äußeren Dinge. Demokrit warf seinen Reichtum von sich in der Überzeugung, Reichtum sei nur eine Last für einen Menschen mit edler Gesinnung. Ist es also verwunderlich, wenn Gott dem guten Menschen ein Schicksal zuteil werden läßt, das der gute Mensch sich selbst nicht selten herbeiwünscht?

»Gute Menschen werden in die Verbannung geschickt!« – Warum nicht? Wo sie doch zuweilen selbst ihr Vaterland verlassen, um nicht wieder zurückzukehren. »Sie werden getötet!« – Warum nicht? Wo sie doch manchmal selbst Hand an sich legen.

Warum müssen sie all dies Schwere ertragen? Um andere das Ertragen zu lehren. Sie sind zum Vorbild geboren.

Nimm daher an, Gott spräche folgendermaßen:

»Was wollt ihr euch über mich beklagen, ihr, die ihr am Rechten Freude findet? Andere habe ich mit Scheinwerten umgeben und sie in ihrer Eitelkeit mit einem langen, trügerischen Traum genarrt. Ich habe sie mit Gold, Silber und Elfenbein ausgestattet. An inneren Werten aber fehlt es ihnen gänzlich. Die Leute, die ihr für glücklich haltet, sind in Wirklichkeit elend, von schmutziger Gesinnung, wenn man nicht nur die Fassade betrachtet, sondern hinter die Kulissen schaut. Wie die Wände ihrer Häuser sind sie [25]nur außen getüncht. Ihr Glück ist nicht festgegründet und echt. Es ist nur Schale und nur eine dünne Schale. Solange solche Leute obenauf sind und sich so zeigen können, wie es ihnen paßt, machen sie einen glänzenden Eindruck. Ereignet sich aber ein Zwischenfall, der sie in Verwirrung bringt und bloßstellt, dann wird es offenbar, welcher Abgrund von Schmutz sich hinter dem falschen Glanz verborgen hielt.

Euch aber gab ich wahre Werte, die Dauer haben, die an Wert und Größe gewinnen, wenn man sich eingehender mit ihnen beschäftigt und sie von allen Seiten betrachtet. Ich gab euch die Kraft zu verachten, was andere fürchten. Ich gab euch Abscheu vor niederen Vergnügungen. Ihr glänzt nicht nach außen. Eure Werte sind innerlicher Art. Des Glückes nicht zu bedürfen, das ist euer Glück.«

 

 

[26]

MORALISCHE BRIEFE AN LUCILIUS

LIES NUR BEWÄHRTE AUTOREN!

Nach allem, was du[70] mir schreibst, und was ich höre, gewinne ich festes Zutrauen zu deiner inneren Entwicklung. Du eilst nicht planlos hin und her und beunruhigst dich nicht durch andauernden Aufenthaltswechsel. Solche innere Unruhe ist ein Zeichen kranker Gemütsverfassung. Erstes Anzeichen einer geordneten Geistesverfassung aber – glaube ich – ist es, wenn man lernt, zur Ruhe zu kommen und bei sich selbst zu verweilen. Vor allem aber achte darauf, daß aus der Lektüre vieler Autoren und verschiedenartiger Bücher nicht Schwanken und Unbeständigkeit erwächst. Man soll bei bestimmten Geistern verweilen und Nahrung aus ihnen schöpfen, wenn man einen festen geistigen Besitz gewinnen will. Wer überall sein will, ist nirgendwo zu Hause. Wer sein Leben auf der Wanderschaft verbringt, findet viele Herbergen, aber keine Freundschaft. Das gleiche erleben die Leute, die sich keinem geistigen Führer anvertrauen, sondern hastig über alles hinwegeilen. Eine Speise, die sogleich wieder ausgeschieden wird, nützt nichts und kommt dem Körper nicht zugute. Nichts hindert die Genesung so sehr als häufiger [27]Wechsel der Heilmittel. Eine Wunde, an der Medikamente ausprobiert werden, kann nicht zur Vernarbung kommen. Eine Pflanze, die dauernd umgepflanzt wird, kann nicht gedeihen. Kein Ding kann bei dauerndem Wechsel Segen bringen, mag es noch so nützlich sein. Auch eine Menge Bücher wirkt zerstreuend. Wenn du daher auch nicht alles lesen kannst, was du besitzt, laß es dir genug sein, wenn du wenigstens wirklich besitzt, was du gelesen hast.

Aber es macht mir Freude, bald in dieses, bald in jenes Buch hineinzuschauen. – Nur ein kranker Magen, der leicht Ekel empfindet, will vielerlei Speisen kosten. Aber diese verschiedenartigen Kostproben belasten nur den Magen und haben keinen Nährwert.

Lies daher immer nur bewährte Autoren. Erlaubst du dir aber einmal eine Abschweifung, so kehre doch bald wieder zu den bewährten zurück. Halte täglich ein hilfreiches Wort gegen die Armut bereit, gegen den Tod und gegen die übrigen Geißeln der Menschheit. Und – wenn du vieles überflogen hast, nimm dir täglich ein Wort heraus und verarbeite es geistig. Ich tue das auch. Aus dem, was ich lese, greife ich mir einen Spruch heraus. Heute war es folgender – ich fand ihn bei Epikur, denn ich pflege auch ins andere Lager hinüberzugehen, nicht als Überläufer, sondern als Späher: Freudig getragene Armut ist ein sittlicher Wert, sagt er. Tatsächlich besteht keine wirkliche Armut mehr, wenn man die Armut freudig trägt. Denn arm ist nicht, wer zu wenig hat, sondern wer zuviel begehrt.

[28]

LEGE DIE KINDISCHE GEISTESHALTUNG AB!

Bleibe bei deinem Entschluß, und verstärke dein Bemühen nach Möglichkeit. So wirst du um so länger die segensreichen Folgen deines inneren Fortschritts und deiner Gelassenheit empfinden können. Du wirst sie zwar schon spüren, während du noch an deiner Besserung arbeitest, während du dich noch um innere Ruhe bemühst. Aber wesentlich anders ist doch die Freude, die man bei der Betrachtung eines fehlerfreien und lauteren Charakters empfindet. Du hast sicher noch in lebendiger Erinnerung, welche tiefe Freude du empfandest, als du die Toga des Kindes ablegtest und die Toga des Mannes um deine Schultern nahmst und auf das Forum geleitet wurdest: erwarte eine weit größere Freude, wenn du erst die kindische Geisteshaltung abgelegt hast und die Philosophie dich zum Manne erklärt hat. Über das kindliche Alter bist du zwar hinaus, nicht aber über kindisches Benehmen – und das fällt mehr ins Gewicht. Das ist um so schlimmer, weil wir die Würde von Greisen und die Charakterfehler von Knaben haben, nicht nur von Knaben, sondern von kleinen Kindern: denn Knaben fürchten sich vor unbedeutenden Schrecknissen, kleine Kinder aber vor Dingen, die gar nichts Schreckliches an sich haben. Wir tun beides. Ein Leben in Ruhe kann dem nicht zufallen, der gar zuviel über seine Sicherheit nachdenkt, und der im langen Leben einen hohen Wert sieht. Mache dich täglich aufs neue mit dem Gedanken vertraut, in vollem Gleichmut das Leben zu verlassen. Viele aber halten und klammern sich so ans Leben wie Menschen, die von einem reißenden Gewässer fortgerissen werden und sich nun an Zacken und Vorsprünge anklammern. Die meisten schwanken [29]zwischen Todesfurcht und Lebensqual jämmerlich hin und her. Sie wollen nicht leben und wissen nicht zu sterben. Mach dir das Leben angenehm dadurch, daß du alle Sorge um das Leben beiseite läßt. Nur das Gut kann dem Besitzer wertvolle Dienste leisten, auf dessen Verlust er innerlich vorbereitet ist.

Diese und ähnliche Gedanken sollen wir in uns bewegen, wenn wir in Gelassenheit jene letzte Stunde erwarten wollen. Denn die Furcht vor dieser Stunde macht uns alle anderen Stunden unruhig.

SUCHE NICHT AUFZUFALLEN!

Ich billige es von ganzem Herzen und freue mich darüber, daß du dich eifrig bemühst und ohne alle Ablenkungen nur dies eine Streben hast, dich täglich besser zu machen. Ich ermahne dich nicht nur, in diesem Bemühen fortzufahren, sondern ich bitte dich sogar darum. Eine Warnung darf ich dir noch mitgeben: Laß in deinem Auftreten und Lebensstil nichts Auffallendes sein, wie es gewöhnlich bei Leuten der Fall ist, denen es nicht um inneren Fortschritt, sondern um äußeren Eindruck zu tun ist. Ungehobelte Lebensart, ungeschnittenes Haar, ungepflegter Bart, Abneigung gegen Geld, niedriges Lager und was sonst noch ein abwegiges Geltungsbedürfnis an sonderbaren Blüten treibt, das alles laß getrost beiseite[71]. Schon der Name der Philosophie, auch wenn man sie nur in aller Bescheidenheit betreibt, ist verhaßt genug. Was wird erst geschehen, wenn wir uns [30]gegen die Lebensgewohnheiten der Menschen auflehnen? Mag auch unsere innere Einstellung eine ganz andere sein, unser äußeres Auftreten soll bei der Menge keinen Anstoß erregen. Unsere Toga soll weder durch ihren Glanz noch durch ihren Schmutz auffallen. Wir bedürfen zwar keiner Silbergefäße mit eingelegter goldener Ziselierarbeit, aber wir wollen es auch nicht für ein Zeichen von Charakterstärke halten, wenn wir grundsätzlich kein Gold und Silber berühren. Unser Streben soll es sein, ein besseres Leben zu führen als die Menge, nicht aber ein Leben, das nur aus dem gewohnten Rahmen herausfällt. Wäre es anders, so würden wir die Menschen, die wir bessern wollen, vertreiben und ihnen Abscheu einflößen. Wir würden nur erreichen, daß die Menschen keine unserer Gewohnheiten für nachahmenswert halten, da sie fürchten, sie müßten uns dann in allen unseren Eigenarten folgen. Die ersten Früchte philosophischen Studiums sind Sinn für Gemeinschaft, Anstand und Zusammengehörigkeitsgefühl. Alle diese Werte gehen uns verloren, wenn wir das Leben eines Sonderlings führen.

Wir müssen also darauf achten, daß die Art und Weise, wie wir uns öffentliche Anerkennung verschaffen, nicht lächerlich wirkt und Gegenstand der Verachtung ist. Ist es doch unser Vorsatz, der Natur gemäß zu leben. Es ist aber gegen die Natur, wenn man sich körperlich kasteit, selbstverständliche Reinlichkeit verachtet, den Schmutz geradezu sucht und nicht nur gemeine, sondern ekelerregende, abscheuliche [31]Speise genießt[72]. Ausgeklügelte Leckereien begehren, ist Luxus. Aber gewöhnliche und ohne großen Aufwand bereitete Speisen meiden, ist ein Zeichen von Geistesstörung. Einfachheit verlangt die Philosophie, nicht Kasteiung. Auch die Einfachheit schließt eine gewisse Kultur nicht aus. Folgende Lebensweise findet meinen Beifall: Wir sollen in unserem Leben die Forderungen des moralischen Gesetzes und die Ansprüche der allgemeinen Sitte ins richtige Verhältnis zueinander bringen. Unsere Lebensführung soll den Menschen Hochachtung abnötigen. Sie sollen uns aber noch verstehen können.

Wie denn, sollen wir das gleiche tun wie alle übrigen? Soll kein Unterschied zwischen uns und ihnen sein? – Im Gegenteil, ein sehr großer. Wer uns näher kennenlernt, soll merken, daß wir der Masse nicht ähnlich sind. Wer unser Haus betritt, soll uns selbst mehr bewundern als unseren Hausrat. Ein großer Mann ist, wer Tongeschirr so benutzt, als sei es Silber. Nicht weniger groß ist aber auch, wer Silber so benutzt, als sei es Tongeschirr. Es ist ein Zeichen von sittlicher Schwäche, wenn man Reichtum nicht ertragen kann.

Nun will ich noch eine kleine Lesefrucht des heutigen Tages mit dir teilen. Bei Hekaton fand ich den Hinweis, das Erlöschen der Begierde sei zugleich auch ein Heilmittel gegen die Furcht. Er sagt: du wirst aufhören, Furcht zu haben, wenn du aufhörst zu hoffen. – Die Furcht ist eine Folge der Hoffnung. Ich wundere mich nicht über diese Verknüpfung, denn beide sind Ausdruck mangelnden inneren Gleichgewichtes, [32]beide beruhen auf der ängstlichen Erwartung der Zukunft. So wird das Vermögen der Vorausschau – dieses höchste Gut des Menschseins – zum Übel verkehrt. Tiere fliehen nur die Gefahr, die ihnen unmittelbar vor Augen steht. Sind sie ihr entronnen, so sind sie ruhig. Wir quälen uns auch mit dem Zukünftigen und mit dem Vergangenen ab. Niemand ist nur durch gegenwärtiges Leid unglücklich.

ICH FREUE MICH DES LERNENS, UM LEHREN ZU KÖNNEN

Ich bemerke, mein Lucilius, daß ich nicht nur ein besserer Mensch werde, sondern mich vollkommen verwandle. Damit will ich nicht behaupten, es sei nichts mehr in mir, das der Wandlung bedarf. Das wage ich nicht einmal zu hoffen. Habe ich doch noch viele Eigenschaften, die der Sammlung bedürfen, die abgeschwächt oder ausgetilgt werden müssen! Gerade das aber ist ein Beweis dafür, daß wir auf dem Wege der Besserung sind, wenn wir unsere Fehler, von denen wir bisher nichts wußten, klar erkennen. Manche Kranke beglückwünscht man, wenn sie anfangen, sich krank zu fühlen. Ich habe das Bedürfnis, dich teilnehmen zu lassen an dieser meiner plötzlichen inneren Wandlung. Dann erst kann ich richtiges Vertrauen zu unserer Freundschaft haben, einer wahren Freundschaft, die weder durch Hoffnung und Furcht noch durch Sorge um eigenen Vorteil zerrissen werden kann, einer Freundschaft, die man mit in den Tod nimmt, für die man in den Tod geht. Ich könnte dir viele Menschen nennen, die wohl Freunde hatten, aber keine wirkliche Freundschaft kannten. Das ist nicht möglich, wenn uns ein gemeinsames geistiges [33]Streben nach dem Guten leitet. Du kannst nicht ermessen, wieviel Tatkraft mir Tag für Tag zuströmt.

Schicke auch mir, sagst du, jene Heilmittel, die sich bei dir als derartig wirksam erwiesen haben. –

Tatsächlich will ich dich gern mit meinen Schätzen überschütten, freue ich mich doch nur deshalb des Lernens, damit ich selbst lehren kann. Eine Erkenntnis, die ich nur für mich allein besitzen dürfte, würde mir keine Freude machen, mag sie auch noch so überragend und heilsam sein. Würde mir die Weisheit nur unter der Bedingung geschenkt, daß ich sie in mir verschlossen hielte und sie nicht verkündete, ich würde sie zurückweisen. Ohne teilnehmenden Genossen macht uns kein Besitz Freude. Ich werde dir also jene Bücher schicken und, um dir die Arbeit zu erleichtern, die das Aufsuchen der weit verstreuten Sprüche von besonders wertvollem Gehalt verursachen würde, werde ich Zeichen einfügen, damit du sogleich auf die Stellen stößt, die ich selbst für wertvoll halte und bewundere. Mehr aber noch wird dir das lebendige Wort und der persönliche Umgang nützen als die philosophische Abhandlung. Du mußt selbst zu mir kommen. Erstens glaubt man den Augen mehr als den Ohren, dann aber ist auch der Weg über die Vorschriften lang, dagegen kurz und wirkungsvoll der Weg über das lebendige Beispiel. Kleanthes hätte Zenons Lehre nicht so deutlich darstellen können, wenn er ihn nur gehört hätte. Aber er lebte mit ihm, hatte Einblick in die geheimsten Dinge und konnte ihn beobachten, ob er auch nach seiner Moralvorschrift lebte. Platon und Aristoteles und die große Schar der weisen Schüler des Sokrates, deren Lehren sich nach den verschiedensten Richtungen entwickelten, haben größere innere Förderung aus dem Lebenswandel [34]des Sokrates gewonnen als aus seinen Worten. Metrodorus, Hermarchus und Polyaenus sind nicht durch die Schule des Epikur große Männer geworden, sondern durch die Wohngemeinschaft mit ihm.

Aber nicht allein im Interesse deines Fortschrittes will ich dich hierher holen, sondern auch zu meiner eigenen Förderung. Denn wir können einer dem anderen eine große Hilfe sein.

Ich schulde dir übrigens noch den täglichen Sold, und ich will dir deshalb noch sagen, welche Stelle bei Hekaton mir heute besondere Freude bereitete: Du fragst, sagt er, was ich erreicht habe? – Ich habe angefangen, mir selbst ein Freund zu sein. – Damit ist schon viel gewonnen, denn man kann dann niemals mehr einsam sein. Wisse auch, daß ein solcher Mensch allen ein rechter Freund sein wird.

ZIEHE DICH IN DICH SELBST ZURÜCK!

Du fragst, was man meiner Meinung nach vor allem meiden müsse? Die Masse. Noch kannst du dich ihr nicht ohne Gefahr überlassen. Ich wenigstens bekenne meine Schwäche offen: niemals bringe ich in moralischer Hinsicht meinen Charakter so zurück, wie er beim Hinausgehen war. Was ich bereits geordnet hatte, gerät wieder in Verwirrung. Einige der Fehler, die ich bereits ausgemerzt hatte, stellen sich wieder ein. Es gibt Kranke, die von langdauerndem Siechtum so geschwächt sind, daß sie keinen Schritt gehen können, ohne Schaden zu nehmen. Das gleiche erleben wir an uns, die wir uns von einer langen Krankheit unseres Charakters erholen. Die Unterhaltung mit vielen Leuten ist schädlich für uns. Jedermann empfiehlt uns irgendein Laster oder pflanzt [35]uns die Neigung dazu ein oder hängt es uns an, ohne daß wir es merken. Ein weicher Charakter, der noch nicht die genügende Festigkeit im Guten gewonnen hat, muß dem Einfluß der Masse entzogen werden. Leicht paßt man sich dem Beispiel der Mehrzahl an. Sogar die sittlichen Grundsätze eines Sokrates, Cato und Laelius hätten durch das schlechte Beispiel der Masse erschüttert werden können. Erst recht also kann keiner von uns, die wir noch damit beschäftigt sind, die rechte innere Haltung zu gewinnen, dem Ansturm der Laster widerstehen, wenn sie mit einem derart riesigen Gefolge auftreten. Ein Beispiel von Luxus oder Habgier kann schon viel Unheil stiften. Ein genußsüchtiger Tischgenosse macht aus uns einen schlaffen Weichling. Ein reicher Nachbar reizt unsere Begehrlichkeit. Ein bösartiger Weggenosse steckt auch einen reinen und harmlosen Begleiter mit seiner inneren Fäulnis an.

Ziehe dich daher soviel wie möglich in dich selbst zurück. Verkehre nur mit Menschen, durch die du selbst besser werden kannst. Laß nur solche Menschen an dich herankommen, die du besser machen kannst. Die innere Förderung ist dann gegenseitig, denn man lernt, wenn man lehrt.

Es ist auch nicht gut, wenn dich ruhmbegieriges Verlangen, deine Begabung sehen zu lassen, zu öffentlichem Auftreten verleitet und wenn du den Leuten deine Arbeiten vorlesen und mit ihnen diskutieren willst. Ich hätte vielleicht nichts dagegen, wenn du etwas zu bieten hättest, das für die Menge geeignet wäre. Aber keiner kann dich wirklich verstehen. Vielleicht der eine oder der andere. Aber auch diesen wirst du dir noch formen und erziehen müssen, damit er dich verstehen lernt.

[36]

Für wen also habe ich das alles gelernt? Du mußt nicht fürchten, du habest dich umsonst angestrengt. Du hast für dich selbst gelernt.

Damit ich aber heute nicht nur für mich allein gelernt habe, will ich dir einige ausgezeichnete Aussprüche mitteilen, auf die ich heute stieß, und zwar drei an der Zahl von fast gleichem Inhalt. Demokrit[73] sagt: »Einer gilt mir soviel wie die Masse und die Masse soviel wie einer.« – Schön antwortete auch jener Weise – es steht nicht fest, wer es gewesen ist – auf die Frage, warum er soviel Sorgfalt auf eine Arbeit verwende, die doch nur ganz wenigen zugute kommen würde: »Wenige sind mir genug, einer ist mir genug, keiner ist mir genug.« – Wundervoll sagt schließlich Epikur, wenn er an einen Genossen seiner philosophischen Bestrebungen schreibt: »Das schreibe ich nicht für die Masse, sondern für dich, denn einer sind wir dem anderen eine Zuhörerschaft von genügender Größe.« –

Solche Worte, mein Lucilius, solltest du dir zu Herzen nehmen. Dann wirst du auch das Vergnügen verachten lernen, das öffentliche Anerkennung gewähren kann. Es loben dich viele. Aber hast du Grund, mit dir zufrieden zu sein, wenn dich viele verstehen? Deine wahren Werte sollen innerlicher Art sein.

ICH BETREIBE DIE SACHE KOMMENDER GENERATIONEN

»Du forderst mich auf, die Masse zu meiden, mich zurückzuziehen und mit dem stillen Bewußtsein meines moralischen Wollens zufrieden zu sein? Wo bleiben da eure Vorschriften, die besagen, man [37]solle bis zum letzten Atemzuge unermüdlich tätig sein?« –

Aber gerade dazu will ich dich überreden. Habe ich mich doch nur deshalb in die Einsamkeit zurückgezogen und meine Türe verschlossen, damit ich für eine größere Anzahl von Menschen segensreich tätig sein kann. Kein Tag vergeht mir in trägem Nichtstun. Noch einen Teil der Nacht widme ich meinen wissenschaftlichen Arbeiten. Ich überlasse mich nicht freiwillig dem Schlaf, sondern ich werde von ihm überwältigt. Ich hefte meine Augen auf die Arbeit, auch wenn sie von durchwachten Nächten ermüdet sind und zuzufallen drohen. Nicht nur von den Menschen habe ich mich zurückgezogen, sondern auch von den Geschäften, insbesondere von meinen eigenen Geschäftsangelegenheiten. Ich betreibe die Sache kommender Generationen. Für sie schreibe ich einiges auf, was von segensreicher Wirkung sein könnte. Heilsame Ermahnungen, gleichsam Rezepte nützlicher Heilmittel, schreibe ich nieder. Ich habe ihre Wirksamkeit an meinen eigenen Geschwüren erprobt. Wenn diese auch noch nicht ausgeheilt sind, so haben sie doch aufgehört, weiterzufressen. Den rechten Weg, den ich reichlich spät und nach langem Umherirren erkannte, will ich anderen zeigen. Ich rufe: Meidet, was den Beifall der Menge findet, was euch der Zufall schenkt! Bedenkt, daß außer dem Geist nichts bewundernswert ist! Wenn er groß ist, so erscheint ihm nichts anderes mehr groß. – Wenn ich so mit mir, so mit der Nachwelt spreche, meinst du nicht auch, ich entfalte dann eine viel segensreichere Tätigkeit, als wenn ich als Sachverständiger Bürgschaft leiste, mein Siegel auf Testamentsurkunden drücke oder im Senat einem Kandidaten Stimme und Hand [38]leihe? Glaube mir, die weisen Männer, die anscheinend nichts treiben, sind in Wahrheit für größere Aufgaben tätig: menschliche und göttliche Angelegenheiten bearbeiten sie zu gleicher Zeit.

Aber ich muß schließen und will nur noch, wie ich mir vornahm, für diesen Brief eine kleine Gebühr zahlen. Ich zahle nicht aus eigener Tasche. Bisher plündere ich immer noch den Epikur, bei dem ich heute folgenden Ausspruch las: Der Philosophie mußt du dienen, wenn dir wahre Freiheit zuteil werden soll.

EINSAMKEIT IST GEFÄHRLICH

Es ist so, ich habe meine Meinung nicht geändert: Fliehe vor der Menge, fliehe vor den wenigen, fliehe auch vor einem! Ich wüßte keinen, mit dem ich dich ständig zusammensehen möchte. Du siehst, welch hohe Meinung ich von dir habe: ich wage es, dich dir selbst anzuvertrauen.

Man erzählt sich von Krates[74], er habe einen Jüngling, den er auf einsamen Wegen wandeln sah, gefragt, was er da allein täte. Der antwortete: ich spreche mit mir selbst. Krates antwortete ihm: Nimm dich in acht und sei auf der Hut! Du sprichst mit einem schlechten Menschen. –

Trauernde und ängstliche Menschen pflegen wir genau zu beobachten, damit sie in der Einsamkeit nicht auf dumme Gedanken kommen. Unverständige Menschen sollte man überhaupt nicht sich selbst überlassen. Dann überdenken sie nämlich schlimme Pläne, dann schaffen sie die Voraussetzungen für künftige gefährliche Situationen, in die sie sich und andere [39]bringen werden, dann lassen sie ihre verwerflichen Triebe der Reihe nach aufmarschieren. Alle schlechten Neigungen, die sich vorher aus Furcht oder Scham nicht hervorwagten, offenbaren sich dann. Es wächst dann die Kühnheit, es steigt die Begierde, es schwillt der Zorn. Führe dir also vor Augen, was ich mir von dir erhoffe, nein, was ich mir vielmehr fest von dir verspreche – denn Hoffnung wäre nur die Bezeichnung eines ungewissen Wertes –: »Ich wüßte nicht, mit wem ich dich lieber zusammensähe als mit dir selbst.«

WÄHLE DIR EIN VORBILD!

Wir sollten uns einen sittlich hochstehenden Menschen ausersehen und ihn immer vor Augen haben. Dann werden wir so leben, als sähe er uns zu, und so handeln, als geschähe alles vor seinen Augen. Das, mein Lucilius, schlägt Epikur vor. Einen Wächter und Erzieher gibt er uns und mit Recht, denn ein großer Teil unserer Verfehlungen würde vermieden, wenn uns ein Zeuge zur Seite stünde, sobald die Versuchung an uns herantritt. Wir sollten uns einen Menschen ausersehen, zu dem wir in Verehrung aufblicken können. Seine Autorität sollte auch unsere verborgensten Gedanken heiligen. Glücklich, wer nicht nur durch seine Anwesenheit bessernd auf uns wirkt, sondern solchen segensvollen Einfluß schon ausübt, wenn man nur an ihn denkt. Glücklich auch, wer einen Menschen so stark verehren kann, daß er allein durch das Denken an ihn sein Inneres beruhigt und ordnet. Wer einen anderen Menschen so stark zu verehren vermag, wird selbst bald der Verehrung würdig sein.

Wähle dir also den Cato oder, wenn der dir zu starr erscheint, einen Mann milderer Sinnesart, wie Laelius[75]. [40]Wähle dir einen, dessen Wort und dessen Lebenswandel dir Achtung gebietet, dessen hohe Gesinnung sich schon in seinen Gesichtszügen ausprägt. Ihn halte dir immer als Schirmherrn und als Beispiel vor Augen. Wir müssen jemand haben, nach dem wir unsere moralische Lebenshaltung ausrichten können. Ohne eine Richtschnur kann man Fehler nicht korrigieren.

ERWARTE KEIN LANGES LEBEN!

Wohin ich mich wende, überall finde ich neue Beweise dafür, daß ich ein alter Mann geworden bin. Ich besuchte mein Landgut nahe der Stadt und beklagte mich über die Kosten für das einfallende Gebäude. Mein Verwalter beteuert, es sei nicht Schuld seiner Nachlässigkeit, er tue alles, aber das Landhaus sei alt. Dieses Haus wuchs aber unter meinen Händen empor: was habe ich wohl noch zu erwarten, wenn sogar Steine, die so alt sind wie ich, schon zerbröckeln?

Ärgerlich ergreife ich die nächste Gelegenheit, ihm meinen Unwillen zu zeigen: »Diese Platanen werden offensichtlich vernachlässigt, sie haben keine Blätter. Wie knotig und dürr sind ihre Äste, wie rauh und ungepflegt die Stämme! Das wäre nicht so, wenn man den Boden um die Bäume herum gelockert, wenn man für Wasser gesorgt hätte.« – Er schwört bei meinem [41]Genius, er tue alles, er lasse es nirgends an Fürsorge fehlen, aber die Bäume seien alt. Unter uns gesagt – ich habe sie selbst gepflanzt und ihr erstes Laub gesehen.

Ich verdanke es meinem Landgut, daß es mir mein hohes Alter vor Augen führt, wohin ich mich wende. Dieses Alter aber wollen wir liebevoll behandeln und ihm unsere Zuneigung schenken, denn es bietet eine Fülle von Freuden, wenn man es zu nützen weiß. Wie schön ist es, seiner Begierden überdrüssig zu werden und sie hinter sich zu lassen! »Aber« – meinst du – »es ist doch ein unangenehmes Gefühl, den Tod vor Augen zu haben.« Den Tod muß der Jüngling ebenso vor Augen haben wie der Greis, werden wir doch nicht nach Jahresklassen abgerufen. Man soll daher jeden Tag so einrichten, als schlösse er die Reihe unserer Tage ab, als setze er dem Leben ein Ziel und Ende.

Pacuvius, der Ausbeuter Syriens, ließ sich nach übermäßigem Weingenuß von seinen unseligen Prassereien mit folgender Zeremonie in sein Schlafzimmer bringen: Unter dem Klatschen seiner Lustknaben wurde zur Musik gesungen: »Ich habe gelebt, ich habe gelebt.« So trieb er es jeden Tag. Was er mit schlechtem Gewissen tat, sollten wir im Bewußtsein unseres moralischen Wollens tun. Beim Schlafengehen sollten wir uns sagen: »Ich habe gelebt und den mir vom Schicksal bestimmten Weg zurückgelegt. Wenn Gott uns noch ein Morgen schenkt, werden wir es freudig entgegennehmen.« Höchstes Glück und ein Gefühl innerer Sicherheit besitzt, wer den morgigen Tag ohne unruhige Spannung erwartet. Wer sich am Abend gesagt hat: »Ich habe mein Leben gelebt«, erhebt sich jeden Morgen mit dem Gefühl, daß ihm ein unerwarteter Gewinn zufällt.

[42]

Aber nun muß ich den Brief schließen. So wird er, meinst du, ohne eine Zugabe an mich gelangen? Habe keine Sorge, er bringt etwas mit. Warum sage ich nur etwas? Ist es doch viel. Denn es ist ein ganz ausgezeichneter Spruch, den ich diesem Brief für dich mitgebe: »Schlimm ist es, in Bedrängnis zu leben, aber in Bedrängnis zu leben, drängt uns nichts.« Warum nicht? Stehen doch überall viele Wege in die Freiheit offen, kurze und bequeme. Danken wir Gott, daß niemand im Leben festgehalten werden kann. Wir haben die Möglichkeit, alle widrigen Umstände niederzutreten. Du meinst: »Das sagt Epikur. Was hast du mit fremdem Eigentum zu schaffen?« – Ein Wort, das eine Wahrheit enthält, ist auch mein geistiges Eigentum. Ich werde dir sogar immer wieder den Epikur vorhalten, damit die Leute, die nur auf die Lehren einer Schule schwören, die nicht zu schätzen wissen, was gesagt wird, sondern nur darauf achten, von wem es gesagt wird, – damit diese Leute erfahren, daß gerade die wertvollsten Erkenntnisse gemeinsames Geistesgut der Menschheit sind.

WENN DU PHILOSOPHIERST, STEHT ES GUT

Es war bei unseren Vorfahren üblich – und diese Sitte hielt sich noch bis in meine Tage –, den Anfangsworten eines Briefes den Satz anzufügen: »Wenn du gesund bist, steht es gut; ich bin gesund.« Mit Recht könnten wir dagegen sagen: »Wenn du philosophierst, steht es gut.« Denn das ist erst die wahre Gesundheit. Sonst stände es schlecht um unsere geistige Gesundheit, und auch der Körper, mag er noch so kräftig sein, hätte dann nur die Kraft, wie sie auch ein Wütender [43]und Wahnsinniger hat. Sorge also vor allem für deine geistige Gesundheit, in zweiter Linie auch für die körperliche, die dich nicht viel kosten wird, wenn es dir um nichts anderes geht, als gesund zu sein.

Ich will dich durchaus nicht veranlassen, immer nur über Büchern und Schreibtafeln zu hocken. Man muß sich auch einige Erholung gönnen, nicht, um sich zu verweichlichen, sondern zur Entspannung. Ein Ausflug in der Sänfte rüttelt den Körper durch und hindert uns doch nicht an geistiger Beschäftigung: Du kannst dabei lesen, diktieren, dich unterhalten und zuhören. Dies alles ist nicht einmal beim Spazierengehen unmöglich.

HABE AUSDAUER!

Es ist dir klar, mein lieber Lucilius – davon bin ich überzeugt –, daß man ohne eifriges Studium der Weisheit kein glückliches Leben führen kann, nicht einmal ein erträgliches. Du weißt, ein glückliches Leben ist die Frucht vollendeter Weisheit. Aber auch ein erträgliches Leben ist schon möglich, wenn man nur den Weg zur Weisheit beschritten hat. Diese einleuchtende Erkenntnis müssen wir jedoch festigen und durch tägliche Betrachtung tiefer in uns verankern. Es gehört nämlich mehr Energie dazu, an guten Vorsätzen festzuhalten, als edle Entschlüsse zu fassen. Man muß daher Ausdauer haben und seinem Entschluß durch ständige Anstrengung Kraft geben, bis schließlich guter Charakter geworden ist, was jetzt noch guter Wille ist. So habe ich dir gegenüber nicht viele Worte zu machen; denn ich sehe, daß du gute Fortschritte gemacht hast. Ich weiß auch, aus welcher Gesinnung deine Briefe stammen. Es sind keine verlogenen [44]und nur auf Schein berechneten Worte. Ich will dir jedoch offen sagen, was ich empfinde. Ich hege die schönsten Hoffnungen für dich, aber ich habe noch kein felsenfestes Zutrauen zu dir. Ich wollte, du tätest das gleiche. Du darfst dir nicht vorschnell und leichtfertig trauen. Erforsche dein Inneres mit größter Gründlichkeit nach den verschiedensten Richtungen und beobachte dich. Achte vor allem darauf, ob du nur in der Philosophie oder im Leben selbst Fortschritte gemacht hast. Die Philosophie ist keine Fertigkeit, mit der man vor die Masse treten kann. Sie ist nicht zur Schaustellung geeignet. Ihr Wesen liegt nicht in Worten, sondern in Taten. Man nimmt sie nicht zu Hilfe, um den Tag mit einem Zeitvertreib hinzubringen, um die Untätigkeit erträglich zu machen. Die Philosophie will uns innerlich formen und bilden. Sie regelt unser Leben und leitet unsere Handlungen. Sie zeigt uns, was wir tun und lassen sollen. Sie hat das Steuer in der Hand und lenkt unsere Fahrt durch die verschiedensten Strömungen. Die Philosophie allein garantiert uns ein Leben ohne Furcht, ein Leben in Sicherheit. Unzählige Zwischenfälle ereignen sich jede Stunde und fordern von uns besonnene Klugheit, die wiederum eine Gabe der Philosophie ist.

Es könnte einer sagen: »Was nützt mir die Philosophie, wenn es ein unerbittliches Schicksal gibt? Was nützt sie mir, wenn Gott unser Führer ist? Was nützt sie mir, wenn der Zufall regiert? Wenn alles vorherbestimmt ist, kann man nichts daran ändern. Gegen das Ungewisse andererseits nützen keine Vorbereitungen. Entweder beherrscht Gott meine Entschlüsse und bestimmt, was ich tun soll, oder das Schicksal läßt meinen Entschlüssen keine Freiheit.«

[45]

Was auch daran wahr sei, mein Lucilius, mag auch alles dies zutreffen – die Philosophie hat ihre Daseinsberechtigung. Ob uns ein unerbittliches Schicksalsgesetz bindet, ob Gott als Herr des Universums alles vorausbestimmt hat, ob ein regelloser Zufall mit dem Menschenleben sein Spiel treibt und uns hin und her schüttelt – die Philosophie muß uns Schutz gewähren. Sie wird uns mahnen, Gott gern zu gehorchen, dem Schicksal Trotz zu bieten. Sie wird uns lehren, Gott Folge zu leisten, das Spiel des Zufalls zu ertragen.

Aber es ist hier nicht der Ort, in die Diskussion der Frage einzutreten, welche Rechte uns noch bleiben, wenn eine Vorsehung regiert oder wenn ein schicksalsmäßiger Ablauf der Ereignisse unser Leben bestimmt oder wenn unvermutete Zufälle herrschen. Ich kehre daher zurück zu meiner Mahnung: Laß den schönen Aufschwung deines Geistes nicht erlahmen und erstarren! Halte ihn durch und gib ihm Festigkeit, damit Charaktereigenschaft wird, was jetzt noch strebendes Bemühen ist.

GEWÖHNE DICH AN DIE ARMUT!

Es ist jetzt Dezember, und die ganze Bevölkerung ist in Aufruhr. Jeder darf jetzt seiner Vergnügungssucht freien Lauf lassen. Überall spricht man von großen Festvorbereitungen, als sei noch ein Unterschied zwischen den Saturnalien[76] und den Arbeitstagen. Tatsächlich aber besteht kein Unterschied mehr. Man [46]geht wohl nicht fehl, wenn man sagt, daß früher der Dezember einen Monat gedauert habe, jetzt aber ein Jahr.

Man kann aber einen Festtag auch ohne großen Aufwand feiern. Ich will nämlich deine innere Festigkeit auf die Probe stellen und schreibe dir daher vor, was sich schon manche große Männer zur Lebensregel machten: Schalte einige Tage ein, an denen du dich mit wenig und einfacher Speise, mit derber und schmuckloser Kleidung begnügst und sage dir dann: »Das also ist es, wovor man solche Furcht hat!« So kann man sich innerlich auf Schwierigkeiten vorbereiten, solange man noch in Sicherheit ist, und sich eine Waffe gegen die Schicksalsschläge schmieden, solange es einem noch gut geht. Der Soldat lernt den Sturmangriff mitten im Frieden. Er wirft Wälle auf, ohne vom Feinde bedroht zu sein, und beschäftigt sich bis zur Erschöpfung mit überflüssigen Arbeiten, um im Ernstfall seinen Mann stehen zu können. Wen du in der Gefahr nicht zittern sehen willst, mußt du vor der Gefahr üben lassen. Dieser Überlegung sind weise Leute gefolgt, wenn sie allmonatlich die Armut nachahmten und sich freiwillige Entbehrungen auferlegten, um nicht später einmal einen Zustand zu fürchten, den sie schon so oft kennengelernt hatten. Es muß aber wirklich ein einfaches Lager sein, ein kurzer Mantel, hartes und gewöhnliches Brot. Das nimm drei oder vier Tage auf dich, manchmal auch einige Tage mehr, damit es nicht Spielerei sei, sondern eine ernste Prüfung. Dann, glaube mir, mein Lucilius, wirst du beglückt sein, wenn du dich für ein paar Pfennige sättigen kannst, und du wirst einsehen, daß unsere innere Sicherheit nicht von den Geschenken des Schicksals abhängt. Denn was man für die [47]dringendsten Bedürfnisse braucht, wird uns auch noch im Unglück erhalten bleiben. Gewöhne dich an das Zusammenleben mit der Armut. Nur, wer den Reichtum verachtet, besitzt göttliche Würde. Ich will dir den Besitz von Vermögen nicht verbieten, aber ich möchte erreichen, daß du nicht um dein Geld zitterst. Das kannst du aber nur erreichen, wenn du dir vollständig darüber klar wirst, daß du auch ohne Vermögen glücklich leben könntest, wenn du deinen Reichtum immer als einen flüchtigen Besitz ansiehst.

BESTÄTIGE DEINE WORTE MIT DER TAT!

Es freut mich, wenn du gesund bist und dich für wert hältst, einmal dir selbst zu gehören. Denn mir wird der Ruhm zufallen, dir aus Verhältnissen herausgeholfen zu haben, aus denen es für dich sonst keinen Ausweg gegeben hätte. Darum aber, mein Lucilius, bitte ich dich mit mahnender Stimme: Laß dir die Philosophie bis ins innerste Herz dringen! Halte nicht Reden und Schriftsätze für einen Beweis deines Fortschritts, sondern innere Festigkeit und Minderung der Begierden. Bestätige deine Worte mit der Tat. Etwas anderes ist es was sich die Vortragskünstler als Lebenszweck gesetzt haben, wenn sie nach dem Beifall ihres Zuhörerkreises haschen. Etwas anderes schwebt auch den Leuten vor, die das Interesse der Jugend und der Nichtstuer durch die verschiedensten Erörterungen zu fesseln suchen. Die Philosophie lehrt handeln, nicht reden. Sie verlangt, daß ein jeder auch wirklich nach seiner Moralvorschrift lebt. Unser Leben soll nicht mit unserer Rede in Widerspruch stehen. Es ist oberste Pflicht eines weisen Mannes und ein Merkmal seines Wertes, daß seine Handlungen [48]mit seinen Worten zusammenstimmen, daß er überall ein und derselbe ist. – »Wer kann diese Forderung erfüllen?« – Gewiß nur wenige Menschen, aber doch einige. Schwierig ist es auf jeden Fall. Ich will auch nicht sagen, der Weise müsse immer im gleichen Schritt gehen. Er muß aber wenigstens auf demselben Wege bleiben. Beobachte dich, ob auch deine Kleidung und dein Haushalt zusammenpassen, ob du nicht großzügig nur für dich selbst bist, kleinlich aber deinen Angehörigen gegenüber, ob du nicht zwar einfach speist, aber um so prächtiger baust. Nimm dir nur eine Lebensregel zur Richtschnur deines Handelns und passe ihr dein ganzes Leben an. Manche Leute schränken sich zu Hause ein, außerhalb ihres Hauses aber suchen sie durch Verschwendung aufzufallen. Solche Unterschiedlichkeit ist ein Charakterfehler und ein Zeichen inneren Schwankens bei einem Menschen, der noch keine klare Lebenslinie gefunden hat.

Was ist Weisheit? Immer dasselbe wollen und immer dasselbe nicht wollen. Es bedarf nicht der Einschränkung: Was du willst, soll auch recht sein. Denn nur, was recht ist, kann dauernd unsere Billigung finden.

VERACHTE DEN LOHN DER VIELGESCHÄFTIGKEIT!

Du siehst schon die Notwendigkeit ein, dich von allen Beschäftigungen zu befreien, die zwar einen glänzenden äußeren Schein für sich haben, im Grunde jedoch vom Übel sind. Nun fragst du mich, wie du das bewerkstelligen kannst. Lies den Brief des Epikur an Idomeneus, der sich mit diesem Thema beschäftigt. Epikur bittet ihn da inständig, sich in Sicherheit zu bringen, bevor eine höhere Gewalt ihm die Möglichkeit [49]nimmt, sich zurückzuziehen. Doch macht er die Einschränkung, man solle es nur versuchen, wenn es angebracht sei und nur im rechten Zeitpunkt. Wenn aber die lange erwartete Gelegenheit kommt, dann müsse man freizukommen suchen. Wer auf Freiheit sinnt, darf die Hände nicht in den Schoß legen. Auch aus schwierigsten Verhältnissen kann man immer noch auf einen Ausweg hoffen, wenn man nicht vor der Zeit ungeduldig wird, im rechten Augenblick aber zögert.

Ich vermute, du willst nun auch wissen, was die Stoiker hierzu sagen. Es wäre ganz unbegründet, ihnen den Vorwurf der Unbesonnenheit zu machen. Sie sind eher zu vorsichtig als zu waghalsig. Du erwartest vielleicht, sie würden sagen: »Es ist schimpflich, sich einer schwierigen Aufgabe zu entziehen. Ringe mit der einmal übernommenen Lebensaufgabe! Wer die Anstrengung scheut, ist kein tapferer und entschlossener Mann. Mit den Schwierigkeiten der Umstände muß unser Mut wachsen.«

So werden die Stoiker sprechen, wenn die Arbeit es wert ist, daß man dabei aushält, wenn sie einen guten Menschen nicht zwingt, etwas Unwürdiges zu tun oder über sich ergehen zu lassen. Andernfalls wird er sich in einer unerfreulichen und entehrenden Arbeit nicht aufreiben und wird nicht bei einer Tätigkeit aushalten allein um der Tätigkeit willen. Er wird auch nicht, wie du vielleicht denkst, ewig von der glühenden Sucht, vorwärtszukommen, beherrscht sein, wenn er einmal die Bahn des Ehrgeizes beschritten hat. Sobald er nämlich die Schwierigkeit, Unsicherheit und Gefährlichkeit der Angelegenheiten, in die er sich verwickeln ließ, erkennt, wird er sich zurückziehen. Er wird sich zwar nicht zur Flucht wenden, [50]aber er wird sich allmählich in Sicherheit bringen. Es ist leicht, mein Lucilius, den Beschäftigungen zu entrinnen, wenn man den Lohn der Vielgeschäftigkeit verachtet. Denn es sind Gedanken dieser Art, die uns zögern lassen und uns zurückhalten: »Was denn, soll ich alle diese hohen Erwartungen unerfüllt lassen? Soll ich meine Ernte liegenlassen? Werde ich dann nicht ohne Weggenossen sein, wird meine Sänfte nicht ohne Begleitung, meine Vorhalle nicht leer sein?« – Das also sind die Herrlichkeiten, von denen man sich so ungern trennt. Die Menschen schätzen den Lohn von Beschwerlichkeiten, die sie an sich verwünschen.

Es ist so, mein Lucilius: Nur wenige Menschen sind ein Opfer der Knechtschaft, die meisten halten die Knechtschaft selbst fest.

LERNE DICH FREUEN!

Glaubst du etwa, ich würde dir schreiben, wie sanft uns der Winter behandelt hat, der mild und kurz war, wie bösartig dagegen der Frühling mit seiner ungewöhnlichen Kälte gewesen ist und andere Albernheiten, mit denen sich Leute, die sich nichts zu sagen haben, unterhalten? Ich will dir vielmehr etwas schreiben, das mir und dir Segen bringen kann. Nichts anderes kann das sein als eine Ermahnung zu edler Geisteshaltung. Du fragst nach der Grundlage solcher Geisteshaltung? Freue dich nicht an gehaltlosen Dingen! Ich sagte, das sei die Grundlage, aber es ist schon der Höhepunkt. Das höchste Ziel hat erreicht, wer weiß, worüber er sich freuen soll, wer sein Glück nicht von fremder Macht abhängig macht. Sorge vor allem für eines, mein Lucilius: Lerne dich [51]freuen! Du glaubst vielleicht, ich entziehe dir viele Freuden, wenn ich die Geschenke des Zufalls beiseite lege, wenn ich dich mahne, die Hoffnung, jene süße Erquickung, aufzugeben? Im Gegenteil, ich will, daß dich die Freude niemals verläßt. Ich möchte sie bei dir auf eigenem Boden wachsen sehen. Das wird geschehen, wenn sie innerlicher Art ist. Die anderen Arten der Fröhlichkeit erwärmen das Herz nicht, sie glätten nur die Sorgenfalten und sind oberflächlich.

Du meinst doch nicht etwa, Freude sei gleichbedeutend mit Lachen. Man muß vielmehr innerlich voll Lust zum Handeln sein, voll Selbstvertrauen und Mut gegenüber allen Schwierigkeiten. Glaube mir, die wahre Freude ist eine ernste Angelegenheit. Geh den Weg, mein Lucilius, ich bitte dich, der allein glücklich machen kann: Wirf weg und verachte, was nur äußerlich glänzt, was dir dieser oder jener in Aussicht stellt. Schau auf den wahren Wert und freue dich deines Besitzes. Welcher Besitz ist dabei gemeint? Du selbst und der bessere Teil deines Wesens. Halte dies Körperchen, mag man auch ohne es nichts ausrichten, eher für ein notwendiges Übel als für eine bedeutsame Einrichtung: Nur gehaltlose und kurze Vergnügungen gewährt uns der Körper, über die wir zudem oft noch Reue empfinden. Sie schlagen übrigens leicht ins Gegenteil um, wenn sie nicht mit größter Zurückhaltung genossen werden. Maßhalten aber ist schwer bei Dingen, die man für gut hält. Das Streben nach dem wahren Wert aber birgt keine Gefahren in sich. Du fragst, worin dieser wahre Wert besteht und wovon er sich herleitet. Ich antworte: Aus dem guten Gewissen, aus edlen Entschlüssen, aus rechten Handlungen, aus der Verachtung des Zufalls, aus dem ruhigen und gleichmäßigen Ablauf des Lebens, dem [52]ein klares Ziel gesetzt ist. Denn wie sollten Leute, die von einem Plan zum anderen springen – oder nicht einmal springen, sondern durch die zufälligen Umstände gedrängt werden –, Sicherheit und Beharrlichkeit kennen, wo sie doch schwankend in der Luft hängen? Wenige nur sind es, die sich und ihre Beschäftigungen einem festen Plane unterordnen. Die übrigen schreiten nicht selbst voran, sondern lassen sich treiben, wie der Unrat, der auf den Flüssen schwimmt. Daher soll man sich entscheiden, was man eigentlich will und soll diesem Entschluß treu bleiben.

Es ist nun Zeit, meine Schuld einzulösen. Ich kann dir ein Wort deines Epikur zukommen lassen und damit diesen Brief freikaufen: »Beschwerlich ist es, immer wieder mit dem Leben anzufangen.« Vielleicht kommt der Sinn bei folgender Formulierung noch besser heraus: »Es ist ein erbärmliches Leben, immer wieder mit dem Leben zu beginnen.« Warum – meinst du –, denn dies Wort bedarf einer Erklärung. Weil das Leben solcher Leute immer Stückwerk bleibt. Wer gerade anfängt zu leben, kann nicht in Todesbereitschaft stehen. Wir sollen dafür sorgen, daß wir genug gelebt haben. Das bringt keiner zuwege, der gerade erst mit dem Leben beginnt. Denke nicht, so ginge es nur wenigen Leuten. Fast alle sind in der gleichen Lage. Wenn du das schon für verwunderlich hältst, dann werde ich noch eine These hinzufügen, über die du dich vielleicht noch mehr wundern wirst: Manche Leute haben schon aufgehört zu leben, bevor sie mit dem Leben begonnen haben.

[53]

BEREITE DICH AUF DEN TOD VOR!

Kürzlich schrieb ich dir, es sei mir zum Bewußtsein gekommen, wie alt ich geworden bin. Jetzt glaube ich fast, ich habe schon das Greisenalter hinter mir gelassen. Diese Jahre und dieser Körperzustand verdienen schon eine andere Bezeichnung. Denn auch das Greisenalter ist nur ein Zustand der Erschlaffung, nicht des völligen Niederbruchs. Mich aber mußt du jetzt zu den Gebrechlichen rechnen, die am äußersten Ende angelangt sind. Doch habe ich mich nicht zu beklagen. Geistig spüre ich noch keine Ausfallserscheinungen, so sehr ich auch die körperlichen Schäden des Alters empfinde. Nur meine Fehler und die Werkzeuge meiner Fehler sind alt geworden. Meine geistige Kraft aber ist ungebrochen, und ich freue mich, nicht mehr viel mit dem Körper zu schaffen zu haben. Mein geistiges Wesen hat einen großen Teil seiner Last abgelegt. Es ist froh und diskutiert mit mir über den Wert des Greisenalters: Das Alter sei die Blütezeit des Geistes. Glauben wir dieser Behauptung. Möge diese schöne Zeit recht angewendet werden.

Hierdurch fühle ich mich veranlaßt, darüber nachzudenken und zu untersuchen, was ich von dieser Ruhe und Leidenschaftslosigkeit meines sittlichen Verhaltens der Weisheit verdanke und was dem Alter. Ich suche sorgsam zu ergründen, was ich nicht mehr tun kann und was ich nicht mehr tun will.

»Es ist aber ein unangenehmes Gefühl« – meinst du –, »die Abnahme der eigenen Kräfte zu beobachten, dem Tod ins Auge zu sehen und – um das Ding beim rechten Namen zu nennen – zu verwesen. Werden wir doch nicht mit einem Schlage umgeworfen und niedergestreckt, [54]sondern nach und nach geschwächt. Jeder Tag nimmt uns etwas von unseren Kräften.« Es ist aber doch ein schönes Ende, allmählich mit der natürlichen Auflösung zu erlöschen. Zwar ist auch das schlagartige und plötzliche Lebensende nichts Schlimmes, das geräuschlose Abtreten hat jedoch den Vorzug, daß es so sanft geschieht. Ich beobachte mich, als käme, wie eine Art Bewährungsprobe, der Tag, der über alle meine Jahre das Urteil sprechen wird, und ich sage mir: »Ohne Bedeutung ist, was ich bisher mit Wort und Tat geleistet habe. Das sind nur schwache und trügerische Beweise meiner Gesinnung, die ich in prunkvolle Worte kleide. Meinen Fortschritten kann ich erst im Angesicht des Todes Glauben schenken. Furchtlos bereite ich mich daher auf den Tag vor, wo ich ohne viele Worte ungeschminkt über mich werde urteilen können, ob ich nur tapfere Worte machte oder wirklich so empfand, ob es nur Verstellung und Komödie war, was ich an trotzigen Worten gegen das Schicksal schleuderte. Laß das Urteil der Menschen unberücksichtigt, es wird immer zweifelhaft sein. Laß auch die wissenschaftlichen Studien außer acht, die du dein ganzes Leben lang betrieben hast: Der Tod wird über dich das Urteil sprechen. Ich behaupte: Erörterungen und gelehrte Gespräche, Sprüche, die wir uns aus den Vorschriften weiser Männer zusammensuchen und ein gepflegter Vortrag sind noch kein Beweis für wahre Gesinnungsstärke. Denn mit Worten sind auch die größten Feiglinge tapfer. Was du zuwege gebracht hast, wird offenbar werden, wenn es ans Sterben geht. Ich nehme diese Bedingung an, ich fürchte den Urteilsspruch nicht.«

So spreche ich mit mir, aber auch du magst dich von [55]diesem Wort angesprochen fühlen. Zwar bist du jünger, aber was macht das aus? Unsere Jahre werden nicht abgezählt. Wo dich der Tod erwartet, ist ganz ungewiß. Erwarte du ihn also überall.

Schon wollte ich aufhören und zum Schlußwort ansetzen. Aber Schulden müssen abgetragen werden und diesem Brief muß ein Reisegeld beigelegt werden. Auch wenn ich nicht sage, bei wem ich meine Anleihe mache, weißt du doch, wessen Schatzkammer ich mir dienstbar mache. Warte noch ein wenig, und ich werde aus eigener Tasche zahlen. Inzwischen leiht mir Epikur den Spruch: Bereite dich auf den Tod vor oder, wenn uns die Bedeutung dieses Ausspruchs in folgender Formulierung besser eingeht: Es ist etwas Bedeutsames, sich an den Tod zu gewöhnen. Vielleicht meinst du, es sei überflüssig, zu lernen, was man nur einmal brauchen wird. Gerade deshalb müssen wir uns in Gedanken darauf vorbereiten. Immer gilt es zu lernen, wovon wir nicht in Erfahrung bringen können, ob wir es auch wirklich verstehen. Bereite dich auf den Tod vor, das will sagen, bereite dich auf die Freiheit vor! Wer sterben gelernt hat, hört auf, Knecht zu sein. Über alle Macht ist er erhaben, mindestens aber steht er außerhalb fremden Machtbereiches. Was können ihm Kerker, Wachtposten und Riegel anhaben? Er hat einen freien Ausgang. Nur eine Kette ist es, die uns gebunden hält: die Liebe zum Leben. Soll man diese Liebe zum Leben auch nicht ganz aufgeben, so gilt es doch, sie soweit zu dämpfen, daß uns – fordern es einmal die Umstände – nichts zurückhält, hindert oder unsere Bereitschaft herabsetzt, sogleich den Schritt zu tun, der doch einmal getan werden muß.

[56]

DEINE FEHLER MÖGEN VOR DIR STERBEN

»Du ermahnst mich?« fragst du. »Hast du dich denn schon selbst zur Ordnung gerufen und zurechtgesetzt? Hast du daher Zeit, dich um die Besserung anderer zu kümmern?« –

Ich bin nicht so vermessen, daß ich mich als Kranker an die Behandlung anderer mache. Da wir aber im gleichen Krankenhaus liegen, will ich mit dir über unsere gemeinsame Krankheit sprechen und dir Heilmittel nennen. Höre mich also an, als spräche ich mit mir selbst. Ich lasse dich in mein Inneres blicken und verhandle mit mir in deiner Gegenwart. Ich rufe mir selbst zu: Erinnere dich, wie alt du bist, und du wirst dich schämen, daß du immer noch dasselbe willst und betreibst, was du als Knabe gewollt hast. Du solltest doch wenigstens im Angesicht des Todes erreichen, daß deine Fehler vor dir sterben.

NIE WOLLTE ICH DER MASSE GEFALLEN

»Niemals wollte ich der Masse gefallen. Denn was ich weiß, schätzt die Masse nicht, und was die Masse schätzt, davon will ich nichts wissen.« – Wer sagt das? fragst du. Als ob du nicht wüßtest, wen ich für mich liefern lasse! Es ist Epikur. Aber dasselbe werden dir auch die weisen Leute aus allen anderen Schulen bestätigen, die Peripatetiker, die Akademiker[77], die Stoiker und die Kyniker. Denn wie sollte einer der Masse gefallen, der sich eines rechten sittlichen Verhaltens befleißigt. Nur mit verwerflichen Mitteln ist die Gunst der Masse zu gewinnen. Du mußt ihnen ähnlich [57]werden. Sie billigen nur, worin sie sich wiedererkennen. Es ist aber viel bedeutsamer, was du selbst von dir hältst, als was andere von dir halten. Die Liebe des Pöbels kann nur mit üblen Mitteln gewonnen werden. Was haben wir also von jener gepriesenen Philosophie, die man allen anderen Wissenschaftszweigen vorziehen soll? Wohl dies, daß man mehr Wert darauf legt, vor sich selbst bestehen zu können als vor anderen. Man lernt die Urteile auf ihr Gewicht, nicht nur auf ihre Anzahl prüfen. Man lernt, ohne Furcht vor Göttern und Menschen zu leben, die eigenen Fehler aber zu besiegen oder ihnen ein Ende zu setzen. Sehe ich aber, daß du ein berühmter Mann bist, nach dem Urteil der Masse, erschallt bei deinem Eintreten Beifallsrufen und Klatschen – Ehrungen also, wie sie bei Schauspielern üblich sind –, ist sich die ganze Bevölkerung mit Weib und Kind im Lobe über dich einig, dann werde ich Mitleid mit dir haben. Weiß ich doch, mit welchen Mitteln du zu solchem Beifall gekommen bist.

MACH DICH SELBER GLÜCKLICH!

Stelle dich taub gegen die, die dich am meisten lieben. In bester Absicht wünschen sie dir Schlimmes. Wenn du aber glücklich sein willst, dann flehe die Götter an, es möge nichts von dem, was man dir wünscht, Wirklichkeit werden. Das sind keine wahren Werte, die man da für dich herbeiwünscht. Einen wahren Wert gibt es, der Grundlage und Stütze des glücklichen Lebens ist: Selbstvertrauen. Das kann man sich aber nur erwerben, wenn man Mühe und Anstrengung gering schätzt und sie zu den Dingen rechnet, die weder gut noch schlecht sind. Denn unmöglich [58]kann eine Sache bald schlecht, bald gut sein, bald leicht und erträglich, bald furchteinflößend. Mühevolle Anstrengung ist kein Wert. Aber die Geringschätzung der Anstrengung ist ein sittlicher Wert. Allerdings würde ich Leute verurteilen, die ihre Anstrengung an unwürdige Ziele verschwenden. Andererseits bewundere ich Menschen, die eifrig auf das Sittlich-Gute hinarbeiten, und zwar um so mehr, je mehr sie sich ins Zeug legen und je weniger sie sich ein Nachgeben und Rasten gestatten. Ihnen rufe ich zu: »Um so besser, erhebe dich voller Begeisterung und stürme diesen Abhang in einem Atemzuge!«

Anstrengung ist für edle Geister eine Stärkung. Du mußt dir also auch nicht nach den hergebrachten Segenswünschen deiner Eltern die Ziele deines Strebens setzen, die du verwirklicht sehen möchtest. Überhaupt – für einen Mann, der es schon so weit gebracht hat, ist es schimpflich, immer noch die Götter zu belästigen. Wozu verlangende Gebete? Mach dich selber glücklich! Das wirst du zustande bringen, wenn du einsiehst, daß alle wahren Werte in innigster Verbindung mit der sittlichen Vollkommenheit stehen, und daß alles Schimpfliche Ausdruck schlechter Denkungsweise ist. Was ist also sittlich gut? Gründliche Einsicht in die Dinge. Und was ist moralisch schlecht? Mangel an gründlicher Einsicht[78]. Der kluge Lebenskünstler wird je nach den Umständen manches zurückweisen, anderes wählen. Aber er fürchtet nicht, was er zurückweist, und er bestaunt nicht, was er wählt. Ihm kommt es nur darauf an, daß seine geistige Haltung groß und überlegen ist. Du darfst [59]dich nicht überwältigen und niederdrücken lassen. Es ist nicht genug, wenn du dich mühevoller Anstrengung nicht entziehst. Du solltest sie fordern. Was denn? meinst du. Nichtige und überflüssige Anstrengung, verursacht durch niedrige Anlässe, soll nicht vom Übel sein? – Nicht mehr als die Anstrengung, die für schöne Ziele aufgewendet wird. Die Fähigkeit des Ertragens, die uns in Schwierigkeiten und Widerständen ausharren läßt, ist ein Zeichen von Mut und will uns sagen: Was weichst du zurück? Es ist unwürdig für einen Mann, Anstrengungen zu scheuen.

Um aber die sittliche Vollkommenheit vollständig zu machen, ist weiter eine klare Lebenslinie und Einigkeit mit sich selbst erforderlich. Das ist jedoch nur möglich bei einem Menschen, der über klares Urteil verfügt und die Wissenschaft von den menschlichen und göttlichen Dingen beherrscht. Das ist der höchste sittliche Wert. Wenn du ihn verwirklicht hast, dann fängst du an, ein Genosse der Götter zu sein, nicht mehr ein demütiger Bittsteller. Geld macht dich nicht gottgleich: Gott besitzt keines. Auch nicht die konsularische Toga: Gott ist ohne Kleidung. Der Ruf macht es nicht und ebensowenig die Schaustellung deiner selbst oder ein großer Name, der bis zu den entferntesten Völkern dringt: Niemand kennt Gott, viele denken schlecht von ihm und werden nicht einmal dafür bestraft. Auch die Menge der Sklaven, die deine Sänfte bei Wegen in der Stadt und bei Reisen über Land tragen, macht es nicht aus: Gott in seiner Größe und Machtfülle bewegt alles selbst. Auch schöne Gestalt und Kraft kann dich nicht glücklich machen. Nichts von alledem überdauert das Alter.

Es gilt aber, etwas zu suchen, das nicht von Tag zu Tag [60]an Wert verliert, dem sich nichts in den Weg stellen kann. Was kann das sein? Nur der Geist, und auch dieser nur, wenn er recht gerichtet, moralisch gut und groß ist. Wie wolltest du ihn anders nennen als einen Gott, der in einem menschlichen Körper Wohnung genommen hat? Ein solcher Geist kann niedersteigen in einen römischen Ritter wie in einen Freigelassenen oder Sklaven. Denn was ist das: ein römischer Ritter, ein Freigelassener oder ein Sklave? Namen sind es, die ihren Ursprung in Geltungsbedürfnis und Unrecht haben. Aus dem verachtetsten Winkel aber kann man sich in himmlische Höhe erheben.

BEEILE DICH!

Ich erkundige mich über dich und frage alle Leute aus, die aus deiner Gegend kommen, was du treibst, wo du dich aufhältst und mit wem du dich abgibst. Du brauchst nicht viele Worte zu machen: Ich bin bei dir. Lebe so, als hörte ich alles, was du tust, als sähe ich sogar alles. Du fragst, was mich am meisten freut von dem, was ich über dich höre? Daß ich gar nichts höre; daß die meisten, die ich frage, nicht wissen, was du tust. Es ist eine gesunde Einstellung, sich nicht mit Leuten abzugeben, die uns unähnlich sind und deren Streben auf ganz andere Dinge gerichtet ist. Ich habe zwar das feste Zutrauen, du würdest dich nicht auf falsche Bahn drängen lassen, sondern deinem Vorsatz treu bleiben, auch wenn dich ein Schwarm von Verführern umgäbe. Welche Bedenken hast du also? – Ich fürchte nicht, sie würden dich ändern, ich fürchte nur, sie würden dich hemmen. Aber auch, wer uns nur aufhält, schadet schon viel, besonders bei dieser Kürze des Lebens, das wir durch [61]unseren Mangel an Beharrlichkeit noch kürzer machen. Fangen wir doch immer wieder etwas anderes an. So zerreißen und zerstückeln wir das Leben in kleine Teile. Beeile dich also, mein liebster Lucilius, und bedenke, daß du wohl einen Schritt zulegen würdest, wenn dir ein Feind nachsetzen würde, wenn du das Nahen des Reiters, der dem Flüchtling auf den Fersen ist, spüren würdest. So ist es tatsächlich. Man ist hinter uns her. Beeile dich daher und suche zu entkommen! Bringe dich in Sicherheit und bedenke dabei, daß es etwas Schönes ist, sein Leben schon vor dem Tode zur Vollendung zu führen. Dann kann man die restliche Lebenszeit in Ruhe abwarten und wird nichts mehr für sich begehren, da man im Besitz des glücklichen Lebens ist, das durch längere Dauer nicht glücklicher werden kann. Wann wirst du endlich den Tag erleben, an dem du weißt, daß die Zeit keine Macht mehr über dich hat, den Tag, an dem du ruhig und still sein wirst, ohne Sorgen für das Morgen, vollbefriedigt in der inneren Fülle?

Du willst wissen, was die Menschen begierig macht auf die Zukunft? Keiner ist mit sich ins reine gekommen.

Deine Eltern zwar haben dir andere Dinge gewünscht. Ich aber wünsche dir die Verachtung all der Dinge, mit denen dich deine Eltern überhäufen wollten. Nach ihren Wünschen müßten viele andere Menschen ausgeplündert werden, um dich reich zu machen. Was sie auf dich übertragen wissen wollen, muß einem anderen entzogen werden. Ich dagegen wünsche dir den beherrschten und sinnvollen Einsatz aller deiner Kräfte. So wirst du nach der Beunruhigung, die sich aus dem Schwanken deiner Entschlüsse ergab, endlich zur Ruhe kommen und eine sichere geistige [62]Haltung gewinnen. So wirst du mit dir selbst einig werden und erkennen, was die wahren Werte sind. Hast du sie aber einmal erkannt, dann besitzt du sie auch und bedarfst keiner Ausweitung deines Lebens. Wer lebt, nachdem er sein Leben zur Vollendung geführt hat, ist erhaben über die Unabänderlichkeiten des Schicksals, hat seine Dienstzeit hinter sich und ist frei.

ÜBERNIMM SELBST DAS KOMMANDO!

Du wünschst, ich solle auch diesen Briefen, wie den früheren, Aussprüche unserer Meister beifügen. Die Stoiker gaben sich jedoch keine Mühe mit Denksprüchen. Alle ihre Schriften sind gehaltvoll. Gesetzt aber, wir wollten einzelne Sprüche herauslesen, wem sollen wir sie zuschreiben? Dem Zenon, Kleanthes, Chrysippus, Panaetius oder Posidonius[79]? Wir stehen nicht unter der Herrschaft eines Königs. Jeder hat über sich freies Verfügungsrecht. Wir geben wohl den Knaben Sprüche zum Auswendiglernen, denn das kindliche Denken kann sie besser überschauen und vermag mehr noch nicht zu fassen. Für einen Mann aber, der schon in sicherem Fortschreiten ist, schickt es sich nicht mehr, nach Denksprüchen zu haschen, sich auf wenige bekannte Sprüche zu stützen und sich nur auf sein Gedächtnis zu verlassen. Vielmehr soll er auf eigenen Füßen stehen. Er mag selbst bedeutende Aussprüche tun, nicht nur solche behalten. Unwürdig ist es für einen Greis oder einen, der sich dem Greisenalter nähert, seine Weisheit nur aus Vortragsauszügen [63]seiner Lehrer zu beziehen. »So spricht Zenon« – und was hast du zu sagen? »Das sagt Kleanthes« – und was meinst du zu der Sache? Wie lange noch willst du dich der Meinung eines anderen unterordnen? Übernimm selbst einmal das Kommando und sprich ein Wort, das verdient, der Nachwelt überliefert zu werden. Äußere einmal einen eigenen Gedanken. Alle Leute aber, die niemals selbst tätig, sondern immer nur Ausleger sind, die im Schatten eines fremden Geistes ein unbekanntes Dasein führen, haben meiner Meinung nach nichts Edles an sich. Niemals getrauen sie sich selbst anzupacken, was sie lange gelernt haben. Sie üben nur die Kraft ihres Gedächtnisses an fremden Gedankengängen. Etwas im Gedächtnis haben und etwas wissen sind grundverschiedene Dinge. Etwas im Gedächtnis haben heißt, eine anvertraute Sache in Gedanken behüten. Wissen dagegen heißt, etwas zu unserem geistigen Eigentum machen, nicht immer nur vom großen Beispiel abhängig sein und andauernd nach dem Meister schielen. »Das hat Zenon gesagt, das behauptet Kleanthes« – es soll noch ein Unterschied sein zwischen dir und einem Buch. Wie lange willst du Schüler bleiben? Allmählich wird es für dich Zeit, selbst ein Lehrer zu werden. Warum soll ich mir anhören, was ich auch lesen kann? – Die lebendige Stimme, so sagt man, macht viel aus. – Nicht aber eine Stimme, die nur Träger fremder Worte ist und wie ein Stenograph[80] arbeitet. Hinzu kommt, daß Leute, die nie mündig werden, ihren Vorgängern auch in Punkten folgen, in denen sonst jeder von ihnen abweicht; dann aber schließen sie sich ihnen auch in Fragen an, bei denen [64]die Untersuchung noch nicht abgeschlossen ist. Niemals aber kann die Wahrheit gefunden werden, wenn man mit dem schon Gefundenen zufrieden ist. Wer daher stets den Spuren eines anderen nachgeht, kann nichts Neues finden, er sucht nicht einmal mehr etwas Neues.

Soll das heißen, daß ich nicht auf den Spuren der alten Weisen wandeln soll? – Ich werde zwar den alten Weg benutzen; wenn ich aber einen kürzeren und bequemeren gefunden habe, werde ich den ausbauen. Wer vor uns Philosophie betrieben hat, ist nicht unser Herr, sondern unser Führer. Die Wahrheit steht allen offen. Keiner hat sie allein gepachtet. Viele Probleme werden noch zukünftigen Geschlechtern überlassen werden müssen.

GOTT IST IN DIR

Gut und heilsam wird es für dich sein, wenn du, wie du schreibst, mit Ausdauer auf Besserung deines Charakters hinarbeitest. Es ist töricht, sie herbeizuwünschen, da es in deiner Hand liegt, ob du sie verwirklichst. Wir haben es nicht nötig, die Hände zum Himmel emporzustrecken und den Tempelhüter anzuflehen, er möge uns an das Ohr des Kultbildes heranlassen, als würde dann unser Gebet mit größerer Wahrscheinlichkeit erhört. Gott ist dir nahe, er ist mit dir, in dir. Ich behaupte, mein Lucilius, ein erhabener Geist hat in uns seinen Sitz, beobachtet unsere guten und bösen Handlungen und hält die Ordnung aufrecht.

Wenn du einen Hain betrittst mit vielen alten, ungewöhnlich hohen Bäumen und wenn hier durch die dichten Zweige, die einander überdecken, der Blick [65]zum Himmel versperrt ist, dann wird dir in diesem hohen Wald an diesem geheimnisvollen Ort und im Staunen über einen so dichten und ununterbrochenen Schatten im Freien der Glaube an ein göttliches Wesen kommen. Wenn du aber einen Menschen siehst, der sich durch Gefahren nicht schrecken läßt, der unberührt ist von Begierden, der auch unter widrigen Umständen glücklich ist, der in den schlimmsten Stürmen ruhig bleibt, der von erhabener Warte auf menschliches Treiben herabsieht, mit den Göttern aber auf einer Ebene steht, wird dich da nicht ebenfalls ehrfürchtige Scheu überkommen? Wirst du nicht sagen: Solche Haltung ist zu groß und zu erhaben, als daß man glauben könnte, sie gehöre einer ähnlichen Welt an wie dieses Körperchen, auf dem sie fußt. Hier ist eine himmlische Kraft niedergestiegen.

Den Weinstock loben wir, wenn seine Reben schwer sind durch die Last der Früchte, wenn sogar seine Stützen vom Gewicht des Ertrages zur Erde gebeugt werden. Würde man dem etwa einen anderen Weinstock vorziehen, der vergoldete Trauben und Blätter hat? Die eigentümliche Vollkommenheit des Weinstockes ist seine Fruchtbarkeit. Auch am Menschen müssen wir loben, was ihm eigentümlich ist. Er mag ansehnliche Dienerschaft haben, ein schönes Haus, viel Ackerland, viel Zinsgewinn. Aber all das ist doch nicht in ihm selbst, sondern nur um ihn herum. Lobe an ihm, was ihm nicht entrissen, was ihm nicht geschenkt werden kann, was den eigentümlichen Wert des Menschen ausmacht. Du fragst, was das sei: Sein geistiges Wesen und innerhalb dieses geistigen Wesens die vollendete Vernunft. Denn der Mensch ist ein vernünftiges Lebewesen. Er wird daher seinen eigentümlichen Wert zur höchsten Vollendung bringen, [66]wenn er erfüllt, wozu er geboren wurde. Was ist es aber, das die Vernunft von ihm verlangt? Etwas ganz Leichtes: seiner Natur gemäß leben.

DINGE, DIE UNS DIE FREIHEIT RAUBEN

Wir sollten uns bei allen unseren Plänen und Handlungen ebenso verhalten, wie wir das in einem Kaufmannsladen zu tun pflegen: Wir sollten genau darauf sehen, für welchen Preis verkauft wird, was wir begehren. Oft hat das den größten Wert, für das man nichts zahlen muß. Viele andere Dinge aber könnte ich dir nennen, deren Erwerb und Besitz uns die Freiheit raubt. Wir würden uns selbst gehören, wären diese Dinge nicht unser.

EIN GUTES GEWISSEN

Du fragst, wie die Kunde von dieser Sache zu mir gelangt sei, wer mir von deinen Gedanken erzählt habe, die du doch niemandem anvertraut hattest. Ein Bote, der fast alles weiß: das Gerede. Wie denn, meinst du, bin ich ein so bedeutender Mann, daß sich um mich Gerüchte bilden? Magst du auch nicht viel von dir halten, in deiner Provinz bist du jetzt ein großer Mann. Man fragt und weiß, was du treibst, wie du tafelst, wie du schläfst. Du mußt also besondere Aufmerksamkeit auf deine Lebensweise verwenden. Dann erst darfst du dich als einen glücklichen Menschen betrachten, wenn du in aller Öffentlichkeit leben könntest, wenn deine Wände dich nur schützen, aber nichts verbergen sollen. Im allgemeinen aber glaubt man, die Wände seien nicht der Sicherheit halber geschaffen, sondern um die heimliche Befriedigung [67]von Lastern zu erleichtern. Ich stelle eine Behauptung auf, die dir ermöglicht, unser moralisches Niveau abzuschätzen: Du wirst kaum jemand finden, der bei offener Tür leben könnte. Die Pförtner hat unser schlechtes Gewissen, nicht unser Stolz an die Türen gestellt: wir leben so, daß wir ertappt würden, bekäme man uns plötzlich zu sehen. Was nützt es aber, wenn man sich versteckt und den Augen und Ohren der Menschen zu entgehen sucht? Ein gutes Gewissen hat die Öffentlichkeit nicht zu scheuen, ein schlechtes Gewissen aber ist auch in der Einsamkeit eine Quelle von Angst und Unruhe. Wenn sittlich gut ist, was du tust, dann können es alle wissen. Ist aber dein Tun schlecht, was bedeutet es schon, wenn niemand davon weiß, da du selbst es doch weißt?

UNSERE GEISTIGE HALTUNG VERLEIHT UNS ADEL

Wieder machst du dich vor mir klein und behauptest, einmal sei die Natur ungerecht mit dir verfahren, dann auch das Schicksal[81]. Dabei kannst du dich aus der Masse herausheben und zum höchsten Menschenglück emporsteigen. Dieses Gute hat die Philosophie für sich, daß sie nicht auf den Stammbaum achtet. Wenn man auf die Uranfänge zurückgeht, stammen wir alle von den Göttern ab. Du bist römischer Ritter, und zu diesem Rang bist du durch deinen Fleiß gekommen. Vielen aber ist der Zugang zum Ritterstand verschlossen. Die Kurie läßt nicht jeden zu. Auch im Kriegslager sucht man sich wählerisch aus, wen man [68]zu gefährlichen Aktionen heranzieht. Eine edle Gesinnung aber steht allen offen. In diesem Punkte sind wir alle von Adel. Die Philosophie weist niemanden zurück und ist nicht wählerisch: Ihr Licht leuchtet allen. Sokrates war kein Patrizier. Kleanthes schleppte Wasser und begoß Gärten gegen Entgelt. Platon kam nicht als Adliger zur Philosophie, sondern wurde es erst durch sie. Warum glaubst du nicht, du könntest ihnen ähnlich werden? Sie alle sind deine Vorfahren, wenn du dich ihrer würdig zeigst. Das wirst du tun, wenn du zu der Überzeugung gelangst, daß du von niemandem an Adel übertroffen werden kannst. Wir haben alle die gleiche Anzahl Vorfahren. Der Ursprung einer jeden Familie liegt jenseits von Menschengedenken. Platon sagt, es gäbe keinen König, der nicht von Sklaven abstammt, und keinen Sklaven, der nicht Könige unter seinen Vorfahren habe. Alle diese verschiedenen Stände werden immer wieder durcheinandergewirbelt. Der Weg des Schicksals führt bald aufwärts, bald abwärts.

Wer ist wirklich von edler Abkunft? Wer von Natur eine gute Anlage zur sittlichen Vollkommenheit hat. Nur auf dies eine muß man sein Augenmerk lenken. Was die Vergangenheit sonst noch anlangt, so hat ein jeder seinen Ursprung dort, wo weiter zurück nur das Nichts war. Von diesem Uranfang der Welt bis auf unsere Zeit führt eine Kette, die abwechselnd aus prächtigen und armseligen Gliedern gefügt ist. Wahren Adel verleiht uns nicht eine Vorhalle mit rauchgeschwärzten Bildern unserer Vorfahren. Niemand hat zu unserem Ruhme gelebt, und was vor uns war, gehört nicht uns an. Adel verleiht uns unsere geistige Haltung, wenn wir die Kraft finden, uns aus jeder Lage über das Schicksal zu erheben.

[69]

ICH HABE MICH KEINEM MEISTER ÜBERANTWORTET

Du beklagst dich, es sei dort Mangel an Büchern. Es kommt nicht darauf an, daß du viele, sondern nur, daß du gute Bücher hast. Wenn man beim Lesen eine klare Richtung einhält, bringt es Segen. Wechselnde Lektüre zerstreut nur. Wer ein bestimmtes Ziel erreichen will, muß auf einem Wege bleiben, nicht auf vielen umherstreifen. Das hieße nicht marschieren, sondern umherirren.

Es liegt mir weniger an deinen guten Ratschlägen als an deinen Büchern – antwortest du. Ich bin bereit, dir zu schicken, was ich habe, und meine ganze Bibliothek auszuräumen. Ich würde, wenn möglich, auch selbst zu dir hinüberkommen[82] und meiner gebrechlichen Konstitution diese Reise zumuten, wenn ich nicht hoffte, du würdest bald den Abschied aus dem öffentlichen Dienst erhalten. Die Scylla und Charybdis sowie jene sagenumwobene Meerenge könnten mich nicht schrecken. Ich würde nicht nur hinüberfahren, sondern sogar hinüberschwimmen, wenn ich dich nur in meine Arme schließen und mich persönlich überzeugen könnte, wie sehr du geistig gewachsen bist.

Wenn du übrigens verlangst, ich solle dir meine Bücher schicken, so halte ich mich deshalb nicht für einen großen Schriftsteller, wie ich mich auch nicht für schön halten würde, wenn du ein Bild von mir fordern würdest. Ich weiß, in dieser Forderung zeigt sich deine Nachsicht, nicht aber ein Werturteil. Wenn es aber doch ein Werturteil sein sollte, dann ist es durch deine Nachsicht gefärbt. Aber lassen wir den [70]Wert dieser Bücher auf sich beruhen. Halte dir bei ihrer Lektüre immer vor Augen, daß ich die Wahrheit noch suche, sie noch nicht kenne – aber mit zäher Ausdauer suche. Ich habe mich keinem Meister überantwortet und trage niemandes Namen. In vielen Fragen vertraue ich dem Urteil großer Männer, in einigen Punkten verlasse ich mich auch auf mein eigenes Urteil. Auch diese großen Männer haben uns noch Probleme hinterlassen, die der Klärung bedürfen. Sie hätten die Lösung wichtiger Fragen vielleicht selbst gefunden, wenn sie nicht soviel Unwichtiges untersucht hätten. Viel Zeit haben sie mit Wortspielen und Untersuchungen von Trugschlüssen vertan[83]. An solchen Dingen aber übt man seinen Scharfsinn vergeblich. Wir knüpfen die Knoten und verwenden geschickt die Zweideutigkeit der Worte; dann lösen wir den Trugschluß auf. Haben wir soviel Zeit? Wissen wir schon zu leben und zu sterben? Mit aller Kraft gilt es, dahin zu kommen und dafür zu sorgen, daß wir uns nicht über das Wesen der Dinge täuschen. Die Täuschung durch Worte spielt demgegenüber eine weit geringere Rolle. Was legst du mir die Ähnlichkeit einzelner Worte klar, durch die sich kein Mensch – außer bei einer sophistischen Erörterung – täuschen lassen wird? Das Wesen der Dinge entzieht sich unserer Kenntnis. Hier mag dein Unterscheidungsvermögen seine Kunst zeigen. An Stelle des Guten heißen wir das Schlechte gut. Die Schmeichelei – wie ähnlich ist sie der Freundschaft! Sie ahmt nicht nur die Freundschaft nach, sondern übertrifft sie und geht über sie hinaus. Mit offenem und geneigtem [71]Ohr nimmt man sie auf und läßt sie bis tief ins Innere dringen. Je schädlicher die Schmeichelei ist, um so angenehmer weiß sie sich zu machen. Lehre mich, wie ich hier zwischen ähnlichen Dingen unterscheiden lerne! Die Tollkühnheit verbirgt sich unter dem Namen der Tapferkeit. Die maßvolle Zurückhaltung dagegen wird als Feigheit hingestellt. Der Furchtsame wieder gilt für vorsichtig. Zu unserem Schaden irren wir in solchen Fragen. Präge für solches Verhalten klare Begriffe!

Wenn du durchaus den Doppelsinn von Worten auseinanderhalten willst, dann lehre uns, daß nicht der Mensch glücklich ist, den die Masse so nennt, bei dem viel Geld zusammenströmt, sondern der, dessen Werte geistiger Art sind. Aufrecht steht ein solcher Mensch an erhabener Stelle und verachtet die vielbewunderten Dinge. Niemanden kennt er, mit dem er tauschen wollte. Den Menschen achtet er nur insoweit, als er Mensch ist. Er nimmt sich die Natur zur Lehrerin, richtet sich nach ihren Gesetzen und lebt, wie sie es ihm vorschreibt. Seine Werte kann ihm keine Macht erschüttern. Schlimme Ereignisse wendet er zum Guten, fest ist er in seinen Entschlüssen, unerschütterlich, furchtlos. Manche feindliche Gewalt mag auf ihn einwirken, keine wird ihn in Unruhe versetzen. Mag das Schicksal auf ihn sein gefährlichstes Geschoß mit größter Gewalt abschießen – es wird ihn nur ein wenig stechen, aber nicht verwunden. Selbst das wird selten geschehen. Die übrigen Geschosse des Schicksals aber, von denen sich die meisten Menschen umwerfen lassen, zerspringen bei ihm wie der Hagel, der geräuschvoll auf das Dach aufschlägt und zerplatzt, ohne dem Bewohner zu schaden.

[72]

Was behelligst du mich also mit jenem Trugschluß, den du selbst als »Lügner[84]« bezeichnest, über den so viele Bücher zusammengeschrieben wurden. Willst du nicht lieber deine Sorge darauf verwenden, zu zeigen, daß die meisten Menschen mit großem Zeitaufwand ganz überflüssige Dinge erstreben und daß viele bereits am Ende ihres Lebensweges angelangt waren und immer noch Rüstzeug zum Leben zusammensuchten. Fasse den Einzelnen ins Auge, betrachte die Gesamtheit. Das Leben eines jeden ist dem Morgen zugewandt. Was daran schlimm sei, fragst du? Unendlich viel. Solche Leute leben nicht, sondern stehen erst im Begriff zu leben.

SKLAVEN SIND MENSCHEN!

Zu meiner Freude erfuhr ich von Leuten, die dich besucht haben, daß du freundlich mit deinen Sklaven umgehst. Das entspricht deiner Einsicht und deiner Bildung. »Es sind nur Sklaven.« Nein, vielmehr Menschen. »Es sind nur Sklaven.« Nein, vielmehr Hausgenossen. »Es sind nur Sklaven.« Nein, vielmehr Freunde geringeren Ranges. »Es sind nur Sklaven.« Nein, vielmehr Mitsklaven, wenn du bedenkst, daß das Schicksal über euch beide die gleiche Macht hat.

Willst du nicht einmal daran denken, daß der Mensch, den du deinen Sklaven nennst, den gleichen Ursprung hat wie du, daß sich über ihm derselbe Himmel wölbt, daß er die gleiche Luft atmet, daß ihm das gleiche [73]Leben, der gleiche Tod beschieden ist? Mit dem gleichen Recht kannst du ihn als frei geboren bezeichnen, wie er dich als Sklaven.

Gehe so mit deinen Untergebenen um, wie du willst, daß ein Höherer mit dir umgehen möge. Geh mit deinem Sklaven mild und freundlich um, ziehe ihn ins Gespräch, höre seinen Rat, lade ihn zu Tisch.

Hier wird mir die ganze Bande der Lebemänner zurufen: »Wie erniedrigend, wie schimpflich!« Aber ich werde dieselben Leute dabei ertappen, wie sie den Sklaven fremder Leute die Hand küssen[85].

»Soll ich etwa alle Sklaven an meinen Tisch bitten?« So wenig wie alle freien Bürger. Du bist aber im Irrtum, wenn du meinst, ich würde manche wegen ihrer schmutzigen Arbeit zurückweisen, wie den Maultiertreiber und den Ackerknecht. Ich schätze die Menschen nicht nach ihren Dienstleistungen ein, sondern nach ihrem sittlichen Verhalten. Sein sittliches Verhalten verdankt jeder sich selbst, seine Dienstleistungen bestimmt der Zufall. Die einen magst du mit dir speisen lassen, weil sie dessen würdig sind, die anderen, damit sie es einmal werden. Wenn ihnen von ihrem niedrigen Umgang noch etwas Unfeines anhaftet, dann wird sich dieser Mangel durch das Zusammensein mit sittlich hochstehenden Persönlichkeiten beheben lassen. Es ist durchaus nicht berechtigt, mein Lucilius, Freunde nur auf dem Forum oder in der Kurie zu suchen. Wenn du aufmerksam bist, wirst du sie auch im eigenen Hause finden. Manch prächtiger Holzblock wird wurmstichig, weil der Künstler fehlt, der ihn zu bearbeiten versteht.

Wer ein Pferd kaufen will und nicht das Pferd selbst, [74]sondern nur Sattel und Zaumzeug betrachtet, ist ein Narr. Ein vollendeter Dummkopf aber ist, wer einen Menschen nach seiner Kleidung und äußeren Lebensstellung beurteilt, die ihn doch nur wie ein Gewand umgibt.

»Er ist nur ein Sklave.« Aber vielleicht ist er ein freier Geist. »Er ist nur ein Sklave.« Wird ihm das schaden? Zeige mir den Menschen, der es nicht ist: Der eine ist Sklave seiner Begierde, der andere Sklave seiner Geldgier, ein dritter ist Sklave des Ehrgeizes. Alle sind wir Sklaven der Hoffnung, Sklaven der Furcht. Ich kann dir einen früheren Konsul nennen, der Sklave eines alten Weibes ist. Ich kann dir einen reichen Mann zeigen, der Sklave eines kleinen Mädchens ist. Ich kann dir Jünglinge aus ersten Häusern zeigen, die Sklaven von Tänzern sind. Die tiefste Verachtung verdient, wer sich freiwillig zum Sklaven macht.

DIE MENSCHEN STRECKEN DIR HILFESUCHEND DIE HÄNDE ENTGEGEN

»Maus« ist eine Silbe. Eine Silbe benagt den Käse nicht. Also benagt auch die Maus den Käse nicht. –

Kindische Albernheiten sind das. Deswegen ziehen wir bedächtig die Augenbrauen hoch? Deswegen lassen wir uns den Bart wachsen? Nur diese traurige und blutleere Weisheit haben wir zu verkünden?

Willst du wissen, was die Philosophie dem Menschengeschlecht in Aussicht stellt? Sie will ihm Ratgeber sein. Den einen ruft der Tod, den anderen drückt seine Armut, einem Dritten bereitet fremder oder eigener Reichtum Sorgen. Der eine fürchtet sich vor drohendem Unheil, der andere sucht sich seinem Glück zu entziehen. Den einen behandeln die Menschen [75]schlecht, den anderen die Götter. Wie kannst du mir da solche Spielereien vorsetzen? Zum Scherzen ist hier nicht der Ort. Zu leidenden Menschen bist du gerufen worden. Du hast versprochen, den Schiffbrüchigen Hilfe zu bringen, den Gefangenen, den Kranken, den Darbenden, denen, die auf ihre Hinrichtung warten. Auf welche Abwege aber bist du geraten? Was unternimmst du? Der, mit dem du dein Spiel treibst, hat Angst. Die Menschen strecken dir von allen Seiten hilfesuchend die Hände entgegen. Sie bitten in ihrer Not flehentlich um Hilfe für ihr verfehltes und erlöschendes Leben. In dir sehen sie Hoffnung und Hilfe. Sie flehen dich an, du mögest ihnen aus dieser unruhigen Wirrnis heraushelfen, du mögest den verschlagenen und umherirrenden Geistern das klare Licht der Wahrheit zeigen.

Wie kann man aber die unselige Leidenschaft jener Sophisten auslöschen oder nur mindern? Wäre sie doch nur ohne Nutzen! Tatsächlich aber ist sie sogar schädlich. Ich werde dir, wenn du willst, einleuchtend beweisen, daß ein Mensch mit edlen Anlagen in seiner Geisteskraft gemindert und geschwächt wird, wenn er sich auf solche Spitzfindigkeiten legt. Man schämt sich zu schildern, was die Sophisten denen, die mit dem Schicksal zu ringen haben, als Waffen anbieten, welche Ausrüstung sie ihnen geben. Auf diesem Weg soll man zum höchsten Wert aufsteigen? Durch dieses »Wenn und Aber« der Philosophie und durch die schändlichen und verrufenen Wortklaubereien der Rechtsanwälte? Ihr wollt den Anschein erwecken, der Befragte sei, wenn ihr ihn wissentlich hinters Licht geführt habt, regulär zu Fall gebracht worden. Aber wie der Prätor die Rechtsanwälte zur Vernunft bringt, so macht es die Philosophie mit den [76]Spitzfindigen. Warum widerruft ihr eure großartigen Ankündigungen? Große Worte habt ihr gemacht: ihr könntet dafür sorgen, daß weder der Glanz des Goldes noch das Blinken des Schwertes meinen Blick gefangennähme. Ich würde lernen, mit völliger innerer Ruhe zu verachten, was sonst allgemein Gegenstand des Begehrens oder der Furcht ist. – Und nun steigt ihr hinab zur Buchstabenweisheit der Grammatiker?

Halte dich, mein Lucilius, soweit wie möglich fern von jenen ausgeklügelten Einwendungen und Spitzfindigkeiten der Philosophen. Offenheit und schlichtes Wesen ziemen sich für den sittlich hochstehenden Menschen. Auch wenn man viel Zeit übrig hätte, müßte man sie vorsichtig einteilen, um damit für die notwendigen Arbeiten auszukommen. Welcher Wahnsinn aber ist es, angesichts des karg bemessenen Zeitraumes, der uns zur Verfügung steht, noch überflüssige Dinge zu lernen.

ARBEITE TÄGLICH AN DEINER BESSERUNG

Deinen Brief erhielt ich erst viele Monate nach der Absendung. Ich hielt es daher für überflüssig, den Überbringer nach deinem Tun und Treiben zu fragen[86]. Er müßte ein erstaunlich gutes Gedächtnis haben, wenn er sich noch daran erinnern sollte. Dennoch hoffe ich, du lebst so, daß ich, wo du auch seist, wissen könnte, was du treibst. Denn was solltest du anderes treiben, als täglich an deiner Besserung arbeiten, einige Irrtümer überwinden und einsehen, daß, was [77]du für Unvollkommenheit der Welt hieltest, in Wirklichkeit dein eigener Fehler ist. Manche Schwierigkeiten nämlich schreiben wir den Ortsverhältnissen und den Zeitumständen zu. Tatsächlich aber begleiten uns diese Schwierigkeiten wohin wir auch kommen.

Harpaste, die Närrin meiner Frau, ist, wie du weißt, als eine ererbte Last in meinem Hause verblieben. Ich selbst kann kein Vergnügen an solchen mißgestalteten Wesen finden. Wenn ich mich über einen Narren belustigen will, dann habe ich nicht weit zu suchen: ich lache über mich selbst. Dieses schwachsinnige Weib erblindete plötzlich. Ich erzähle dir nun eine unglaubliche Geschichte, aber sie ist wahr: Sie merkt nicht, daß sie blind geworden ist. Andauernd bestürmt sie ihren Wärter, er solle mit ihr umziehen. Das Haus, meint sie, sei so finster. Wir lachen über solche Beschränktheit, aber seien wir uns darüber klar, es geht uns allen so. Niemand sieht ein, daß er geizig ist, niemand weiß von seiner Begehrlichkeit. Die Blinden suchen wenigstens noch einen Führer, wir aber irren führerlos umher und behaupten: Ich bin nicht ehrgeizig – aber in Rom kann man nicht anders leben. Ich bin nicht verschwenderisch – aber die Hauptstadt erfordert großen Aufwand. Es ist nicht mein Fehler, daß ich zornig bin, daß ich mich noch nicht für eine bestimmte Lebensart entschieden habe – meine Jugend ist daran schuld. Wozu diese Selbsttäuschung? Das Böse, das uns drückt, liegt nicht außer uns, es liegt in uns, es sitzt tief im Inneren, und wir genesen deshalb nur so schwer, weil wir nicht wissen, daß wir krank sind. Wir schämen uns, rechte Denkungsart zu lernen. Wenn es aber schimpflich sein soll, in diesen Dingen nach einem Lehrer zu suchen, dann dürfen [78]wir erst recht nicht hoffen, es könne uns dieser hohe Wert zufällig zuteil werden. Machen wir uns also an die Arbeit. Die Arbeit ist wahrhaftig nicht groß, wenn wir uns geistig zu formen beginnen und an unserer Besserung arbeiten, bevor die schlechten moralischen Eigenschaften sich verhärtet haben. Aber auch, wenn diese Verhärtung eingetreten ist, gebe ich die Hoffnung nicht auf. Es gibt keine Charaktereigenschaft, die hartnäckiges Mühen und angestrengte sorgsame Zucht nicht bezwingen würden. Sogar gebogene Baumstämme kann man wieder gerade machen. Wieviel leichter aber nimmt der Geist die gewünschte Form an, da er doch biegsam ist und anschmiegsamer als jede Flüssigkeit. Laß dich nicht abhalten, mein Lucilius, und denke deshalb nicht schlecht von uns, weil die Schlechtigkeit uns noch gefangenhält, weil wir sie seit langer Zeit in uns tragen. Niemandem ist gute Denkungsart früher zuteil geworden als schlechte. Wir sind alle vorbelastet. Rechtes moralisches Verhalten lernen, heißt soviel wie schlechte moralische Eigenschaften ablegen.

ICH MUSS MICH DURCH INNERE WIDERSTÄNDE HINDURCHKÄMPFEN

Warum, mein Lucilius, werden wir wider Willen in eine unerwünschte Richtung gedrängt und warum treiben wir gerade auf das zu, was wir meiden wollen? Woher kommt dieser Widerstreit in uns selbst, der uns nicht gestattet, bei einem Willensentschluß zu bleiben? Wir schwanken zwischen verschiedenen Entschlüssen hin und her. Nichts wollen wir ohne Vorbehalt, nichts unbedingt, nichts mit Ausdauer. »Mangel an Einsicht ist es«, meinst du, »wenn nichts Bestand [79]hat, nichts bleibende Billigung erfährt.« Aber wie und wann können wir diesen Mangel beheben? Niemand ist für sich stark genug, um emporzusteigen. Es muß ihm einer die Hand reichen und ihn aus den Schwierigkeiten herausführen. Manche Menschen, so sagt Epikur, sind ohne jeden Beistand zur Wahrheit vorgestoßen. Sie haben sich den Weg selbst gebahnt. Ihnen erteilt er das höchste Lob, weil sie den Aufschwung aus eigener Kraft nahmen, weil sie sich selbst vorwärtsbrachten. Andere Menschen aber bedürfen fremder Hilfe. Sie würden sich nicht in Bewegung setzen, wenn nicht schon einer vorausgegangen wäre. Aber sie werden gute Gefolgsleute sein. Zu dieser Gruppe gehört Metrodor[87]. Auch diese geistige Anlage ist noch vortrefflich, wenn auch zweiten Ranges. Ich selbst bin keiner von jener ersten Art. Ich würde mich beglückwünschen, wenn ich noch zur zweiten Art gerechnet werden könnte. Denn auch diese Menschen sind nicht zu verachten, die nur durch fremdes hilfreiches Eingreifen gerettet werden können. Es ist schon viel wert, wenn einer nur den Willen hat, gerettet zu werden. Weiter findest du eine andere Art Menschen, die man auch nicht verachten sollte, die zum Guten gezwungen und angetrieben werden müssen, die nicht nur eines Führers, sondern ständiger Hilfe bedürfen, die also einen Antreiber brauchen. Willst du auch hierfür ein Beispiel, so wisse, daß Epikur den Hermarch zu dieser Gruppe gerechnet hat. Den einen kann man beglückwünschen, vor dem anderen muß man Hochachtung haben. Wenn sie auch beide zum gleichen Ziele gelangen, so verdient doch mehr Lob, wer dasselbe zustandebrachte an [80]einem schwierigeren Ausgangsmaterial. Stelle dir zwei Gebäude vor, im Unterbau ungleich, aber gleich hoch und großartig. Dem einen stand glatter Boden zur Verfügung. Da wuchs das Werk ohne Schwierigkeit empor. Bei dem anderen mußten die Fundamente in weichen, sumpfigen Boden gesenkt werden, und es kostete viel ermüdende Arbeit, bis man auf festen Grund stieß. Was der eine zustande bringt, liegt vor unseren Augen. Das Werk des anderen ist in seinem größeren und schwierigeren Teil unseren Blicken verborgen. Manche Geister sind leicht lenkbar und beweglich, andere müssen mühselige Anstrengungen anwenden und haben noch an ihren Wesensgrundlagen zu arbeiten. Ich möchte den, der wenig Mühe mit sich hat, den glücklicheren Menschen nennen. Wer aber die Schlechtigkeit seiner natürlichen Anlage zu überwinden hatte und sich nicht zur Weisheit leiten, sondern zerren mußte, der hat sich größeres Verdienst um sich erworben. Du magst wissen, daß auch mir diese schwierigere Anlage gegeben ist, die den Aufwand vieler Mühe erfordert. Ich muß mich durch innere Widerstände hindurchkämpfen. Kämpfen wir also und rufen wir fremde Hilfe herbei! Wen, meinst du, soll ich zu Hilfe rufen? – Den oder jenen. Greife aber auch auf die Alten zurück, die zu unserer Verfügung stehen. Es können uns nicht nur die Lebenden helfen, sondern auch die, die gelebt haben. Unter den Lebenden aber werden wir uns nicht Lehrer aussuchen, die ihre Worte hastig hervorsprudeln, Gemeinplätze von sich geben und kleine Zirkel um sich bilden, sondern solche, die durch ihr Leben lehren, die, wenn sie gesagt haben, was man tun soll, auch mit der Tat die Echtheit ihres Wollens beweisen, die lehren, was man meiden soll und niemals bei [81]Handlungen, die sie für verwerflich erklärt haben, zu ertappen sind. Wähle dir den als Helfer, den du mehr bewundern kannst, wenn du ihn siehst, als wenn du ihn hörst. Ich will dich deshalb nicht abhalten, auch die Philosophen zu hören, deren Gewohnheit es ist, einen großen Zuhörerkreis um sich zu versammeln und Vorträge zu halten, wenn sie nur mit dem Vorsatz in die Öffentlichkeit treten, selbst besser zu werden und andere besser zu machen, wenn sie das nicht aus Eitelkeit tun. Denn was kann unmoralischer sein als eine Philosophie, die nach Beifall hascht? Welch unsinniges Gebaren, wenn einer wegen des Beifalls unverständiger Leute in gehobener Stimmung den Hörsaal verläßt. Was freust du dich, von Menschen gelobt zu werden, die du selbst nicht loben kannst?

Auch Fabianus[88] hielt öffentliche Vorträge, aber man hörte ihn mit achtungsvoller Zurückhaltung an. Manchmal brach wohl großer Beifall aus, aber den rief die Größe des Gegenstandes hervor, nicht der schöne Klang einer ununterbrochen und angenehm dahinströmenden Rede. Es soll noch ein Unterschied sein zwischen dem Beifall im Theater und in der Philosophenschule. Es gibt auch einen Anstand im Loben. Es gibt für alle Charaktereigenschaften Anzeichen, wenn sie nur bemerkt werden. Man kann aus den kleinsten Dingen Schlüsse über den moralischen Zustand der Menschen ziehen. Den schamlosen Menschen verrät schon sein Gang, eine Handbewegung, ein hingeworfenes Wort, ein Erheben des Fingers, eine Blickwendung. Den Boshaften verrät sein Lachen, den Wahnsinnigen Gebärde und Aussehen. Dies alles wird durch bestimmte Kennzeichen offenkundig. Am besten aber wirst du den Charakter eines [82]Menschen kennenlernen, wenn du beobachtest, wie er jemanden lobt und wie er sich verhält, wenn er selbst gelobt wird.

NIMM DIR ZEIT FÜR MORALISCHE SELBSTBESINNUNG

Wozu werde ich mich noch überreden lassen, da ich mich überreden ließ, zur See zu fahren? Ich fuhr bei ruhiger See ab. Ohne Zweifel war der Himmel dicht mit dunklen Wolken verhangen, die gewöhnlich Regen oder Sturm ankündigen. Aber ich dachte, ich könnte noch die wenigen Meilen von deinem Neapel bis nach Puteoli ungehindert zurücklegen trotz der Unbeständigkeit des Wetters und des drohenden Aussehens des Himmels. Um schneller vorwärts zu kommen, ließ ich direkt über das hohe Meer auf Nisida zusteuern, um nicht alle Buchten der Küste ausfahren zu müssen. Als ich schon so weit gekommen war, daß es gleichgültig war, ob ich weiterfuhr oder umkehrte, war es auch mit jener Meeresstille, die mich verleitet hatte, vorbei. Es war noch kein Sturm, sondern nur stärkere Bewegung des Meeres und allmählich häufiger werdender Wellenschlag. Ich begann, den Kapitän zu bitten, er möge mich irgendwo am Ufer absetzen. Er antwortete, das Ufer sei felsig und ohne Hafen, und bei Sturm fürchte er nichts so sehr wie die Nähe des Landes. Ich hatte aber so schlimm zu leiden, daß mir diese Gefahr keinen Eindruck machte. Denn die Seekrankheit, dies langwierige Übel, dem man sich nicht entziehen kann, das die Galle in Bewegung, aber nicht herausbringt, hatte mich gepackt. Ich drang also immer mehr in den Kapitän und zwang ihn, mochte er wollen oder nicht, auf die Küste zuzusteuern. [83]Als wir in die Nähe der Küste gekommen waren, erinnere ich mich als alter Freund des kalten Wassers meiner Schwimmkunst und springe ins Meer, nur leicht bekleidet, wie es beim Kaltbaden üblich ist. Was glaubst du, mußte ich durchmachen, als ich am felsigen Ufer emporkletterte, nach dem Weg fragte und ihn mir bahnte? Ich sah ein, daß die Seeleute nicht ohne Grund die Küste fürchten. Unglaublich ist, was ich aushalten mußte, da ich es mit mir selbst nicht aushalten konnte. Wisse, Odysseus hatte nicht von Geburt an unter dem Zorn des Meergottes zu leiden und erlitt deshalb überall Schiffbruch: er neigte zur Seekrankheit. Auch ich würde – wenn ich übers Meer fahren müßte – erst nach zwanzig Jahren ankommen. Nachdem sich mein Magen etwas beruhigt hatte – er überwindet, wie du weißt, nicht sofort beim Betreten des Landes die Seekrankheit – und nachdem ich mich körperlich durch Salben erfrischt hatte, begann ich darüber nachzudenken, wie wenig wir doch an unsere Fehler denken. Das ist sogar bei den körperlichen Schwächen der Fall, die sich von Zeit zu Zeit noch in Erinnerung bringen, viel mehr aber noch bei den Fehlern, die sich um so mehr verstecken, je größer sie sind. Ein leichter Fieberanfall kann uns noch täuschen, wenn aber die Temperatur steigt und richtiges brennendes Fieber daraus wird, dann zwingt dieser Zustand auch den Hartnäckigen und Ausdauernden, sich einzugestehen, daß er krank ist. Das Gegenteil geschieht bei den Krankheiten, die unser geistiges Wesen befallen. Je schlechter einer daran ist, um so weniger fühlt er es. Warum gesteht sich niemand seine moralischen Fehler? Weil er noch in ihnen befangen ist. Nur der Wachende kann den Traum erzählen. Wer sich seine moralischen Fehler eingesteht, [84]ist schon auf dem Wege der Gesundung. Reißen wir uns also aus dem Schlaf, damit wir unsere Vergehen als solche erkennen. Allein die Philosophie kann uns aufrütteln, sie allein kann die schwere Schläfrigkeit verscheuchen. Widme dich ihr mit aller Kraft. Du bist ihrer würdig und sie ist deiner würdig. Ihr gehört zusammen. Allen anderen Anforderungen verschließe dich mit Nachdruck und Deutlichkeit. Es geht nicht an, daß du in deinem Philosophieren von fremder Willkür abhängig bist. Wärest du krank, so würdest du die Sorge für deine familiären Angelegenheiten zurückstellen, man würde dich von den Pflichten bei Gericht befreien, du würdest auch in der Zeit der Erholung für niemanden als Verteidiger einspringen. Mit aller Kraft würdest du dafür sorgen, so schnell wie möglich die Krankheit zu überwinden. Mußt du dich jetzt nicht ebenso verhalten? Laß alle Hindernisse beiseite und nimm dir Zeit für moralische Selbstbesinnung. Unter der Last äußerer Beschäftigung kann das niemand erreichen. Die Philosophie will Herrscherin sein. Sie vergibt die Zeit und wartet nicht auf Gaben. Sie ist keine Nebensache, sie ist die Hauptsache. Sie ist die Herrin. Sie verlangt Bereitschaft.

Als dem Alexander von einem Staat ein Teil seiner Äcker und die Hälfte seines Vermögens angeboten wurde, antwortete er: »Ich bin nicht mit der Absicht nach Asien gekommen, zu nehmen, was ihr geben wollt, sondern ihr sollt behalten, was ich euch lasse.« Das gleiche sagt die Philosophie zu allen anderen Anforderungen: »Ich will mich nicht mit der Zeit begnügen, die ihr übriglaßt, sondern euch sei nur die Zeit gewidmet, für die ich selbst keine Verwendung habe.«

Wende dich mit ganzer Seele in diese Richtung, verweile [85]bei der Philosophie und widme dich ihr. So wird zwischen dir und den übrigen Menschen ein gewaltiger Abstand entstehen. Allen Sterblichen wirst du weit voraus sein. Die Götter werden dir nicht mehr weit voraus sein. Du fragst nach dem Unterschied zwischen dir und ihnen? Ihr Dasein ist von längerer Dauer. Aber nur ein großer Künstler vermag auf engem Raum ein Ganzes zu schaffen. Für den Weisen bedeutet der ihm zugemessene Zeitraum ebensoviel, wie für Gott die Ewigkeit. In einem Punkte steht der Weise noch über der Gottheit. Gott ist von Natur ohne Furcht, der Weise durch eigenes Verdienst[89]. Welch einzigartiges Phänomen, wenn einer die gebrechliche Konstitution des Menschen hat und dabei die innere Sicherheit eines Gottes besitzt! Unglaubliche Kräfte liegen in der Philosophie, mit denen sie alle Angriffe des Zufalls wirkungslos machen kann.

ICH WERDE NICHT VOR DEM ENDE ZITTERN

Meine Krankheit hatte mir langen Urlaub gewährt. Plötzlich überfiel sie mich wieder. In welcher Form? – meinst du. Du fragst ganz mit Recht. Denn an Krankheiten ist mir nichts unbekannt geblieben. Doch bin ich von einer Krankheit besonders geplagt – wie man sie auf griechisch nennt, weiß ich nicht –, man kann sie aber genau genug mit Brustbeklemmung bezeichnen. Kurz, aber heftig ist der Anfall und einem Schock ähnlich. Nach ungefähr einer Stunde hört der Anfall auf. Ich habe wohl alle körperlichen Beschwerden und [86]Krisen durchgemacht. Keine aber erscheint mir unangenehmer. Warum? Alles andere ist Kranksein; dies heißt mit dem Tode kämpfen. Daher nennen die Ärzte diese Krankheit Vorbereitung auf den Tod[90].

Dies aber kann ich dir versprechen: Ich werde nicht vor dem Ende zittern. Ich habe mich schon vorbereitet. Ich rechne mit keinem vollen Tage mehr. Du solltest den Mann loben und ihm nacheifern, der sich nicht gegen das Sterben wehrt, auch wenn das Leben noch Freude macht. Soll es aber noch sittlich wertvolles Verhalten sein, wenn man geht, weil man hinausgeworfen wird? Dennoch – auch das ist noch sittlich wertvolles Verhalten. Ich werde zwar zum Abtreten gezwungen, aber ich tue so, als ginge ich selbst. Der Weise kann nicht zum Abtreten gezwungen werden, weil das gleichbedeutend wäre mit widerwilligem Verlassen eines Ortes. Der Weise tut nichts wider Willen. Er entgeht dem Druck der Schicksalsnotwendigkeit, weil er in seinen Willen aufnimmt, was sie zu erzwingen sucht.

WENN NUR HIER INNEN KEINE UNRUHE IST

Der Schlag soll mich treffen, wenn äußere Ruhe für wissenschaftliche Studien von solcher Wichtigkeit ist, wie man gewöhnlich annimmt. Hier tönt von allen Seiten verschiedenartiger Lärm an mein Ohr. Ich wohne oberhalb des Bades. Stelle dir alle Arten von Geräuschen vor, die einen dazu bringen können, daß man seine Ohren verwünscht. Wenn die kräftigeren Leute sich üben und Gewichte stemmen, wenn sie [87]sich anstrengen oder so tun, als ob sie sich anstrengen, dann höre ich Gestöhn; wenn sie aber die zurückgehaltene Atemluft wieder ausstoßen, höre ich Zischen und scharfes Atemgeräusch. Wenn nun gar ein Ballspieler hinzukommt und anfängt, seine Bälle zu zählen, dann ist es ganz aus. Denke dir hierzu noch die Zänkereien und das Geschrei um die Ergreifung eines Diebes und einen Badegast, der sich beim Baden gern singen hört. Stelle dir weiter die Badenden vor, die ins Badebassin springen und sich dabei mit lautem Klatschen aufs Wasser aufschlagen lassen. Vergegenwärtige dir auch noch die verschiedenen Rufe des Getränkeverkäufers, den Wursthändler, den Kuchenverkäufer und die Kellner aus den Speisehäusern, die ihre Ware jeweils in einem bestimmten, auffallenden Tonfall anpreisen.

»Du hast eiserne Nerven und eine erstaunliche Unempfindlichkeit«, – meinst du – »wenn du unter so viel verworrenem Geschrei nicht den Verstand verlierst.«

Aber ich kümmere mich um diesen Lärm nicht mehr als um den Wellenschlag des Wassers. (Ich weiß allerdings, daß ein Volksstamm seine Stadt nur deswegen verlegt hat, weil die Bewohner das Getöse des Nilfalls nicht ertragen konnten[91].) Die menschliche Stimme scheint stärker ablenkend zu wirken als das einfache Geräusch. Die Stimme fesselt unsere Aufmerksamkeit, das Geräusch erfüllt nur unsere Ohren mit unangenehmer Empfindung. Aber gegen alle diese Geräusche habe ich mich schon derartig unempfindlich gemacht, daß ich dem Rudermeister zuhören könnte, [88]wenn er mit schneidender Stimme den Ruderknechten den Takt angibt. Ich zwinge mich nämlich zu angespannter Beschäftigung mit mir selbst und lasse mich nicht nach außen ablenken. Mag da draußen Lärm herrschen – wenn nur hier innen keine Unruhe ist, wenn hier nicht Begierde und Furcht miteinander streiten, wenn hier nicht Geldgier und Verschwendungssucht miteinander im Kampf stehen und eine Neigung die andere quält. Denn was nützt die Ruhe der Umgebung, wenn sich die Leidenschaften in Aufruhr befinden? Nur die Ruhe ist heiter, die uns die Vernunft schenkt.

Wisse, daß deine innere Ruhe erst dann vollkommen ist, wenn dich kein Geschrei mehr berührt, kein Wort mehr aus der Fassung bringt, mag es eine Schmeichelei oder eine Drohung sein oder mag dir nur nichtssagender Schall in die Ohren dringen. »Aber ist es nicht angenehmer, ohne Lärm zu leben?« Das gebe ich zu. Daher werde ich auch von hier wegziehen. Ich wollte mich nur auf die Probe stellen und eine Übung machen. Wozu soll man sich länger quälen, da doch schon Odysseus für seine Gefährten ein so einfaches Mittel sogar gegen die Sirenen[92] erfunden hat.

WIE KÖNNEN MICH PLATONS IDEEN BESSER MACHEN?

Wie arm, ja wie dürftig unsere Sprache ist, wurde mir heute ganz besonders klar. Tausend Dinge fielen mir ein, als wir gerade von Platon sprachen, die einer Bezeichnung bedürfen und für die es doch keine gibt.

»Was soll diese Vorbereitung« – meinst du – »was bezweckt sie?«

[89]

Ich will es dir nicht vorenthalten. Ich möchte, wenn möglich mit deiner Zustimmung, von »Sein« sprechen dürfen, notfalls auch ohne sie. Ich kann dir Cicero als Gewährsmann für dieses Wort nennen, und ich glaube, das ist ein recht ordentlicher. Denn was soll geschehen, mein Lucilius? Wie sollen wir das »Sein«, diese notwendige Kategorie, die ihrer Natur nach Grundlage aller Dinge ist, sonst bezeichnen? Ich bitte dich also, mir den Gebrauch dieses Wortes zu erlauben.

Unzählig sind die Dinge, die im eigentlichen Sinne »Sein« haben, aber sie liegen außerhalb unseres Gesichtskreises. »Welche sind es«, fragst du. Sie gehören zum eigentlichen Gedankengut Platons. Er nennt sie Ideen. Aus ihnen entsteht alles, was wir sehen. Alles ist nach ihnen gestaltet. Sie sind unsterblich, unwandelbar, unverletzlich. Höre, was eine Idee ist – d. h. was sie nach Platon ist –: »Die Idee ist das ewige Vorbild aller Dinge, die in der Natur entstehen.«

Was soll mir diese scharfsinnige Unterscheidung nützen? Wenn du mich fragst – gar nichts. Aber wie ein Ziselierarbeiter, der seine Augen lange und bis zur Ermüdung angespannt hat, sich einmal entspannt, seinen Blick von der Arbeit abwendet und sich erholt, so müssen auch wir uns einmal geistig entspannen und bei angenehmer Ablenkung erholen. Aber selbst die Ablenkung soll noch Arbeit sein. Auch aus den obigen Ausführungen kannst du, wenn du acht gibst, Anregungen empfangen, die sich heilsam auswirken werden. So pflege ich es wenigstens zu machen, mein Lucilius: Aus jeder Untersuchung, mag sie noch so wenig mit der Philosophie[93] zu tun haben, suche ich eine segensreiche Anregung zu gewinnen. [90]Was liegt von moralischer Besserung weiter ab als unser heutiges Thema? Wie können mich Platons Ideen besser machen? Wie kann ich von ihnen Impulse zur Bändigung meiner Begierden erhalten? Vielleicht insofern, als Platon allen Dingen, die uns erregen und reizen, wahres »Sein« abspricht. Also sind es Scheinwerte, die nur zeitweise ein erfreuliches Ansehen besitzen. Tatsächlich ist nichts an ihnen von bleibendem Wert. Wir begehren aber diese wertlosen Dinge, als würden sie immer bestehen und als würden wir sie immer besitzen. Als schwache und hinfällige Wesen klammern wir uns an gehaltlose Dinge. Wir sollen uns aber dem zuwenden, was Ewigkeitswert hat. Verachten wir also alles, was so wenig Wert hat, daß sogar Zweifel darüber besteht, ob es überhaupt existiert.

Zugleich können wir folgendes bedenken: Wenn die Vorsehung diese Welt, die nicht weniger sterblich ist als wir selbst, vor Gefahren bewahrt, dann kann auch unsere menschliche Vorsehung bis zu einem gewissen Grade diesem Körperchen einen längeren Aufenthalt auf Erden sichern, wofern wir imstande sind, die Neigung zu sinnlichen Vergnügungen, an denen die meisten zugrunde gehen, zu beherrschen und einzuschränken. Platon selbst brachte es durch seine sorgsam geregelte Lebensweise zu einem hohen Alter. Ich glaube, du weißt, daß Platon dank dieser sorgsamen Lebensweise gerade 81 Jahre alt wurde. Er starb nämlich an seinem Geburtstag. Daher brachten ihm nach seinem Tode Magier, die zufällig in Athen anwesend waren, ein Opfer. Sie glaubten nämlich, es sei ihm ein höheres Los zuteil geworden, als es sonst den Menschen zufalle, weil er die vollkommenste Zahl erreicht habe, nämlich neun mal neun Jahre.

[91]

Ich zweifle nicht, daß Platon ihnen gewiß einige Tage von dieser Zahl geschenkt und auch auf das Opfer verzichtet hätte. Einfache Lebensweise kann zu hohem Alter führen. Wenn ich auch nicht meine, man solle hohes Alter ersehnen, so glaube ich doch, man soll es auch nicht zurückweisen. Es ist eine angenehme Aufgabe, lange Zeit mit sich zusammen zu sein, wenn man sich nur solche inneren Werte geschaffen hat, daß man an sich selbst Freude finden kann. Ich werde nicht freiwillig aus dem Leben scheiden, wenn ich auch im Alter ohne Einschränkung im Besitz meiner Kräfte bleibe – ohne Einschränkung, soweit es den besseren Teil meines Wesens anlangt. Wenn aber das Alter mit geistiger Zerrüttung einhergehen sollte, wenn sich geistige Ausfallserscheinungen bemerkbar machen, wenn mir nicht das Leben in seiner ganzen Fülle bleibt, sondern nur das Vegetieren, dann werde ich aus dem brüchigen einstürzenden Gebäude herausspringen. Ich werde einer Krankheit nicht durch den Tod zu entgehen suchen, solange es sich um eine heilbare Krankheit handelt, die meine geistige Tätigkeit nicht beeinträchtigt. Eines körperlichen Schmerzes wegen werde ich niemals Hand an mich legen. Solcher Tod wäre eine Niederlage. Wenn ich aber weiß, daß der Schmerz dauernd anhalten wird, dann werde ich aus dem Leben scheiden, nicht wegen des Schmerzes selbst, sondern in der Überlegung, daß dieser Schmerz mich an allem hindern wird, was das Leben lebenswert macht.

[92]

MIT RÖMISCHER WILLENSHALTUNG PHILOSOPHIEREN

Ich lese gerade den Sextius[94], einen Mann voller Energie, der mit griechischen Worten, aber mit römischer Willenshaltung philosophiert. Eines seiner Bilder hat mir besonderen Eindruck gemacht: Ein Heer marschiert kampfbereit in viereckiger Marschordnung in einer Gegend, wo der Feind von allen Seiten zu erwarten ist. Ebenso, sagt Sextius, muß sich der Weise verhalten: Alle seine hohen moralischen Fähigkeiten hat er in Alarmbereitschaft. Wenn irgendwo feindliche Mächte sich regen, dann stehen dort bereits Sicherheitsposten, die auf den Wink des Herrschers ohne Aufregung ihre Pflicht tun. Der törichte Mensch aber kennt keine Sicherheit. Seine Furcht richtet sich nach oben, unten und nach allen Seiten. Gefahren folgen ihm nach und laufen ihm in den Weg. Alles verursacht ihm Angst, weil er nicht bereit ist, und so wird er sogar durch Hilfeleistung erschreckt. Der Weise aber ist auf jeden Angriff vorbereitet und gerüstet. Ob ihn Armut, Trauer, Schande oder Schmerz trifft, er weicht nicht zurück. Unerschrocken wendet er sich gegen diese Schicksalsschläge, unerschrocken wandelt er mitten unter ihnen.

Viele Charakterfehler hemmen und schwächen uns. Lange haben wir in diesem Schmutz gelegen. Nun ist die Reinigung schwierig, denn wir sind nicht nur beschmutzt, sondern infiziert. Aber ich will nicht von einem Bild ins andere kommen. Ich will vielmehr untersuchen, warum wir so hartnäckig in Torheit befangen sind. Schon oft habe ich darüber nachgedacht. Einmal weil wir sie nicht energisch bekämpfen und [93]weil wir uns nicht mit aller Kraft für unsere innere Genesung einsetzen. Weiter aber haben wir nicht das genügende Vertrauen zu den Heilmitteln, die von weisen Männern entdeckt worden sind. Wir öffnen unser Herz dafür nicht weit genug und betreiben eine Sache von solcher Bedeutung mit Leichtsinn. Wie aber soll einer genügend Heilmittel zur Bekämpfung von Charakterfehlern kennenlernen, wenn er nur in der kurzen Zeit zum Lernen bereit ist, die seine Laster nicht mit Beschlag belegt haben? Niemand von uns will in die Tiefe dringen. Nur oberflächliche Kenntnisse wollen wir uns aneignen, und in unserer Vielgeschäftigkeit erscheint es uns schon ausreichend, wenn wir nur ein wenig Zeit auf die Philosophie verwenden. Das stärkste Hindernis für unseren Aufstieg aber bildet die Tatsache, daß wir zu schnell mit uns zufrieden sind. Wenn wir nur einen finden, der uns gut, klug, heilig nennt, so stimmen wir ihm bei. Mit maßvollem Lob sind wir nicht zufrieden. Aber die Lobsprüche schamloser Schmeichler stecken wir wie einen schuldigen Entgelt ein. Wenn solche Leute uns versichern, wir seien die besten und weisesten Menschen, dann stimmen wir ihnen zu, obwohl wir wissen, daß sie oft maßlos lügen. So viel schwächliche Nachsicht haben wir für uns, daß wir für bestimmte Handlungen gelobt werden wollen, obwohl wir gerade das Gegenteil von dem tun, was man an uns lobt. Unter Hinrichtungen hört es mancher gern, wenn man ihn als den mildesten Herrscher bezeichnet. Ein anderer hört gern, er sei freigebig, obwohl er von schamloser Ausbeutung lebt. Unter Exzessen der Trunkenheit und Sinnenlust will ein Dritter mäßig genannt werden. Daraus folgt, daß wir uns deshalb nicht ändern wollen, weil wir uns schon für vollkommen halten.

[94]

ICH BIN MARSCHBEREIT

Hören wir endlich auf zu wollen, was wir schon immer gewollt haben. Ich wenigstens richte mein Streben darauf, als Greis nicht die gleichen Willensziele zu haben wie als Knabe. Tag und Nacht verbringe ich mit der einen Beschäftigung, alte Charakterfehler auszurotten. Das ist die Aufgabe, die ich mir gestellt habe, das ist mein Vorhaben. Ich suche zu erreichen, daß mir jeder Tag soviel gilt wie ein ganzes Leben. Dabei reiße ich ihn nicht an mich, als wäre es der letzte, sondern ich betrachte ihn in aller Ruhe so, als könnte es wohl auch der letzte sein. Ich schreibe dir diesen Brief in der inneren Haltung, als würde mich der Tod noch beim Schreiben abrufen. Ich bin marschbereit. Ich kann einen sinnvollen Gebrauch vom Leben machen, weil ich nicht zu großen Wert darauf lege, wie lange es dauern wird. Bevor ich ein alter Mann wurde, war ich darauf bedacht, würdig zu leben, jetzt im Alter richtet sich mein Streben darauf, würdig zu sterben. Würdig sterben aber heißt gern sterben. Tu nach Möglichkeit nie etwas widerwillig. Der Zwang der Notwendigkeit, der den Widerstrebenden drückt, existiert nicht für den, der willig ist. Ich behaupte: Wer Befehle willig befolgt, dem bleibt die bitterste Seite der Knechtschaft erspart, nämlich daß man tun muß, was man nicht will. Unglücklich ist nicht, wer etwas auf Befehl tut, sondern wer es widerwillig tut. Wir sollten daher die innere Einstellung gewinnen, daß wir wollen, was die Umstände von uns verlangen. Vor allem aber sollten wir lernen, ohne Traurigkeit an unser Ende zu denken. Wir müssen uns eher für den Tod als für das Leben vorbereiten. Das Leben ist wohl bestellt. Unser Verlangen [95]aber richtet sich auf die Mittel und Werkzeuge zum Leben. Wir glauben, es fehle uns immer noch etwas, und wir werden es stets glauben. Nicht von Jahren und Tagen hängt es ab, ob wir genug gelebt haben, sondern von der inneren Einstellung. Ich selbst, mein bester Lucilius, habe genug gelebt. In innerer Befriedigung erwarte ich den Tod.

ÜBERALL GEHÖRE ICH MIR SELBST

Die Leute, die behaupten, zu geistigen Beschäftigungen fehle ihnen wegen der Menge ihrer äußeren Geschäfte die Zeit, sprechen die Unwahrheit. Sie täuschen Geschäftigkeit vor oder vermehren ihre Beschäftigungen künstlich und halten sich selbst in Bewegung. Ich habe Zeit, mein Lucilius, ich habe Zeit und gehöre überall mir selbst. Ich liefere mich nämlich den äußeren Geschäftsangelegenheiten nicht aus. Ich überlasse mich ihnen nur auf beschränkte Zeit. Auch suche ich nicht Gelegenheiten, die Zeit zu vertun. Wo ich auch bin, hänge ich meinen eigenen Gedanken nach und bewege eine heilsame Vorstellung in mir. Wenn ich mich auch meinen Freunden widme, entziehe ich mich doch nicht mir selbst. Ich gebe mich nicht mit Leuten ab, dir mir der Zufall oder ein dienstlicher Anlaß über den Weg führt. Vielmehr pflege ich nur mit sittlich hochstehenden Menschen Gemeinschaft. Mit ihnen, wo sie auch weilen und in welchem Jahrhundert sie gelebt haben, verbinde ich mich im Geiste. Den Demetrius, einen sehr bedeutenden Mann, habe ich immer bei mir. Ich lasse die Purpurträger stehen und spreche mit diesem halbnackten Weisen. Ich bewundere ihn. Warum sollte ich es auch nicht? Habe ich doch gesehen, daß ihm [96]nichts fehlt. Man kann zwar alles verachten, aber nicht alles besitzen. Der kürzeste Weg zum Reichtum geht über die Verachtung des Reichtums. Mein Demetrius aber hat eine Lebenshaltung, aus der nicht Verachtung aller äußeren Dinge spricht, sondern eine Einstellung, die alle diese Dinge anderen überlassen will.

SEI NICHT UNDANKBAR GEGEN DAS SCHICKSAL

Es tut mir leid, daß dein Freund Flaccus gestorben ist, doch möchte ich nicht, daß du dich gar zu sehr darüber grämst. Daß du überhaupt keinen Schmerz empfinden sollst, wage ich nicht zu verlangen. Aber ich weiß, daß solche Haltung besser wäre. Solche innere Festigkeit ist jedoch nur einem Menschen eigen, der schon weit über das Schicksal erhaben ist. Handle wenigstens so, mein Lucilius, wie es deinem ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit entspricht, und sei nicht undankbar gegen das Schicksal. Das Schicksal hat uns zwar den Freund genommen, aber es hat ihn uns auch geschenkt. Genießen wir also eifrig den Umgang mit unseren Freunden, weil es ungewiß ist, wie lange uns dies Glück beschieden sein wird.

Diese Mahnung zum Maßhalten schreibe ich dir, der ich den Annaeus Serenus, meinen besten Freund, so unmäßig beweint habe, daß ich gegen meine Absicht ein Beispiel dafür bin, wie man vom Schmerz überwältigt werden kann. Heute verurteile ich mein damaliges Verhalten. Ich weiß heute, daß der Hauptgrund für meine Trauer der war, daß ich mir niemals vorgestellt hatte, er könne vor mir sterben. Ich hatte nur vor Augen, daß er jünger, sogar viel jünger sei als ich, als ob die Schicksalsmächte sich an eine bestimmte [97]Reihenfolge hielten. Daher sollen wir uns nicht nur unsere eigene Sterblichkeit vor Augen halten, sondern auch daran denken, daß alle, die wir lieben, sterblich sind.

VERMEHREN WIR DIE EMPFANGENEN EINSICHTEN!

Gestern warst du bei uns. Du könntest dich beklagen, wenn das nur gestern der Fall war. Daher habe ich »bei uns« hinzugefügt. Denn bei mir bist du immer. Es hatten sich einige Freunde eingefunden. Ihretwegen stieg etwas stärkerer Rauch aus dem Schornstein auf, zwar nicht so heftig wie er zum Schrecken der Feuerwachen aus den Küchen der Genießer herauszuströmen pflegt, sondern ein bescheidener, der nur anzeigt, daß Gäste gekommen sind. Unser Gespräch handelte von den verschiedensten Dingen, wie es bei einem Gastmahl zugeht, wo man kein Thema zu Ende verfolgt, sondern von einem zum anderen übergeht.

Schließlich wurde ein Buch des Quintus Sextius, des Vaters, vorgelesen. Er ist ein großer Mann, wenn du etwas auf mein Urteil gibst, und – mag er es auch leugnen – er ist ein Stoiker. Gute Götter, welche Kraft steckt in ihm und welches Selbstvertrauen! Solche Eigenschaften wirst du bei allen anderen Philosophen nicht finden. Manche Philosophen haben wohl einen berühmten Namen, aber ihre Schriften sind ohne Kraft. Sie unterrichten uns, betrachten das Thema von verschiedenen Seiten und ziehen spitzfindige Schlüsse, aber sie schaffen kein Selbstvertrauen, weil sie selbst keines besitzen. Wenn du aber den Sextius gelesen hast, wirst du sagen: er ist voll [98]Leben, voll Kraft, voll Freiheit, er steht über den Menschen, er erweckt in mir das Gefühl ungeheurer Zuversicht. Ich will dir bekennen, in welcher Stimmung ich bin, wenn ich ihn lese. Ich möchte dann alle unglücklichen Zufälle herausfordern und ausrufen: Was zögerst du, Schicksal, beginne den Kampf, du siehst mich bereit. Ich spüre dann Mut in mir, eine Gelegenheit zu suchen, meine Kraft zu betätigen, meine Mannhaftigkeit zu beweisen. Dann möchte ich Schwierigkeiten haben, die ich überwinde, an deren Ertragen ich mich üben könnte. Denn es ist so bewundernswert bei Sextius, daß er dir wohl die Größe des glücklichen Lebens vor Augen führt, dich aber angesichts dieser Größe nicht verzweifeln läßt. Du weißt zwar, dieses glückliche Leben ist ein hohes Ideal, aber für den ernsthaften Willen ist es dennoch erreichbar.

Ganz ähnlich wird es dir mit der sittlichen Vollkommenheit selbst gehen. Du wirst sie staunend bewundern, aber doch hoffnungsvoll zu ihr aufschauen. Ich selbst kann viel Zeit gerade mit der Betrachtung der Weisheit verbringen. Staunend betrachte ich sie, wie ich das bisweilen mit der ganzen Welt tue, die ich oft so anschaue, als sähe ich sie zum erstenmal. Ich verehre also die Werke der Weisheit und ihre Schöpfer. Wir dürfen gleichsam das Erbe vieler weiser Männer antreten. Für mich sind diese Schätze erworben, für mich sind sie erarbeitet worden. Aber seien wir gute Haushalter! Vermehren wir, was wir empfangen haben! Reicher will ich dieses Erbe an die folgenden Geschlechter weitergeben. Es bleiben noch viele Aufgaben, und so wird es auch in Zukunft sein. Mag einer auch tausend Generationen nach uns geboren sein, er wird immer noch neue Einsichten gewinnen können. [99]Wenn auch alle Probleme von den Alten bereits gelöst wären, die Anwendung, Kenntnis und zweckmäßige Ordnung dieses fremden Weisheitsgutes wird immer neu sein. Denke etwa an Heilmittel für die Augen, die man uns hinterläßt. Ich habe dann zwar nicht mehr nötig, nach anderen Heilmitteln auf die Suche zu gehen, aber diese alten muß ich den besonderen Verhältnissen der Erkrankung anpassen und sie zur rechten Zeit anwenden. Mit diesem Mittel kann man das wunde Gefühl bei einer Augenentzündung lindern. Mit jenem kann man eine Lidschwellung zum Abklingen bringen. Ein weiteres Mittel hilft bei plötzlichem Stechen und bei Tränenfluß. Durch ein anderes Mittel wird das Sehvermögen geschärft. Man muß aber diese Heilmittel selbst verreiben, den rechten Zeitpunkt wählen und die Art ihrer Anwendung im einzelnen bestimmen. Auch die geistigen Heilmittel sind schon von den Alten gefunden worden. Wie sie aber anzuwenden sind und wann, das müssen wir selbst herausfinden. Die vor uns waren, haben viel geschafft, aber sie haben nicht alle Untersuchungen zu Ende geführt. Dennoch muß man hohe Achtung vor ihnen haben und sie wie göttliche Wesen verehren. Warum sollte ich nicht Bilder großer Männer als Aufmunterungsmittel gelten lassen und die Geburtstage dieser Männer feiern? Wie sollte ich ihre Namen anders als mit tiefer Ehrfurcht nennen? Die Verehrung, die ich meinen Lehrern schuldig bin, verdienen auch diese Lehrer des Menschengeschlechtes, bei denen die Quellen so hoher Werte zu suchen sind. Sehe ich einen Konsul oder einen Prätor, so werde ich alles tun, um ihm die seiner hohen Stellung gebührende Ehre zu bezeigen: Ich werde vom Pferde steigen, mein Haupt entblößen, beiseite treten. Wie [100]nun? Soll ich die beiden Cato, den weisen Laelius, Sokrates, Platon, Zenon und Kleanthes nicht mit dem Gefühl der höchsten Achtung in meinen Gedanken tragen? Ich verehre diese weisen Männer tief und erhebe mich, wenn Namen von solcher Bedeutung genannt werden, stets von meinem Platze.

VOM RANG DER WERTE

Ich traf meinen Mitschüler Claranus nach vielen Jahren wieder. Ich glaube, du erwartest nicht die Bemerkung, daß ich ihn als alten Mann wiederfand. Geistig aber ist er noch frisch und regsam. Sein Körper macht ihm jedoch viel zu schaffen. Die Natur ist schlecht mit ihm umgegangen und hat einem so bedeutenden Geist eine schlechte Wohnung angewiesen. Vielleicht aber wollte sie uns gerade dies vor Augen führen, daß eine tapfere und glückliche geistige Anlage in einer jeden Haut stecken kann. Claranus aber überwindet alle diese Schwierigkeiten und steigt von der Gleichgültigkeit gegen seine körperliche Schwäche zur Geringschätzung aller anderen Schwierigkeiten auf. Es ist falsch, wenn man sagt: »Lieber sehe ich sittliche Vollkommenheit mir in einem schönen Körper entgegentreten.« Die sittliche Vollkommenheit bedarf keines äußeren Schmuckes. Sie ist sich selbst Zierde genug und gibt noch dem Körper eine höhere Weihe. So begann ich unseren Claranus mit anderen Augen anzusehen: Er erschien mir schön und körperlich so wohlgebildet wie geistig. Aus einer ärmlichen Hütte kann ein großer Mann hervorgehen, und ebenso aus einem häßlichen und unansehnlichen Körper ein schöner und erhabener Geist. Ich glaube, die Natur hat manche Menschen [101]nur deshalb so unansehnlich gemacht, um zu beweisen, daß die sittliche Vollkommenheit überall gedeihen könne. Wenn sie Geister ohne äußere Hülle hätte schaffen können, hätte sie es getan. Jetzt hat sie etwas Größeres vollbracht: Sie brachte Menschen hervor, die körperlich behindert sind, aber sich dennoch gegen alle Widerstände durchsetzen. Claranus scheint mir als Beispiel dazu geschaffen, um uns vor Augen zu führen, daß der Geist nicht durch körperliche Häßlichkeit entstellt werden kann, sondern daß der Körper durch die Schönheit des Geistes verklärt wird.

Obwohl wir nur wenige Tage zusammen waren, führten wir viele Gespräche, die ich in Kürze darstellen und dir senden werde. Am ersten Tage drehte sich die Untersuchung um folgende Frage: Wie können die Werte[95] gleich wertvoll sein, wenn sie sich aus einer dreifachen Wurzel ableiten? Es gibt nach Ansicht unserer Schule Werte erster Ordnung, wie Freude, Friede, Wohlfahrt des Vaterlandes. Sodann Werte zweiter Ordnung, die sich unter unglücklichen Umständen zeigen, wie Ertragen von Qual und Beherrschung in schwerer Krankheit. Jene ersten Werte wünschen wir uns direkt, die Werte der zweiten Gruppe nur, wenn es nötig ist. Es gibt außerdem noch Werte dritter Ordnung, wie bescheidenes Auftreten, ruhiger und edler Gesichtsausdruck und Gebärden, die sich für einen weisen Mann ziemen. Wie können diese Werte einander gleich sein, da man die einen wünscht, die anderen zu meiden sucht? Wollen wir in diesen Dingen klar sehen, so müssen wir auf den obersten Wert zurückgehen und seine Beschaffenheit näher betrachten: Ein Mensch, der die Wahrheit im [102]Auge hat, der weiß, was man meiden und was man erstreben soll, der die Dinge nicht aus einer vorgefaßten Meinung, sondern nach ihrer wahren Natur einschätzt. Mit der ganzen Welt fühlt sich ein solcher Mensch verbunden und jede kosmische Bewegung verfolgt er mit gespannter Aufmerksamkeit. Er ist mit nachdenklicher Betrachtung ebenso beschäftigt wie mit tätigem Wirken. Erhaben ist er und stark, von Schwierigkeiten läßt er sich ebensowenig niederzwingen, wie er sich von Annehmlichkeiten überwältigen läßt. Weder vor dem Glück noch vor dem Unglück beugt er sich. Er erhebt sich über alle Erfolge und Mißerfolge. Solche geistige Haltung ist schön, wohlgeordnet in Würde und Kraft, kerngesund, nicht zu verwirren und ohne Furcht. Keine Macht der Welt kann diese Haltung ändern. Die äußeren Zufälligkeiten können auf sie weder erhebend noch niederdrückend wirken. Solche geistige Haltung ist sittliche Vollkommenheit. So stellt sie sich uns dar, wenn man sie unter einen Gesichtspunkt bringen will und wenn sie sich uns einmal als Ganzes offenbart. Im übrigen sind ihre Erscheinungsformen zahlreich. Entsprechend der Verschiedenheit der Lebenssituationen und Handlungen entwickelt sich diese Mannigfaltigkeit. Die sittliche Vollkommenheit selbst wird aber dadurch weder kleiner noch größer. Freude und tapferes, ausdauerndes Ertragen von Qualen sind gleichwertig. Denn in beidem zeigt sich dieselbe hohe Geisteshaltung. Im einen Fall ist sie gelassen und heiter, im anderen kampfgerüstet und angespannt. Auch die übrigen sittlichen Werte sind gleichwertig. Zum Beispiel innere Ruhe, Aufrichtigkeit, Freigebigkeit, Standhaftigkeit, Gleichtmut und Geduld. Denn hinter ihnen allen steht eine einzige Tugend, die Ursache [103]jener inneren Aufrichtigkeit und Unbeugsamkeit ist.

Wie denn? Es soll kein Unterschied sein zwischen Freude und unbeugsamem Ertragen von Schmerzen? – Keiner, so weit es sich um den sittlichen Wert selbst handelt, ein großer dagegen in den Dingen, an denen sich die sittliche Vollkommenheit jeweils offenbart. Die sittliche Vollkommenheit ist in beiden Fällen gleichwertig. Sie kann durch den Gegenstand ihrer Betätigung nicht geändert werden. Ist dieser Gegenstand hart und schwer zu bearbeiten, so wird dadurch der Wert der sittlichen Vollkommenheit nicht herabgesetzt, so wenig wie er sich erhöht, wenn der Gegenstand heiter und froh ist. Gestatte mir aber, mein bester Lucilius, noch ein offenes Wort. Wäre es möglich, daß einige sittliche Werte größere Bedeutung hätten als andere, dann würde ich die herben jenen weichlichen und schwächlichen vorziehen, ich würde sie für größer halten. Denn größer ist es, Schwierigkeiten zu überwinden, als Erfreuliches mit Maß zu tragen. Ich weiß, es hat denselben tieferen Grund, wenn einer sein Glück mit Würde und sein Unglück mit Tapferkeit trägt. Wer vor dem Wall unbehelligt auf Wache steht, ohne daß Feinde das Lager angreifen, kann ebenso tapfer sein wie einer, der mit durchschnittenen Sehnen in die Knie sinkt und trotzdem die Waffen nicht wegwirft. »Heil eurem Heldenmute!« ruft man aber nur denen zu, die verwundet aus der Schlacht heimkehren.

So möchte ich auch jenen sittlichen Werten höhere Anerkennung schenken, die harte Prüfungen mit sich bringen, Tapferkeit und Kampf mit dem Schicksal einschließen.

[104]

DIE STRENGE SOLDATISCHE ZUCHT DES SCHICKSALS

Ich bin dem Alter dankbar, daß es mich an das Ruhebett kettet. Warum sollte ich ihm deswegen nicht dankbar sein? Was ich nicht tun soll, kann ich nicht mehr. Ich pflege hauptsächlich mit meinen Büchern Zwiesprache. Wenn dann deine Briefe eintreffen, glaube ich bei dir zu sein und habe nicht das Gefühl dir zu schreiben, sondern den Eindruck der persönlichen Unterhaltung. So will ich auch deine Frage mit dir besprechen, und wir wollen gemeinsam untersuchen, wie sich die Sache verhält. Du fragst, ob alle Werte wünschenswert sind. »Wenn es ein sittlicher Wert ist«, meinst du, »tapfer Qualen auszuhalten, sich mutig brennen zu lassen und geduldig krank zu sein, so folgt daraus, daß dies alles wünschenswert ist. Ich finde aber nichts von dem wünschenswert. Ich wüßte auch niemanden, der sich wünschen würde, unter Geißelhieben sein Leben auszuhauchen, von der Gicht zum Krüppel gemacht oder auf der Marterbank in die Länge gezogen zu werden.« – Mache nur genaue Unterscheidungen, und du wirst erkennen, daß an solchen Leiden auch etwas Wünschenswertes ist. Wohl will ich von der Qual verschont bleiben, wenn sie aber einmal ausgehalten werden muß, dann wünsche ich mir die Kraft, mich in solcher Lage tapfer, tüchtig und mutig zu zeigen. Wie sollte ich nicht vorziehen, von Kriegswirren verschont zu bleiben? Bricht das Unglück eines Krieges aber doch über mich herein, so werde ich mir die Fähigkeit wünschen, Wunden, Hunger und alle Not, die der Krieg mit sich bringt, mutig zu ertragen. Ich bin nicht so verblendet, mir Krankheit zu wünschen. Muß ich aber einmal eine Krankheit durchmachen, [105]dann werde ich mir die innere Stärke wünschen, keine Handlung der Unbeherrschtheit oder Feigheit zu begehen. So ist also nicht das Unglück an sich wünschenswert, wohl aber die tapfere Seelenhaltung, die das Unglück erträgt. Manche Wünsche lassen sich klar und deutlich aussprechen. Hier sind es bestimmte Einzelheiten, die man sich wünscht. In anderen Fällen fehlt diese Klarheit, wenn nämlich ein Wunsch bereits die verschiedensten Begleitumstände in sich schließt. So wünsche ich mir ein sittlich gutes Leben. Ein sittlich gutes Leben aber besteht aus Handlungen der verschiedensten Arten: Hier gibt es den Folterkasten des Regulus, Catos Wunde, die er mit eigener Hand wieder aufreißt, die Verbannung des Rutilius, den Giftkelch des Sokrates, der ihn aus dem Kerker in den Himmel brachte. Wenn ich mir somit ein sittlich gutes Leben wünsche, dann wünsche ich mir auch diese Begleitumstände, ohne die eine sittlich gute Lebensführung manchmal nicht möglich ist.

Nimm die Geisteshaltung eines großen Mannes an und rücke ein wenig von den Ansichten der Masse ab. Suche die Idee der sittlichen Vollkommenheit in ihrer Schönheit und Erhabenheit pflichtgemäß zu erfassen. Wir sollen ihr nicht mit Weihrauch und Blumengewinden unsere Verehrung bezeigen, sondern mit unserer Anstrengung und mit dem Einsatz unseres Blutes. Hierbei denke ich an unseren Demetrius, der ein Leben in Ruhe und ohne die Angriffe des Schicksals ein totes Meer nannte. Keine Aufgabe haben, zu der du dich aufgerufen fühlst, zu der du dich antreiben könntest, keine Schwierigkeit sehen, bei deren drohendem Ansturm du deine innere Festigkeit auf die Probe stellen könntest, sondern in unbehelligter [106]Untätigkeit sein Leben zubringen – das ist nicht Ruhe, sondern Flaute. Der Stoiker Attalus pflegte zu sagen: Lieber soll mich das Schicksal in eine strenge soldatische Zucht nehmen, als mich verwöhnen.

ÜBE KRITIK AN DIR SELBST

Ich stimme deinem Plane zu: Ziehe dich unauffällig ins Privatleben zurück. Halte selbst die Tatsache, daß du dich zurückgezogen hast, noch geheim. Du darfst so handeln – wenn auch nicht nach der Lehre der Stoiker – so doch nach ihrem eigenen Beispiel. Aber auch nach der stoischen Lehre darfst du es. Du darfst solches Verhalten bei dir und jedem anderen billigen.

Wir werden uns nicht jedem Staat widmen, nicht immer und nicht ohne Ende. Außerdem ist noch zu bedenken: Geben wir dem Weisen einen Staat, der seiner würdig ist, nämlich das Weltall, dann steht er auch in der Zurückgezogenheit nicht außerhalb aller Gemeinschaft. Vielmehr hat er wohl nur einen engen Winkel verlassen und lebt nun in größeren und weiteren Verhältnissen. Aus seiner überirdischen Höhe erkennt der Weise jetzt, wie tief sein Standpunkt war, als er zum Amtssessel auf dem Tribunal emporstieg. Merke dir, der Weise ist dann am meisten tätig, wenn er mit weitschauendem Blick himmlisches und irdisches Geschehen zugleich erfaßt.

Ich will jedoch zurückkommen auf meinen eingangs gegebenen Rat, du mögest die Tatsache, daß du dich zurückgezogen hast, geheimhalten. Es ist nicht gut, wenn du dir den Titel eines zurückgezogen lebenden Philosophen beilegst. Nenne deine Absicht anders. Sprich von Kränklichkeit und anfälliger Gesundheit [107]oder von Mangel an Unternehmungslust. Sich seiner Zurückgezogenheit rühmen, ist ein kindischer Ehrgeiz. Manche Tiere verwischen, um nicht aufgespürt zu werden, die Fußspuren in der Umgebung ihres Lagers. Das gleiche solltest du tun. Es wird immer noch Leute geben, die dir trotzdem nachlaufen. An Dingen, die offen daliegen, gehen die meisten Menschen vorüber, alles Versteckte und Verborgene aber wollen sie neugierig untersuchen. Versiegelte Behälter reizen den Dieb. Was leicht zugänglich ist, erscheint wertlos. An offenen Türen geht der Einbrecher vorüber. Dasselbe Verhalten zeigt die Masse, zeigt der Ungebildete: In alles Geheimnisvolle suchen sie sich hineinzudrängen. Am besten ist es daher, wenn man seine Zurückgezogenheit nicht zur Schau trägt. Es ist eine Art Demonstration, wenn man sich zu sehr im Verborgenen hält und keinem Menschen mehr unter die Augen kommt. Einer versteckt sich in Tarent, ein anderer schließt sich in Neapel ein, ein Dritter überschreitet jahrelang nicht die Schwelle seines Hauses. Wer seine Zurückgezogenheit zum Gerede der Leute macht, ruft die Masse herbei. Hast du dich aber zurückgezogen, dann sorge nicht dafür, daß die Menschen über dich reden, sondern daß du selbst mit dir redest. Über welches Thema aber wirst du mit dir sprechen? Über ein Thema, das die Menschen gar zu gern behandeln, wenn es um andere geht: Übe Kritik an dir selbst. So wirst du dich daran gewöhnen, die Wahrheit zu sagen, aber auch zu hören. Bearbeite vor allem die Seite deines Inneren, von der du spürst, sie ist deine schwächste. Unsere körperlichen Fehler sind uns allen wohlbekannt. So erleichtert einer seinen Magen durch Erbrechen, ein anderer stärkt ihn durch häufige kleine Mahlzeiten, ein Dritter befreit den Körper durch eine [108]eingelegte Fastenkur von verunreinigenden Schlacken. Wer oft von Gichtschmerz geplagt ist, meidet den Wein und das Bad. Um alles übrige kümmern sich solche Menschen weniger. Sie richten ihr Augenmerk vor allem auf das Leiden, das sie oft plagt. So gibt es auch in unserem geistigen Wesen kränkliche Teile, die einer Heilbehandlung bedürfen. Du willst wissen, was ich in meiner Zurückgezogenheit treibe? Ich kuriere mein Geschwür. Wenn ich dir meinen geschwollenen Fuß zeigen würde, meine blauverfärbte Hand und die magere Muskulatur eines verkürzten Beines, so würdest du mir erlauben, ruhig zu liegen und mich auszukurieren. Schlimmer aber ist das Übel, das ich dir nicht zeigen kann. In meiner Seele selbst finden sich verdorbene Säfte und Eiterbeulen. Ich will nichts von Lob hören, ich will nicht, daß du rufst: »Welch großer Mann, er hat alles verachtet, alle menschlichen Leidenschaften verurteilt und sich freigekämpft.« Ich habe nur mich verurteilt. Du bist im Irrtum, wenn du mich besuchen willst, um hier Fortschritte zu machen. Du täuschst dich, wenn du hier Hilfe erwartest. Hier wohnt kein Arzt, sondern ein Kranker. Mir ist es lieber, wenn du beim Weggehen sagst: »Ich glaubte, er sei ein glücklicher und gebildeter Mann. Ich spitzte die Ohren. Ich habe mich getäuscht. Ich sah und hörte nichts, was mir erstrebenswert schien, worauf ich zurückkommen möchte.« Wenn du dieses Empfinden hast, wenn du so sprichst, dann habe ich schon etwas erreicht. Du sollst lieber Nachsicht üben gegenüber meinem zurückgezogenen Leben, als Neid empfinden.

»Ein zurückgezogenes Leben empfiehlst du mir, Seneca? Bist du auf epikureische Sprüche verfallen?« – Ein zurückgezogenes Leben empfehle ich dir, in dem [109]du höhere und schönere Ziele verfolgen sollst als vordem: An die Türen stolzer Machthaber klopfen, Listen kinderloser Greise führen, viel Einfluß im öffentlichen Leben haben – das alles ist beschränkte Wirksamkeit, die nur Neid erregt und die, wenn du ihren wahren Wert betrachtest, recht schmutzig ist. Es mag mir einer, was öffentliche Anerkennung anlangt, weit voraus sein, ein anderer mag in der militärischen Laufbahn und dem hierdurch erworbenen Ansehen weitergekommen sein, ein Dritter mag eine größere Anzahl von Klienten um sich versammeln als ich. Gern will ich die Überlegenheit aller dieser Leute zugeben, wenn ich nur dem Schicksal gegenüber eine überlegene Haltung bewahre.

Hättest du doch schon längst beschlossen, diesen Vorsatz zur verwirklichen! Möchten wir uns doch für ein glückliches Leben nicht erst im Angesicht des Todes einsetzen! Aber auch jetzt gibt es kein Zaudern. Die Überflüssigkeit und Nachteiligkeit vieler Dinge, die wir aus Gründen der Vernunft hätten einsehen sollen, erkennen wir jetzt aus der eigenen Erfahrung. Setzen wir die Sporen ein, wie es Leute zu tun pflegen, die sich verspätet auf den Weg machten und den Zeitverlust durch rasches Reiten wieder ausgleichen wollen. Das Alter eignet sich vortrefflich für solche philosophischen Bestrebungen. Es hat schon ausgeschäumt. Die Laster haben schon ihr ungezügeltes jugendliches Brausen verloren. Es fehlt nicht viel, so verlöschen sie von selbst.

»Aber wann und wozu«, meinst du, »soll dir helfen, was du noch am Ende des Lebens lernst?« Es soll mir dazu helfen, als ein besserer Mensch aus dem Leben zu scheiden.

[110]

ICH HABE GESIEGT

Im Streben und in der ehrlichen Anstrengung nachlassen bedeutet Rückschritt. Niemand kann später in seiner inneren Weiterentwicklung dort wieder anknüpfen, wo er mit dem Streben aufgehört hatte. Wir müssen Eifer und Beharrlichkeit aufbringen. Es bleibt uns noch mehr zu tun, als bisher geschafft ist. Ein großer Teil des inneren Fortschritts liegt aber schon im Willen zum Fortschritt. Dessen bin ich mir sicher: Ich will und ich will mit ganzem Herzen. Ich sehe, daß auch du voller Begeisterung bist und mit hohem Schwung dem edlen Ziele zustrebst. Eilen wir uns. Dann endlich wird das Leben eine Wohltat sein. Anderenfalls aber ist es nur ein Verweilen, ein erbärmliches Verweilen im Schmutz.

Sorgen wir dafür, daß alle unsere Zeit uns selbst gehört. Das kann sie erst, wenn wir anfangen, nur uns selbst zu gehören. Wann werden wir stark genug sein, das Schicksal zu verachten, mag es sich freundlich oder feindlich zeigen? Wann wird es uns gelingen, alle leidenschaftlichen Erregungen zu bändigen und unter unseren Willen zu zwingen, so daß wir sagen können: Ich habe gesiegt! Über wen gesiegt, fragst du? Weder über Perser, noch über ferne Meder oder über kriegerische Stämme, die hinter den Dahern[96] ansässig sind, sondern über die Habsucht, über den Ehrgeiz und über die Furcht vor dem Tode, die auch die größten Sieger besiegt hat.

WIR STEIGEN ZU DEN GÖTTERN AUF

Es scheint mir ein Irrtum zu sein, wenn man glaubt, die ernsten Anhänger der Philosophie seien widerspenstig, [111]aufsässig und dächten gering von den leitenden Staatsbeamten, den Königen und den für die Staatsverwaltung verantwortlichen Männern. Im Gegenteil, niemand ist ihnen dankbarer. Und das mit Recht; denn niemandem erweisen sie einen größeren Dienst als den Menschen, denen sie ein Leben in friedlicher Zurückgezogenheit ermöglichen. Wenn auch der Segen des Friedens allen zugute kommt, so ist er doch für Menschen, die ihn recht zu nutzen wissen, von größerer Bedeutung.

Wieviel gilt uns diese Zurückgezogenheit, die wir unter Göttern zubringen dürfen, die uns selbst zu Göttern macht? Soviel, mein Lucilius, daß ich dich auf geradem Wege in diesen Himmel rufe. Sextius pflegte zu sagen, Jupiter habe nicht mehr Macht, als ein guter Mensch. Jupiter besitzt zwar vieles, was er den Menschen zukommen läßt, aber von zwei guten Wesen ist das nicht das Bessere, das reicher ist. Wenn zwei Menschen gleiche Kenntnis im Führen des Steuers haben, wird man nicht den für den besseren Steuermann halten, dessen Schiff größer und schöner ist. In welcher Hinsicht ist Jupiter dem guten Menschen überlegen? Er ist länger gut. Aber der Weise hält sich nicht für minderwertig, weil seine wertvollen Charaktereigenschaften in einen engeren Rahmen gespannt sind. Von zwei Weisen ist einer, der älter wird, nicht glücklicher, als einer, der sein rechtes moralisches Verhalten auf einen kleineren Zeitraum beschränkt sieht. Ebenso ist Gott nicht glücklicher als der Weise, wenn er auch länger lebt. Rechtes moralisches Verhalten, das nur längere Zeit dauert, ist deshalb nicht bedeutsamer. Jupiter besitzt alles, aber er hat es anderen überlassen. Er hat davon nur den einen Nutzen, daß er die Ursache alles Nutzens ist. Der [112]Weise sieht mit demselben Gleichmut wie Jupiter die irdischen Güter im Besitze der anderen und verachtet sie. Er rechnet sich das sogar höher an, weil Jupiter die irdischen Güter nicht genießen kann, der Weise sie nicht genießen will. Vertrauen wir uns also dem Sextius an, wenn er uns jenen herrlichen Weg zeigt und ruft: So gelangt man zu den Sternen, durch anspruchsloses Leben, durch Maßhalten, durch Tapferkeit. Die Götter sind nicht abweisend, nicht neidisch. Sie gewähren uns Zutritt und reichen dem Aufsteigenden hilfreich die Hand. Du wunderst dich, daß Menschen zu den Göttern aufsteigen können? Auch Gott steigt zu den Menschen hinab, nein mehr, er steigt in den Menschen hinab: Ohne Gott gibt es keine edle Denkungsart. Göttliche Keime sind überall in den Menschen vorhanden[97]. Ist es ein guter Gärtner, der sie in Pflege bekommt, so werden die Keime ihrem Ursprung ähnlich und wachsen empor zu der Höhe, von der sie abstammen. Ist es aber ein schlechter Gärtner, so zerstört er die Keime, wie dies auch in unfruchtbarem, sumpfigem Boden geschieht, und erzeugt nur faulen Unrat an Stelle von Früchten.

REDE UND LEBEN SOLLEN ZUSAMMENSTIMMEN

Du beklagst dich, du bekämest von mir Briefe, die nicht mit genügender Sorgfalt ausgearbeitet seien. Nur wer affektiert spricht, bereitet sorgfältig vor, was er sagen will. So wie meine Rede sein würde, wenn wir zusammen säßen und umhergingen, ungekünstelt [113]und lebendig, so sollen auch meine Briefe sein. Sie haben nichts Gezwungenes und Erdichtetes. Wenn es möglich wäre, würde ich dir meine Gedanken lieber mit der Tat veranschaulichen als mit Worten schildern. Im Gespräch aber würde ich nicht mit dem Fuß aufstampfen, nicht mit den Händen gestikulieren, nicht die Stimme erheben. Das überließe ich alles den Berufsrednern. Ich wäre zufrieden, dir meine Gedanken und Empfindungen mitzuteilen, ohne Pathos, aber auch ohne Beeinträchtigung ihrer Lebendigkeit. Ich hätte nur die Absicht, dir zu beweisen, daß ich tatsächlich über die Sache so denke, wie ich rede, daß ich nicht nur so von ihr denke, sondern daß ich sie liebe. Eine Geliebte küßt man anders als das eigene Kind. Aber auch in dieser letzteren unschuldigen und maßvollen Umarmung zeigt sich noch genügend zärtliche Empfindung. So will ich auch nicht nüchtern und trocken über so erhabene Gegenstände sprechen hören. Denn die Philosophie verwirft geistige Beweglichkeit durchaus nicht. Dennoch ist es nicht nötig, übermäßige Mühe an den Ausdruck zu wenden. Kurz – wir wollen reden, wie wir empfinden, und empfinden, wie wir reden. Rede und Leben sollen zusammenstimmen. Nur der Mensch erfüllt, was wir von ihm erwarten, der immer der gleiche ist, ob man ihn handeln sieht oder ihn reden hört. Wir erkennen Art und Größe seines Charakters. Aber dieser Charakter soll einheitlich sein. Unsere Worte sollen nicht unterhalten, sondern Segen stiften. Wenn aber jemand dank angeborener Schlagfertigkeit über Redegewandtheit verfügt, oder wenn ihm wohlgesetzte Rede wenig Mühe macht, dann mag er sie anwenden und für edle Ziele einsetzen. Aber auch diese wohlgesetzte Rede soll mehr der Sache als der persönlichen [114]Eitelkeit dienen. Andere Wissenschaften stellen nur Anforderungen an die Intelligenz, hier handelt es sich um eine Sache des Herzens. Der Kranke sucht nicht einen Arzt, der gut reden kann. Wenn aber einer, der sich aufs Heilen versteht, auch gescheit über die notwendigen Maßnahmen reden kann, dann ist er es zufrieden. Trotzdem wird er sich nicht beglückwünschen, weil er an einen redegewandten Arzt geraten ist. Was kitzelst du meine Ohren? Warum suchst du mich zu unterhalten? Es geht um andere Probleme. Ich soll mit dem Glüheisen gebrannt oder operiert werden, ich soll eine bestimmte Diät einhalten. Dazu habe ich dich geholt. Du sollst eine schwere veraltete Krankheit heilen, die sich schon weit ausgebreitet hat. Du hast ebensoviel Arbeit, wie ein Arzt bei einer Pestepidemie. Und da gibst du dich mit Worten ab? Sei froh, wenn du den Tatsachen gerecht werden kannst. Wann und wieviel wirst du lernen? Wann wirst du das Erlernte so fest in dir verankert haben, daß es unerschütterlicher Besitz geworden ist? Wann wirst du dein Wissen in der Praxis erproben? Denn es genügt hier nicht, wie in anderen Wissensgebieten, sich den Lernstoff einzuprägen, man muß versuchen, ihn in die Tat umzusetzen. Glücklich ist nicht, wer philosophisches Wissen hat, sondern wer danach handelt. Wie meinst du das? Gibt es nicht Stufen unterhalb dieser Vollkommenheit? Liegt neben der Weisheit sogleich der Abgrund? Ich glaube, nein[98]. Wenn auch der fortschreitende Schüler noch zur Gruppe der Toren zu rechnen ist, so ist er von ihnen doch schon durch einen weiten Abstand getrennt. Auch unter den [115]fortschreitenden Schülern selbst gibt es große Unterschiede. Bedenke, wieviel schlechte Menschen du schon in deinem Kreise kennenlernst. Überlege dir, daß es für jedes Unrecht Beispiele gibt, daß die moralische Verworfenheit täglich weitere Fortschritte macht. Bedenke, wieviel im privaten, wieviel im öffentlichen Leben gesündigt wird. Du wirst dann einsehen, daß wir schon Beachtliches erreicht haben, wenn wir nicht zu den Schlechtesten gehören.

»Ich hoffe«, meinst du, »mehr zu erreichen.« Ich möchte es uns wohl wünschen, aber ich kann keine Gewähr dafür geben. Wir sind vorbelastet. Bei unserem Streben nach der sittlichen Vollkommenheit hindern uns unsere Fehler. Man schämt sich, das auszusprechen, aber es ist so: Wir wenden uns edlen Bestrebungen nur zu, wenn wir gerade nichts anderes zu tun haben. Welch herrliche Belohnung aber wartet unser, wenn wir unsere Beschäftigungen und unsere hartnäckigen Fehler abschütteln. Begierde und Furcht werden uns nicht mehr zum Nachgeben bringen. Schrecknisse werden uns unbewegt lassen. Der Hang zu sinnlichen Vergnügungen wird uns nicht mehr verführen können. Wir werden den Tod ebensowenig fürchten, wie die Götter. Wir werden die innere Gewißheit haben, daß der Tod kein Übel ist, die Götter aber nicht zum Schlechten die Hand reichen. Schädliches Wirken ist ebenso ein Zeichen der Schwäche, wie die Möglichkeit des Beschädigtwerdens. Alle wahrhaft guten Kräfte haben keine schädigende Wirkung. Wenn wir uns einmal aus dieser niederen Sphäre in jene erhabene Höhe erhoben haben, dann haben wir ausgeglichene innere Ruhe zu erwarten und nach Überwindung unserer Verirrungen völlige Freiheit. Du fragst, welcher Art diese Freiheit sei: Keine Furcht [116]haben vor Göttern und Menschen; keine verwerflichen Entschlüsse fassen und auch keine, die unsere Leistungsfähigkeit übersteigen; sich selbst völlig in der Gewalt haben. Es ist ein unschätzbarer Wert, Herr über sich selbst zu werden.

ICH GEHE NOCH IN DIE SCHULE

Du willst nicht länger mein Freund sein, wenn du nicht alles erfährst, was ich täglich treibe. Sieh, wie offen ich zu dir bin. Sogar folgendes vertraue ich dir an: Ich höre einen Philosophen, und es ist schon der fünfte Tag, daß ich in die Schule gehe und von zwei Uhr ab seinen Vortrag höre. »Im rechten Alter!« spottest du. Warum soll es nicht das rechte Alter sein? Es wäre wohl das Dümmste, wenn man überhaupt nicht mehr lernen wollte, nur weil man solange nichts gelernt hat. Was denn? Ich tue dasselbe, wie die vornehmen Jünglinge. Es wäre gut mit mir bestellt, wenn ich weiter nichts täte, was sich für mich in meinem Alter nicht mehr schickt! Diese Schule läßt Menschen jeglichen Alters zu.

»Werden wir dazu alt, um auf den Wegen der Jugend zu wandeln?« Noch als Greis werde ich ins Theater gehen, ich werde mich in den Zirkus tragen lassen, und ich werde kein Kämpferpaar versäumen: Aber ich soll erröten, zu einem Philosophen zu gehen? Man muß so lange lernen, als man noch Mangel an Kenntnissen hat, wenn wir dem Sprichwort glauben wollen, also, solange wir leben. Das gilt besonders auch von dem Problem, das wir hier behandeln. Man muß, solange man lebt, lernen, wie man leben soll.

Ich gebe dabei noch ein lehrreiches Beispiel. Du fragst, in welcher Hinsicht. Ich zeige, daß auch ein [117]alter Mann noch lernen muß. Ich schäme mich aber für die Menschheit, so oft ich die Schule betrete. Du weißt, man muß am Theater Neapels vorbeigehen, wenn man zum Hause des Metronax[99] gelangen will. Das Theater ist nämlich gestopft voll, und mit begeisterter Anteilnahme stellt man dort fest, wer ein guter Flötenspieler ist. Auch der griechische Trompeter und der Ausrufer haben Zulauf. Hingegen dort, wo man Untersuchungen über das sittliche Verhalten des Menschen anstellt, wo man lernt, wie man ein sittlich guter Mensch wird, sitzen nur ganz wenige, und die meisten von ihnen scheinen keine vernünftige Beschäftigung zu haben. Es sind Narren und Nichtstuer. Mag ich mich auch spöttischem Gerede aussetzen: die Spöttereien unverständiger Menschen muß man mit Gleichmut anhören, und wer auf dem Weg zum sittlich Guten ist, muß selbst die Verachtung verachten lernen.

Bleibe mit Eifer bei der Sache, mein Lucilius, und beeile dich, damit es dir nicht ebenso geht wie mir, daß du noch als alter Mann auf der Schulbank sitzen mußt. Beeile dich um so mehr, als du die philosophischen Bestrebungen lange vernachlässigt hast. Auf diesem Gebiet kann man aber kaum auslernen, selbst wenn man sehr alt wird.

»Wie groß werden aber meine Fortschritte sein?« fragst du. Ebensogroß wie deine Anstrengungen. Was erwartest du? Weise Lebensführung gelingt keinem Menschen durch Zufall. Geld kann unerwartet herbeiströmen, ein Ehrenamt kann dir angetragen werden, Einfluß und Rang können dir unversehens zuteil werden, aber die sittliche Vollkommenheit wird [118]dir nicht von ungefähr zufallen. Wer auf Grund seines Reichtums und seiner Ehrenstellen einen höheren Rang einnimmt, ist nicht groß. Warum erscheint er aber groß? Weil man ihn mit seinem Sockel mißt. Ein Zwerg ist nicht groß, auch wenn er auf einem Berge steht. Eine Riesenstatue aber behält ihre Größe auch, wenn sie in einer Grube steht. Wir unterliegen dem Irrtum, wir lassen uns hinters Licht führen, wenn wir einen Menschen nicht danach einschätzen, was er ist, sondern ihm noch den äußeren Glanz zurechnen, der ihn umgibt.

Willst du aber einen Menschen richtig einschätzen und seinen wahren Wert erkennen, dann betrachte ihn ohne diese Hüllen. Er mag sein Erbgut beiseite lassen, seine Ehrenzeichen und andere trügerische Geschenke des Schicksals ablegen, sogar seinen Körper mag er abtun: Betrachte sein geistiges Wesen, dessen Wert und Größe. Beachte, ob er aus eigener oder aus fremder Kraft groß ist. Wenn er unerschrocken Schwerter blitzen sieht, wenn er weiß, daß es gleichgültig ist, ob seine Seele durch den Mund oder durch die Gurgel entweicht, dann nennen wir ihn glücklich. Körperliche Qualen sind ihm bestimmt – solche, die sich zufällig einstellen, und solche, die auf die Rechtsverletzung eines Machthabers zurückgehen – von Gefängnis, Verbannung und den anderen lächerlichen Schreckbildern hört er mit innerer Ruhe und ruft mit dem Dichter aus: »Kein unbekanntes und unerwartetes Schreckensgesicht der Not kann vor mir auftauchen. Alles nahm ich vorweg und führte es im Geiste bis zu Ende.«

Du kündigst mir heute Unglück an. Ich habe es mir schon immer vorausgesagt und habe mich auf menschliche Zwischenfälle vorbereitet. Ein Unglücksschlag, [119]an dessen Möglichkeit man schon vorher gedacht hat, trifft uns weniger hart. Für die törichten Menschen, die dem Glück vertrauen, haben die Umstände immer wieder ein neues unerwartetes Gesicht. Ein großer Teil des Unglücks liegt für unverständige Menschen in der Überraschung. Wisse, man erträgt das Schwere tapferer, wenn man sich daran gewöhnt hat. Daher gewöhnt sich der Weise an den Gedanken künftigen Unglücks, und das Unglück, das anderen nur leicht wird, wenn sie es lange ertragen müssen, macht er sich leicht, indem er lange vorher daran denkt. Wir hören manchmal auch törichte Menschen sagen: »Ich wußte, daß mir das bevorstand.« Der Weise aber ist sich stets bewußt, daß ihm Schwierigkeiten aller Art bevorstehen. Was auch geschieht, er sagt sich: »Ich wußte es.«

BESCHÄFTIGE DICH MIT DEM BESSEREN TEIL DEINES WESENS

Daß du von häufigen Katarrhen und Fieberanfällen geplagt wirst, die als Folge langer, chronischer Katarrhe auftreten, bedaure ich sehr. Ich habe nämlich meine eigenen Erfahrungen mit dieser Art von Krankheit. Anfangs habe ich darauf nicht acht gegeben. Als junger Mensch konnte man noch viel vertragen und konnte den Krankheiten mit trotzigem Eigenwillen begegnen. Später aber unterlag ich und kam soweit, daß ich mir die Seele aus dem Leibe hustete und bis zum äußersten abmagerte. Oft nahm ich einen Anlauf, mit dem Leben Schluß zu machen. Nur die Rücksicht auf meinen alten, mit großer Sorge erfüllten Vater hielt mich zurück. Ich bedachte nämlich nicht nur, daß ich den Mut hatte, tapfer zu [120]sterben, sondern mir war auch bewußt, daß mein Vater nicht imstande gewesen wäre, den Verlust des Sohnes tapfer zu ertragen. Daher legte ich mir auf, am Leben zu bleiben. Manchmal ist es nämlich auch eine tapfere Tat, wenn man leben bleibt. Ich will dir berichten, was mir damals Trost gebracht hat. Zuvor aber muß ich noch berichten, daß die Studien, bei denen ich innerlich zur Ruhe kam, die Kraft einer Medizin besessen haben. Geistiger Trost kann die Wirkung eines Heilmittels haben. Was uns geistig emporhebt, ist auch für den Körper von Nutzen. Mir diente die Beschäftigung mit der stoischen Philosophie zum Heile. Daß ich wieder aufkam, daß ich gesund wurde, verdanke ich der Philosophie. Ich verdanke ihr mein Leben und nichts Geringeres. Viel trugen auch die Freunde zu meiner Genesung bei. Sie ermunterten mich, wachten bei mir und heiterten mich mit ihren Gesprächen auf. Liebevolle Sorge von Freunden, mein bester Lucilius, ist für einen Kranken die beste Erquickung und Hilfe. Kein anderes Mittel nimmt so gründlich das beängstigende Gefühl der Erwartung des Todes. Ich achtete nämlich das Sterben gering, als ich mir überlegte, daß ich meine Freunde als Hinterbliebene zurücklassen würde. Ich hatte damals den Eindruck, ich würde nicht nur mit ihnen leben, sondern durch sie. Es schien mir, als würde ich meinen Geist nicht aushauchen, sondern ihn auf sie übertragen. Dies alles gab mir den Willen, mich zu erhalten und alle Qual zu ertragen. Sonst ist es nämlich ein schlimmer Zustand, wenn man den Entschluß zu sterben aufgegeben hat, aber den Willen zum Leben nicht finden kann.

Halte dich also an diese Mittel. Der Arzt wird dir Anweisung geben, wieviel du spazieren gehen, wieweit [121]du dich beschäftigen sollst. Der Arzt wird dir auch vorschreiben, welche Speisen du genießen darfst, wann du zur Kräftigung Wein zu dir nehmen und wann du ihn meiden sollst, um den Husten nicht zu reizen und zu verschlimmern. Ich hingegen will dir eine Vorschrift geben, die nicht nur eine Medizin gegen diese Krankheit, sondern ein Heilmittel für das ganze Leben ist: Verachte den Tod! Es gibt keinen Grund mehr zur Traurigkeit, wenn man die Furcht vor dem Tode überwunden hat. Drei Belastungen legt uns jede Krankheit auf: Die Furcht vor dem Tode, körperlichen Schmerz und Unterbrechung der Vergnügungen. Über den Tod ist genug gesagt worden. Dies eine will ich nur noch sagen, daß die Todesfurcht nicht in der Erkrankung, sondern in unserer natürlichen Anlage begründet ist. Bei vielen Leuten hat eine Erkrankung den Tod hinausgeschoben, und es war ihr Glück, daß es den Anschein hatte, sie lägen in den letzten Zügen[100]. Du wirst sterben, aber nicht weil du krank bist, sondern weil du lebst. Der Tod steht dir auch dann noch bevor, wenn du geheilt bist. Mit der Genesung wirst du nicht dem Tode, sondern nur der Krankheit entgehen.

Aber kehren wir nun zu den eigentlichen Unannehmlichkeiten der Krankheit zurück: Sie bringt große Qualen mit sich. Durch die schmerzfreien Zwischenzeiten jedoch werden sie erträglich. Auch der hochgradigste Schmerz findet sein Ende. Niemand kann heftige Schmerzen lange Zeit ertragen. Die Natur [122]meint es nämlich gut mit uns und hat es so eingerichtet, daß der Schmerz entweder erträglich oder kurz ist. Was dem gedankenlos dahinlebenden Menschen bei körperlichem Schmerz besondere Schwierigkeiten macht, ist folgendes: Sie haben nicht gelernt, mit dem geistigen Teile ihres Wesens zufrieden zu sein. Sie nehmen ihren Körper zu wichtig. Ein bedeutender und einsichtsvoller Mann dagegen löst sein geistiges Wesen vom Körper ab und beschäftigt sich viel mit dem besseren und göttlichen Teil seines Wesens, mit dem kläglichen und zerbrechlichen Körper dagegen nur soweit als unumgänglich nötig ist. Die Leiden einer Krankheit sind erträglich, wenn du verachtest, was dir im schlimmsten Fall drohen kann. Mache dir deine Leiden nicht selbst schwerer und belaste dich nicht mit Klagen. Der Schmerz ist leicht erträglich, wenn ihn die Einbildung nicht vermehrt, wenn man sich vielmehr aufrafft und sagt: »Es ist nichts oder nur eine Wenigkeit. Halten wir aus, schon ist es vorüber!« Man macht sich den Schmerz leicht, wenn man ihn für leicht hält. Alle Dinge sind von der Einbildung abhängig. Ein jeder ist so unglücklich, wie er es zu sein glaubt.

»Ich empfinde aber heftigen Schmerz.« – Was denn? Wirst du ihn nicht empfinden, wenn du dich wie ein altes Weib gebärdest? Wie ein feindlicher Angriff für eine Truppe, die sich auf der Flucht befindet, besonders gefährlich ist, so drückt auch alles zufällige Unglück den Menschen mehr, der nachgibt, oder sich dem Schlag entziehen will. »Aber es ist doch schwer!« – Sind wir denn dazu tapfer, um nur Leichtes zu ertragen?

Wende dich anderen Betrachtungen zu und lenke dich von deinem Schmerz ab. Denke an deine guten, [123]an deine tapferen Taten. Beschäftige dich mit dem besseren Teil deines Wesens. Gedenke der Leistungen, die du am meisten bewundert hast. Dann werden in deiner Erinnerung die Helden und Schmerzbesieger auftauchen: Jener Mann, der während einer Krampfaderoperation seine Lektüre fortsetzte, jener andere, der nicht aufhörte zu lachen, als seine wütenden Quäler alle Werkzeuge ihrer Grausamkeit an ihm ausprobierten. Soll der Schmerz, der durch Lachen besiegt werden konnte, nicht auch durch Vernunft besiegt werden können?

»Aber die Krankheit läßt mich zu keiner vernünftigen Beschäftigung kommen, sie reißt mich aus allen meinen Arbeiten heraus.« – Die Krankheit fesselt nur deinen Körper, nicht auch deinen Geist. Die Krankheit lähmt den Fuß des Läufers, behindert die Hand des Schusters oder Schneiders. Bist du aber an sinnvolle Betätigung deiner geistigen Fähigkeiten gewöhnt, dann kannst du auch auf dem Krankenbett noch Rat und Belehrung erteilen, du kannst zuhören und lernen, du kannst forschen oder in der Erinnerung leben. Und weiter – glaubst du, du vollbringst nichts, wenn du während der Krankheit Selbstbeherrschung zeigst? Du erbringst den Beweis, daß man die Krankheit überwinden, zum mindesten aber aushalten kann. Glaube mir, eine gute und tapfere Seelenhaltung findet auch auf dem Krankenbett Gelegenheit zur Betätigung. Nicht nur im Kriegsgetümmel kann man zeigen, daß man frischen und unbezwinglichen Mut hat. Auch in bürgerlicher Kleidung kann man seine Tapferkeit beweisen. Hier hast du eine Aufgabe: Ringe erfolgreich mit der Krankheit! Wenn sie dich nicht bezwingt, dich nicht mürbe macht, dann gibst du ein leuchtendes Beispiel. Welch hoher [124]Ruhm, wenn man während unserer Krankheit bewundernd zu uns aufschaut!

Stärke dich an solchen Gedanken und nimm dir auch etwas Zeit für meine Briefe. Es wird eine Zeit kommen, wo wir wieder vereint sein werden. Mag sie auch noch so kurz sein, wir werden sie durch sinnvolle Anwendung lang zu machen wissen. Es geht damit so, wie Poseidonios sagt: Ein einziger Tag bedeutet für gebildete Menschen oft mehr, als das längste Leben für törichte Menschen. Bis dahin halte dich an folgenden Grundsatz: Im Unglück nicht unterliegen, dem Glück nicht trauen. Alle Möglichkeiten der Schicksalsentwicklung vor Augen haben, als ob wirklich alles das geschehen würde, was nur im Bereich des Möglichen liegt.

BETRACHTE DICH INNERLICH

Daß ich heute frei über meine Zeit verfügen kann, verdanke ich nicht so sehr mir selbst, als vielmehr der Zirkusschau, die alle lästigen Besucher in die Kampfbahn gerufen hat. Niemand dringt bei mir ein, niemand stört meinen Gedankengang, der angesichts dieser Sicherheit mit größerer Kühnheit voranschreitet. Es knarrt nicht dauernd die Tür, der Türvorhang wird nicht ständig gehoben. Ich kann ungestört im Geiste meine Straße ziehen. Das ist bei einem selbständigen Menschen, der eigene Wege geht, besonders wichtig. Folge ich also nicht den Spuren der Alten? Ich folge ihnen, aber ich gestatte auch mir selbst, noch etwas zu entdecken, etwas zu ändern oder beiseite zu lassen. Ich mache mich nicht zu ihrem Sklaven, aber ich pflichte ihnen bei.

Ich sprach ein großes Wort aus, wenn ich mir Stille [125]und ungestörte Abgeschiedenheit versprach. Da dringt auch schon ungeheueres Geschrei aus dem Stadion herüber. Es bringt mich zwar nicht aus der Fassung, lenkt aber meine Gedanken auf Betrachtungen dieser Art. Ich überlege mir, wie viele Menschen Körperübungen treiben, wie wenige dagegen ihre geistigen Anlagen pflegen. Welcher Zulauf zu einer oberflächlichen und spielerischen Schaustellung, welche gähnende Leere aber an den Stätten der Wissenschaft! Auf geistigem Gebiet sind doch diejenigen, deren Armmuskeln man bewundert, recht unbedeutend. Besonders aber bewege ich folgenden Gedanken in mir: Wenn der Körper durch Übung zu solcher Kraft des Ertragens erzogen werden kann, daß er Faustschläge und Fußtritte von verschiedenen Seiten hinnimmt, daß er die brennende Sonne auf glühendem Sande erträgt und blutüberströmt seine Tage zubringt, wieviel leichter muß erst der Geist die Kraft gewinnen können, Schicksalsschläge ungebrochen hinzunehmen oder sich nach solchen Schlägen wieder aufzurichten? Der Körper bedarf nämlich vieler Hilfsmittel, um Kraft zu gewinnen. Der Geist aber wächst aus sich selbst, er gibt sich selbst Nahrung und formt sich selbst. Die Athleten brauchen viel Speise und Trank, viel Öl und müssen lange trainieren. Die sittliche Vollkommenheit aber wird dir zuteil werden, ohne große äußere Zurüstung und ohne Aufwand. Was dich gut machen kann, liegt in dir. Was hast du nötig, um gut zu werden? Nur den Willen dazu. Was kannst du aber Besseres wollen, als dich aus dieser Knechtschaft befreien, die uns alle drückt? Sogar die Sklaven in ihrer tiefen gesellschaftlichen Stellung, geboren in diesen niederen Verhältnissen, versuchen mit allen Mitteln vom Sklavenstande freizukommen. [126]Ihre Sparpfennige, die sie sich vom Munde abgespart haben, legen sie aufs Zahlbrett, um ihre Freiheit zu gewinnen. Spürst du nicht auch den Trieb in dir, um jeden Preis in den Stand der Freiheit zu gelangen, in dem du doch glaubst geboren zu sein? Was blickst du nach dem Geldkasten? Die Freiheit kann man nicht kaufen. Vergeblich wird dein Name als der eines freien Mannes in das Personenstandesregister eingetragen. Freiheit besitzen weder die Leute, die diese Eintragung erkauft, noch die, die sie verkauft haben. Diesen Wert muß du dir selbst geben, du mußt ihn von dir selbst fordern. Befreie dich zunächst von der Furcht vor dem Tode, denn sie legt uns ein schweres Joch auf. Dann erlöse dich auch von der Furcht vor der Armut. Wenn du erkennen willst, daß an ihr nichts Schlimmes ist, vergleiche den Gesichtsausdruck des Armen und des Reichen miteinander. Der Arme lacht öfter und herzlicher. Kein Kummer geht bei ihm tief. Wenn auch einmal eine Sorge aufkommt, verschwindet sie doch bald wieder wie eine leichte Wolke. Die Fröhlichkeit der sogenannten Glücklichen aber ist unecht. Tiefe Traurigkeit verbirgt sich dort unter der Oberfläche. Diese Traurigkeit ist besonders tief, weil solche Leute in der Öffentlichkeit ihre unglückliche Stimmung nicht zeigen dürfen, weil sie den Glücklichen spielen müssen, auch wenn ihnen der Gram das Herz zuschnürt. Ich muß oft auf folgendes Beispiel zurückgreifen; denn an keinem anderen tritt uns das Komödienspiel des menschlichen Lebens eindringlicher vor Augen: Jener Schauspieler, der auf der Bühne großspurig einherschreitet, sich in die Brust wirft und spricht:

Wohlan, ich herrsche über Argos,
Pelops hinterließ mir Königreiche …

[127]ist nur ein Sklave und bekommt 5 Scheffel Getreide und 5 Denare[101].

Das Gleiche kann man von den feinen Leuten sagen, die in ihrer Sänfte über den Köpfen der Menschen dahinschweben: Ihr Glück ist nur eine Maske. Wenn du ihnen die Maske herunterreißt, wirst du sie verachten. Siehst du jenen König von Skythien oder Sarmatia im Glanz seines Diadems? Willst du ihn richtig beurteilen und wirklich wissen, wie es um ihn steht, dann nimm ihm den Stirnreif ab: Viel Leid verbirgt sich darunter.

Was spreche ich von anderen? Wenn du abwägen willst, wie es um dich steht, dann laß dein Geld beiseite, dein Haus, deinen Rang und betrachte dich innerlich! Jetzt läßt du dir noch von fremden Leuten sagen, wieviel du wert bist.

ES GEHT HIER NICHT UM LOHN

Du beklagst dich, du seist an einen undankbaren Menschen gekommen. Wenn es das erste Mal ist, dann mußt du deinem Schicksal oder deiner Vorsicht dankbar sein. Aber Vorsicht richtet hier nichts aus, sie kann dich nur knauserig machen. Wenn du auf diesem Gebiet kein Risiko übernehmen willst, darfst du keine Wohltat tun. Dann bleiben deine guten Taten ungetan, weil du fürchtest, sie könnten bei dem anderen nicht recht angebracht sein. Lieber aber sollen sie unerwidert, als ungetan bleiben. Auch nach einer schlechten Ernte muß der Bauer wieder Saatkörner ausstreuen.

Ein jeder nützt sich selbst, wenn er sich dem anderen nützlich erweist. Ich sage das nicht in dem Sinne, daß [128]einer, dem geholfen wurde, bereit ist, zu helfen, daß einer, dem Schutz gewährt wurde, bereit ist, sich schützend vor den Retter zu stellen oder daß ein gutes Beispiel auf einem Umweg wieder dem, der es gegeben hat, zugute kommt. So ist es bei schlechten Beispielen. Sie fallen auf ihre Urheber zurück, und alles erbärmliche Flehen ist umsonst, wenn sie eine Ungerechtigkeit leiden müssen, deren Möglichkeit sie durch ihr eigenes Handeln erst bewiesen hatten. Der Wert allen sittlich guten Verhaltens aber liegt in diesem Verhalten selbst. Es geht hier nicht um Lohn. Der Lohn einer guten Handlung liegt darin, daß man sie vollbracht hat. Ich bin dankbar – aber nicht, damit der andere sich von meinem Beispiel angespornt fühlt und sich mir nun besonders gefällig zeigt. Ich will nur eine Tat vollbringen, die sich an Liebenswürdigkeit und Schönheit nicht übertreffen läßt. Ich bin dankbar – aber nicht, weil es vorteilhaft ist, sondern weil es mir Freude macht.

Als Beweis hierfür nimm die Versicherung: Wenn ich nur dankbar sein kann, indem ich den Anschein der Undankbarkeit erwecke, wenn ich eine Wohltat nicht anders gut machen kann als durch eine scheinbare Ungerechtigkeit, dann werde ich in völligem Gleichmut, ungeachtet aller üblen Nachrede, meine gute Absicht durchzusetzen suchen. Wer auf den Ruf eines guten Menschen verzichtet, um nicht gegen sein Gewissen zu handeln, hat die höchste Achtung vor dem sittlich Guten und ist sein treuester Diener.

[129]

DIE PHILOSOPHIE SEI EINE UNEINNEHMBARE MAUER

Ich mache mir keine Sorgen mehr um dich – »Welchen Gott hast du dir dafür als Bürgen genommen?« meinst du. Einen, der niemanden irreführt: Dein geistiges Wesen, das dem Rechten und Guten zugetan ist. Der bessere Teil deines Wesens ist in Sicherheit. Wohl kann dir das Schicksal unrecht tun. Was aber wichtiger ist: ich habe keine Befürchtungen mehr, du selbst könntest dir dergleichen antun. Schreite weiter auf dem Wege, den du betreten hast, und bringe dich in dieser Lebenshaltung zur Ruhe, aber ohne Verzärtelung. Lieber soll es mir schlecht gehen, als daß ich verweichlicht werde. »Schlecht« nimm in der Bedeutung, die es in der Sprache des Volkes hat, also streng, drückend, anstrengend. Man hört gewöhnlich, wenn Leute die Lebensweise anderer, die sie beneiden, loben: »Er lebt behaglich«, das will heißen: Er ist verzärtelt. Allmählich wird nämlich auch die ganze geistige Haltung eines solchen Menschen energielos und wird dem Zustand des Nichtstuns und der Trägheit ähnlich, in den dieser Mensch versunken ist. Es ist noch ein Unterschied zwischen zurückgezogenem Leben und Begraben sein.

Wie denn, meinst du, ist es nicht besser, so versunken zu sein als im Strudel der Geschäfte umhergewirbelt zu werden? Beides ist verwerflich. Die krampfhafte Anspannung wie die Regungslosigkeit. Ein zurückgezogenes Leben ohne geistige Beschäftigung ist Tod und Begräbnis eines lebenden Menschen. Welchen Nutzen hat denn die Abgeschiedenheit? Folgen uns doch die Ursachen unserer Sorgen auch übers Meer. Wo ist ein Schlupfwinkel, in den Todesfurcht nicht [130]Eingang fände? Gibt es eine Ruhe, die so sicher und erhaben ist, daß der Schmerz sie nicht erreicht? Wo du dich auch versteckst, werden dich menschliche Gebrechen bedrängen. Viele dieser Übel sind äußerer Art. Viele Gebrechen stecken auch in uns und werden erst in der Einsamkeit zu hitzigen Geschwüren.

Man muß die Philosophie als eine uneinnehmbare Mauer um sich herum aufbauen. Eine solche Mauer kann das Schicksal auch mit dem Aufwand vieler Kampfmaschinen nicht durchbrechen. Wer sich um äußere Dinge nicht mehr kümmert und sich in seiner Burg verschanzt hat, steht in einer uneinnehmbaren Stellung. Alle Wurfgeschosse schlagen unterhalb von ihm ein. Das Schicksal hat nicht den langen Arm, den wir ihm zuschreiben. Das Schicksal hat nur Gewalt über Menschen, die sich an das Schicksal anklammern. Daher sollten wir soweit wie möglich Abstand von ihm zu gewinnen suchen. Diesen Abstand gewinnen wir aber nur, wenn wir die Natur und uns selbst klar erkennen. Man muß wissen, wohin man gelangen will, woher man kam, was gut und was schlecht für uns ist, was man erstreben, was man meiden soll. Man muß die Methode kennen, wie man das Erstrebenswerte und das zu Meidende unterscheidet, wie man unsinnige Begierden besänftigt, wie man heftige Furcht bezähmt. Manche Leute glauben, sie wären dieser Regungen auch ohne Philosophie Herr geworden. Muß aber einer, der glaubte, gegen Unglück gewappnet zu sein, schwere Schicksalsschläge hinnehmen, dann bequemt er sich schließlich zu einem Geständnis seiner Schwäche. Große Worte werden wertlos, wenn die Folter beginnt, wenn der Tod näher rückt. Einem solchen Menschen kannst du vorhalten: Es ist [131]ein leichtes, Leiden, mit denen wir nichts zu tun haben, herauszufordern. Hier aber ist der Schmerz, von dem du behauptet hast, er wäre erträglich. Hier ist der Tod, gegen den du so viele mutige Worte geschleudert hast. Es schwirren die Peitschen, es blitzt das Schwert.

»Jetzt heißt es Mut haben, Aeneas, und ein festes Herz!« Fest aber wird das Herz nur in unermüdlich übender Vorbereitung, wenn man nicht nur Worte macht, sondern sich innerlich weiterbildet, sich auf den Tod vorbereitet. Wer dir aber mit sophistischem Gerede weismachen will, der Tod sei kein Übel, wird dir im Kampf gegen den Tod keinen wirklichen Mut machen und keine Hilfe bringen können. Man kann nämlich nur lachen, bester Lucilius, über diese Albernheiten der Griechen, die ich zu meiner Verwunderung selbst noch nicht ganz abgeschüttelt habe. Auch Zenon bedient sich dieser Art von Beweisführung: »Kein Übel ist ruhmvoll. Der Tod aber kann ruhmvoll sein, also ist der Tod kein Übel.« – Du hast es erreicht, ich bin nun frei von Furcht. Nach solch überzeugender Beweisführung werde ich ohne Zögern meinen Nacken beugen! Willst du nicht ernsthafter reden? Oder willst du einen Menschen, der in den Tod gehen soll, zum Lachen reizen?

Ein römischer Heerführer feuerte seine Soldaten mit folgenden Worten an, als es um die Besetzung eines Platzes ging, zu dem man nur durch ein riesiges feindliches Heer gelangen konnte: »Hinkommen müßt ihr, Kameraden, das Zurückkommen ist weniger wichtig!«

Hier siehst du, wie einfach und gebieterisch die sittliche Forderung ist.

[132]

DER HEUTIGE TAG WAR ERFÜLLT MIT WESENTLICHEM

Du forderst mich auf, dir jeden meiner Tage eingehend zu schildern. Du hast eine gute Meinung von mir, wenn du glaubst, es gäbe nichts in ihrem Lauf, was ich zu verbergen hätte. Gewiß, wir sollten so leben, als lebten wir vor Zuschauern, wir sollten unsere Gedanken so einrichten, daß man uns bis ins innerste Herz schauen könnte – und das kann Einer! Was nützt es nämlich, wenn etwas den Menschen verborgen bleibt? Gott ist nichts verschlossen. Er ist in unserem geistigen Wesen gegenwärtig und tritt mitten in unsere Gedanken. Er tritt ebenso hinzu, meine ich, wie er sich bisweilen entfernt.

Ich werde dir also deinen Willen tun und werde dir gern schreiben, was ich treibe und in welcher Reihenfolge ich's tue. Ich werde mich beobachten und mir zu meinem eigenen Nutzen meinen Tag prüfend ins Gedächtnis zurückrufen. Gerade deshalb sind wir so schlechte Menschen, weil niemand Rückschau hält über sein Leben. Was wir tun wollen, bedenken wir, und selbst das nur selten. Was wir getan haben, bedenken wir nicht. Die leitenden Grundsätze aber für die Zukunft ergeben sich aus der Vergangenheit.

Der heutige Tag war erfüllt mit Wesentlichem. Keiner raubte mir eine seiner Stunden. Er teilte sich ganz zwischen Ruhebett und Lektüre. Nur ganz kurze Zeit wurde der körperlichen Übung gewidmet. In diesem Punkte muß ich meinem Alter dankbar sein. Die Übung des Körpers kostet mich nicht viel Anstrengung. Wenn ich mich bewege, bin ich schon erschöpft. Die Körperübung bis zur Erschöpfung aber bedeutet auch für den Kräftigen das Äußerste, was er leisten [133]kann. Du fragst nach meinen Vorturnern? Ein Knabe aus Ägypten genügt mir. Er ist reizend, wie du weißt, aber an seine Stelle wird bald ein anderer treten. Ich suche schon einen, der noch zarter ist. Mein jetziger Vorturner sagt, wir machten beide die gleiche Krisis durch, weil uns beiden die Zähne ausfallen. Aber schon kann ich ihn beim Laufen nur eben erreichen, und in wenigen Tagen werde ich es nicht mehr können. Du fragst, wie unser heutiger Wettlauf ausging? Was sich bei Läufern selten ereignet: wir gingen gleichzeitig durchs Ziel. Nach dieser Übung, die mehr eine ermüdende Anstrengung war, nahm ich ein kaltes Bad. So heißt bei mir das lauwarme Bad. Ich, der große Kaltbader, der am 1. Januar dem Wassergraben einen Besuch abstattete, ich verlegte mein Quartier zunächst an den Tiber und dann in diese Badewanne, die, wenn ich sehr tapfer bin und alles mit rechten Dingen zugeht, nur von der Sonne gewärmt wird. Es fehlt mir also nicht mehr viel bis zum warmen Bad. Ich esse dann trocknes Brot und ein Frühstück, ohne daß hierfür eine Tafel gerichtet wird. Das Frühstück ist so beschaffen, daß ich mir danach nicht die Hände waschen muß. Dann schlafe ich ein wenig. Du kennst meine Gewohnheit. Ich brauche nur sehr kurzen Schlaf. Ich spanne nur aus. Es genügt mir, wenn ich aufhöre, wach zu sein. Manchmal weiß ich, daß ich geschlafen habe, manchmal bilde ich es mir nur ein. Da klingt Zirkuslärm auf. Ein schriller, vielstimmiger Ton schlägt an mein Ohr. Aber das stört meinen Gedankengang nicht, unterbricht ihn nicht einmal. Geduldig ertrage ich den Lärm. Was beschäftigte mich aber in Gedanken? Ich werde es dir erzählen. Gestern kam ich nicht zu Ende mit dem Nachdenken darüber, was manche klugen Leute beabsichtigen, [134]wenn sie für wichtige Behauptungen leichtfertige und verworrene Beweise bringen, Beweise, die, auch wenn sie wahr sind, einer Irreführung ähnlich sehen. Zenon, ein bedeutender Mann und Gründer unserer tapferen und ehrwürdigen Philosophenschule, will uns vor der Trunkenheit Abscheu einflößen. Höre nun, wie er zu dem Schluß kommt, daß ein guter Mann sich nicht betrinken wird:

»Einem Betrunkenen vertraut niemand ein Geheimnis an. Einem guten Manne aber vertraut man Geheimnisse an. Also wird sich ein guter Mann nicht betrinken.«

Man sieht, wie lächerlich seine Folgerung wirkt, wenn man ihr eine ähnliche Schlußfolgerung gegenüberstellt: Einem Schlafenden vertraut niemand ein Geheimnis an. Dem guten Manne aber vertraut man Geheimnisse an. Also schläft der gute Mann nicht.

Weiter ist zu bedenken, daß ein Feldherr, Tribun oder Hauptmann vielen Soldaten, die nicht immer abstinent leben, Befehle gibt, die geheim zu halten sind.

Die Trunkenheit ist zwar nicht die Ursache der sittlichen Fehler, bringt sie aber ans Licht. In der Trunkenheit offenbart der Unzüchtige seine krankhafte Veranlagung und macht sie aller Welt bekannt. In der Trunkenheit hält der Übermütige weder seine Zunge im Zaum noch seine Hand zurück. Beim Überheblichen wächst in der Trunkenheit der Hochmut, beim Wütenden die Grausamkeit, beim Neidischen die Bosheit. Ein jedes Laster wird in der Trunkenheit hemmungslos und tritt deutlicher hervor.

Sage also, warum der Weise sich nicht betrinken wird. Zeige die Häßlichkeit und Unausstehlichkeit dieses Zustandes an den Tatsachen, nicht mit leeren Worten.

[135]

MAN MUSS SCHREIBEN UND LESEN VEREINEN

Ich glaube, daß meine Tagesausflüge, die mich aus meiner Trägheit aufrütteln, meiner Gesundheit und meinen wissenschaftlichen Arbeiten zugute kommen. Leicht einzusehen ist, warum sie gesundheitsförderlich sind: Da ich durch meine Liebe zur Wissenschaft träge, und was den Körper anlangt, gleichgültig geworden bin, mache ich mir durch fremde Arbeit Bewegung[102]. Inwiefern diese Tagesausflüge aber meiner wissenschaftlichen Arbeit zugute kommen, werde ich dir darlegen. Von meiner Lektüre trenne ich mich nicht. Das Lesen aber ist für mich, wie ich glaube, lebensnotwendig, einmal, um geistiger Beschränktheit vorzubeugen; zweitens ist es notwendig, um kennenzulernen, was andere gefunden haben, drittens, um das Gefundene beurteilen und über das, was noch zu finden ist, nachdenken zu können. Das Lesen führt dem Geist neue Nahrung zu und erfrischt uns, wenn wir von wissenschaftlicher Arbeit erschöpft sind, ist allerdings mit neuer wissenschaftlicher Arbeit verbunden.

Wir sollten nicht nur schreiben und nicht nur lesen. Das eine – ich meine das Schreiben – würde unser Gemüt verdüstern und an unseren Kräften zehren. Das andere – das Lesen – würde uns unselbständig und weich machen. Man muß bald diesen, bald jenen Weg beschreiten und beides miteinander vereinen. Im Schreiben wird man die Früchte des Lesens zu einem geschlossenen Ganzen formen. Wir müssen sozusagen den Bienen nacheifern, die ausschwärmen und die honighaltigen Blüten aussaugen, dann aber ihren Ertrag nach einer bestimmten Ordnung in die [136]Waben verteilen. Wir müssen den Bienen nacheifern und den Inhalt unserer verschiedenartigen Lektüre abteilungsweise ordnen; denn ein Wissen, das wohlgeordnet ist, haftet besser in unserem Gedächtnis. Dann aber müssen wir entsprechend unseren Fähigkeiten unseren ganzen Scharfsinn dafür einsetzen, die Kostproben, die wir hier und da entnommen haben, zu einem schmackhaften Gericht zusammenzustellen. Wenn es dann auch noch unverkennbar ist, woher wir unsere Weisheit haben, so soll ebenso unverkennbar sein, daß unser Werk etwas anderes ist, als seine Quelle. Eine ähnliche Wirksamkeit entfaltet offenbar die Natur, ohne daß wir uns dabei anstrengen müssen, in unserem Körper: Solange die aufgenommenen Nährstoffe sich ihre besondere Eigenart bewahren und unverdaut im Magen liegen, verursachen sie nur Beschwerden. Sind sie aber umgewandelt worden, so setzen sie sich in Kraft und Blut um. Ebenso wollen wir mit der geistigen Nahrung verfahren. Alles Wissen, das wir aus den Quellen schöpfen, wollen wir in uns verarbeiten, damit es nicht als Fremdkörper wirkt. Wir müssen es verdauen, sonst prägt es sich nur unserem Gedächtnis ein, wird aber nicht Eigentum unserer Persönlichkeit.

Weißt du, aus wieviel Stimmen sich ein Chor zusammensetzt? Trotz dieser Vielfalt kommt es zu einer einheitlichen Wirkung. Die verschiedenen Töne schließen sich zu einer harmonischen Musik zusammen. So soll es auch in unserem Geiste geschehen. Viele Fertigkeiten mögen da nebeneinander stehen, viele Vorschriften Anspruch auf Geltung erheben, Beispiele aus vielen Zeitaltern mögen sich uns aufdrängen, aber eine Gesinnung soll alles zur Einheit zusammenschmieden.

[137]

Wie läßt sich das erreichen, meinst du. Durch unermüdliche Anstrengung, wenn wir in unserem Tun ganz dem Rat der Vernunft folgen und uns auch in allem, was wir meiden, auf ihren Rat verlassen. Wenn du auf die Vernunft hören willst, wird sie folgendermaßen zu dir sprechen: Laß all die Freuden fahren, denen die meisten Menschen nachlaufen! Gib den Reichtum auf, der nur eine Gefahr und Last für den Besitzer ist. Verzichte auf körperliche und geistige Genüsse, sie rauben dir Widerstandsfähigkeit und Kraft. Gib den Ehrgeiz auf, er ist aufgeblasen, eitel und leer. Er kennt keine Grenze. In seiner Erregung kann er weder vor noch neben sich einen Mitbewerber sehen. Der Ehrgeizige leidet an Neid, und zwar an zweifachem. Du überschaust das ganze Elend eines solchen Menschen, wenn du gewahr wirst, daß der Mann, den alle beneiden, selbst noch neiderfüllt ist.

Siehst du die Häuser der Mächtigen mit ihren Eingängen, vor denen sich die Klienten streiten? Viel Erniedrigendes mußt du schon hinnehmen, um überhaupt eintreten zu dürfen. Bist du aber ins Haus getreten, so hast du noch mehr Erniedrigungen zu erwarten. Geh an den Treppen der Reichen vorbei und an den Eingängen, die sie auf einer aufgeschütteten Rampe errichten! Du wirst dort nicht nur auf abschüssigem, sondern auch auf schlüpfrigem Boden stehen. Wende dich von hier lieber der Weisheit zu und strebe nach den stillen und doch großartigen Werten des Geistes. Alle Ziele, die in menschlichen Verhältnissen eine bedeutende Rolle spielen – mögen sie in Wirklichkeit auch noch so unbedeutend sein, und nur groß erscheinen, wenn man sie mit sehr kleinem Maßstab mißt –, sind nur auf schwierigen und [138]steinigen Pfaden zu erreichen. Der Weg zu hoher äußerer Stellung ist holprig. Wenn du aber jene andere Höhe ersteigen willst, an die das Schicksal nicht heranreicht, dann wirst du zwar alles, was gemeinhin für großartig gehalten wird, unter dir liegen sehen und wirst dennoch auf glatter Bahn zum höchsten Gipfel fortschreiten.

ALLER BESITZ IST VOM SCHICKSAL GEBORGT

Diese Reise belehrte mich darüber, wieviel überflüssige Dinge wir mit uns herumschleppen und wie mühelos wir bei vernünftiger Überlegung auf solche Dinge verzichten können. Wir spüren ihren Verlust nicht, wenn sie uns im Drang der Ereignisse entrissen werden. Mit ganz wenigen Dienern, die man in einem Wagen unterbringen kann, ohne Gepäck, nur mit dem, was wir auf dem Leibe hatten, verbringen Maximus und ich schon zwei Tage in glücklichster Stimmung. Ein Kopfkissen liegt auf der Erde, und ich liege auf dem Kissen. Aus einem Reiseumhang wird eine Unterlage und aus einem anderen eine Decke. Die Mahlzeit könnte nicht einfacher sein, sie ist in einer Stunde zubereitet. Feigen fehlen nie dabei, ebensowenig meine Schreibtafeln. Die Feigen ersetzen mir, wenn ich Brot habe, die Zukost, wenn ich keines habe, das Brot. Ich sitze in einem Bauernfuhrwerk. Die Maulesel beweisen durch ihre langsame Bewegung gerade nur, daß sie noch am Leben sind. Der Maultiertreiber geht ohne Schuhe, aber nicht wegen der Hitze. Ich bringe es kaum über mich, dieses Fuhrwerk als das meinige anzusehen. Es besteht bei mir immer noch eine verkehrte Scheu vor dem rechten [139]Verhalten. Immer, wenn wir eine feinere Reisegesellschaft treffen, werde ich unwillkürlich rot. Das ist ein Beweis dafür, daß die Lebensgewohnheiten, die ich billige und lobe, noch nicht fest und unumstößlich in mir verankert sind. Wer über ein armseliges Fuhrwerk errötet, wird auf ein prächtiges Fahrzeug stolz sein. Meine inneren Fortschritte sind noch zu gering. Ich wage es noch nicht, meine einfache Lebensweise in der Öffentlichkeit zu zeigen. Noch kümmere ich mich zu sehr darum, was die anderen Reisenden von mir denken.

Dabei hätte ich meine Stimme gegen die Ansichten der gesamten menschlichen Gesellschaft erheben sollen: Ihr seid närrisch, ihr irrt, ihr bestaunt überflüssige Dinge, ihr würdigt niemand nach seinem wahren Wert! Wenn es um Geldsachen geht, seid ihr die sorgfältigsten Rechner und taxiert einen jeden ab, dem ihr Geld oder Wohltaten anvertrauen wollt: »Sein Besitz ist ausgedehnt, aber er hat auch viel Schulden. Er hat ein schönes Haus, aber es ist mit fremdem Gelde gebaut. Bezahlt er seine Schulden, so bleibt ihm nichts mehr übrig.«

So solltet ihr auch in allen anderen Lebensverhältnissen verfahren, ihr solltet nämlich das wirkliche Eigentum eines jeden Menschen festzustellen suchen.

Du hältst jenen für reich, weil goldener Hausrat ihn auch auf der Reise begleitet, weil er in allen Provinzen Land besitzt, weil er in der Umgebung der Stadt riesigen Landbesitz hat, einen Landbesitz, der schon Neid erregen würde, wenn er in den einsamsten Gegenden Apuliens läge, – wenn du alles zusammennimmst, so ist er doch arm. Warum? Weil er Schulden hat. Wieviel, fragst du. – Sein gesamter Besitz besteht aus Schulden; es sei denn – du glaubst [140]Unterschiede machen zu müssen, ob einer von einem Menschen oder vom Schicksal geborgt hat.

WEISHEIT BESTEHT NICHT IN WISSENSCHAFTLICHEN KENNTNISSEN

Du wünschst zu erfahren, was ich über die Fachwissenschaften denke. Ich schätze sie nicht besonders hoch. Ich zähle auch eine Beschäftigung, die auf materiellen Gewinn ausgeht, nicht zu den sittlichen Werten. Es sind Fertigkeiten, mit denen man Geld verdient. Sie sind nur nützlich, wenn sie die vorbereitende Schulung des Geistes übernehmen, nicht aber, wenn sie uns von höheren Aufgaben abhalten. Man soll solange bei ihnen stehen bleiben, als man noch nicht imstande ist, sich höheren Aufgaben zu widmen. Beschäftigung dieser Art ist eine Vorschule für uns, noch keine richtige Arbeit. Warum man sie freie Wissenschaften nennt, ist leicht einzusehen: weil sie eines freien Menschen würdig sind. Es gibt aber nur eine Art der wissenschaftlichen Beschäftigung, die wirklich eines freien Menschen würdig ist und befreiend wirkt: das ist das Studium der Weisheit, eine hohe, tapfere und mutige Wissenschaft. Alle übrigen wissenschaftlichen Studien sind im Vergleich hierzu unbedeutend und kindisch. Oder glaubst du, daß an solchen Einsichten etwas Gutes sein kann, wenn deren Verkünder offensichtlich recht erbärmliche und schlechte Menschen sind? Solches Wissen muß man nicht lernen, sondern in seiner Jugend gelernt haben.

Manche Autoren meinen, man müsse Untersuchungen anstellen, ob die Fachwissenschaften einen Menschen moralisch bessern können. Sie versprechen es [141]nicht einmal und haben es auch nicht darauf abgesehen. Ein Grammatiker kümmert sich um sprachliche Fragen, will er sein Fachgebiet erweitern, auch um geschichtliche Erzählungen, steckt er sich seine Grenzen sehr weit, auch noch um Dichtungen. Welche dieser Beschäftigungen aber ebnet uns den Weg zum rechten moralischen Verhalten? Das Abzählen der Silben, die sorgsame Wortanalyse, die Überlieferung von Sagen, die Erforschung der Versgesetze und ihre Abmessung – was von alledem nimmt uns die Furcht, unterdrückt unsere Leidenschaft, zügelt unsere Begierden?

Man muß feststellen, ob diese Leute Lehrer des rechten sittlichen Verhaltens sind oder nicht. Sind sie es nicht, dann vermitteln sie uns auch nichts der Art. Sind sie aber Lehrer rechten sittlichen Verhaltens, dann sind sie Philosophen. Es müßte denn etwa sein, sie wollten dir einreden, Homer sei ein Philosoph gewesen, während sie durch ihre Schlußfolgerungen gerade das Gegenteil beweisen. Sie machen ihn nämlich einmal zu einem Stoiker, der allein das rechte moralische Verhalten billigt, alle Vergnügungen verabscheut und vom rechten Wege nicht einmal für den Lohn der Unsterblichkeit abweicht. An anderer Stelle machen sie ihn zum Epikureer, der einen Zustand der politischen Ruhe verherrlicht und ein Leben, das mit Gastmählern und Gesang hingebracht wird. Aber geben wir ihnen einmal zu, Homer sei ein Philosoph gewesen. Dann war er schon ein Weiser, bevor er an seine Gedichte dachte.

Wir müssen also lernen, wodurch Homer zu einem weisen Manne geworden ist. Aber untersuchen, ob Homer älter war als Hesiod, das ist ebenso unwesentlich wie die Frage, warum Hekuba, wenn sie jünger [142]war als Helena, so alt ausgesehen hat. Willst du lieber untersuchen, wohin Odysseus auf seinen Irrfahrten gelangt ist, als zuwege bringen, daß wir selbst nicht immer auf Abwege geraten? Wir haben nicht soviel Zeit, uns Erörterungen anzuhören, ob sich die Irrfahrt des Odysseus zwischen Italien und Sizilien abspielte oder außerhalb des uns bekannten Bereiches. Täglich werfen uns die Stürme in unserem Innern hin und her, und unsere Schlechtigkeit stürzt uns in das gleiche Unglück, das dem Odysseus widerfuhr. Es fehlt nicht der Reiz schöner Körperformen, nicht der lauernde Feind. Hier bedrohen uns wilde, blutgierige Ungeheuer, dort hinterlistige Schmeicheleien, an anderer Stelle wieder Schiffbruch und alle anderen Arten von Unglück. Lehre mich also, Vaterland, Gattin und Vater lieben, zeige mir, wie ich noch als Schiffbrüchiger diesen hohen Werten zustreben kann!

Ich gehe zur Musik über. Du lehrst mich, wie hohe und tiefe Töne eine Harmonie ergeben, wie Saiten von verschiedener Tonhöhe zusammenklingen. Sorge lieber dafür, daß in meinem Inneren Harmonie herrscht und meine Entschlüsse sich nicht widersprechen!

Der Geometer lehrt mich, großen Landbesitz zu vermessen. Er sollte mich lieber lehren, wie ich ermesse, wann der Mensch genug hat. Er lehrt mich den Gebrauch der Zahlen und stellt das Abzählen an den Fingern in den Dienst der Habsucht, anstatt mir klarzumachen, daß alle diese Berechnungen unwesentlich sind und daß einer deshalb nicht glücklicher ist, weil sich sein riesiges Vermögen kaum buchmäßig erfassen läßt. Wieviel überflüssigen Besitz schleppt ein solcher Mensch mit sich herum! Würde er gezwungen zu berechnen, was er an sich selbst hat, er wäre der [143]unglücklichste Mensch von der Welt. Was nützt mir das Wissen, wie man ein kleines Stück Land in viele Teile teilt, wenn ich es nicht einmal mit meinem Bruder zu teilen verstehe. Was nützt es mir, einen Morgen Land sorgsam auszumessen und noch zu erfassen, was selbst der Meßlatte entgeht, wenn mich die Frechheit eines Nachbarn, der von meinem Acker ein Stück mit dem Pfluge abschneidet, traurig macht? Man lehrt mich, wie ich solchen Gebietsverlust verhindern kann, ich möchte aber lernen, in heiterer Stimmung den Verlust meines gesamten Besitzes hinzunehmen.

Du weißt den Kreisumfang zu bestimmen, du kannst jede gegebene geometrische Figur in ein Quadrat verwandeln, du kannst die Entfernung der Sterne angeben, alles vermagst du zu messen. Wenn du ein Meister deiner Kunst bist, dann lege deinen Maßstab an den menschlichen Geist. Sage mir, ob er groß oder klein ist.

Du weißt, was eine gerade Linie ist. Was nützt es dir, wenn du es nicht verstehst, im Leben eine gerade Linie einzuhalten?

Fördern uns also die fachwissenschaftlichen Studien gar nicht? Hinsichtlich anderer Lebensziele sind sie von großem Nutzen, was aber das rechte moralische Verhalten angeht, so fördern sie uns nicht im geringsten. Auf jeden Fall läßt sich feststellen, daß man ohne fachwissenschaftliche Studien zur Weisheit vorstoßen kann. Wenn auch rechtes moralisches Verhalten erst erlernt werden muß, so wird es doch nicht durch solche Studien erlernt. Warum sollte ich wohl glauben, es könne ein wissenschaftlich ungebildeter Mensch nicht weise sein? Besteht doch Weisheit nicht in wissenschaftlichen Kenntnissen!

[144]

»Aber es macht mir Freude, mich auf vielen Fachgebieten auszukennen.« – Wir sollten davon nur behalten, was unbedingt nötig ist. Du hältst es für verwerflich, wenn einer sich überflüssige Gebrauchsgegenstände anschafft und in seiner Wohnung mit kostbaren Möbeln Luxus treibt. Meinst du nicht, daß das gleiche auch von einem Menschen gilt, der sich überflüssige wissenschaftliche Spezialkenntnisse aneignet? Es ist eine Art Unbeherrschtheit, wenn einer mehr wissen will, als genug ist. Durch anhaltende Beschäftigung mit den Fachwissenschaften werden deren Vertreter unleidlich im Umgang, geschwätzig, sie treffen nie den rechten Ton, werden selbstgefällig und lernen das Nötigste nicht, weil sie soviel Überflüssiges gelernt haben.

Der Grammatiker Didymos hat viertausend Bücher geschrieben[103]. Er würde mir schon leid tun, wenn er soviel überflüssige Erörterungen nur gelesen hätte. In diesen Büchern stellt er Untersuchungen an über die Herkunft Homers, über die richtige Mutter des Aeneas. Hier untersucht er, ob Anakreon mehr den Freuden der Venus oder des Bacchus gehuldigt hat, ob Sappho eine Kurtisane gewesen ist und andere unwichtige Dinge, die man vergessen sollte, selbst wenn man von ihnen gehört hätte. Geh und behaupte jetzt, das Leben sei nicht lang!

Willst du nicht bedenken, wieviel Zeit dir schon die Krankheit raubt, wieviel der Staatsdienst beansprucht, wieviel deine privaten Geschäfte, wieviel die alltäglichen Abhaltungen, wieviel der Schlaf? Halte dir vor Augen, wie begrenzt dein Leben ist! Für so viele Beschäftigungen reicht es nicht aus. Ich spreche von den Fachwissenschaften. Aber auch unsere Philosophen – [145]wieviel Ballast schleppen sie mit sich herum, wieviel totes Wissen, dem jede praktische Anwendungsmöglichkeit fehlt! Auch sie haben sich mit der Erörterung von Silbenunterschieden, mit den Eigentümlichkeiten der Konjunktionen und Präpositionen befaßt. Sie sind eifersüchtig auf die Grammatiker und Mathematiker. Was schon in deren Arbeitsgebiet überflüssig war, haben sie in ihres übernommen. So ist es gekommen, daß sie besser zu reden verstehen als zu leben.

DIE WEISHEIT VERDANKT JEDER SICH SELBST

Es ist ohne Zweifel ein Geschenk der unsterblichen Götter, mein Lucilius, daß wir leben. Daß wir aber sittlich gut leben, verdanken wir der Philosophie. Wir sind daher der Philosophie zu größerem Dank verpflichtet als den Göttern, da das sittlich gute Leben eine größere Wohltat ist als das bloße Leben. Diese Auffassung könnte für richtig gelten, hätten uns die Götter nicht auch die Philosophie geschenkt. Die genaue Kenntnis der Philosophie zwar haben sie keinem verliehen, allen aber die Anlage dazu. Hätten sie aus der Philosophie einen Wert gemacht, der allen Menschen eigen wäre, und würden wir schon als verständige Menschen geboren, dann hätte die Weisheit ihre wertvollste Eigenschaft verloren, nämlich, daß sie kein Geschenk des Zufalls ist. Nun ist es aber gerade so wertvoll und großartig an ihr, daß sie uns nicht in den Schoß fällt. Ein jeder verdankt die Weisheit sich selbst. Man kann sie nicht von einem anderen erbetteln. Was wäre an der Philosophie auch verehrungswürdig, wenn sie eine Sache wäre, die uns geschenkt wird?

[146]

Die Natur schenkt uns die sittliche Vollkommenheit nicht. Es ist eine besondere Kunst, ein sittlich guter Mensch zu werden.

NACH DEN TATEN WOLLEN WIR UNSER LEBEN MESSEN

In dem Brief, in dem du dich über den Tod des Philosophen Metronax beklagst und meinst, er hätte länger leben können und auch länger leben müssen, vermisse ich jene gerechte Gesinnung, die du in allen anderen Angelegenheiten zur Genüge bewiesen hast, die du aber in einem Punkte vermissen läßt, in dem sich übrigens alle Menschen gleich verhalten. Viele Menschen fand ich gerecht gegen ihre Mitmenschen, keinen aber gerecht gegen die Götter. Täglich erheben wir gegen das Schicksal Vorwürfe:

»Warum wurde jener mitten aus seiner Laufbahn gerissen? Warum wird jener andere nicht dahingerafft? Warum muß er endlos als gebrochener Greis weiterleben, obwohl er nur sich selbst und anderen eine Last ist?«

Hältst du es, ich beschwöre dich, für richtiger, daß du der Natur folgst oder daß die Natur dir gehorcht? Was liegt aber daran, wie schnell du eine Stätte verläßt, die du doch einmal wirst verlassen müssen? Wir müssen unsere Sorge nicht darauf richten, lange zu leben, sondern darauf, daß wir genug gelebt haben. Um lange zu leben, bedarf es nämlich der Hilfe des Schicksals, um genug gelebt zu haben, nur der rechten geistigen Haltung. Das Leben ist lang, wenn es Fülle umschließt. Es wird aber Fülle in sich tragen, wenn der Geist seinen Eigenwert verwirklicht und die volle Selbstbeherrschung gewonnen hat. Was [147]nützen ihm achtzig Jahre, wenn sie mit Nichtstun verbracht wurden? Ein solcher Mensch hat nicht im wahren Sinne des Wortes gelebt, er hat sich nur auf Erden aufgehalten. Er ist auch nicht zu spät gestorben, sondern hat nur lange Zeit dazu gebraucht. Achtzig Jahre hat er gelebt. Es kommt darauf an, von welchem Tage an du sein Sterben rechnest. Jener andere Mensch aber starb schon als junger Mann. Doch hat er die Pflichten eines guten Bürgers, eines guten Freundes, eines guten Sohnes erfüllt. Auf keinem Gebiete hat er versagt. Die Anzahl seiner Lebensjahre mag unvollständig sein, sein Leben aber ist in sich vollendet. Achtzig Jahre hat einer gelebt – nein, achtzig Jahre lang ist er dagewesen, es sei denn, man versteht unter Leben, was man mit dem Ausdruck, die Bäume hätten Leben, meint.

Ich beschwöre dich, mein Lucilius, wir müssen alles daransetzen, daß ebenso wie bei Wertsachen, so auch bei unserem Leben nicht die Ausdehnung, sondern das Gewicht den Ausschlag gibt. Nach den Taten wollen wir unser Leben messen, nicht nach der Zeitdauer. Willst du wissen, welcher Unterschied besteht zwischen diesem geistig beweglichen Menschen, der das Schicksal verachtet, mit allen Aufgaben des Lebens fertig geworden ist und den höchsten Wert des Lebens verwirklicht hat, und jenem anderen, an dem viele Jahre vorübergezogen sind? Der eine lebt noch nach seinem Tode, der andere ist schon vor seinem Tode gestorben. Den Mann aber wollen wir preisen und glücklich nennen, der die ihm beschiedene geringe Spanne Zeit recht anwendet. Er hat das wahre Licht gesehen. Er war nicht einer aus der Menge. Er hat gelebt und sich kraftvoll betätigt. Manchmal stand ein heiterer Himmel über ihm, manchmal, wie es zu [148]geschehen pflegt, schimmerte das Sonnenlicht nur durch die Wolken. Was fragst du, wie lange er gelebt hat? Er lebt noch. Er ist in spätere Jahrhunderte hinübergegangen und hat sich ein bleibendes Denkmal gesetzt.

Ich werde mich nicht ablehnend verhalten, wenn mir ein längeres Leben zuteil wird. Ich will nur sagen, daß mir nichts zum glücklichen Leben fehlt, wenn die mir zugemessene Spanne Zeit beschnitten wird. Ich habe mich nämlich nicht auf den Tag eingerichtet, den mir eine weitgespannte Erwartung als den letzten vorgaukelt, sondern ich betrachte jeden Tag so, als könnte es der letzte sein. Was fragst du mich, wann ich geboren bin und ob ich mich noch zu den Jüngeren rechne? Ich habe meinen Anteil. Wie ein Mensch von kleinem Körperbau wohlproportioniert sein kann, so kann auch ein Leben von geringer Dauer in sich vollendet sein. Die Dauer unseres Lebens gehört zu den äußeren Dingen. Wie lange ich lebe, hat mit meinem wahren Wesen nichts zu tun. Wie lange ich aber leben werde, um im höheren Sinne zu leben, das hängt von mir ab. Verlange nicht, ich solle ein endloses Leben in Niedrigkeit und Finsternis hinbringen. Verlange vielmehr, daß ich selbst mein Lebensschiff lenke und mich nicht nur treiben lasse.

– Du fragst, was wohl die weiteste Strecke sei, die einer im Leben zurücklegen kann? – Bis zur Weisheit hinaufleben! Wer bis dahin gelangt ist, hat zwar nicht das entfernteste, aber doch das höchste Ziel erreicht. Ein solcher Mensch darf getrost mit Selbstbewußtsein erfüllt sein, er mag den Göttern und außerdem auch sich selbst dankbar sein, und er mag es der Natur hoch anrechnen, daß er gelebt hat. Mit Recht wird er es der Natur hoch anrechnen, denn er gibt ihr [149]sein Leben besser zurück, als er es empfing. Er hat das Musterbild eines guten Menschen aufgestellt, seine Eigenschaften und seine Größe vor aller Augen offenbart. Wenn er noch etwas hätte hinzufügen sollen, wäre es nur dem Früheren ähnlich geworden.

Wozu leben wir also? Wir erfreuen uns einer allumfassenden Erkenntnis. Wir wissen, von welchen Anfängen die Natur ausgeht, wie sie die Welt nach strengen Gesetzen ordnet, wie sie abwechselnd die einzelnen Jahreszeiten wiedererscheinen läßt, wie sie alles Zukünftige in sich trägt und sich selbst ihr Ziel setzt. Wir wissen, daß die Sterne durch innere Schwungkraft ihre Bahnen ziehen. Wir wissen, wie der Mond an der Sonne vorbeigeht, wie er voll wird und wieder abnimmt, wie Tag und Nacht zustande kommt. Nun sollst du dorthin gelangen, wo du dies alles aus der Nähe anschauen kannst.

Aber – so betont der Weise – ich scheide nicht deshalb mit größerem Mute aus dem Leben, weil ich erwarte, es müßte mir nach menschlichem Ermessen der Weg zu meinen Göttern offenstehen. Zwar habe ich verdient, dort zugelassen zu werden. Habe ich mich doch schon jetzt dort aufgehalten und mein geistiges Wesen dort heimisch gemacht. Andererseits haben auch die Götter in mir Wohnung genommen. Aber nimm an, ich würde dahingerafft, und es würde vom Menschen nach dem Tode nichts übrig bleiben – ich werde mich dann ebenso mutig zeigen, auch wenn ich abscheide, um nirgendwo wieder aufzutauchen.

[150]

DAS ZUSAMMENTREFFEN MIT WEISEN MÄNNERN BRINGT SEGEN

Keine andere Maßnahme kann den Menschen das sittlich Gute eindringlicher vermitteln und schwankende, zum Schlechten neigende Geister wirksamer auf den rechten Weg zurückführen, als der Umgang mit sittlich hochstehenden Männern. Der wiederholte Anblick solcher Menschen, die Möglichkeit, ihnen oft zuhören zu dürfen, ist ein Gewinn, der allmählich in unser innerstes Wesen eindringt und die Wirksamkeit von Moralvorschriften besitzt. Schon das bloße Zusammentreffen mit weisen Menschen ist von segensreicher Wirkung, und man wird von einem bedeutenden Manne, auch wenn er schweigt, innere Förderung erfahren.

LEBEN HEISST KÄMPFER SEIN

Du bist unwillig, beklagst dich und willst nicht einsehen, daß an allen diesen Zwischenfällen nur eines vom Übel ist, nämlich dein Unwille und dein Klagen. Wenn du mich um meine Meinung fragst, so gibt es für einen Mann nur ein Unglück, nämlich, daß es Ereignisse in der Welt geben kann, die er als Unglück ansieht. Ich werde es nicht mehr mit mir aushalten können, wenn ich nicht mehr in der Lage sein werde, ein Mißgeschick zu ertragen. Es geht mir gesundheitlich schlecht: Das gehört zum menschlichen Schicksal – die Familie liegt krank darnieder, Wucherzinsen bringen mich in Bedrängnis, das Haus kracht in allen Fugen, Verluste, Verwundung, Schwierigkeiten und Gefahren stürmen auf mich ein: das ist ein gewöhnliches Ereignis, mehr noch, es ist ein zwangsläufiges [151]Ereignis. Es geschieht dies alles nicht aus Zufall, sondern auf höheren Beschluß hin. Wenn du mir Vertrauen schenkst, will ich dir meine innersten Empfindungen darlegen: Gegenüber allem Geschehen, das mir feindlich und beschwerlich erscheint, habe ich folgende Einstellung: Ich gehorche Gott nicht, sondern ich pflichte ihm bei. Ich folge ihm aus innerem Antrieb, nicht weil ich muß. Niemals kann mir etwas zustoßen, das ich traurig oder mit mißmutiger Miene hinnehmen würde. Keinen Tribut werde ich widerwillig entrichten. Blasenschmerzen haben dich beunruhigt, es kamen unangenehme Briefe, dauernde wirtschaftliche Verluste stellten sich ein und, um auf die Hauptsache zu kommen, du hast sogar für deinen Kopf gefürchtet. Wußtest du denn nicht, daß du dir solche Unannehmlichkeiten wünschtest, als du dir wünschtest, alt zu werden? Alle diese unerfreulichen Begleiterscheinungen stellen sich eben in einem langen Leben ein, wie man auf einer langen Reise Staub, Schmutz und Regengüsse in Kauf nehmen muß.

»Aber ich wollte leben und doch von allen Unbequemlichkeiten frei sein.« –

Diese weibische Äußerung ist eines Mannes nicht würdig. Du magst folgenden Wunsch von mir aufnehmen, wie du willst – er ist Ausdruck mannhafter, starker, nicht nur wohlwollender Gesinnung:

»Mögen Götter und Göttinnen verhindern, daß dich das Schicksal verwöhnt!«

Frage dich selbst, ob du, wenn du wählen dürftest, lieber auf dem Wochenmarkt oder im Feldlager leben würdest! Leben, mein Lucilius, heißt Kämpfer sein.

[152]

KEIN ZEITALTER IST VON SCHULD FREI

Du irrst, mein Lucilius, wenn du meinst, Verschwendungssucht, Mißachtung guter Sitte und andere Laster, die jeder gerade der Zeit zum Vorwurf macht, in der er selbst lebt, seien Fehler unseres Jahrhunderts. Der Fehler liegt vielmehr im Wesen der Menschen, nicht im Wesen der Zeit. Kein Zeitalter ist von Schuld frei.

NICHT DER GEFANGENE SEINES BESITZES SEIN

Halte den Menschen nicht für glücklich, der von seinem Glück abhängig ist. Die Freude an äußeren Dingen steht auf tönernen Füßen. Eine Freude, die von außen kommt, wird uns auch wieder verlassen. Jene anderen Werte aber, die im Inneren wurzeln, sind zuverlässig und dauernd. Sie wachsen und begleiten uns bis ans Ende. Was aber die Menge anstaunt, sind nur vergängliche Scheinwerte.

Können aber diese Dinge nicht auch nützlich und angenehm sein? – Wer bestreitet das?

Das ist aber nur möglich, wenn diese Dinge von uns, nicht wir von ihnen abhängen. Alle Geschenke des Schicksals werden auf diese Weise fruchtbar und angenehm, wenn der Besitzer dieser Dinge noch über sich selbst verfügt und nicht der Gefangene seines Besitzes ist. Es irrt, mein Lucilius, wer da glaubt, das Schicksal teile uns Gutes und Schlimmes zu. Es gibt uns nur den Grundstoff zum Guten und Schlimmen und schafft die Ausgangssituation, aus der sich erst bei uns Gutes und Schlimmes entwickelt. Mächtiger nämlich als alles Schicksal ist der Menschengeist, er kann das ihn betreffende Geschehen nach beiden [153]Richtungen lenken und hat es selbst in der Hand, sein Leben glücklich oder erbärmlich zu gestalten.

WIR SOLLTEN NICHTS AUFSCHIEBEN

Jeder Tag, jede Stunde zeigt uns, daß wir nichts sind, und gibt uns immer wieder überzeugende Zurechtweisungen, wenn wir uns einmal unserer Gebrechlichkeit nicht bewußt sind. Während wir Pläne für die Ewigkeit machen, werden wir auf diese Weise gezwungen, an den Tod zu denken.

Worauf will diese Einleitung hinaus, fragst du?

Du kanntest den römischen Ritter Senecio Cornelius, einen bedeutenden und auch gefälligen Menschen. Er lebte äußerst einfach und war mit seinem Körper ebenso vorsichtig wie mit seinem Vermögen. Noch am Morgen hatte er mich wie gewöhnlich besucht, hatte dann den ganzen Tag bis in die Nacht hinein bei einem schwerkranken Freund gesessen, der hoffnungslos darniederlag. Als er dann in bestem Wohlbefinden gegessen hatte, wurde er von einer plötzlichen Erkrankung, der Angina, befallen und konnte durch den verengten Schlund kaum noch bis zum Morgengrauen Luft bekommen. Er starb innerhalb weniger Stunden, nachdem er kurz zuvor noch alle Pflichten eines gesunden und kräftigen Menschen erfüllt hatte.

Wir planen lange Schiffsreisen und wollen nach eingehenden Besuchen fremder Länder erst spät ins Vaterland zurückkehren. Aber der Tod steht uns zur Seite. Da wir an ihn nur denken, wenn der Tod eines anderen uns dazu Veranlassung gibt, so werden uns von Zeit zu Zeit Beispiele menschlicher Sterblichkeit vor Augen geführt. Aber die haften in unserem Gedächtnis nicht länger, als unser Erstaunen über solche [154]Fälle dauert. Es ist jedoch sehr töricht, sich darüber zu wundern, daß einmal wirklich geschieht, was jeden Tag geschehen kann. Unser Lebensende steht fest. Die unerbittliche Schicksalsnotwendigkeit bestimmt darüber. Niemand aber von uns weiß, wie nahe er dem Ende ist. Wir sollten uns innerlich so einstellen, als seien wir schon in das letzte Lebensstadium eingetreten. Wir sollten nichts aufschieben. Täglich sollten wir mit dem Leben Abrechnung halten. Der größte Fehler des Lebens ist, daß es immer unvollendet bleibt, daß immer etwas aufgeschoben wird. Wer täglich die letzte formende Hand an sein Leben legt, bedarf der Zeit nicht mehr. Aus dem Bedürfen aber entspringt Furcht und verzehrende Sehnsucht gegenüber der Zukunft. Das Schlimmste ist die ängstliche Ungewißheit, wie das Kommende ausgehen mag. Wie entgehen wir dieser inneren Unruhe? Nur dadurch, daß wir unser Leben nicht auf die Zukunft abstellen, sondern seinen Schwerpunkt nach innen verlegen. An der Zukunft hängt, wer in der Gegenwart nicht seinen Mann steht. Wenn man aber seine Schuldigkeit getan hat, wenn man innere Sicherheit gewonnen hat und weiß, daß kein Wesensunterschied besteht zwischen einem Tag und einem Jahrhundert, dann betrachtet man die Zeit und die Ereignisse, die uns bevorstehen, von höherer Warte. Man denkt dann nicht selten mit Lächeln an den Lauf der Zeiten.

Wie sollten die Wechselfälle des Lebens noch Verwirrung stiften können, wenn man voll innerer Sicherheit ist gegenüber allen unsicheren Ereignissen? Sorge daher, mein Lucilius, daß du mit dem Leben vorwärts kommst, und betrachte jeden einzelnen Tag als ein ganzes Leben.

[155]

TÄGLICH DROHT DEM MENSCHEN VOM MENSCHEN GEFAHR

Warum sorgst du dich ängstlich um das, was dir vielleicht zustoßen könnte, was dir aber unter Umständen auch nicht zustoßen kann? Ich spreche von Feuersbrunst, Hauseinsturz und anderen Unglücksfällen, die uns zufällig treffen, uns aber nicht auflauern. Beobachte lieber jene hinterlistigen Machenschaften, die es auf uns abgesehen haben, uns zu fangen suchen, und hüte dich vor ihnen. Unglücksfälle, auch schwererer Art, wie Schiffbruch und Umstürzen eines Wagens, sind selten. Täglich aber droht dem Menschen vom Menschen Gefahr.

Ein Unwetter kündet sich drohend an, bevor es losbricht. Gebäude krachen in allen Fugen, bevor sie einstürzen. Aufsteigender Rauch zeigt einen Brand an. Das Verderben aber, das vom Menschen kommt, bricht unvermutet herein und bleibt um so verborgener, je näher es herankommt. Du begehst einen Fehler, wenn du den Mienen derer glaubst, die dir begegnen. Sie haben die Gestalt von Menschen und die Absichten von wilden Tieren. Bei den wilden Tieren ist nur der erste Angriff gefährlich. Um Opfer, an denen sie vorübergegangen sind, kümmern sie sich nicht mehr. Nur drängende Not zwingt die Tiere, anderen zu schaden. Sie werden durch Hunger oder Furcht zum Kampf gedrängt. Dem Menschen aber macht es Freude, seinen Mitmenschen ins Verderben zu stürzen.

Denke aber an die Gefahr, die dir vom Menschen droht, immer nur mit einer Gesinnung, die nicht außer acht läßt, was unsere Pflicht als Menschen ist. Achte bei dem einen darauf, daß du nicht Schaden [156]nimmst, bei dem anderen, daß du ihm nicht wehe tust! Was wirst du erreichen, wenn du so lebst? Du kannst dadurch zwar kein Unheil abwenden, wirst dich jedoch nicht mehr täuschen lassen.

Ziehe dich auch soviel wie möglich in die Philosophie zurück! In ihrem Schoße wirst du Zuflucht finden, in ihrem Heiligtum wirst du sicher sein oder wenigstens sicherer. Du sollst dich aber der Philosophie nicht rühmen. Für viele Menschen wurde die Philosophie zu einer Gefahr, weil sie aus ihrer Beschäftigung mit der Philosophie die Berechtigung ableiteten, sich anderen gegenüber unverschämt und hochfahrend zu benehmen. Die Philosophie soll dir nur dazu dienen, deine eigenen Fehler zu verringern, nicht aber anderen ihre Fehler vorzuwerfen. Man soll sich nicht in Widerspruch setzen zu den üblichen Sitten und soll sich nicht den Anschein geben, als verdamme man alles, was man nicht tut. Man kann weise sein ohne theatralisches Auftreten und ohne gehässige Beurteilung der Menschen.

SUCHE DIR BESSERE GENOSSEN!

Ich floh auf mein nomentanisches[104] Landgut. Du meinst vor der Stadt? Nein, vor dem schleichenden Fieber. Es hatte mich schon gepackt. Der Arzt sagte, es wären die Anfangssymptome, die sich in Pulsbeschleunigung, wechselndem und unregelmäßigem Puls zeigten. Sogleich ließ ich den Wagen richten. Auch als meine Paulina mich zurückhalten wollte, bestand ich auf der Abreise. Es stand mir noch das [157]Verhalten meines verehrten Gallio[105] vor Augen. Als er nämlich in Achaia die ersten Zeichen des Fiebers herannahen fühlte, bestieg er sogleich ein Schiff und erklärte, es sei dies nicht eine aus dem Körper selbst kommende, sondern eine ortsgebundene Krankheit. Das teilte ich auch meiner Paulina mit, die mir angelegentlich die Sorge für meine Gesundheit ans Herz legt. Da ich nun weiß, daß ihre Gedanken sich mit mir sorgend beschäftigen, fange ich an, auf mich Rücksicht zu nehmen, um nicht gegen sie rücksichtslos zu sein. Zwar könnte ich in Anbetracht der Tatsache, daß ich ein alter Mann bin, in mancher Hinsicht weniger ängstlich sein, aber durch die Rücksichtnahme gegenüber meiner Frau geht mir dieser Vorteil des Alters wieder verloren. Ich kann nämlich den Gedanken nicht abweisen, daß mit diesem alten Manne auch ein junger Mensch betroffen würde, der noch der Schonung bedarf. Da ich nun bei ihr nicht durchsetzen kann, daß sie mich mit mehr Tapferkeit liebt, erreicht sie von mir, daß ich mich mit mehr Sorgfalt pflege. Man soll nämlich auf edle Gemütsregungen Rücksicht nehmen. Zeichen hoher Gesinnung ist es, um anderer willen zum Leben zurückzukehren, was große Männer oft getan haben. Ich sehe aber auch einen Ausdruck hoher Menschenliebe darin, wenn man noch als alter Mann besonders sorgsam auf sich achtet, weil man weiß, daß dies einem der Angehörigen angenehm, förderlich und erwünscht ist, obwohl es doch gerade der Vorteil des Alters ist, daß man in der Sorge um sich unbekümmerter sein und das Leben herzhafter einsetzen darf. Solches Verhalten trägt uns aber auch als Belohnung [158]ungewöhnliche Freude ein; denn was könnte erfreulicher sein, als daß man seiner Gattin so teuer ist, daß man deswegen sich selbst teurer wird[106]?

Du fragst nun, wie sich mein Entschluß abzureisen ausgewirkt hat? Kaum war ich aus der ungesunden Großstadtatmosphäre heraus, fühlte ich sofort eine Besserung meines körperlichen Befindens. Welche Kraft strömte mir aber erst zu, als ich die Weinberge erreichte! Auf die Weide losgelassen, stürzte ich mich auf die Nahrung. Ich kam wieder zu mir selbst. Das körperliche Unwohlsein, das den Aufschwung der Gedanken hinderte, und die damit verbundene Trägheit ließ nach. Mit aller Energie machte ich mich an meine wissenschaftlichen Arbeiten. Der Aufenthaltsort ist hierfür ziemlich gleichgültig, wenn man nur für sich selbst Zeit findet. Diese Abgeschiedenheit findet man, wenn man will, auch mitten im Geschäftsgetriebe. Wer sich aber sorgsam die Gegenden aussucht und sich ein zurückgezogenes Leben ersehnt, wird überall etwas finden, wodurch er abgelenkt wird. Man erzählt sich von Sokrates, er habe einem, der sich beklagte, daß ihm seine weiten Reisen nichts genützt hätten, geantwortet: »Mit Recht erging es dir so, denn du bist ja mit dir umhergereist.«

Welches Glück wäre es für manche Menschen, wenn sie von sich freikommen könnten! Nun aber sind sie sich selbst eine Last und bringen sich selbst Unruhe, Entwürdigung und Schrecken. Was nützt es, übers [159]Meer zu fahren und andere Städte aufzusuchen? Wenn du der Bedrängnis entgehen willst, mußt du nicht einen Ortswechsel vornehmen, sondern ein anderer Mensch werden! Nimm an, du kämest nach Athen, nach Rhodos. Wähle dir einen Staat nach freiem Ermessen. Es ist unwichtig, welche Lebensart dort herrscht. Du wirst doch deine Lebensart mitbringen. Reichtum wirst du für wertvoll halten, Armut wird dir eine Qual sein und – was das Schlimmste ist – eingebildete Armut. Obwohl du nämlich über großen Besitz verfügst, glaubst du, es fehle dir, wenn ein anderer mehr hat, so viel, wie du weniger hast als er. Ehrungen hältst du für wertvoll. Es wird dich verdrießen, daß der eine Konsul geworden ist, jener andere sogar zum zweiten Male. Du wirst neidisch sein, wenn du einen Namen etwas häufiger im amtlichen Verzeichnis der Staatsbeamten liest.

Die Verblendung durch den Ehrgeiz wird so groß sein, daß du dir einbildest, es stehe keiner rangmäßig hinter dir, wenn auch nur einer vor dir ist. Als größtes Übel aber wirst du den Tod ansehen, wo doch am Tode selbst nichts Schlimmes ist, abgesehen von unserer Furcht, die ihm jedoch vorangeht. Nicht nur echte Gefahren werden dich schrecken, sondern schon verdächtige Umstände. Grundlos wirst du immer wieder in Unruhe versetzt werden.

Das Reisen wird dich mit fremden Völkern bekanntmachen, wird dir ungewöhnliche Bergformen zeigen, wird dich aber im übrigen nicht besser und nicht gesünder machen.

Bei den wissenschaftlichen Studien soll man verweilen und bei den Vorkämpfern der Weisheit. Man soll die Ergebnisse der Forschung kennenlernen, unklare Fragen selbst erforschen. So befreit man sich aus der [160]erbärmlichsten geistigen Knechtschaft und tritt in den Stand der Freiheit. Solange du nämlich nicht weißt, was verabscheuenswert und was erstrebenswert ist, was notwendig und was überflüssig, was gerecht und was ungerecht ist, wird es nicht eine Reise sein, die du unternimmst, sondern eine Irrfahrt. Dieses Umherlaufen wird dir keine Hilfe bringen; denn du reist ja mit deinen Leidenschaften, und deine Charakterfehler folgen dir. Würden sie dir doch nur folgen! Dann wäre wenigstens noch ein gewisser Abstand zwischen dir und ihnen. Tatsächlich aber trägst du sie in dir und kannst sie doch nicht lenken. Daher sind sie dir überall zur Last und beunruhigen dich mit ständigem lästigen Drängen. Der Kranke muß sich nach einem wirksamen Heilmittel, nicht aber nach einer anderen Umgebung umsehen. Es bricht sich einer das Bein oder verrenkt sich ein Gelenk: Er wird dann nicht einen Wagen oder ein Schiff besteigen, sondern einen Arzt rufen, der die gebrochenen Knochen wieder zusammenfügt oder die verrenkten Gliedmaßen wieder in die rechte Lage bringt. Unser geistiges Wesen aber, das an so vielen Stellen gebrochen und verrenkt ist, glaubst du durch Ortswechsel heilen zu können? Das Leiden ist zu schlimm, um noch durch eine Spazierfahrt geheilt werden zu können. Nicht durch Reisen wird man ein Arzt und ebensowenig ein Redner. Keine Kunst kann man durch Aufenthaltswechsel erlernen. Aber die Weisheit, diese größte aller Künste, sollte man auf Reisen erwerben können? Glaube mir, es gibt keinen Reiseweg, der dich über die Begierde, über den Zorn, über die Furcht hinausführen könnte. Gäbe es einen solchen Weg, so würde das Menschengeschlecht in geschlossenem Zuge dorthin pilgern.

[161]

Du wunderst dich, daß dir deine Flucht nichts genützt hat? Die Übel, vor denen du fliehen willst, sind deine ständigen Begleiter. Arbeite also an deiner eigenen Besserung, lege die drückende Last ab und beschränke deine Begierden auf ein zuträgliches Maß! Tilge alle Schlechtigkeit aus deinem Charakter! Wenn du deine Reisen erfreulich gestalten willst, mache deinen Reisebegleiter gesund! Du wirst nicht von Habsucht frei sein, solange du mit einem schmutzigen Geizhals zusammenlebst. Du wirst nicht frei sein von Überheblichkeit, solange du mit einem hochmütigen Menschen verkehrst. Du wirst grausame Regungen nicht ablegen, solange du mit einem Folterknecht das Zimmer teilst. Das Zusammensein mit Ehebrechern wird deine Begierden entzünden. Willst du deine Charakterfehler ablegen, so mußt du dich von schlechten Beispielen fernhalten. Der Habsüchtige, der Verführer, der Grausame, der Betrüger – alle diese schlimmen Genossen, die schon viel Unheil anrichten könnten, wären sie nur in deiner Nähe, wohnen in dir selbst. Suche dir bessere Genossen! Lebe in Gemeinschaft mit den beiden Cato, mit Laelius, mit Tubero[107]. Willst du aber auch mit den Griechen zusammen sein, so verkehre mit Sokrates, mit Zenon. Der eine wird dich sterben lehren, wenn es notwendig ist, der andere, bevor solcher Zwang eintritt. Lebe mit Chrysippos, mit Poseidonios. Sie werden dir eine klare Vorstellung von allen menschlichen und göttlichen Dingen vermitteln. Sie werden dich zur praktischen Betätigung deiner Fähigkeiten anhalten und dich nicht nur klug reden und schöne Worte machen lassen. Sie werden dich veranlassen, innerlich hart zu werden und dich [162]über Drohungen hinwegzusetzen. Es gibt nämlich in diesem schwankenden und unruhigen Leben nur einen sicheren Hafen: Die Zufälligkeiten des Lebens verachten, in Selbstvertrauen aufrecht stehen, sich den Geschossen des Schicksals freiwillig entgegenwerfen, sich nicht verstecken und nicht die Flucht ergreifen. Mutige Wesen wollte die Natur mit uns schaffen. Manchen Tieren gab sie Wildheit, manchen List, manchen Furchtsamkeit. Uns aber schenkte sie einen hochstrebenden Sinn, der auf edle Ziele gerichtet ist, der nicht danach fragt, wo man am sichersten lebt, sondern danach, wo man seine sittlichen Pflichten am besten erfüllen kann.

AUS UNSEREN WORTEN SOLLEN TATEN WERDEN

Eine Last, die wir uns aufbürden, muß unseren körperlichen Kräften entsprechen. Auch auf geistigem Gebiet können wir uns nicht mehr aneignen, als in unseren Kräften steht. Nicht nach Belieben, sondern nach dem eigenen Fassungsvermögen soll man aus dem Borne der Weisheit schöpfen. Aber laß den Mut nicht sinken. Du wirst soviel fassen können, wie du willst. Je mehr wir in uns aufnehmen, um so größer wird unser geistiges Fassungsvermögen.

Solche Belehrungen gab uns, wie ich mich erinnere, Attalus, als wir noch seine Schule besuchten, als erste kamen und als letzte gingen und ihn sogar auf Spaziergängen zu gelehrten Unterhaltungen drängten. Er aber zeigte sich stets bereit und kam den Wünschen der Lernenden entgegen.

Lehrer und Schüler, sagte er, müssen das gleiche Ziel haben. Wer sich der Philosophie zuwendet, muß täglich [163]etwas Wertvolles mit nach Hause nehmen. Er soll gesünder heimkehren oder wenigstens die Anlage zur Gesundung mitnehmen. Und so wird es geschehen; denn die Macht der Philosophie ist so gewaltig, daß sich ihre segensreichen Wirkungen nicht nur bei denen einstellen, die eifrig Philosophie studieren, sondern schon bei denen, die nur in lose Berührung mit ihr kommen. Wer in die Sonne kommt, wird gebräunt, auch wenn er sich nicht in dieser Absicht der Sonnenbestrahlung aussetzte. Wer sich in einem Salbenladen aufgehalten und nur etwas länger dort verweilt hat, an dem bleibt der Geruch dieses Ladens haften. Wer bei einem Philosophen war, erfährt ebenfalls zwangsläufig eine innere Förderung, auch wenn er nicht mit Begeisterung bei der Sache war. Beachte jedoch, daß ich von Leuten spreche, die nicht mit Begeisterung bei der Sache sind, nicht aber von Leuten, die bewußt widerstreben.

Kennen wir aber nicht Leute, die viele Jahr ununterbrochen bei einem Philosophen gesessen und dennoch nicht einen Hauch seines Geistes verspürt haben? Wer kennt sie nicht, diese Leute mit der klettenhaften Anhänglichkeit, die nicht mehr als Schüler der Philosophen anzusprechen sind, sondern sich bei den Philosophen geradezu eingemietet haben. Manche kommen nur um zu hören, nicht um zu lernen, so wie wir ins Theater des Vergnügens wegen gehen, um uns an der wohlgesetzten Rede, an der Stimme des Schauspielers oder an dem Theaterstück zu freuen. Du wirst sehen, für einen großen Teil der Hörer ist die Philosophenschule nur der Ort, wo sie ihre Freizeit verbringen. Es geht ihnen nicht darum, dort ihre Charakterfehler abzulegen oder sich Regeln fürs praktische Leben anzueignen, nach denen sie ihr moralisches [164]Verhalten ausrichten könnten. Es geht ihnen nur um Zeitvertreib. Andere wieder erscheinen sogar mit Schreibtafeln. Sie wollen nicht das Wesen des Vortrages erfassen, sondern nur die Worte, die sie dann, ohne andere dadurch zu fördern, nachsprechen, wie sie diese Worte auch selbst gehört haben, ohne dadurch Förderung zu erfahren.

Manche Menschen aber werden bei großartigen Worten wirklich gepackt und können die Empfindungen des Vortragenden nachfühlen. In ihren Mienen und in ihrem Willen regt sich freudiger Eifer. Die Schönheit des Gegenstandes reißt sie fort und begeistert sie, nicht der Klang leerer Worte. Bei einem treffenden Ausspruch über den Tod, bei einem stolzen Wort gegen das Schicksal regt sich in ihnen das Verlangen, das Gehörte durch die Tat zu bekräftigen. Solche Menschen werden durch die Worte in eine andere Gemütsverfassung versetzt und sind dann, wie sie sein sollen, wenn nur diese Geisteshaltung von Dauer ist und der schöne Aufschwung ihres Geistes nicht von der Masse, die sich gegen alles Wertvolle stemmt, gelähmt wird. Nur wenige besitzen die Kraft, den guten Vorsatz, den sie faßten, mit nach Hause zu bringen.

Leicht jedoch ist es, im Hörer den Willen zum Guten lebendig zu machen. Gab doch die Natur allen die Anlage dazu und senkte den Samen der sittlichen Vollkommenheit in ihre Herzen. Zu alledem sind wir von Natur bestimmt. Wenn nur eine Anregung an uns herantritt, dann wendet sich die Seele von selbst der Verwirklichung dieser Werte zu. Sprich ein Wort gegen die Habsucht, ein Wort gegen den Luxus. Hast du mit deiner Rede Erfolg und machst du Eindruck auf die Zuhörer, dann stoße kräftiger nach. Es scheint unglaublich, welch segensreiche Wirkung ein solches [165]Wort haben kann, das darauf abgestellt ist, als Heilmittel zu wirken, und nur dem Wohle des Hörers dienen will. Besonders leicht aber können jugendliche Gemüter für die Liebe zum sittlich Guten und Rechten gewonnen werden. Die Wahrheit packt diese fortschrittsfähigen, wenig verdorbenen jungen Menschen, wenn sie nur einen würdigen Fürsprecher findet. Als ich Attalus gegen die Laster, die Verirrungen und Fehler des Lebens wettern hörte, faßte mich oft Mitleid mit dem Menschengeschlecht. Attalus aber stand für mein Empfinden in erhabener Höhe über dem Standpunkt der Menschen. Er selbst nannte sich einen König, doch war er in meinen Augen noch mehr als ein König, da er über Könige zu Gericht sitzen durfte. Wenn er nun gar begann, die Armut zu preisen und nachzuweisen, daß aller unnötige Besitz nur eine überflüssige und schwere Last für den Besitzer sei, dann hatte ich oft den Wunsch, als armer Mann die Schule verlassen zu dürfen. Wenn er anfing, unsere Vergnügungen dem Spott preiszugeben, dagegen Reinheit des Körpers, Einfachheit des Mahles und einen Charakter zu loben, der nicht nur frei ist von unerlaubten, sondern auch von allen überflüssigen Begierden, dann regte sich in mir der Wunsch, die Ansprüche des Gaumens und Magens in enge Schranken zu verweisen. Von damals sind mir noch einige Gewohnheiten verblieben, mein Lucilius. Mit großer Begeisterung hatte ich mich nämlich in alle diese Gedanken vertieft. Als ich dann wieder in das politische Leben zurückkehrte, konnte ich von dem schönen Vorhaben nur wenig aufrecht erhalten. Austern und Champignons habe ich seitdem mein ganzes Leben lang gemieden. Seit damals wende ich auch mein Leben lang keine wohlriechenden Salben mehr an, [166]da der beste Geruch des Körpers die Geruchlosigkeit ist. Seit dieser Zeit enthalte ich mich auch des Weines. Auch habe ich seitdem während meines ganzen Lebens das warme Bad gemieden. Das übrige, was ich damals abtat, hat sich wieder eingestellt, doch so, daß ich Maß halte in den Dingen, deren ich mich nicht mehr enthalte, und zwar ein Maß, das der Enthaltsamkeit nahe kommt.

Da ich nun einmal begonnen habe, dir zu schildern, wieviel größer meine jugendliche Begeisterung bei der ersten Berührung mit der Philosophie war, als der Eifer, mit dem ich jetzt als alter Mann auf diesem Wege weitergehe, scheue ich mich auch nicht, dir zu gestehen, wie sehr ich den Pythagoras geliebt habe. Sotion legte mir dar, aus welchem Grunde Pythagoras sich des Fleisches enthalten hatte und aus welchem Grunde dies später Sextius tat. Die Gründe der beiden waren verschieden, in beiden Fällen waren sie aber Ausdruck hoher Gesinnung. Sextius glaubte, dem Menschen stehe genügend unblutige Nahrung zur Verfügung, und die Grausamkeit könne zur Gewohnheit werden, wenn man Lebewesen zum Vergnügen zerfleischen lasse. Er fügte hinzu, die Objekte des Luxus müßten eingeschränkt werden. Nach seiner Auffassung sei eine gemischte Kost auch gesundheitsschädlich und unserem Körper nicht angemessen.

Pythagoras dagegen lehrte, daß alle Wesen miteinander verwandt seien und daß es eine Seelenwanderung gäbe. Die Seelen durchlaufen – wenn man ihm glauben darf – immer neue Daseinsformen. Die Seele geht nach seiner Meinung nicht unter, sie bleibt auch nur in dem kleinen Augenblick untätig, in dem sie in einen anderen Körper übergeht. Es bleibt noch zu zeigen, in welchen Zeiträumen und wann die Seele [167]nach ihrer Irrfahrt durch die verschiedenen Behausungen wieder in einen Menschen zurückkehrt. Vorerst warnte er die Menschen jedoch vor dem Verbrechen des Vatermordes. Sie könnten ohne ihr Wissen an die Seele ihres Vaters geraten und durch ihren Messerstich dem Geiste eines Verwandten wehe tun, der vielleicht in diesem Tiere Wohnung genommen habe.

So sprach Sotion und stützte seine Ausführungen mit Beweisen. Dann schloß er seine Rede mit den Worten:

»Du willst nicht glauben, daß die Seelen immer wieder in andere Körper hinübergehen und daß es nur eine Wanderung ist, was wir Tod nennen? Du willst nicht glauben, daß auf dieser Welt nichts zugrunde geht, sondern nur in eine andere Sphäre übertritt? Du willst nicht glauben, daß nicht allein die Himmelskörper ihre gesetzmäßigen Umläufe vollführen, daß vielmehr auch die Lebewesen durch wechselnde Gestalten hindurchgehen und daß die Seelen einen Kreislauf ausführen? Große Männer haben das geglaubt!

Halte daher mit deinem Urteil zurück, und sichere dich nach jeder Richtung. Sind diese Ansichten wahr, so bleibst du frei von Schuld, wenn du dich der Fleischnahrung enthältst. Sind sie aber falsch, so ist diese Enthaltsamkeit lediglich ein Streben nach einfacher Lebensweise. Welchen Schaden bringt dir also deine Bereitschaft, an diese Ansichten zu glauben? Ich nehme dir nur eine Nahrung, die für Löwen und Raubvögel angemessen sein mag.«

Von solchen Worten wurde ich gepackt und begann mich der Fleischnahrung zu enthalten. Schon nach Jahresfrist fiel mir diese Gewohnheit nicht nur leicht, [168]sondern war mir sogar angenehm. Ich hatte das Gefühl größerer geistiger Beweglichkeit.

Attalus pflegte eine Matratze zu empfehlen, in die der Körper sich nicht eindrückt. Eine solche harte Matratze benutze ich noch im Alter. Keine Druckspur kann auf ihr entstehen.

Ich erzähle dir das, um dir zu beweisen, wie stürmisch die erste Begeisterung für alles Gute bei den Schülern der Philosophie sein kann, wenn sie jemand mit zündenden Worten dazu anspornt.

Heute aber wird einmal von seiten der Lehrer gesündigt, die uns im Diskutieren, aber nicht im Leben unterweisen, zum anderen auch von seiten der Lernenden selbst, die den Lehrer nicht in der Absicht aufsuchen, ihren Charakter zu vervollkommnen, sondern nur ihren Verstand auszubilden. So ist aus der Philosophie eine Philologie geworden.

Wir sollen aber die Lehren der Philosophie so in uns aufnehmen, daß aus unseren Worten Taten werden. Es ist das Schlimmste, was die Vertreter der Philosophie der Menschheit antun können, wenn sie die Philosophie wie ein feiles Gewerbe lehren, wenn sie selbst anders leben, als man nach ihrer Lehre leben sollte. Ein solcher Lehrer ist ebenso unnütz wie ein Steuermann, der im Sturm seekrank wird. Es kommt darauf an, im tosenden Wellenschlag das Steuer festzuhalten, mit dem Meere zu kämpfen, dem Winde die Segel zu entreißen. Was soll mir da ein Steuermann helfen, der betäubt ist und sich übergibt? Das Leben aber – glaube mir – wird von viel schlimmeren Stürmen geschüttelt als irgendein Schiff. Hier kommt es nicht aufs Reden an, sondern hier gilt es, das Steuer fest in die Hand zu nehmen. Alles, was die Lehrer der Philosophie vorbringen, womit sie sich vor der lauschenden [169]Menge brüsten, ist fremdes Eigentum. Das hat Platon gesagt, das Zenon, das Chrysippos und Poseidonios oder ein anderer aus der großen Zahl dieser vielen, gewichtigen Namen. Ich will dir sagen, wie sie glaubhaft machen können, daß sie sich diese Lehren wirklich zu eigen gemacht haben:

Sie mögen durch die Tat beweisen, was sie mit Worten verkünden!

 

 

[170]

VOM ZURÜCKGEZOGENEN LEBEN

Mögen wir auch keine andere segensreiche Beschäftigung ergreifen, allein die Tatsache, daß wir uns zurückziehen, wird ihre Früchte tragen: Besser werden wir nur in der Einsamkeit.

»Können wir uns denn nicht auch in einen kleinen Kreis hervorragender Männer zurückziehen und uns ein Beispiel nehmen, nach dem wir unser Leben gestalten wollen?« Gerade das ist nur im zurückgezogenen Leben möglich. Nur dann können wir festhalten an dem, was wir einmal als Recht erkannten, wenn uns niemand in den Weg tritt, der unseren noch schwachen Entschluß wieder wankend macht, indem er sich auf die Meinung der Masse beruft. Nur dann kann unser Leben stets in der gleichen inneren Geschlossenheit ablaufen. Durch steten Wechsel in unseren Absichten aber zerstören wir die klare Linie unseres Lebens. Daß wir sogar mit unseren Fehlern wechseln, ist von allen Übeln das schlimmste. So gelingt es uns nicht einmal, bei unseren alten Fehlern zu bleiben. Bald halten wir dies, bald jenes für richtig, und so haben wir nicht nur darunter zu leiden, daß unsere Entschlüsse schlecht sind, sondern auch darunter, daß sie unbeständig sind. Wir schwanken hin und her, ergreifen bald dieses, bald jenes, lassen das Angefangene wieder liegen, greifen aber bald wieder nach dem Liegengelassenen. So schwanken wir haltlos [171]zwischen Begierde und Reue hin und her. Denn wir machen uns vollständig von fremdem Urteil abhängig und halten das für das beste, was am meisten erstrebt und gelobt wird, nicht aber das, was wirklich lobenswert und erstrebenswert ist. Den Pfad des Guten und des Bösen beurteilen wir nicht an sich, sondern nach der Menge der Fußspuren.

Du wirst sagen: was tust du, Seneca? Du verläßt deine Partei? Lehren doch eure Stoiker: »Wir werden bis zum letzten Augenblick tätig sein, wir werden nicht aufhören, unsere Kraft zum Wohle der Gesamtheit einzusetzen oder dem Einzelnen hilfreich beizuspringen. Sogar dem Feinde werden wir noch mit zitternder Greisenhand Hilfe bringen. Keiner Jahresklasse gewähren wir Dienstbefreiung. Und wie jener wortgewandte Mann sagt: noch das graue Haar lassen wir den Druck des Helmes spüren. Bis zum Tode gibt es bei uns keine Zeit zum Ausruhen. Wenn möglich, erwarten wir selbst den Tod nicht im Bett.« Was erzählst du uns nun von den Lehren Epikurs angesichts dieser Prinzipien des Zenon? Warum trittst du nicht einfach über, wenn es dir bei deiner Partei nicht mehr paßt, ehe du zum Verräter wirst?

Für den Augenblick will ich dir nur dies zur Antwort geben: Was willst du mehr, als daß ich mich meinen Führern ähnlich zeige? Ich gehe dabei nicht den Weg, den sie mir in der Theorie wiesen, sondern den, auf dem sie selbst vorangegangen sind. Ich werde dir aber beweisen, daß dies auch die theoretische Lehre der Stoiker ist, nicht, weil ich es mir zur Regel gemacht habe, gegen einen Ausspruch des Zenon und Chrysippos[108] nichts einzuwenden, sondern weil es mir der Gegenstand selbst gestattet, mich ihrer Meinung anzuschließen.

[172]

In unserer Frage sind die beiden Schulen der Epikureer und Stoiker verschiedener Meinung und doch verweisen uns beide auf das zurückgezogene Leben, wenn auch auf verschiedenen Wegen. Epikur sagt: Der Weise wird sich dem Staatsdienst nicht zuwenden, es sei denn, daß sich etwas Unvorhergesehenes ereignet. Zenon sagt: Der Weise wird sich dem Staatsdienst widmen, wenn ihn nicht etwas daran hindert. Der eine sucht das zurückgezogene Leben mit Vorsatz, der andere nur, wenn er einen bestimmten Grund hat. Aber dieser Grund ist es, der ihm weiten Spielraum läßt. Wenn der Staat derart moralisch verdorben ist, daß ihm nicht mehr geholfen werden kann, wenn die minderwertigen Elemente die Oberhand gewonnen haben, dann wird sich der Weise nicht mehr unnütz anstrengen und seine Kraft ohne zweckvolle Wirkung verschwenden. Wenn ein Mensch zu wenig Ansehen hat, wenn es ihm an Kräften fehlt, wenn der Staat selbst ihm keine Einsatzmöglichkeit gibt, oder wenn Krankheit ihn behindert, dann wird er einen Weg, der ihm verschlossen ist, nicht zu beschreiten suchen, so wenig wie man ein leckes Schiff ins Meer ziehen wird, und so wenig ein Gelähmter sich in die Wehrliste eintragen wird. Es kann aber auch einer, bei dem alles in bester Ordnung ist, ohne sich erst den Stürmen auszusetzen, den sicheren Hafen aufsuchen und sich sofort der wissenschaftlichen Arbeit widmen, sein Leben in ungestörter Zurückgezogenheit verbringen als ein Freund sittlicher Lebenshaltung, die sich auch in der tiefsten Abgeschiedenheit betätigen kann. Denn das ist wohl vom Menschen zu verlangen, daß er sich den Menschen nützlich erweist, wenn möglich, vielen; wenn es nicht anders geht, wenigen; gelingt auch dies nicht, [173]seinen nächsten Angehörigen; ist sogar das nicht möglich, dann wenigstens sich selbst. Wenn er sich den anderen nützlich macht, arbeitet er an einer gemeinsamen Aufgabe. Wer aus sich einen schlechten Menschen macht, schadet nicht nur sich selbst, sondern auch allen, denen er als ein besserer Mensch hätte nützen können. Ebenso nützt einer, der erfolgreich an sich selbst arbeitet, gerade dadurch auch den anderen, weil er aus sich einen Menschen macht, der einmal anderen nützlich werden kann.

Zwei Formen der Gemeinschaft kennen wir; die eine ist groß und wahrhaft allumfassend, sie umfaßt Götter und Menschen, bei ihr schauen wir nicht in diesen oder jenen Winkel; wir bestimmen vielmehr die Grenzen dieses Staates am Lauf der Sonne. Die andere Gemeinschaft aber ist die, an die wir durch unsere Geburt gebunden sind: es wird dies der Staat der Athener sein oder der Karthager oder einer anderen Stadt, ein Staat, der nicht alle Menschen umfaßt, sondern nur gewisse. Manche Menschen sind zur gleichen Zeit für beide Gemeinschaften tätig, für die große und für die kleine, manche sind nur für die kleine, andere nur für die große tätig. Dieser größeren Gemeinschaft können wir auch in der Zurückgezogenheit eifrig dienen, vielleicht sogar in der Zurückgezogenheit noch besser. Wir untersuchen dann, worin rechtes sittliches Verhalten besteht, ob es nur eine Form des rechten sittlichen Verhaltens gibt oder mehrere, ob man schon durch die natürliche Anlage ein moralisch wertvoller Mensch wird oder nur durch eigene zielbewußte Anstrengung. Wir untersuchen dann, ob es nur einen Weltkörper dieser Art gibt, der Meere, Länder und ihre Bewohner trägt, oder ob Gott viele derartige Weltkörper im Raume verteilt hat. [174]Wir erforschen, ob die Materie, aus der alles entsteht, durchgehend kompakt ist oder lückenhaft, so daß Festes mit leerem Raum wechselt. Wir suchen das Wesen Gottes zu ergründen. Ist er nur müßiger Zuschauer seines Werkes oder greift er selbst in den Ablauf des Weltgeschehens ein? Umspannt er die Welt nur von außen oder wohnt er ihr ganz inne? Ist die Welt unsterblich oder zum Vergänglichen, Zeitgebundenen zu rechnen? Welchen Dienst leistet man der Gottheit, wenn man dies alles betrachtet? Doch wohl den, daß diese großen göttlichen Werke nicht ohne Zeugen bleiben.

Wir pflegen zu sagen, das höchste Gut sei, der Natur gemäß zu leben[109]. Die Natur aber hat uns zu beidem bestimmt. Zur Betrachtung der Dinge und zum tätigen Eingreifen. Die Natur hat uns einen wißbegierigen Geist gegeben und hat uns im Bewußtsein ihrer edlen Bildung und Schönheit zu Zuschauern dieses grandiosen Schauspiels bestimmt. Sie würde sich nämlich um die Wirkung ihres Seins bringen, wenn sie alle diese großen, wundervollen, feinen, glänzenden und nicht nur auf eine Art schönen Erscheinungen lediglich dem öden Weltenraum darböte. Um einzusehen, daß die Natur prüfend beobachtet, nicht nur wahrgenommen werden will, betrachte, an welchen Platz sie uns gestellt hat: mitten ins All hat sie uns gesetzt und gewährt uns einen allseitigen Ausblick. Sie gab dem Menschen nicht nur die aufrechte Haltung, sondern auch die Fähigkeit der nachdenklichen Betrachtung. So kann er die Gestirne bei ihrem Lauf vom Aufgang bis zum Untergang verfolgen. Die Natur gab ihm das Vermögen, sein Gesicht nach allen Seiten zu drehen, richtete sein Haupt empor und [175]setzte es auf einen beweglichen Hals. Wenn die Natur nun den Menschen tags durch sechs und nachts wieder durch sechs Sternbilder hindurchführt, dann verbirgt sie ihm nichts und erregt in ihm durch dieses Schauspiel das Bedürfnis, auch die übrigen Schönheiten der Natur kennenzulernen.

Also lebe ich der Natur gemäß, wenn ich mich ihr ganz hingebe, wenn ich ihr Bewunderer und Verehrer bin. Denn die Natur wollte, daß ich beides betreibe: handeln und auch Zeit haben zu nachdenklicher Betrachtung. Ich befolge also beides; denn auch die nachdenkliche Betrachtung ist nicht inaktiv.

Einerseits ist es keineswegs zu billigen, wenn ein Mensch ohne jede Liebe zur sittlichen Vollkommenheit und ohne alle geistige Kultur nur nach materiellen Dingen strebt und nur in äußerer Tätigkeit aufgeht; denn man soll eines mit dem anderen verbinden und verknüpfen. Andererseits ist die sittliche Vollkommenheit, die sich in völliger Zurückgezogenheit tatenlos abspielt, ein unvollkommener und schwacher sittlicher Wert; denn hier beweist der sittlich vollkommene Mensch nicht mit der Tat, was er in der Theorie gelernt hat. Ist es doch offensichtlich, daß der sittlich vollkommene Mensch seinen Fortschritt mit der Tat beweisen muß. Ist es doch seine Aufgabe, nicht nur zu bedenken, was man tun soll, sondern auch einmal Hand anzulegen und die schönen Gedanken Wirklichkeit werden zu lassen[110]. Wenn aber das Hindernis nicht beim Weisen selbst liegt, wenn ihm nicht der unternehmende Geist fehlt, sondern die äußeren Voraussetzungen der Tat, wird man ihm dann nicht gestatten, sich auf sich selbst zurückzuziehen? [176]In welcher inneren Haltung aber zieht sich der Weise aus dem öffentlichen Leben zurück? In der Überzeugung, daß er auch dann etwas schaffen wird, womit er der Nachwelt nützen kann. Wir dürfen mit Bestimmtheit behaupten, daß Zenon und Chrysippos größere Dinge vollbracht haben, als wenn sie Heere angeführt, Ehrenämter bekleidet oder Gesetzesanträge eingebracht hätten. Nicht einem bestimmten Staat, sondern dem ganzen Menschengeschlecht haben sie Gesetze gegeben. Warum sollte also ein zurückgezogenes Leben dieser Art nicht für einen sittlich hochstehenden Mann passen? Kann er doch auf diese Weise Verfügungen treffen für künftige Jahrhunderte und seine Stimme nicht für wenige, sondern für alle Menschen jeder Volkszugehörigkeit jetzt und in Zukunft ertönen lassen.

Ich stelle also nochmals die Frage, ob Kleanthes, Chrysippos und Zenon nach ihren eigenen Vorschriften gelebt haben? Du wirst mir ohne Zweifel bestätigen: sie haben so gelebt, wie sie lehrten, daß man leben müsse. Dennoch hat keiner von ihnen sich politisch betätigt. Sie hatten, meinst du, nicht die bürgerliche Stellung und Würde, die für die Zulassung zum Staatsdienst Voraussetzung ist. Trotzdem haben sie ihr Leben nicht in trägem Nichtstun verbracht. Sie haben bewiesen, daß ihre Zurückgezogenheit den Menschen mehr Segen gebracht hat als das geschäftige Umherlaufen der anderen. So haben diese Männer offensichtlich eine reiche Wirksamkeit entfaltet, auch wenn sie nicht im öffentlichen Dienst tätig gewesen sind.

 

 

[177]

DIE TROSTSCHRIFT AN MARCIA

Wäre ich nicht davon überzeugt, daß dir weibliche Schwächeanwandlungen ebenso fremd sind wie andere Charakterfehler, und wüßte ich nicht, daß deine Lebenshaltung als Beispiel alter Römertugend gelten kann, dann würde ich nicht wagen, deinem Schmerz entgegenzutreten. Den Mut dazu fand ich, weil ich wußte, daß deine Charakterstärke schon Proben bestanden hat und deine Tapferkeit schon durch eine schwere Prüfung erwiesen ist[111].

Diese deine charakterliche Größe verbietet mir auch, auf dein Geschlecht Rücksicht zu nehmen und auf deinen Blick, der von jahrelanger, ständiger Trauer noch wie am ersten Tage umwölkt ist. Mögen andere dir daher mit sanften und schmeichelnden Worten Trost zusprechen – ich bin gewillt, mit deiner Betrübnis den offenen Kampf aufzunehmen.

[178]

Zwei Beispiele großen Stils will ich dir vor Augen stellen. Sie entstammen deinem Geschlecht und deiner Zeit. Die eine Frau überließ sich willenlos dem Schmerz, die andere gab im gleichen Unglück, bei noch größerem Verlust dem Leid nicht lange Gewalt über sich, sondern gewann ihre Fassung rasch zurück. Octavia und Livia sind es, die Schwester des Augustus und seine Gattin. Beide hatten ihre Söhne noch als junge Menschen verloren. Beide durften berechtigte Hoffnung hegen, daß ihre Söhne einmal die Kaiserwürde erben würden.

Octavia machte dem Weinen und Seufzen ihr Leben lang kein Ende. Kein Wort des Trostes ließ sie an sich herankommen. Sie ließ sich nicht einmal ablenken. Nur auf diese eine Tatsache waren alle ihre Gedanken gerichtet. Sie blieb ihr ganzes Leben so, wie sie beim Begräbnis gewesen war. Sie fand nicht die Kraft, sich aufzurichten, und wies auch fremde Hilfe zurück. Sie glaubte, sie würde ihren Sohn zum zweiten Male verlieren, wenn sie das Weinen unterließe. Sie wollte kein Bild ihres geliebten Sohnes haben. In ihrer Gegenwart durfte sein Name nicht genannt werden. Sie haßte alle Mütter, und vor allem richtete sich ihre Wut gegen Livia, weil es schien, als sei das Glück, das sie sich erhofft hatte, nun auf deren Sohn übergegangen. Umgeben von ihren Kindern und Enkeln legte sie die Trauerkleidung nicht ab, wodurch sie doch ihre Angehörigen kränken mußte; denn sie benahm sich wie eine kinderlose Frau, obwohl ihre anderen Kinder und Enkel gesund waren.

Livia verlor ihren Sohn Drusus, der ein großer Herrscher zu werden versprach. Ein großer Heerführer war er bereits. Er war ins Innere Germaniens eingedrungen und hatte die römischen Feldzeichen an [179]Plätzen aufgepflanzt, wo man bisher von der Existenz Roms kaum eine Ahnung gehabt hatte. Es war der Mutter nicht verstattet, die letzten Küsse ihres Sohnes zu empfangen, das letzte liebe Wort von seinen Lippen zu lesen. Mit ihrem Sohne aber trug sie auch ihren Schmerz zu Grabe. Dennoch hörte sie nicht auf, den Namen ihres Drusus zu feiern und ihn überall im privaten und öffentlichen Leben vor Augen zu haben. Gern sprach sie von ihm und gern hörte sie auch von ihm sprechen. Sie lebte in der Erinnerung an ihn. Solche Erinnerung kann man aber nicht festhalten und sich oft vergegenwärtigen, wenn es nur eine traurige Erinnerung ist.

Wähle nun, welches von diesen Beispielen deiner Meinung nach größere Anerkennung verdient!

Wenn du dem ersteren folgen willst, dann streichst du dich aus der Zahl der Lebenden. Willst du dich aber an das Beispiel von Selbstbeherrschung und Ruhe anlehnen, das jene andere große Frau gab, dann wirst du nicht in Trübsal versinken und dich nicht mit Selbstqual zermürben.

Welcher Wahnsinn ist es, sich im Unglück noch selbst zu strafen und sein Leid von sich aus zu vermehren! Zeige die Bescheidenheit und Zurückhaltung, die du stets im Leben bewahrt hast, auch in diesem Falle! Auch im Schmerz gibt es maßvolle Haltung. Das Andenken des Jünglings selbst aber wirst du mehr ehren, wenn er seiner Mutter wie im Leben heiter und froh entgegentreten darf. Besaß er doch Vorzüge genug, dich froh zu machen, wenn du nur seinen Namen nennst oder nur an ihn denkst!

»Aber die Sehnsucht nach den Seinen ist doch eine natürliche Regung.«

Wer wollte das leugnen, wenn sie nur maßvoll bleibt. [180]Schon die Trennung von unseren Lieben, nicht erst ihr Tod, erweckt schmerzvolle Empfindungen und schnürt auch tapferen Menschen das Herz zusammen. Die Einbildung aber ist oft noch stärker als die Forderung der Natur.

Wie sich alle Fehler tief einwurzeln, wenn man sie nicht sogleich im Entstehen unterdrückt, so ziehen auch diese traurigen und unglücklichen Affekte aus ihrer eigenen Bitterkeit immer neue Nahrung. So wird schließlich der Schmerz für den unglücklichen Menschen zu einer verkehrten Lust.

Ich denke wahrlich nicht so schlecht von deinem Charakter, um dir zu unterstellen, du würdest deinen Schicksalsschlag leichter tragen, wenn ich dir vor Augen führe, wie viele andere Menschen ebenfalls Grund zur Trauer haben. Es ist eine Art Schadenfreude, sich damit zu trösten, daß auch viele andere Menschen unglücklich sind. Dennoch will ich dir einige Beispiele anführen, nicht um dir klarzumachen, daß dies gewöhnliches Menschenschicksal ist – es wäre lächerlich, für unsere Sterblichkeit noch Beispiele zu sammeln –, sondern um dir zu beweisen, daß viele Menschen durch geduldiges Ertragen ihr Unglück gemildert haben.

Paulus[112] gab in den Tagen seines glorreichen Triumphes, als er den berühmten König Perseus in Fesseln vor seinem Wagen aufführte, zwei Söhne zur Adoption fort. Die beiden anderen, die er für sich behalten hatte, mußte er zu Grabe tragen. Dennoch hielt er seine öffentliche Ansprache und dankte den Göttern, daß sein Gebet Erfüllung gefunden habe. Er hatte sich nämlich gewünscht, wenn wegen dieses gewaltigen Sieges dem Neid ein Opfer zu bringen sei, dies [181]lieber auf seine als auf des Staates Kosten geschehen solle.

Als C. Caesar durch Britannien zog und sich auch vom Ozean nicht in seinem erfolgreichen Vormarsch aufhalten ließ, hörte er, daß seine Tochter gestorben sei, deren Geschick mit dem des Staates aufs innigste verbunden war[113]. Dennoch nahm er schon am dritten Tage seine Feldherrngeschäfte wieder auf und besiegte seinen Schmerz ebenso schnell wie jeden anderen Gegner.

Ich weiß, was du jetzt sagen willst: »Du hast vergessen, daß du eine Frau tröstest. Du bringst nur Beispiele von Männern.«

Wer wollte aber behaupten, die Natur habe den Frauen nur geringere geistige Anlagen mitgegeben und sie nur zu beschränkten sittlichen Leistungen befähigt? Glaube mir, sie haben die gleiche Energie, die gleiche Befähigung zum Guten. Schmerz und Anstrengung können sie nach entsprechender Gewöhnung ebensogut ertragen. Aber, ihr Götter, in welcher Stadt besprechen wir dies alles? Es ist die Stadt, in der eine Lucretia und ein Brutus die Römer von der Königstyrannei befreiten[114]. Dem Brutus verdanken wir die Freiheit. Der Lucretia den Brutus.

»Aber es ist doch schwer, einen Jüngling zu verlieren, den man selbst aufgezogen hat, der schon Schutz und Stolz für Vater und Mutter geworden war.«

[182]

Wer wollte das bestreiten? Aber es ist menschliches Schicksal. Du bist geboren, um zu verlieren, um zu sterben, zu hoffen, zu fürchten, andere und dich zu beunruhigen, um den Tod zu fürchten und ihn zugleich herbeizuwünschen und – was am schlimmsten ist – um nie zu wissen, wie es um dich bestellt ist.

Die Natur spricht zu uns allen: »Ich führe niemanden hinters Licht. Du hast Söhne großgezogen. Sie können schön, sie können aber auch häßlich sein. Möglicherweise werden sie stumm geboren. Einer von ihnen kann der Retter des Vaterlandes werden, aber auch sein Verräter. Du kannst berechtigte Hoffnung hegen, daß deine Söhne zu solcher Würde gelangen, daß niemand es wagen würde, dich ihretwegen zu schmähen. Stelle dir aber auch vor, sie wären derartig verworfen, daß du selbst sie verfluchst! Keine Gewalt wird deine Söhne hindern, dir die letzte Ehre zu erweisen und dich zu preisen. Aber bereite dich auch auf die Möglichkeit vor, daß du einen deiner Söhne als Knaben, als Jüngling oder als alten Mann wirst auf den Scheiterhaufen legen müssen!«

Hältst du dir diese Bedingungen vor Augen und ziehst du dann Kinder groß, so darfst du nicht mit den Göttern hadern. Sie haben dir keine festen Zusicherungen gemacht.

Was bewegt dich also so tief, Marcia? Daß dein Sohn abgeschieden ist oder daß er nicht lange genug gelebt hat? Wenn es das Abscheiden war, dann hättest du schon immer traurig sein müssen; denn schon immer wußtest du, daß er einmal sterben würde. Halte dir vor Augen, daß der Verstorbene nichts Schlimmes erdulden muß und daß es nur Märchenerzählungen sind, die uns die Unterwelt schrecklich erscheinen lassen. Der Tod ist die Erlösung von allen Schmerzen [183]und ihr Ende. Über ihn hinaus können uns unsere Leiden nicht begleiten. Er versetzt uns wieder in jenen Zustand der Ruhe, in dem wir uns vor unserer Geburt befanden. Dein Sohn hat die Grenzen dieses Sklavendaseins überschritten. Ein erhabener ewiger Friede umfängt ihn. Die Furcht vor der Armut verfolgt ihn nicht mehr, nicht die Sorge um seinen Reichtum, auch nicht der Reiz der Begierde, die unsere Geisteskraft durch Ausschweifungen zerrüttet. Ihm liegt nun aller Neid gegenüber fremdem Glück fern, auch bedrückt es ihn nicht mehr, wenn andere auf sein Glück neidisch sind. Sein Zartgefühl wird nicht mehr durch Schmähungen beleidigt. Weder im öffentlichen Leben noch in privater Hinsicht hat er Rückschläge zu fürchten. Er schwebt nicht mehr in ständiger Unruhe über die Zukunft.

Wie wenig sind sich die Menschen ihres Leides bewußt, wenn sie den Tod nicht als die beste Erfindung der Natur preisen und erwarten. Mag er nun Glückseligkeit vermitteln oder nur das Unglück abwenden, mag er der müden Übersättigung des Greises ein Ende setzen oder die blühende Jugend mit all ihren schönen Hoffnungen zu Grabe geleiten, mag er den Knaben abrufen, bevor er die Stufen der Reife erreicht hat – für alle diese Menschen ist er das Ende, für viele ein Heilmittel. Von vielen wird er herbeigesehnt, am wohltätigsten aber zeigt er sich denen, zu denen er kommt, bevor er gerufen wurde. Er befreit den Sklaven gegen den Willen des Herrn, er nimmt den Gefangenen die Ketten ab. Ihm gegenüber spürt niemand, daß er nur von niederem Range ist. Er steht jedem offen. Nach ihm strebte dein Vater, Marcia. Ihm verdanken wir, so behaupte ich, daß es keine Strafe ist, geboren zu sein. Ihm verdanke ich, [184]daß ich nicht verzage gegenüber dem drohenden Unheil, daß ich meine sichere und selbstbeherrschte Haltung bewahre: Ich habe also Grund genug, ihn freudig zu begrüßen.

Ich sehe Marterpfähle mannigfacher Bauart, hier in dieser und bei anderen Völkern wieder in anderer Form. Ich sehe Folterwerkzeuge, ich sehe Peitschen. Für jedes Glied, für jedes Gelenk hat man besondere Marterwerkzeuge ersonnen. Ich sehe aber auch den Tod. – Dort stehen blutgierige Feinde, hochmütige Mitbürger – aber auch dort sehe ich den Tod. Es ist ein Leichtes, dort Knecht zu sein, wo wir mit einem Schritt in die Freiheit gelangen können, wenn wir die Unterdrückung nicht länger ertragen wollen.

Leben, ich liebe dich um der Wohltat des Todes willen!

Du beklagst dich, Marcia, dein Sohn habe nicht so lange gelebt, wie er hätte leben können. Woher weißt du, ob es für ihn gut gewesen wäre, länger zu leben? Vielleicht war dieser frühe Tod für ihn ein Segen. Gibt es denn heute noch einen Menschen, dessen Lage so gesichert und wohlbegründet wäre, daß er in Zukunft nichts zu befürchten hätte? Alle menschlichen Verhältnisse sind schwankend und unbeständig. Gerade das, was uns am meisten am Herzen liegt, ist auch am stärksten gefährdet und empfindlich. Daher sollte man glücklichen Menschen den Tod wünschen, weil angesichts dieser Unbeständigkeit und Verwirrung aller menschlichen Verhältnisse nur das Vergangene gewiß ist. Wer hätte dir versprechen können, daß die körperliche Schönheit deines Sohnes, die er sich dank seiner Schamhaftigkeit unter den Augen dieser genußsüchtigen Stadt bewahrt hatte, allen möglichen Krankheiten hätte entgehen können, so daß er sich seine schöne Erscheinung bis ins Alter [185]unangefochten erhalten hätte? Denke auch an die unzähligen Charakterfehler! Selbst Menschen mit guten Anlagen haben oft im Alter nicht das gehalten, was man in der Jugend von ihnen erhofft hatte. Vielfach haben sie sich gründlich geändert.

Wenn du dies alles in Betracht ziehst, dann wird dir klar werden, daß diejenigen Menschen am besten daran sind, die die Natur zur Belohnung möglichst schnell in Sicherheit bringt.

Gewöhne dich also daran, deinen Sohn nach seinen sittlichen Qualitäten, nicht aber nach seinen Jahren einzuschätzen. Dann hat er lange genug gelebt. Niemals ist er deinen Blicken entschwunden. Unter deinen Augen trieb er seine wissenschaftlichen Studien. Er besaß hervorragende Anlagen und wäre seinem Großvater gleichgekommen, wenn dem nicht seine Schüchternheit im Wege gestanden hätte. Bedingt doch solche Schüchternheit nicht selten, daß die inneren Fortschritte eines Menschen unbekannt bleiben. Als ein Jüngling von seltener Schönheit hat er sich inmitten einer Menge von Frauen, die darauf ausgehen, Männer zu verführen, keiner zu Willen gezeigt. Traten aber einige in ihrer Verworfenheit direkt mit Versuchungen an ihn heran, so errötete er, als hätte er schon dadurch ein Unrecht begangen, daß er ihnen gefallen hatte.

Diese Reinheit seines Charakters war auch der Grund, daß er schon in jugendlichem Alter des Priesteramtes würdig schien. Fraglos spielte die Empfehlung der Mutter dabei eine Rolle, aber auch die Mutter hätte sich nicht durchsetzen können, wäre sie nicht für einen würdigen Bewerber eingetreten. In Betrachtung dieser hohen sittlichen Vorzüge halte deinen Sohn gleichsam in Liebe umfangen!

[186]

Lediglich das Bild deines Sohnes ist entschwunden, und zwar ein Abbild, das ihm nicht einmal sehr ähnlich war. Er selbst ist in die Ewigkeit eingegangen und hat eine bessere Position gewonnen. Er hat die ihm wesensfremde Last abgelegt und gehört nun ganz sich selbst. Denn die körperliche Materie, die unser Wesen umkleidet, die Knochen und Sehnen, die Haut als Decke und die übrigen Hüllen sind nur Fesseln und Verfinsterungen des Geistes.

Du hast daher keinen Grund, immer wieder zum Grabe deines Sohnes zu laufen. Nur das Schlechteste von ihm, das ihm selbst am meisten zur Last war, liegt dort, nämlich Knochen und Asche, die ebensowenig Teile seines Wesens sind, wie die Kleider, die er auf dem Leibe hatte. Unversehrt ist er entschwunden. Kein Stück seines Wesens hat er auf Erden zurückgelassen. Heil und ganz ist er von uns gegangen. Ein wenig verweilte er noch über uns, bis er sich geläutert und die noch anhaftenden Fehler und allen Staub des sterblichen Daseins abgestreift hatte. Dann erhob er sich in erhabene Höhen und trat unter die seligen Geister. Eine heilige Versammlung nimmt ihn dort auf, die Scipionen, die beiden Cato – und unter diesen Verächtern des Lebens, die sich selbst die Freiheit schenkten, ist auch dein Vater, Marcia.

Verhalte dich nun so, Marcia, als würdest du vor den Augen deines Vaters und deines Sohnes wandeln. Denke sie dir nicht so, wie du sie kanntest, sondern als erhabene Wesen, die auf höchster Warte stehen. Laß keinen Gedanken der Schwäche in dir aufkommen, wie es gewöhnliche Leute tun würden, und weine nicht über die Deinen, die doch in ein besseres Dasein hinübergegangen sind. Sie dürfen sich ungehindert in den freien und weiten Räumen einer ewigen Welt bewegen.

 

 

[187]

VON DEN WOHLTATEN

Wenn ich die vielen und mannigfachen Verirrungen der töricht und unbesonnen dahinlebenden Menschen betrachte, bester Liberalis, erscheint es mir fast am unwürdigsten, daß man weder Wohltaten zu geben noch anzunehmen versteht. So kommt es, daß man für Wohltaten, die nicht in der richtigen Art erwiesen werden, auch wenig Dank erntet. Es ist bereits zu spät, wenn wir uns darüber beklagen, daß unsere Wohltaten unerwidert bleiben. Sie gehen schon verloren durch die Art, wie wir sie geben. Wem genügt es, zart gebeten zu werden und nur einmal? Niemand wird sich aber gern für etwas verpflichtet fühlen, das er nicht erhalten, sondern herausgepreßt hat. Wer kann einem Menschen dankbar sein, der seine Wohltat stolz wegwirft oder sie uns ärgerlich aufdrängt? Wer kann einem Menschen dankbar sein, der gibt, weil er mürbe geworden ist und vor weiteren Belästigungen sicher sein will? Es ist ein Irrtum, zu glauben, es müsse sich einer erkenntlich zeigen, den man durch widerholten Aufschub ermüdet oder durch Wartenlassen gequält hat. Man dankt uns die Wohltat mit der gleichen inneren Haltung, mit der wir gaben. Daher soll man nicht gleichgültig sein beim Geben, auch soll man nicht lange zögern. Vor allem aber soll man dabei das Ehrgefühl des anderen nicht verletzen; denn es liegt in der menschlichen Natur, daß sich Kränkungen [188]tiefer einprägen als verdienstvolle Taten. Wenn nun aber Verdienste rasch vergessen sind, während Kränkungen länger im Gedächtnis haften bleiben, was erwartet da jemand, der uns durch die Art, wie er uns eine Wohltat erweist, beleidigt? Ihm gegenüber ist man schon dankbar genug, wenn man nicht mehr an seine Wohltat denkt.

»Aber es hat einer schlechte Erfahrungen gemacht.« Auch Kinder oder Frauen enttäuschen uns, und doch ziehen wir Kinder auf und heiraten die Frauen. Schlechte Erfahrungen machen übrigens so wenig Eindruck auf uns, daß wir nach einer Niederlage wieder in den Krieg ziehen und uns nach einem Schiffbruch wieder aufs Meer wagen. Wieviel mehr Grund haben wir also, im Vollbringen guter Taten nicht müde zu werden. Das ist das Kennzeichen guter und großer Gesinnung, daß es ihr nicht auf die Frucht des Gebens ankommt, sondern auf die Wohltat selbst, daß man auch nach schlechten Erfahrungen mit Unwürdigen weiter nach einem Würdigen suchen wird. Wenn mir auch jede Hoffnung, einen dankbaren Menschen zu finden, genommen werden würde, so würde ich lieber auf die Erwiderung meiner Wohltaten verzichten als auf das Geben. Ich habe gegeben, um zu geben. Niemand trägt Wohltaten ins Schuldbuch ein. Höre nicht auf, vollführe dein Werk und spiele die Rolle eines guten Menschen zu Ende. Hilf dem einen durch materielle Unterstützung, dem anderen durch Vertrauen, einem dritten durch freundliches Benehmen, einem vierten durch guten Rat, einem fünften durch segensreiche Vorschriften. Für Liebesdienste haben sogar wilde Tiere Sinn, und kein Tier ist so wild, daß es nicht durch sorgfältige Behandlung gebändigt werden könnte.

[189]

Es war einer undankbar für eine Wohltat? Für die zweite wird er es nicht mehr sein. Er hat alle beide vergessen? Eine dritte gute Tat wird ihm die Erinnerung an die vergessenen früheren wiedergeben. Wohin er sich auch wenden mag, um der Erinnerung zu entgehen, da möge sein Blick auf dich fallen: umzingele ihn sozusagen mit deinen Wohltaten.

Über das Wohltun soll also gesprochen werden; und Richtlinien sollen gegeben werden für eine Handlung, die in ganz besonderer Weise das Menschengeschlecht miteinander verbindet. Es sollen Lebensregeln gegeben werden, damit nicht unter dem Scheine des Wohlwollens ein unüberlegter Leichtsinn um sich greift. Andererseits soll die Freigebigkeit, die nicht fehlen, aber auch nicht übertrieben werden darf, durch Beachtung solcher Regeln nicht eingeengt, sondern nur in sinnvollen Grenzen gehalten werden. Die Menschen sollen belehrt werden, wie man gern gibt, gern empfängt, gern zurückgibt. Sie sollen einen ehrenvollen Wettkampf mit allen aufnehmen, denen sie verpflichtet sind. Sie sollen sich bemühen, es ihnen an materieller Leistung und Gesinnung nicht nur gleichzutun, sondern sie zu übertreffen. Wer Dank abstatten will, kommt niemals zurecht, wenn er nicht die Führung übernimmt. Die Spender sind zu belehren, daß sie nichts in Rechnung zu stellen haben, die Empfänger, daß sie sich über die wirkliche Leistung hinaus verpflichtet fühlen müssen. Zu diesem würdigen Wettkampf, in dem Wohltaten durch größere Wohltaten vergolten werden, ermahnt uns Chrysippos.

Der eine wird für ein Geldgeschenk dankbar sein, der andere für einen Rat, wieder einer für die Vermittlung [190]einer Priesterstelle oder einer Provinz. Das sind nur die äußeren Kennzeichen der Wohltaten, nicht die Wohltaten selbst. Eine Wohltat kann man nicht mit Händen greifen. Die Gesinnung bestimmt den Wert einer Leistung. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Gegenstand der Wohltat und der Wohltat selbst. Denn nicht Gold und Silber oder prächtige Geschenke machen das Wesen der Wohltat aus, sondern der Wille des Spenders. Törichte Menschen aber bemerken nur, was in die Augen fällt, was den Besitzer wechselt, während sie das, was wirklich zu schätzen und wertvoll ist, gering achten. Was wir mit Händen greifen, was wir sehen können, woran unser Wunsch hängt, ist hinfällig. Das Schicksal oder ein menschlicher Gewaltakt kann es uns entreißen. Die Wohltat bleibt auch dann noch, wenn das verlorenging, mittels dessen sie gegeben wurde[115]. Sie ist eine rechte Tat, die keine Macht der Welt ungültig machen kann. Ich kaufe einen Freund von den Seeräubern los, aber ein anderer Feind nimmt ihn wieder gefangen und kerkert ihn ein. Er verhindert nur die Auswirkung meiner Wohltat, hebt aber nicht die Wohltat selbst auf. Ich gebe einem seine Kinder zurück, die ich bei einem Schiffbruch oder Brand gerettet habe, aber Krankheit oder ein unglücklicher Zufall rafft sie dahin. Es bleibt auch ohne sie, was mit ihnen gegeben wurde. Denn alle Dinge, die fälschlich den Namen einer Wohltat in Anspruch nehmen, [191]sind nur Werkzeuge, deren sich der liebevolle Wille bedient.

Was ist also eine gute Tat? Eine wohlwollende Handlung, die Freude spendet und die im Spenden selbst Freude empfinden läßt, zu der man aus eigenem Antrieb bereit ist. Daher kommt es nicht darauf an, was geschieht oder was gegeben wird, sondern in welcher Gesinnung. Die gute Tat liegt nicht in dem beschlossen, was getan oder gegeben wird, sondern in der Gesinnung des Gebers. Die Gesinnung ist es, die kleine Wohltaten heraushebt, winzige Gaben groß macht, aber auch gewaltige und und wertvolle Geschenke entwertet. Bestünden die Wohltaten in Gütern oder Umständen und nicht in dem Willen, Gutes zu tun, so müßten sie um so größer sein, je größer die Geschenke sind, die wir empfangen. Das ist aber nicht der Fall; denn oft verpflichtet uns mehr, wer ein kleines Geschenk großzügig hingibt, wer »durch seine Gesinnung der Gabe königlichen Glanz verleiht«, wer wenig gibt, aber gern, wer seine eigene Armut vergaß, während er die unsere bedachte, wer nicht nur den Willen zum Helfen hatte, sondern das heftige Verlangen, wer glaubte, eine Wohltat zu empfangen, als er geben durfte, wer gab, als würde er mit einer Rückgabe nie rechnen, wer so dankbar zurücknahm, als hätte er niemals etwas hergegeben, wer die Gelegenheit, bei der er helfend einspringen konnte, festhielt und immer wieder suchte. Klein mag die Gabe sein, die er mir zukommen ließ, aber er konnte nicht mehr aufbringen. Was jener andere mir gab, mag großartig sein, aber er schwankte, er suchte Aufschub, er seufzte beim Geben, er gab mit hochmütiger Miene, er rühmte sich dessen überall und wollte nicht dem einen Gefallen tun, dem er die [192]Gabe zuwarf: für seinen Ehrgeiz brachte er Opfer, nicht für mich.

Wir wollen hier abschließen mit dem Bemerken, daß die Schuld nicht unser Jahrhundert trifft. Darüber haben unsere Vorfahren geklagt, darüber klagen wir und werden unsere Nachkommen klagen, daß die Sitten verderbt seien, daß die Schlechtigkeit das Haupt erhebe und daß alle menschlichen Einrichtungen und alles Recht ins Schlechte verkehrt würden. Das alles bleibt aber tatsächlich gleich und wird es bleiben. Nur geringe Schwankungen werden bemerkbar sein wie bei den Wellen, die von der heranbrausenden Flut höherschwellen, bei Ebbe aber in ihr altes Bett zurückkehren.

 

Wir wollen jetzt, mein bester Liberalis, betrachten, wie eine Wohltat zu tun ist. Hierfür werde ich dir eine sehr einfache Methode nennen: So wollen wir geben, wie wir selbst empfangen möchten, vor allem gern, schnell und ohne Zögern. Unerwünscht ist die Wohltat, die lange an den Händen des Gebers klebte, von der er sich offensichtlich nur mit Mühe trennen konnte und die er so gibt, als müßte er sie sich abringen. Das beste ist, dem Wunsch des anderen zuvorzukommen. Es ist unangenehm und bedrückend, gesenkten Hauptes »ich bitte« zu sagen. Zu spät gibt, wer erst dem Bittenden gibt. Daher muß man den Wunsch eines anderen zu ahnen suchen und, wenn man Bescheid weiß, ihn der drückenden Notwendigkeit des Bittens überheben.

Sehr bitter ist es auch, lange im Ungewissen zu sein. Viele tragen es gleichmütiger, wenn sie alle Hoffnung abgeschnitten sehen, als wenn sie lange hingehalten werden.

[193]

Manchmal muß auch der, dem geholfen werden soll, getäuscht werden, damit er in den Besitz der Gabe gelangt, ohne zu wissen, von wem er empfing. Von Arkesilaos[116] erzählt man, er habe beschlossen, einen armen Freund, der seine Armut zu verbergen suchte, heimlich zu unterstützen. Dieser war nämlich krank und gab nicht einmal zu, daß ihm die Mittel zum Nötigsten fehlten. Arkesilaos legte ohne Wissen seines Freundes auf dessen Kissen einen kleinen Beutel mit Geld nieder, damit dieser bei seinem übertriebenen Schamgefühl lieber finden sollte, was er brauchte, als daß er gezwungen wäre, eine Spende in Empfang zu nehmen. Mag der Empfänger auch nicht wissen, daß er eine Gabe empfing, wenn ich nur weiß, daß ich gegeben habe.

»Das ist denn aber doch zu kläglich«, meinst du.

Kläglich nur, wenn du ein Geschäft machen willst. Wenn es dir aber nur auf das Geben ankommt, und zwar in der Form, die dem Empfänger am meisten nützt, dann wirst du mit deiner Gabe nicht zurückhalten. Du wirst zufrieden sein, wenn du allein dein Zeuge bist. Anderenfalls kommt es dir nicht darauf an, Gutes zu tun, sondern als Wohltäter bekanntzuwerden.

»Ich möchte dennoch, daß der andere es weiß.« – Dann suchst du einen Schuldner.

»Trotzdem möchte ich, daß er es weiß.« – Also wirst du einem Menschen im Dunkeln nicht behilflich sein? Ich will nicht bestreiten, daß man, wenn möglich, die Freude berücksichtigen soll, die wir an der dankbaren Gesinnung des Empfängers haben. Bedarf jedoch der [194]andere der Hilfe, schämt sich aber seiner Hilfsbedürftigkeit, oder kränkt ihn gar unsere Spende, wenn wir sie nicht heimlich geben, dann werde ich meine Wohltaten nicht in die Zeitung[117] setzen lassen.

Man soll auch nicht davon reden, daß man jemand etwas zuteil werden ließ. Wer daran erinnert, fordert zurück. Man soll die Erinnerung daran nicht wachrufen, es sei denn dadurch, daß man durch eine neue gute Tat an eine frühere mahnt. Auch zu anderen sollen wir darüber nicht sprechen. Wer eine gute Tat vollbrachte, schweige. Erzählen möge, wer sie empfing. Eitle Selbstgefälligkeit ist zu meiden. Unsre Taten mögen für sich sprechen, während wir schweigen.

Es gibt aber auch Dinge, die schädlich für die sind, die sie erstreben. Solche nicht zu gewähren, sondern zu versagen, ist eine gute Tat. Manchmal werden wir auch gegenüber jämmerlichen Bitten bei unserer Ablehnung bleiben. Wie es sich gehört, den Ausgangspunkt einer guten Tat zu betrachten, so auch ihr Endergebnis. Sich erweichen lassen zum Verderben des Bittenden, ist eine grausame Gutmütigkeit. Wie es eine herrliche Tat ist, auch denen zu helfen, die Hilfe abweisen, so ist es eine einschmeichelnde und zutuliche Gehässigkeit, einem Bittenden Verderbenbringendes zu gewähren. Eine Wohltat sollen wir nur gewähren, wenn sie im täglichen Gebrauch immer mehr Freude weckt, wenn sie niemals ins Schlechte umschlagen kann. Geld werde ich nicht geben, wenn ich weiß, daß es der käuflichen Liebe gezahlt werden [195]soll. Ich werde mich nicht zum Mitschuldigen schändlicher Taten und Pläne machen. Wenn ich es vermag, werde ich den anderen zur Vernunft zurückrufen, wenn nicht, werde ich wenigstens meine Hand nicht zu einer schlechten Tat reichen. Mag den anderen sein Zorn zu ungehörigen Handlungen hinreißen oder ein glühender Ehrgeiz auf unsichere Bahnen führen, ich werde nicht dulden, daß er die Mittel zu einer schlechten Handlung von mir bezieht, und ich werde nicht zulassen, daß er einmal sagen kann: »Der da hat mich durch seine Liebe runinert.« Oft ist kein Unterschied zwischen den Geschenken der Freunde und den Wünschen der Feinde.

Vom König Antigonos forderte ein Kyniker ein Talent[118]. Der antwortete, das sei mehr, als ein Kyniker fordern dürfe. Nach dieser Absage forderte er einen Denar[119]. Der König antwortete, das sei weniger, als einem König zu geben zieme. Wenn du mich fragst, werde ich seine Antwort billigen; denn es ist ein unerträglicher Zustand, das Geld zu verachten und es dennoch zu fordern[120]. Du hast dem Gelde Verachtung geschworen, das hast du öffentlich bekannt, diese Rolle hast du übernommen: nun mußt du sie zu Ende spielen. Es ist der Gipfel der Ungehörigkeit, wenn du unter dem Glorienschein der Armut Geld anhäufst.

Manche Menschen sind nicht nur im Geben hochmütig, sondern auch im Empfangen. Denn schon kommen wir zu der anderen Seite unseres Themas, wie sich nämlich die Menschen beim Empfang von Wohltaten verhalten sollen.

[196]

Eines verdient vor allem festgehalten zu werden: Wir dürfen nicht von allen Menschen etwas annehmen. Eine schwere Qual ist es, dem verpflichtet zu sein, dem man es nicht sein möchte. »Aber nicht immer wird es mir erlaubt sein zu sagen: Ich will nicht.« – Manchmal wird man eine Wohltat auch widerwillig annehmen müssen. Ein grausamer, jähzorniger Tyrann schenkt dir etwas. Er wird es als persönliche Beleidigung auffassen, wenn du sein Geschenk verschmähst. »Soll ich es also annehmen?« Stelle ihn auf eine Stufe mit Wegelagerern und Seeräubern, ihn, den König, der die Gesinnung eines Wegelagerers und Seeräubers hat. Niemand wird verpflichtet durch die Annahme eines Geschenks, das er nicht zurückweisen durfte. Erst mußt du mir die Freiheit meiner Entscheidung geben, dann erst deine Wohltat.

Wenn wir uns aber entschlossen haben anzunehmen, dann wollen wir froh annehmen und unsere Freude bezeugen. Dies soll auch für den Spender deutlich sichtbar sein, damit er sofort die Frucht seiner Mühe genießt. Es ist ein rechter Grund zur Freude, einen frohen Freund zu sehen, mehr aber noch, wenn man ihn selbst froh gemacht hat.

Wir wollen nun betrachten, was hauptsächlich Schuld daran ist, daß die Menschen undankbar sind: Selbstüberschätzung ist daran schuld und die tief in unserer Natur wurzelnde Neigung, uns selbst und unsere Handlungen zu bewundern, auch Begehrlichkeit und Neid. Von den Paradoxen der Stoiker halte ich am wenigsten für verwunderlich und unglaublich die These, wer gern annimmt, habe die Wohltat bereits erwidert. Denn da wir alles auf die Gesinnung zurückführen, ist bereits so gut wie getan, was man zu [197]tun beabsichtigt. Wenn Redlichkeit, Treue, Gerechtigkeit und jede andere Tugend in sich selbst vollendet ist, auch wenn sie sich nicht praktisch betätigen kann, so kann man auch dankbar sein allein durch den guten Willen.

Soll ich also nicht alles tun, was in meiner Macht steht, um eine Wohltat zu erwidern? Soll ich nicht die Gelegenheit ausnutzen, die mir Zeit und Umstände bieten? Soll ich nicht den reich zu machen suchen, von dem ich selbst empfing? Gewiß. Aber es wäre schlecht um die Wohltat bestellt, wenn man nicht auch mit leeren Händen dankbar sein könnte.

 

Für Wohltaten den schuldigen Dank nicht abzustatten, ist verwerflich und wird auch von allen dafür gehalten. Es gibt verschiedene Arten der Undankbaren, wie das auch bei Dieben und Mördern der Fall ist. Sie haben zwar alle die gleiche Schuld auf sich geladen, im einzelnen sind aber die Unterschiede recht groß. Undankbar ist, wer behauptet, er hätte überhaupt keine Wohltat empfangen; undankbar ist, wer es verheimlicht; undankbar ist, wer die Wohltat nicht erwidert; am undankbarsten aber ist, wer sie vergißt. Denn die anderen haben doch ein Schuldgefühl, wenn sie auch ihre Verpflichtung nicht einlösen, und es bleibt ihnen in ihrem schlechten Gewissen noch ein sicheres Erinnerungszeichen an die Verdienste anderer. Sie können aus irgendeinem Grunde umgestimmt werden und sich nun dankbar zeigen. Vielleicht hören sie die mahnende Stimme des Schamgefühls oder es wird ein plötzlicher Drank nach dem sittlich Guten in ihnen lebendig, wie er von Zeit zu Zeit auch in der Brust eines bösen Menschen entsteht, wenn günstige Umstände die Veranlassung dazu geben. Wem aber [198]die Wohltat gänzlich aus dem Gedächtnis gekommen ist, der kann niemals mehr dankbar werden.

Man muß sich nun fragen, ob ein so verhaßtes Laster ungestraft bleiben soll. Es fallen mir aber viele Gründe ein, warum ein solches Vergehen nicht unter Gesetzesbestimmung fallen soll. Das beste an der Wohltat wird zerstört, wenn man eine solche Tat jemandem wie sicheres Geld oder wie nach einem Pachtvertrag zukommen läßt. Denn das ist an einer solchen Tat das Herrliche, daß wir geben, als ob wir verlieren würden, daß wir alles der freien Entscheidung des Empfängers überlassen. Wenn ich Anspruch erheben und zum Gericht laufen kann, dann ist es keine gute Tat mehr, sondern ein Kredit. Dankbarsein ist eine sittlich besonders wertvolle Haltung, aber sie hört auf, sittlich wertvoll zu sein, wenn ein Zwang dahintersteht. Zwei Werte würden wir damit zerstören, die zum schönsten gehören, was es im Menschenleben gibt: dankbare Gesinnung und Wohltun.

Einer gibt viel Geld, aber er ist reich, er spürt den Aufwand nicht. Ein anderer gibt auch, aber er muß sein ganzes Vermögen opfern. Die Summe ist die gleiche, die Wohltat nicht. Manche Gaben gewinnen auch durch den Zeitpunkt, zu dem sie gegeben werden, an Größe. Eine Wohltat kann es sein, wenn ich einen Grundbesitz von solcher Ausdehnung verschenke, daß der Ertrag desselben Einfluß auf den Getreidepreis haben kann. Eine Wohltat aber kann es auch sein, wenn ich dem Hungernden ein einziges Brot reiche. Schwierig ist der Spruch des Richters, wenn er nicht den Sachwert, sondern das moralische Gewicht der Sache untersuchen soll. Es ist zwar dieselbe Sache, die gegeben wird, aber unter anderen Umständen hat sie ein anderes Gewicht.

[199]

Manche Gaben kommen dem Spender teuer zu stehen, manche sind eine große Hilfe für den Empfänger, obwohl sie für den Spender kein Opfer waren.

Manches gibst du Freunden, manches auch Unbekannten. Mehr aber will es heißen, auch wenn die Gabe dieselbe ist, wenn du den, dem du gibst, erst durch deine Wohltat kennengelernt hast.

Der eine gewährt finanzielle Hilfe, der andere vermittelt äußere Ehren, ein dritter spendet Trost. Du wirst manchen finden, der nichts Angenehmeres und Wichtigeres weiß, als jemanden zu haben, bei dem er sein leidbeladenes Herz ausschütten kann. Du wirst auch manchen finden, dem mehr daran liegt, daß man um seine Würde als um seine Sicherheit besorgt sei.

Einige Autoren, darunter Hekaton[121], untersuchen, ob ein Sklave imstande ist, seinem Herrn eine Wohltat zu erweisen. Manche Leute machen nämlich gewisse Unterschiede. Einige Handlungen nennen sie Wohltaten, andere Pflichten, wieder andere Dienstleistungen. Was ein Sklave tut, sei eine Dienstleistung, da er sozial so gestellt sei, daß er sich aus keiner seiner Taten dem Höhergestellten gegenüber ein Verdienst machen dürfe. Wer behauptet, ein Sklave könne seinem Herrn keine Wohltat erweisen, bezeugt damit seine Unkenntnis des Menschenrechts. Es ist nämlich nur von Bedeutung, welcher Gesinnung der Geber ist, nicht welchen Standes. Niemandem ist sittliche Vollkommenheit verschlossen, allen steht sie offen, an alle ergeht ihr Ruf, an die Freigeborenen wie an die Freigelassenen, an die Sklaven wie an die Könige und die Verbannten. Sie fragt nicht nach Herkunft und Vermögen. Allein mit dem Menschen selbst ist sie zufrieden. Es kann auch ein Sklave gerecht sein, er kann [200]tapfer sein und von hoher Gesinnung, also kann er auch eine Wohltat gewähren. Wenn also schon keine Zweifel darüber bestehen, daß eine Wohltat vorliegt, auch wenn sie ein Sklave vollbracht hat, so erhält eine solche Tat noch um so größere Bedeutung, weil ihn davon nicht einmal die Tatsache, daß er Sklave war, abschrecken konnte. Es irrt nämlich, wer glaubt, die Sklaverei erfasse den ganzen Menschen. Sein besserer Teil ist davon ausgenommen. Sein Inneres kann nicht in die Sklaverei verkauft werden.

Kann also ein Herr eine Wohltat von seinem Sklaven annehmen? – Jawohl, als Mensch vom Menschen.

Warum sollte denn eher die Person des Gebers den Wert einer Tat herabsetzen können als die Tat selbst der Person des Gebers Achtung verschaffen? Die sittlichen Grundsätze sind für alle die gleichen und haben denselben Ursprung. Keiner ist vornehmer als der andere, es sei denn, daß sein Charakter edler ist und er stärkere Befähigung hat zu sittlich guter Lebensweise. Wer seine Ahnenbilder im Vorraum aufstellt und die Namen seiner Familie in langer Reihe und mit den vielfach gewundenen Linien des Stammbaums ganz vorn am Eingang anbringt, ist eher berühmt als edel zu nennen. Einer Welt verdanken wir alle den Ursprung, die Abkunft eines jeden läßt sich über Höhen und Tiefen bis zu diesem Anfang zurückverfolgen. Mögt ihr auch Freigelassene unter euren Vorfahren haben oder Sklaven, dem kühnen Aufschwung eures Geistes steht das nicht im Wege. Ihr könnt euch hinwegsetzen über alles Niedere, das in der Vergangenheit liegt. Am Ziele erwartet euch hoher geistiger Adel. Wie darf uns also unser Hochmut zu solcher Überheblichkeit verführen, daß wir uns scheuen, von Sklaven Wohltaten anzunehmen? [201]Wir würden dann nur ihre bürgerliche Lebensstellung ins Auge fassen, ihre sittlichen Verdienste vergessen.

 

Es gibt Leute, die Gutes tun mit der Hoffnung auf späteren Lohn. Ihnen kann sittliche Tüchtigkeit ohne Gewinn nicht gefallen. Sie bedeutet aber nichts Erhabenes, wenn sie mit geschäftlichen Gedanken verknüpft wird. Es ist wohl das Schändlichste, jemandem nachzurechnen, für welchen Preis er ein anständiger Mensch sein soll. Das sittlich gute Verhalten soll nicht durch Aussicht auf Gewinn gefördert werden und soll sich auch nicht durch drohenden Nachteil abschrecken lassen. Die sittliche Vollkommenheit will niemanden durch Hoffnung und Versprechen bestechen, vielmehr verlangt sie volle Hingabe und fordert mehr Opfer als Lohn. Unter Ausschaltung aller Nützlichkeitserwägungen muß man sich ihr zuwenden. Wohin sie dich auch ruft oder schickt, du mußt dich auf den Weg machen, ohne auf dein Vermögen Rücksicht zu nehmen, manchmal sogar, ohne mit deinem Blute zu sparen. Niemals darfst du dich ihrer Forderung entziehen. »Was erreiche ich aber mit dieser tapferen, mit dieser dankbaren Handlung?« Nur, daß du sie vollbracht hast. Mehr hat dir die sittliche Vollkommenheit nicht zu versprechen. Wenn gelegentlich ein Vorteil hinzukommt, so hast du ihn als Zugabe anzusehen. Der Lohn sittlich guter Handlungen liegt in ihnen selbst[122]. Keinen Gewinn will ich aus meiner Wohltat ziehen, kein Vergnügen, keinen Ruhm. Ich bin zufrieden, wenn ich mich nur gefällig erweisen darf, und ich gebe, um zu tun, was sich gehört. Dabei [202]erfreut uns das reine Bewußtsein der vollbrachten guten Tat. Wie es Pflicht des Weltalls ist, den Umlauf der Gestirne zu ordnen, wie es Pflicht der Sonne ist, den Ort ihres Aufgangs und Untergangs in regelmäßigem Wechsel zu ändern und wie dies für uns so segensreiche Geschehen abrollt, ohne daß dafür ein Lohn ausgesetzt wird, so gehört es auch unter anderem zu den Pflichten des Menschen, Wohltaten zu tun.

Warum soll man also geben? Um das Geben nicht zu unterlassen, um nicht eine Gelegenheit, bei der man Gutes tun könnte, zu versäumen. Euch ist es ein Vergnügen, in trägem Nichtstun euren Bauch zu pflegen und eine Ruhe zu suchen, die dem Schlaf ähnlich sieht oder unter schattigen Bäumen feinsinnigen Gedanken nachzuhängen. Uns dagegen ist es eine Freude, Gutes zu tun, mag es uns auch Mühe machen, wenn wir nur dadurch anderen ihre Mühen erleichtern; mögen wir uns damit auch in Gefahr bringen, wenn wir nur andere dadurch den Gefahren entreißen können; mögen wir auch unsere Gedanken damit beschweren, wenn wir nur andere dadurch aus ihren Nöten und Bedrängnissen befreien können.

Was kümmert es mich, ob eine gute Tat erwidert wird. Auch wenn sie erwidert wird, werde ich sie vollbringen. Die Wohltat schaut aus nach dem Vorteil des Empfängers, nicht nach dem unseren. Sonst würden wir uns selbst einen Gefallen erweisen. Was aber ist Großartiges daran, wenn einer sich selbst liebt, sich selbst schont, für sich selbst etwas erwirbt?

Soviel steht fest: das sittlich Gute soll aus keinem anderen Grunde erstrebt werden als allein darum, weil es sittlich gut ist. Davon ging unsere ganze Beweisführung [203]aus. Wer aber will der Behauptung widersprechen, daß Dankbarkeit sittlich gut sei?

Wenn dir nun erzählt wird, einer habe sich gegen Wohltaten seines Freundes undankbar gezeigt, was empfindest du dann? Hast du das Gefühl, er habe etwas Schändliches getan oder nur den Eindruck, er habe seinen Nutzen und Vorteil versäumt? Ich glaube, du wirst ihn für einen Schurken halten, der Strafe verdient, nicht für einen Kranken, der Pflege nötig hat. Das wäre nicht so, wenn Dankbarkeit nicht an sich erstrebenswert und sittlich gut wäre. Andere Haltungen zeigen ihren sittlichen Wert vielleicht weniger deutlich, und es bedarf erst der näheren Erklärung, ob sie auch sittlich gut sind. Die Haltung der Dankbarkeit aber läßt keine Fehldeutung zu und ist so strahlend, daß ihr Licht niemals trübe oder spärlich leuchten kann. Was ist so lobenswert, was wird so einstimmig von jedem Herzen gebilligt wie Dankbarkeit gegen verdienstvolle Handlungen? Welcher Beweggrund aber treibt uns dazu? – Vorteil? – Wer ihn nicht verachtet, ist undankbar. – Ehrgeiz? – Willst du etwa stolz darauf sein, daß du eine Schuld abgetragen hast? – Furcht? – Auch der Undankbare hat nichts zu fürchten. Denn allein in diesem Punkte haben wir kein Gesetz geschaffen, als hätte die Natur selbst bereits genügend Sicherheiten gegeben. Wie kein Gesetz uns Liebe zu den Eltern und Sorge um unsere Kinder befiehlt, wie wir auch nicht zu der angeborenen Liebe zu uns selbst angehalten werden müssen, so bedarf es auch keiner Ermahnung, daß man das sittlich Gute um seiner selbst willen anstrebe. Das sittlich Gute gefällt durch sich selbst, und die Tugend ist so liebenswert, daß selbst schlechte Menschen geneigt sind, das Bessere anzuerkennen. Keiner, der [204]nicht als wohltätig gelten will, keiner, der nicht nach Verbrechen und Gewalttat noch den Anschein gütiger Gesinnung zu erwecken suchte. Das wäre nicht so, wenn nicht die Liebe zum sittlich Guten um seiner selbst willen sogar solche Leute dazu zwingen würde, eine Meinung von sich zu erzeugen, die ihrem tatsächlichen sittlichen Verhalten entgegengesetzt ist. So suchen sie ihre sittliche Minderwertigkeit zu verstecken, obwohl sie der Vorteil solchen Verhaltens lockt. Im Innern aber verachten sie dieses Verhalten selbst und schämen sich seiner; denn keiner ist so sehr dem Naturgesetz untreu geworden und hat sich so weit seiner Menschenwürde entkleidet, daß er mit Vorsatz schlecht ist. Wir halten es für die größte Wohltat der Natur, daß die Tugend ihr Licht in alle Herzen sendet. Auch wer ihr nicht folgen kann, hat sie doch vor Augen.

Wenn du weißt, daß dankbare Gesinnung an sich erstrebenswert ist, so ergibt sich daraus auch, daß Undankbarkeit etwas ist, das an sich zu meiden ist. Denn nichts vermag die menschliche Gemeinschaft so gründlich aufzulösen und zu zerreißen wie dieser Fehler. Wodurch sollten wir uns denn sicher fühlen, wenn nicht durch die Gewißheit gegenseitiger Hilfe? Allein durch den Austausch von Wohltaten ist unser Leben gesichert und gegen plötzliche Angriffe ausreichend gerüstet.

Auch werde ich eine neue Wohltat nicht deshalb zurückweisen, weil ich die frühere noch nicht erwidert habe. Ich werde eine Wohltat ebenso gern annehmen, wie sie gegeben wird, und mich meinem Freund als ein Objekt zur Verfügung stellen, an dem er seine Güte erproben kann. Wer eine neue Wohltat nicht annehmen will, beleidigt den anderen durch die Tatsache, daß er die frühere angenommen hat.

[205]

Ich kann mich aber nicht dankbar erweisen. – Was tut das zur Sache? Ist doch die Verzögerung nicht meine Schuld, wenn mir die Gelegenheit dazu fehlt oder die Mittel.

Ich glaube auch, man soll sich nicht eilen mit der Rückerstattung einer Wohltat und den Spender nicht bedrängen, wenn er die Rückerstattung nicht wünscht. Das ist kein Dank, wenn man dem anderen gegen dessen Willen zurückgibt, was man selbst frei annehmen durfte. Wenn manche Leute ein kleines Geschenk bekommen haben, schicken sie in überstürzter Eile sofort eine Gegengabe und wollen so beweisen, daß sie nichts schuldig geblieben sind. Es sieht aber wie Zurückweisung aus, wenn man gar zu schnell eine Gegengabe schickt und ein Geschenk durch ein anderes aussticht. Wer sich beeilt, eine Wohltat unter allen Umständen zurückzuerstatten, hat nicht die Gesinnung eines dankbaren Menschen, sondern die eines Schuldners, kurz, wer zu sehr bestrebt ist, von der Verpflichtung loszukommen, fühlt sich ungern verpflichtet. Wer sich aber ungern verpflichtet fühlt, ist undankbar.

 

Glaubst du etwa, damit du dankbar sein kannst, müsse es dem anderen schlecht gehen? Was sollte dich hindern, deinen Dank auch denen zu bezeigen, die im höchsten Glück leben? Ich werde dir zeigen, woran es auf den höchsten Rangstufen mangelt, was denen fehlt, die alles besitzen: der Mann, der ihnen die Wahrheit sagt. Einem hochgestellten Menschen ist unter verlogenen Beratern jedes Feingefühl verlorengegangen. Er hat das Unterscheidungsvermögen für die Wahrheit verloren, weil er immer an Stelle des Richtigen Schmeichelhaftes hören mußte. Er bedarf [206]eines Mannes, der ihn über die unermüdlichen Falschmeldungen seiner Umgebung aufklärt. Siehst du nicht, wie sich vor diesen Machthabern der Abgrund auftut, weil die Freiheit ausgelöscht ist und weil sie unterwürfigen Kreaturen Vertrauen schenkten? Niemand rät oder widerrät nach seiner inneren Überzeugung, sondern es herrscht ein Wettstreit im Schmeicheln. Es gibt nur noch eine Pflicht für alle Freunde, ein Bemühen, sich durch verlogene Schmeichelei gegenseitig zu überbieten.

So kommt es dann, daß solche Herrscher über ihre wahren Kräfte im unklaren sind, und so ziehen sie in dem Wahn, sie seien so groß, wie man ihnen vorredet, unnötige Konflikte herbei und führen Kriege, die schließlich zu einer Gefahr für die ganze Welt werden. Sie brechen in ihrem Zorn einen ebenso nützlichen wie notwendigen Frieden, den nachher niemand wieder zurückgeben kann. Sie vergießen viel Blut, bis schließlich ihr eigenes Blut fließt. Sie halten unsichere Berichte für zuverlässig. Sie glauben, es sei ebenso schimpflich, nachzugeben wie besiegt zu werden. Sie halten ein System für ewig, das den stärksten Erschütterungen ausgesetzt ist, wenn es auf die Spitze getrieben wird. So bringen sie ungeheures Unglück über sich und ihre Länder.

Der verewigte Augustus verbannte seine schamlose Tochter, die noch schamloser war als ihr übler Ruf, und machte damit das entehrende Vergehen des kaiserlichen Hauses zu einem öffentlichen Skandal. Als dann nach einiger Zeit an die Stelle des Zornes die Scham trat, seufzte er, weil er nicht stillschweigend Zustände unterdrückt hatte, von denen er solange nichts gewußt hatte, daß es schließlich nur noch Schande bringen konnte, darüber zu sprechen. Er rief [207]dann oft aus: »Dies alles wäre mir erspart geblieben, wenn Agrippa und Maecenas noch gelebt hätten!« – Wir dürfen aber nicht annehmen, daß Agrippa und Maecenas gewohnt waren, ihm die Wahrheit zu sagen. Wenn sie gelebt hätten, sie hätten vorgegeben, von nichts zu wissen. Es ist eben eine Sitte bei Herrschern, daß sie zur Schande der Anwesenden Verlorenes loben und denen die Tugend der Wahrhaftigkeit zuschreiben, von denen sie nicht mehr fürchten müssen, sie könnten von ihnen wirklich Wahrheiten zu hören bekommen.

Aber, um zu meinem Thema zurückzukommen: du siehst, wie leicht es ist, auch den Glücklichen und den Obersten der Menschheit Dank zu bezeigen. Sage ihnen – nicht, was sie hören wollen, sondern das, von dem sie einmal wünschen werden, sie hätten es gehört. Auch in Ohren, die voll sind von Schmeicheleien, möge auf diese Weise einmal ein wahres Wort dringen. Gib guten Rat! Nicht das sind wahre Freunde, die in langem Zuge ans Tor klopfen, die in Freunde erster und zweiter Klasse eingeteilt werden. Es ist dies eine uralte Gewohnheit bei Königen und bei denen, die sich wie Könige aufspielen, daß sie den Schwarm ihrer Freunde in Klassen einteilen. Es ist ein Zeichen von Hochmut, wenn uns einer hoch in Anschlag bringt, daß wir unsern Fuß über die Schwelle seines Hauses setzen dürfen, wenn er es als Ehre bezeichnet, daß man der Tür etwas näher sitzen darf. Solche Leute werden Freunde erster und zweiter Klasse haben, aber überhaupt keine wahren Freunde. Du hast also eine schlechte Meinung von dir, wenn du glaubst, du könntest nur einem Unglücklichen nützen und seiest im Glück überflüssig. Mancher hält es sogar für wert, daß ein anderer ins Unglück gerät, damit er [208]selbst sich dankbar erweisen könne. Wer aber würde den Aeneas für pietätvoll halten, wenn er den Untergang seines Vaterlandes herbeigewünscht hätte, um Gelegenheit zu haben, seinen Vater vor der Gefangenschaft zu bewahren?

 

Der Kyniker Demetrios[123] – meines Erachtens ein großer Mann, auch wenn man ihn mit den Größten vergleicht – sagte mit seiner gewohnten Treffsicherheit, es nütze mehr, wenn man wenige Vorschriften der Weisheit behielte, aber sie immer gebrauchsfertig zur Verfügung habe, als wenn man vieles gelernt hätte, was man nicht zur Hand habe. Magst du auch nicht wissen, wodurch Flut und Ebbe bedingt sind, warum im Menschenleben jeder Siebenjahresabschnitt sein besonderes Gepräge trägt, welches die Gesetze der Perspektive sind – es wird dir nicht viel schaden, an dem vorüberzugehen, was zu wissen unnötig und ohne Nutzen ist. Wir können uns nicht über die Bosheit der Natur beklagen; denn nur das ist schwierig zu finden, bei dem der Erfolg lediglich darin besteht, daß man es gefunden hat. Für die Einsichten aber, die uns zu besseren und glücklichen Menschen machen können, bedarf es von Natur keines langen Nachdenkens. Sie liegen in greifbarer Nähe: Alle Geschenke des Zufalls verachten, sich über die Furcht erheben und nicht gierige Hoffnungen ins Unendliche schweifen lassen, sondern lernen, Reichtum bei sich selbst zu suchen; keine Furcht haben vor Göttern und Menschen und wissen, daß von den Menschen nicht viel zu fürchten ist, von Gott gar nichts; alles verachten, was nur eine Last ist, während es eine Erleichterung sein soll; überzeugt sein, daß der Tod kein [209]Übel ist, aber das Ende von vielen Übeln; sein Leben den sittlichen Werten weihen und fest an die Durchführbarkeit aller sittlichen Forderungen glauben; ein soziales Wesen sein, sich für die Gemeinschaft bestimmt wissen und die Welt als ein Haus für alle ansehen; sein Gewissen den Göttern öffnen und immer wie vor aller Augen leben, sich selbst mehr fürchten als andere – wer solche Gesinnung pflegt, der ist allen Stürmen enthoben und lebt in Sicherheit und Heiterkeit. Er hat sich eine nützliche und notwendige Wissenschaft erarbeitet.

Diese Wissenschaft empfiehlt unser Demetrios mit aller Kraft festzuhalten und niemals wieder loszulassen, sich mit ihr fest zu verbinden und sie zu einem Teil von uns selbst zu machen. So kann man durch tägliche geistige Übung dahin kommen, daß heilsame Gedanken ganz von selbst sich einstellen, die erstrebte Geisteshaltung in jeder Lage sogleich vorhanden ist und ohne Verzögerung die klare Unterscheidung von Gut und Böse möglich wird.

Du fragst schließlich noch etwas sehr Wichtiges, mit dem wir unsere Abhandlung schließen wollen: wie man sich einem Undankbaren gegenüber verhalten soll. Ruhig, milde, großzügig. Keine Kränkung ist so menschenunwürdig, so gefühllos und undankbar, daß uns dadurch die Freude am Geben verdorben werden könnte. Niemals soll dich erlittenes Unrecht zu dem Ausruf verleiten: Ich wollte, ich hätte die Wohltat unterlassen! – Deine Wohltat soll dich auch dann nicht reuen, wenn sie nicht auf fruchtbaren Boden fiel. Den anderen wird ewige Reue packen, wenn dich deine Wohltat nicht einmal unter solchen Umständen reut. Du mußt auch nicht unwillig sein, als sei der Undank etwas Ungewöhnliches. Du solltest [210]dich vielmehr wundern, wenn du keinen Undank erntest. Vielleicht findest du das Laster, über das du dich beklagst, in dir selbst, wenn du dich sorgfältig prüfst. Unbillig wäre es, über einen Fehler zu zürnen, an dem alle leiden, töricht aber ist es, darüber empört zu sein, wenn man selbst nicht von diesem Fehler frei ist. Verzeihe also, damit du selbst freigesprochen werden kannst. Durch Geduld wirst du den anderen bessern können, durch zorniges Tadeln aber wirst du ihn auf jeden Fall noch verstockter machen. Da ist doch jener andere Weg viel besser, dem Undankbaren wenigstens den Schein der Freundschaft zu bewahren und, wenn er sich ändern will, sogar die wirkliche Freundschaft. Beharrliche Güte siegt auch über schlechte Menschen.

Es ist einer undankbar. – Nicht mir, sondern sich selbst schadet er. Ich habe den Zweck meiner guten Tat erfüllt, als ich sie vollbrachte. Ich werde ihm sogar wieder eine Wohltat erweisen und wie ein guter Landmann die Unfruchtbarkeit des Bodens durch Fürsorge und Pflege zu überwinden suchen. Mir ging eine Wohltat verloren, jener Undankbare aber ging für die Menschheit verloren.

Es ist kein Zeichen von hoher Gesinnung, eine Wohltat zu tun und dabei schlechte Erfahrungen zu machen. Hohe Gesinnung zeigt sich erst, wenn man schlechte Erfahrungen macht und dennoch im Geben fortfährt.

 

 

[211]

NATURWISSENSCHAFTLICHE UNTERSUCHUNGEN

VORREDE

Es entgeht mir nicht, mein bester Lucilius, welch großes Werk ich noch als Greis in Angriff nahm, als ich beschloß, die Welt zu durchstreifen, ihre Geheimnisse zu erforschen und sie anderen mitzuteilen. Wann wird es mir beschieden sein, alle diese zahlreichen Erscheinungen zu erfassen, sie bei ihrer Zerstreutheit zu sammeln und zu erkennen, was uns jetzt noch verborgen ist? Es drängt mich das Alter und macht mir die Jahre zum Vorwurf, die ich unter sinnlosen Bestrebungen versäumt habe. Um so mehr müssen wir jetzt vorwärtsdrängen und den Verlust der schlecht ausgenutzten Zeit durch stärkere Anstrengung gutmachen. Die Nacht muß zum Tage hinzugenommen werden, die Alltagsbeschäftigungen müssen zurücktreten. Die Sorge für das ferne Erbgut muß zurückgestellt werden. Man muß ganz für sich Zeit haben und zur Betrachtung seiner selbst wenigstens am Lebensende kommen. So muß man verfahren, sich selbst antreiben und sich immer wieder die Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit zum Bewußtsein bringen. So wird verlorene Zeit durch sorgfältige Ausnutzung der Gegenwart wiedergewonnen. Die zuverlässigste Wandlung zum Guten erfolgt aus dem Bedauern über frühere Versäumnisse. Es wächst das [212]Selbstvertrauen, wenn man sich zwar immer wieder die Größe des Unternehmens vor Augen führt, aber nur daran denkt, wieviel Zeit uns noch für die Lösung der Aufgabe, nicht für die eigene Person zur Verfügung steht.

Manche Menschen haben ihre Kraft darauf verwendet, die Taten auswärtiger Könige zu beschreiben und zu schildern, was die Völker gelitten und unternommen haben. Wieviel besser aber ist es, die eigene Schlechtigkeit zu überwinden als die Schlechtigkeiten Fremder für die Nachwelt festzuhalten!

Wieviel herrlicher ist es, die Werke der Götter zu feiern, als die Raubzüge eines Philipp oder Alexander! Wieviel besser ist es, zu untersuchen, welche Taten eines Menschen würdig sind, als festzustellen, zu welchen Taten Menschen fähig gewesen sind! Wieviel besser ist es, denen, die dem Schicksal vertrauen, zu zeigen, daß nichts Dauerhaftes an seinen Gaben ist, daß alle seine Gaben flüchtiger sind als ein Hauch. Das Schicksal kennt keine Sicherheit. Es liebt, Trauer an die Stelle der Freude zu setzen und beide zu mischen. Daher soll niemand zum Glück Zutrauen haben, aber auch niemand im Unglück verzagen. Das Los fällt bald auf diese, bald auf jene Seite. Was frohlockst du? Du weißt nicht, wo das Glück, das dich in die Höhe hob, dich verlassen wird. Es wird enden nach seinem Gesetz, nicht, wann du willst. Was bist du niedergeschlagen? Du bist tief gestürzt, jetzt beginnt der Wiederaufstieg. Widrige Erlebnisse können sich zum Guten wenden und Wunschträume ins Schlimme verkehren. So soll man auf die Wechselfälle des Lebens achten, nicht nur im Privatleben, das nur leichten Schwankungen unterliegt, sondern auch im öffentlichen Leben. Königreiche entstanden aus dem Nichts [213]und erhoben sich über ihre Bedrücker, alte, blühende Reiche stürzten zusammen, ungezählte Reiche wurden von anderen vernichtet: Gott erhebt die einen zu schwindelnder Höhe und stürzt die anderen. Unsanft wirft er sie herab vom Gipfel der Macht, so daß nicht einmal ein Rest von ihnen übrigbleibt.

Wir halten dies alles für groß, weil wir selbst klein sind. Vieles ist nicht von Natur groß, sondern erscheint nur so infolge der Niedrigkeit unseres Standpunktes. Was ist groß am Menschen? Nicht, daß er mit seinen Flotten die Meere erfüllt und am Gestade des Roten Meeres seine Feldzeichen aufpflanzt, nicht, daß er auf der Suche nach Unbekanntem auf dem Ozean umherirrt, weil er auf dem Festland nicht genug Unrecht tun kann – sondern groß ist die klare Beurteilung alles dessen und die Überwindung der eigenen Fehler. Keinen größeren Sieg kann man erringen.

Unzählige Menschen haben Völker und Städte beherrscht, ganz wenige nur sich selbst.

Was ist groß? Sich über die Drohungen und Versprechungen des Schicksals erheben, nichts des Hoffens für wert halten. Welchen Wert hat das alles, was du begehrst? Wenn du dich nach der Beschäftigung mit göttlichen Dingen wieder einmal den menschlichen Sorgen zuwendest, wirst du ebenso geblendet sein, wie jemand, der aus hellem Sonnenlicht in tiefen Schatten tritt. Was ist groß? Schicksalsschläge froh ertragen können, was auch immer geschehen mag, so hinnehmen, als ob du gewollt hättest, daß es so käme. Was ist groß? Wenn man im Unglück tapfer und zäh aushält, wenn man den Überfluß nicht nur ablehnt, sondern ihm geradezu feindlich gegenübersteht, wenn man nicht tollkühn ist, aber auch nicht feige, wenn man nicht auf Geschenke des Schicksals wartet, [214]sondern sein Geschick selbst in die Hand zu nehmen weiß, wenn man bereit ist, ohne Furcht und Verwirrung im Glück und Unglück vorwärtszuschreiten und wenn man sich nicht durch den Lärm des Unglücks und auch nicht durch den Glanz des Glückes verwirren läßt.

Was ist groß? Keinem schlechten Gedanken Raum geben und seine reinen Hände zum Himmel erheben, nichts begehren, was jemand hergeben und verlieren müßte, damit es dir zufällt, sondern nur das wünschen, was man wünschen kann, ohne sich jemand zum Feinde zu machen: edle Gesinnung – alles übrige aber, was den Sterblichen für groß gilt, auch wenn es der Zufall ins Haus bringt, so betrachten, als ob es ebenso schnell vergehen wird, wie es kam.

Was ist groß? Sich weit über alle Zufälligkeiten erheben, sich zum Bewußtsein bringen, daß man ein Mensch ist, und wissen, wenn man glücklich ist, daß dies nicht lange währen wird, wenn man unglücklich ist, daß man dies nur insoweit ist, als man es zu sein glaubt. Was ist groß? Sich nicht ans Leben klammern. So wird man frei – nicht nach dem bürgerlichen Recht, sondern nach dem Gesetz der Natur. Frei ist, wer der eigenen Knechtschaft entfloh. Sein eigener Sklave zu sein, ist die schlimmste Knechtschaft. Sie abzuschütteln ist leicht, wenn du keine großen Ansprüche mehr stellst, wenn du nicht mehr auf Vergeltung deiner Verdienste rechnest, wenn du dir vor Augen führst, wer du bist und wie lange du zu leben hast, auch wenn du noch jung bist, wenn du dir sagst: Was ereifere ich mich, was keuche ich, wozu bringe ich mich in Schweiß? Wozu laufe ich auf dem Lande oder in der Stadt umher? Um nichts Großes geht die Anstrengung und nicht lange.

[215]

Hierbei mag uns die Betrachtung der Natur von Nutzen sein. Erstens wenden wir uns ab von allem Niederen, dann aber befreien wir den Geist aus der Fessel des Körperlichen, wozu große Anstrengung nötig ist, schließlich wird der Scharfsinn, der in der Stille wissenschaftlicher Arbeit geübt wird, auch im praktischen Leben nicht wertlos sein.

VON DEN HIMMLISCHEN LICHTERSCHEINUNGEN

Derselbe Unterschied, mein bester Lucilius, der zwischen der Philosophie und den übrigen Zweigen der Wissenschaft besteht, ist auch innerhalb der Philosophie nachweisbar zwischen dem Abschnitt, der sich mit den Menschen und dem, der sich mit den Göttern beschäftigt. Erhabener ist dieser, kühner und anspruchsvoller. Er begnügt sich nicht mit dem, was sichtbar ist, er vermutet, daß es noch etwas Größeres und Schöneres gibt außerhalb der Grenzen der Sichtbarkeit. Zwischen beiden Abschnitten der Philosophie ist also ein Unterschied wie zwischen Mensch und Gott. Der eine Abschnitt zeigt uns, wie man auf Erden leben soll, der andere, was am Himmel geschieht. Der eine stellt unsere Irrtümer richtig und schafft Klarheit über die Wechselfälle des Lebens. Der andere aber geht weit hinaus über diese Welt der Dunkelheit, in der wir uns bewegen, entreißt uns der Finsternis und führt uns dahin, woher das Licht kommt.

Wahrlich, dann bin ich der Allnatur dankbar, wenn ich sie nicht von der gewöhnlichen Seite sehe, sondern in ihre Geheimnisse eindringen darf und erfahre, aus welchem Stoff das Universum besteht, wer sein Urheber und Beschützer ist; von welcher Art Gott ist, [216]ob er ganz in sich versunken ist oder sich manchmal auch uns zuwendet, ob er täglich neue Werke vollbringt oder nur einen Schöpfungsakt vollbrachte, ob er ein Teil der Welt oder mit der Welt identisch ist, ob er auch heute noch Entscheidungen treffen und vom Schicksalsgesetz abweichen kann oder ob es als Herabsetzung seiner Hoheit anzusehen ist und als Bekenntnis eines Irrtums, wenn er etwas geschaffen hat, das der Änderung bedarf. – Wenn ich nicht zu solcher Betrachtung zugelassen werden soll, dann lohnt es sich nicht, geboren zu sein.

Weshalb sollte ich mich denn sonst freuen, unter den Lebenden zu weilen? Etwa, weil ich Speise und Trank zu mir nehmen kann? Nimm das unschätzbare Gut solcher philosophischen Betrachtungen weg, und das Leben ist nicht mehr der Mühe und Anstrengungen wert.

Wie verächtlich ist der Mensch, der sich nicht über das Menschliche erhebt!

Was schaffen wir Großes, wenn wir mit unseren Trieben kämpfen? Selbst wenn wir siegen, bändigen wir nur Ungeheuer. Was denken wir groß von uns, weil wir nicht so sind wie die schlimmsten Übeltäter? Ich sehe keinen Grund zur Selbstzufriedenheit bei einem genesenden Krankenhaus-Insassen; denn es ist ein großer Unterschied zwischen kraftvoller Gesundheit und leidlichem Befinden. Deine Mienen sind nicht verstellt, deine Rede ist nicht von fremdem Willen diktiert, deine Gesinnung ist offen. Habsucht, die sich selbst vorenthält, was sie anderen raubte, liegt dir fern; ebenso bist du frei von Verschwendungssucht, die das Geld, das auf schändliche Weise vertan wurde, auf noch schändlichere wieder hereinbringt. Ehrgeiz liegt dir fern, der dich zu hoher Würde nur durch [217]viele unwürdige Situationen führt. Du hast die schlimmsten Fehler abgelegt. Nichts hast du bisher erreicht. Vieles hast du überwunden, dich selbst aber noch nicht. Die sittliche Vollkommenheit aber, die wir anstreben, ist großartig, nicht, weil es an sich ein Glück ist, vom Schlechten frei zu sein, sondern weil sie uns geistig erleichtert, zur Erkenntnis himmlischer Vorgänge vorbereitet und uns würdig macht, in Beziehungen zur Gottheit zu treten. Dann ist der höchste Gipfel menschlichen Geschickes erreicht, wenn sich der Mensch nach Überwindung alles Schlechten in die Höhe erhebt und ins Innere der Natur blickt. Wer sich zwischen den Sternen bewegt, kann nur noch lächeln über die kostbaren Fußböden der Reichen und die ganze Erde mit ihrem Gold, mag es ausgegraben und zu Geld geprägt sein oder in der Tiefe für die Habsucht späterer Geschlechter aufgespart ruhn. Verächtlich erscheinen die Hallen und elfenbeingetäfelten Decken, die Säulenwälder und die Flüsse, die man durch die Wohnungen leitet, dem Menschen, der die ganze Welt durchwandert hat und die Erde von oben betrachtet, wie winzig sie ist und größtenteils vom Meere bedeckt, wie selbst der Teil, der aus dem Meere herausragt, unwirtlich ist, dürr oder vereist. Er sagt sich: Das also ist das Pünktchen, das sich so viele Völker mit Feuer und Schwert teilen! Wie lächerlich sind die Bezeichnungen der Sterblichen! Wenn man den Ameisen Menschenverstand gäbe, würden nicht auch sie ein Stückchen Land in viele Provinzen teilen?

Dort oben aber sind ungeheure Weiten, von denen der Menschengeist Besitz ergreifen kann, und zwar dann, wenn er nur wenig Erdenschwere mit sich trägt, wenn er alles Schmutzige abgetan hat und ledig [218]und leicht sich in stolzer Selbstzufriedenheit emporschwingt. Wenn er sich hierhin erhoben hat, dann gedeiht und wächst er, dann kehrt er wie von Fesseln befreit zu seinem Ursprung zurück. Er darf es als Beweis seiner Göttlichkeit nehmen, daß göttliche Dinge ihn begeistern. Er nimmt Anteil an diesem himmlischen Geschehen wie an einer persönlichen, ihm nicht fremden Angelegenheit. Ruhig betrachtet er den Aufgang und Untergang der Sterne und die verschiedenen Wege, die sie bei ihrer gleichsinnigen Bewegung durchlaufen. Er verfolgt, an welchen Punkten ein jeder Stern den Horizont überschreitet, wo er in der Kulmination den höchsten Punkt seiner Bahn erreicht, wo er untergeht. Als wißbegieriger Beobachter erforscht er dies alles und untersucht es. Warum sollte er es auch nicht untersuchen? Weiß er doch, daß das alles zu ihm in Beziehung steht. Verächtlich schaut er nun auf die Enge seines früheren Wohnsitzes herab. Hier oben lernt er nun, was er lange suchte, hier fängt er an, Gott zu erkennen. Denn was ist Gott? Der Geist des Weltalls.

Dies anzuschauen, sich hierüber Wissen zu erwerben und sich damit intensiv zu beschäftigen, heißt das nicht, sich über seine Sterblichkeit erheben und sich einem besseren Lose verschreiben?

VOM GEWITTER

[Seneca erörtert zuvor Art und Entstehung der Gewitter.]

Ich sehe schon, was du wünschst und verlangst. Du sagst: »Lieber ist es mir, wenn ich die Blitze nicht fürchte, als wenn ich eine wissenschaftliche Erklärung für sie habe. Lehre daher andere, wie sie entstehen. [219]Ich will die Furcht vor ihnen überwinden lernen, nicht über ihre Natur belehrt werden.«

Ich gehorche deiner Mahnung. Verfolge ich doch das Prinzip, allen Tatsachen und wissenschaftlichen Erörterungen etwas Heilsames beizumischen. Ob wir in die Geheimnisse der Natur eindringen, ob wir uns mit den Ereignissen am Himmel beschäftigen, immer müssen wir bemüht sein, uns von unseren schlechten Neigungen zu befreien und innere Festigkeit zu gewinnen. Das haben auch die Gebildeten nötig, die sich nur mit Fragen dieser Art beschäftigen. Wir glauben nicht etwa, hierdurch den Schlägen des Schicksals zu entgehen, die uns von allen Seiten treffen, sondern wir lernen, diese Schläge standhaft und tapfer zu ertragen. Unbesiegt können wir bleiben, aber nicht unbehelligt, auch wenn wir uns manchmal der Hoffnung hingeben, wir könnten unbehelligt bleiben. Wie dies geschehen kann, meinst du. Verachte den Tod, und es wird dir alles verächtlich erscheinen, was zum Tode führt, seien es Kriege, Schiffsunglück, wilde Tiere oder der plötzliche Einsturz von Gebäuden. Was kann durch all dies Unglück Schlimmeres geschehen, als daß der Körper vom Geist getrennt wird? Das aber wird man durch keine Sorgfalt vermeiden können, davor wird uns kein glückliches Geschick und keine Macht der Welt bewahren. Alles andere geschieht, wie es der Lauf des Schicksals jeweils verschieden bestimmt. Sterben aber müssen wir alle, ob wir im Unglück oder im Glück leben. Aber gerade aus unserer verzweifelten Lage heraus gilt es, Mut zu fassen: Selbst die scheuesten Tiere, die von Natur zur Flucht bestimmt sind, wagen trotz ihrer Kampfuntauglichkeit den Kampf, wenn es keinen anderen Ausweg mehr gibt. Am gefährlichsten ist ein [220]Feind, den seine bedrängte Lage kühn macht. Der Kampf aus drängender Notwendigkeit ist stets bei weitem heftiger als der Kampf aus angeborener Tapferkeit, mindestens aber riskiert, wer sich verloren weiß, ebensoviel wie ein Mutiger. Denken wir also, was den Tod betrifft, wir seien verloren – und wir sind es tatsächlich. Es ist so, mein Lucilius, alle sind wir zum Tode bestimmt. Alle diese Menschen, die du siehst, die du dir irgendwo denken kannst, wird die Natur bald abrufen und ins Grab legen. Nicht die Tatsache als solche steht in Frage, sondern nur der Zeitpunkt. Zum gleichen Ziel kommen wir früher oder später. Wäre es aber nicht der Gipfel von Furcht und Dummheit, wenn jemand mit viel Unterwürfigkeit um den Aufschub seines Todes flehen würde? Würdest du den nicht verachten, der sich, wenn seine Hinrichtung schon festgesetzt ist, die Gnade erbittet, als letzter den Nacken beugen zu dürfen? Dasselbe tun wir. Wir halten es für etwas Großes, wenn wir später sterben.

Du Tor, der du so wenig an die Hinfälligkeit deines Daseins denkst, daß du nur dann vor dem Tode schauderst, wenn es donnert. Wirst du denn ewig leben, wenn du dem Blitz entronnen bist? Schwert, Steinschlag, Krankheit bedroht dich. Der Blitz ist nicht die größte, sondern nur die am meisten in die Augen fallende Gefahr für dein Leben.

VOM ERDBEBEN

Bekanntlich, mein Lucilius, ist Pompeji, die berühmte Stadt Kampaniens, bei der das Ufer von Sorrent und Stabiae mit dem Ufer von Herkulaneum zusammenstößt und so ein lieblicher Meerbusen entsteht, [221]durch ein Erdbeben zerstört worden[124]. Auch die umliegende Gegend wurde schwer betroffen. Dies geschah im Winter, der nach Ansicht unserer Vorfahren von solchen Gefahren frei sein soll. Am 5. Februar im Konsulat des Regulus und Verginius ereignete sich dieses Erdbeben, verwüstete Kampanien, das zwar nie vor solchem Unglück sicher war, unversehens durch einen schweren Erdstoß und erfüllte die Menschen mit lähmender Furcht.

Die Ursachen solchen Geschehens zu erforschen, verlangt einmal der Zusammenhang dieses Werkes, dann aber auch der Unglücksfall, der sich kürzlich ereignete. Man muß nach Trost im Schrecken suchen und die ungeheure Furcht zu mindern bestrebt sein. Denn was soll uns noch sicher erscheinen, wenn die Erde selbst erschüttert wird und der feste Boden ins Wanken gerät?

Es gibt Leute, die diese Todesart besonders fürchten, wenn sie mit dem Boden, auf dem sie stehen, in die Tiefe stürzen und lebend aus dem Kreise der Lebenden gerissen werden, als ob nicht jedes Leben zu solchem Ende führte. Unter anderem ist dies ein bemerkenswertes Zeichen der Gerechtigkeit der Natur, daß wir, wenn es ans Sterben geht, alle gleich sind. Es ist gleichgültig, ob mich ein Stein trifft oder ob ich von einem ganzen Berg erdrückt werde, ob das Gewicht eines einzigen Hauses auf mich stürzt und ich mein Leben unter diesem kleinen Staubhaufen aushauche, oder ob ich unter den Trümmern des ganzen [222]Erdkreises verschwinde. Es ist gleichgültig, wie groß das Getöse ist, das meinen Tod begleitet. Er wird überall gleich sein.

Daher sollten wir wieder Mut fassen gegenüber diesem Unglück, das man weder vermeiden noch voraussehen kann, und nicht auf die hören, die Kampanien verlassen wollen und nach diesem Unglücksfall auswandern und beteuern, sie würden sich nie wieder in diese Gegend wagen. Wer garantiert ihnen, daß anderswo der Erdboden fester steht?

Alles ist dem gleichen Lose unterworfen, und was noch nicht erschüttert wurde, kann noch erschüttert werden. Wir irren nämlich, wenn wir glauben, irgendein Teil der Erde sei ausgenommen und von dieser Gefahr verschont. Alles unterliegt dem gleichen Gesetz, und alles, was die Natur schuf, ist der Erschütterung unterworfen.

Auch wird es zweckmäßig sein, davon auszugehen, daß die Götter nichts von dem allen bewirken und daß die Veränderungen am Himmel und auf der Erde nicht durch den Zorn von Gottheiten zustandekommen. Diese Katastrophen haben ihre besonderen Ursachen, und ihr Wüten geschieht nicht auf höheren Befehl. Uns aber in unserer Unkenntnis erscheint dies alles schrecklich, besonders, wenn die Seltenheit des Ereignisses noch zur Vermehrung der Furcht beiträgt. Wenn nun der Grund unserer Furcht darin liegt, daß wir über die wahren Ursachen der Katastrophen nichts wissen, ist es dann nicht der Mühe wert, sich um wissenschaftliche Erkenntnis zu bemühen, um die Furcht loszuwerden?

[Seneca erörtert nun ausführlich die verschiedenen Theorien, die antike Philosophen und Naturforscher zur Erklärung der Erdbeben aufgestellt haben, und schließt das Buch mit folgenden Worten:]

[223]

Soviel, bester Lucilius, über die Ursachen der Erdbeben. Die folgenden Ausführungen sollen nun dazu dienen, unser Selbstvertrauen zu festigen. Denn wichtiger ist für uns die Aufgabe, tapfer zu werden als gelehrt. Aber eines kann ohne das andere nicht geschehen. Denn nur von den Wissenschaften und von der Betrachtung der Natur kommt uns geistige Kraft. Wen hat denn nicht dieser Unglücksfall in Pompeji gegen alle Möglichkeiten gewappnet und überlegen gemacht? Warum zittere ich noch vor einem Menschen oder einem wilden Tiere, warum vor Pfeil und Lanze? Erwarten mich doch größere Gefahren: Durch Blitze und Erdbewegungen und überhaupt durch einen großen Teil der Naturerscheinungen werden wir bedroht.

Mit hohem Mute sollen wir den Tod herausfordern, mag er uns mit gewaltsamem und ungeheurem Aufwand anpacken oder nur zu dem alltäglichen und gewöhnlichen Ende führen. Es hat nichts zu sagen, wenn er unter drohenden Erscheinungen kommt, und wenn der Aufwand, den er gegen uns in Bewegung setzt, noch so groß ist. Was der Tod von uns fordert, ist nur sehr wenig: Hohes Alter kann uns das nehmen, Ohrenschmerz, innere Stauung schädlicher Säfte, eine Speise, die der Magen nicht verdauen kann, und eine leichte Verletzung am Fuß. Das Menschenleben ist hinfällig, aber etwas Gewaltiges ist die Verachtung des Lebens. Wer das Leben verachtet, wird in Ruhe zuschauen, wie das Meer von allen Winden aufgewühlt wird oder wie sich durch eine kosmische Störung der ganze Ozean aufs Land ergießt. In Ruhe wird er das schaurige und schreckliche Bild des Gewitterhimmels betrachten, mag auch der Himmel zerbersten und seine Feuerzeichen in den allgemeinen [224]und den eigenen Untergang hineinsenden. In Ruhe wird er den klaffenden Erdboden mit seinen tiefen Spalten betrachten, auch wenn durch den Erdriß die Reiche der Unterwelt aufgedeckt würden. Er wird furchtlos über dem Abgrund stehen und vielleicht gerade dorthin selbst hinabspringen, wohin er fallen sollte. Wie sollte es für mich von Wichtigkeit sein, welchen Umfang die Katastrophe hat, durch die ich umkomme? Das Umkommen selbst ist nichts Großes. Wollen wir aber glücklich sein, soll uns nicht Furcht vor Göttern, Menschen und Umständen umherjagen, wollen wir das Schicksal verachten, ob es uns nun überflüssige Gaben verheißt oder Drohungen gegen uns erhebt, die wir nicht ernst nehmen müssen, wollen wir unser Leben in Frieden hinbringen und mit den Göttern selbst in der Frage des Glücks in Wettstreit treten, dann müssen wir die Seele reisefertig halten. Mögen Nachstellungen oder Krankheiten mein Leben fordern, feindliche Schwerter oder das geräuschvolle Zerbersten ganzer Inseln, der Untergang von Ländern oder eine gewaltige Feuersbrunst, die Stadt und Land in gemeinsamem Ende vereint – wer mein Leben rauben will, der möge es sich nehmen. Es bleibt nur meine Pflicht, die scheidende Seele zu ermahnen und sie mit guten Wünschen zu entlassen: Geh deinen Weg in tapferer Haltung und sei glücklich dabei! Gib ohne Zaudern dein Leben zurück; denn nicht die Tatsache als solche, sondern nur der Zeitpunkt steht in Frage. Du tust nur, was du über kurz oder lang doch wirst tun müssen. Lege dich nicht aufs Bitten, fürchte dich nicht und fliehe auch nicht, als gerietest du in eine Gefahr: Das Gesetz der Natur, die dich schuf, vollzieht sich an dir. Es wartet deiner ein besserer und sicherer Ort. [225]Wenn das Sterben leicht ist, was fürchten wir dann? Ist es aber schwer, dann mag es lieber einmal geschehen als immer drohend bevorstehen.

Helike und Buris[125] sind ganz vom Meere verschlungen worden, und ich fürchte für meinen kleinen Körper? Über zwei Städten fahren die Schiffe dahin (von diesen beiden wissen wir es, weil die literarische Überlieferung uns dies kund tut: wie viele andere Städte aber sind andererorts versunken, wie viele Völker hat die Erde oder das Meer verschlungen!) – ich aber sollte mich gegen mein Ende wehren, wo ich doch weiß, daß ich nicht ewig bin? Ich sollte mich vor dem letzten Atemzug fürchten, obwohl ich weiß, daß allem ein Ziel gesetzt ist?

Sprich dir also, mein Lucilius, nach Kräften Mut zu gegen die Furcht vor dem Tode. Sie ist es, die uns zur Niedrigkeit verdammt. Sie ist es, die das ängstlich behütete Leben selbst unruhig und wertlos macht. Sie macht großes Wesen von all diesen Naturerscheinungen, den Erdbeben und Blitzen. Aufrecht wirst du all das ertragen, wenn du bedenkst, daß kein Unterschied ist zwischen wenig und viel Zeit. Es sind nur Stunden, die wir verlieren; nimm an, es seien Tage, Monate, Jahre. Wir verlieren, was doch einmal vergehen würde. Ich bitte dich, was macht es aus, ob ich bis dahin komme. Die Zeit strömt dahin und läßt auch alle die einmal im Stich, die gerne alt werden möchten. Was kommen wird, gehört mir nicht und auch nicht, was gewesen ist. An einem Punkte der eilenden Zeit hänge ich, und es ist ein großes Ding, sich zu bescheiden. Treffend hat der weise Laelius einmal zu einem gesagt, der behauptete, er habe sechzig Jahre [226]auf dem Rücken: Du sprichst von den sechzig Jahren, die du gerade nicht hast.

Wollen wir nicht gerade daraus, daß wir nur die bereits verstrichenen Jahre zählen, die Eigenart des stets ungreifbaren Lebens erkennen lernen und den Umstand, daß die Zeit nie zu fassen ist? Halten wir diese Erkenntnis fest und sagen wir uns immer wieder: Wir müssen einmal sterben. Wann? – Was interessiert dich das? Der Tod ist Naturgesetz, Tribut und Pflichtopfer der Sterblichen, aber auch ein Heilmittel gegen alle Übel. Wer ihn fürchtet, wünscht ihn im Grunde herbei.

Laß alles andere beiseite, mein Lucilius, und richte dein Streben dahin, daß der Name des Todes seinen Schrecken für dich verliert. Mach ihn dir durch häufiges Nachdenken vertraut, damit du, wenn es die Umstände fordern, ihm sogar entgegengehen kannst.

VON DEN KOMETEN

Wohl niemand ist so träge, stumpfsinnig und erdgebunden, daß er sich nicht für die Vorgänge am Himmel interessiert und sich ihnen nicht mit ganzem Herzen zuwendet, besonders wenn da ein neues Wunder am Himmel aufleuchtet. Denn solange die gewohnten Ereignisse ablaufen, verschwindet ihre Größe in der Alltäglichkeit. Wir sind so veranlagt, daß die alltäglichen Erlebnisse, auch wenn sie Bewunderung verdienen, an uns vorübergehen. Dagegen bedeuten uns auch ganz nebensächliche Ereignisse, wenn sie ungewohnt sind, ein angenehmes Schauspiel. So ruft die Konjunktion zweier Sterne, an denen sich die Schönheit des unendlichen Alls offenbart, das Volk nicht zusammen. Wenn sich jedoch am Gewohnten etwas [227]ändert, dann ist jedermanns Blick zum Himmel gerichtet. Die Sonne betrachtet man nur, wenn sie verdunkelt wird, den Mond nur während der Mondfinsternis. Dann ist die Erscheinung Stadtgespräch, dann äußert jeder in törichtem Aberglauben seine Befürchtungen. Wieviel großartiger aber ist es, daß die Sonne soviel Teile der Ekliptik durchläuft, wie das Jahr Tage hat, daß ihr Kreislauf mit dem Jahr zusammenfällt, daß sie von der Sonnenwende ab tiefer steht, um die Tage zugunsten der Nächte abzukürzen, daß sie die Sterne überstrahlt, daß sie die Erde nicht verbrennt, obwohl sie soviel größer ist als diese, sondern daß sie die Erde fürsorglich hegt und ihre Strahlungswärme bald verstärkt, bald vermindert. Dennoch nehmen wir davon nicht Notiz, solange alles ordnungsgemäß abläuft.

Wenn aber etwas gestört ist oder ein ungewöhnliches Gestirn aufleuchtet, dann fragen wir, dann zeigen wir darauf hin. So sehr entspricht es unserer Natur, mehr das Neue als das Großartige zu bewundern.

Dasselbe geschieht mit den Kometen. Wenn eine solche seltene Feuererscheinung von ungewöhnlicher Gestalt erscheint, will jeder über ihre Natur etwas wissen, vergißt alles andere und fragt ahnungslos, ob er sich über die außergewöhnliche Erscheinung wundern oder ob er sich davor fürchten soll. Denn es fehlt nicht an Leuten, die Schrecken verbreiten und die behaupten, daß eine solche Erscheinung eine schlimme Vorbedeutung habe. Daher fragen die Menschen und wollen wissen, ob es sich um ein übles Vorzeichen oder nur um eine astronomische Erscheinung handelt. Tatsächlich kann man über nichts Großartigeres und Schöneres Untersuchungen anstellen als über die Natur der Sterne und Planeten, ob sie zusammengeballtes [228]Feuer sind, was uns der Augenschein ebenso wie die von ihnen ausgehende Licht- und Wärmestrahlung bestätigt, oder ob sie nicht Feuerbälle sind, sondern feste materielle Körper, die durch feurige Gegenden hindurchziehen und nicht aus sich, sondern von ihrer Umgebung her Glanz und Wärme nehmen.

Auch wird es zur gründlichen Erforschung dieser Frage beitragen, wenn wir in Erfahrung bringen, ob die Welt sich um die stehende Erde dreht oder ob sich die Erde dreht, während die Welt stillsteht. Es gibt nämlich Forscher, die behaupten, daß wir es seien, die sich ohne unser Wissen drehen, daß Aufgang und Untergang der Sterne nicht durch Bewegung des Himmels geschähe, sondern daß wir selbst die Ursache dieses Aufgangs und Untergangs seien. Diese Frage verdient eingehende Betrachtung, damit wir wissen, in welchem Zustande wir uns befinden, ob in sicherster Ruhe oder in stärkster Bewegung, ob Gott um uns herum alles bewegt oder uns selbst.

Wenn mich jemand hier fragt, warum sich nicht, wie bei den Planeten, auch die Bahn dieser Kometen in sich schließt, so werde ich ihm antworten: Es gibt viele Dinge, deren Existenz uns bekannt ist, deren nähere Beschaffenheit uns aber unbekannt ist. Jeder wird zugeben, daß wir ein geistiges Wesen in uns tragen, unter dessen Leitung wir handeln oder gehemmt werden. Die nähere Beschaffenheit dieses geistigen Wesens, das unser Leiter und Gebieter ist, wird man jedoch ebensowenig zeigen können wie seinen Sitz.

Der eine sagt, das geistige Wesen des Menschen sei ein Hauch, der andere hält es für eine gewisse Harmonie, wieder einer für eine göttliche Kraft und einen [229]Teil Gottes, ein anderer für den feinsten Teil der Lebenskraft, noch ein anderer für eine unkörperliche Kraft. Es wird Leute geben, die behaupten, das geistige Wesen des Menschen liege im Blut, andere sagen, es sei die Körperwärme.

Der Menschengeist kann aber erst recht nicht über andere Dinge ins Klare kommen, solange er die Untersuchungen über sich selbst noch nicht abgeschlossen hat. Ist es also verwunderlich, daß wir die Kometen, dieses seltene Weltenschauspiel, nicht mit bestimmten Gesetzen erfassen können und über ihre Herkunft und ihr Verbleiben nichts wissen, wenn sie auch manchmal in gewaltigen Zeitabständen wiederkehren?

Noch sind es keine 1500 Jahre, daß man in Griechenland den Sternen Zahl und Namen gab, und noch gibt es viele Völker, die den Himmel nur dem Augenschein nach kennen, die noch nicht wissen, wie eine Mondfinsternis zustandekommt, wie eine Sonnenfinsternis. Hierfür hat die forschende Überlegung bei uns erst kürzlich einleuchtende Erklärungen gefunden. Es wird eine Zeit kommen, wo auch das, was jetzt noch verborgen ist, nach Ablauf langer Jahre durch die Genauigkeit der Beobachtung ans Licht gebracht werden wird. Zur Erforschung derartig großer Probleme genügt ein Zeitalter nicht, würde es sich auch ganz der Betrachtung des Himmels widmen. Was ist aber jetzt zu erwarten, da wir die wenigen Jahre unseres Lebens zwischen wissenschaftlichen Studien und der Befriedigung unserer Laster ungleich verteilen? So werden diese Fragen erst von späteren Geschlechtern gelöst werden. Es wird eine Zeit kommen, in der man sich wundern wird, daß uns so offensichtliche Tatsachen unbekannt waren. Es wird also auch einmal jemand [230]zeigen, in welchen Bahnen die Kometen laufen, warum sie getrennt von den übrigen Wandelsternen umherirren, wie groß sie sind und welche physische Beschaffenheit sie haben. Seien wir zufrieden mit dem, was wir gefunden haben. Einiges mögen auch spätere Generationen zur Erforschung der Wahrheit beitragen.

 

 

[231]

VOM ZORN

Du hast an mich das Ersuchen gerichtet, Novatus, ich solle mich in einer Schrift darüber äußern, wie man den Zorn besänftigen könne. Mit Recht fürchtest du gerade diese Leidenschaft wegen ihrer Häßlichkeit und Raserei.

Manche weise Männer haben den Zorn als eine vorübergehende Geistesstörung bezeichnet. Der Zornige ist nämlich gleichfalls nicht Herr seiner selbst, läßt alle sittliche Würde fallen und zerreißt alle Bande der Freundschaft. Bei allem, was er beginnt, zeigt er Hartnäckigkeit und Überspanntheit. Er verschließt sich vernünftiger Überlegung und wohlmeinenden Ratschlägen, er regt sich aus nichtigen Anlässen auf und hat keinen Blick für Recht und Wahrheit. Sein Verhalten gleicht dem Einsturz von Gebäuden, die über dem, was sie erdrückt haben, selbst zusammenstürzen.

Willst du aber die feste Überzeugung gewinnen, daß die vom Zorn besessenen Menschen nicht bei Sinnen sind, so betrachte ihre äußere Erscheinung. Es gibt bestimmte Merkmale, an denen man Wahnsinnige erkennt: der vermessene, drohende Gesichtsausdruck, die finstere Stirn, der wilde Blick, der hastige Gang, die Unruhe der Hände, die veränderte Gesichtsfarbe, das schnelle, gewaltsame Atemholen. Dieselben Anzeichen findet man auch bei zornigen Menschen. Man ist sich nicht recht klar, ob dieser Charakterfehler mehr moralisch verwerflich oder häßlich ist.

[232]

Daß der Zorn durch die Vorstellung erlittenen Unrechts erregt wird, steht außer Zweifel. Zu untersuchen bleibt noch, ob er auf Grund dieser Vorstellung unmittelbar und ohne Zutun unseres Willens ausbricht oder mit dessen Zustimmung.

Ich bin der Ansicht, daß sich der Zorn allein nichts herausnehmen kann, sondern nur mit Zustimmung unseres Willens.

»Wohin zielt diese Untersuchung?« – fragst du.

Sie will uns das Wesen des Zorns erkennen lassen. Wenn er nämlich unwillkürlich entsteht, dann wird er sich niemals der vernünftigen Überlegung beugen. Alle unwillkürlichen Empfindungen lassen sich nämlich nicht besiegen, man kann sich ihnen nicht entziehen; ich denke etwa an den Schauder, wenn man mit kaltem Wasser bespritzt wird, oder an den Ekel bei bestimmten Berührungen. Bei schlimmen Nachrichten sträuben sich die Haare, bei unzüchtigen Worten tritt uns die Schamröte ins Gesicht, wenn wir in einen Abgrund blicken, packt uns Schwindel. Alle diese Reaktionen stehen nicht in unserer Macht. Keine vernünftige Überlegung kann bewirken, daß sie nicht eintreten. Der Zorn aber kann durch moralische Vorschriften überwunden werden. Er ist nämlich ein freiwilliger Charakterfehler und nicht eine Reaktion, die im Wesensaufbau des Menschen begründet ist.

Man sagt wohl, ein moralisch vollkommener Mensch müsse dem sittlich Guten zugetan, aber auch voll zorniger Ablehnung gegen das Schlechte sein. Der Weise wird jedoch niemals aufhören können zu zürnen, wenn er einmal damit angefangen hat. Überall drängen sich uns Verbrechen und Laster auf. Wenn der Weise so sehr zürnen sollte, wie es der Niederträchtigkeit [233]der Verbrechen entspräche, dann müßte er nicht zürnen, sondern dem Wahnsinn verfallen.

Bestärke dich lieber in der Überzeugung, daß man Verirrungen gegenüber nicht in Zorn geraten soll. Ist es denn berechtigt, Leuten, die im Dunkeln fehltreten, zu zürnen?

Zu den Unvollkommenheiten unseres sterblichen Daseins gehört eben dieses geistige Dunkel, nicht allein der Zwang zum Irrtum, sondern noch die Lust an der Verirrung. Um nicht einzelnen Menschen gegenüber in Zorn zu geraten, ist es gut, allen Menschen im voraus zu verzeihen. Dem ganzen Menschengeschlecht gegenüber muß man Nachsicht walten lassen.

Man wirft jedoch ein: »Der Zorn läßt sich nicht gänzlich ausrotten. Das wäre gegen die menschliche Natur!«

Es gibt aber keine Schwierigkeiten und Hindernisse, die der Wille des Menschen nicht überwinden könnte. Was der Mensch sich auferlegt, kann er auch durchführen. Manche Menschen haben erreicht, daß sie niemals lachen, manche haben gelernt, auf dünnen, schräg gespannten Seilen zu laufen. Tausend andere Beispiele könnte man anführen, bei denen zähe Beharrlichkeit alle Schwierigkeiten überwand.

Allen diesen oben erwähnten Leuten fiel für ihre hartnäckige Mühe kein oder kein angemessener Lohn zu – denn was erreicht einer schon, der sich übt, auf gespannten Seilen zu gehen! Dennoch hält er mit Ausdauer bis zum Ende durch bei einer Beschäftigung, für die er wenig Lohn zu erwarten hat. Und wir sollten uns nicht mit Geduld wappnen, da uns eine so hohe Belohnung erwartet: Die unerschütterliche Ruhe inneren Glücks?

Wir sollten den Zorn nicht zu verteidigen suchen und [234]uns auch keine Entschuldigung für unsere mangelnde Selbstbeherrschung ausdenken, indem wir uns einreden, der Zorn sei nützlich oder unvermeidlich. Welchem Charakterfehler würde es schließlich an einem Verteidiger fehlen?

 

Nachdem wir unsere Untersuchungen über den Zorn abgeschlossen haben, kommen wir nun zu den Heilmitteln, die gegen ihn anzuwenden sind. Zweierlei ist meiner Meinung nach dabei besonders wichtig: daß wir nicht in Zorn geraten und daß wir im Zorn kein Unrecht tun.

Ein leidenschaftliches Gemüt ist besonders stark zum Zorn veranlagt. Diese natürliche Anlage umzustimmen, ist schwierig, und es gelingt nicht, die einmal von Geburt gegebene Mischung der Elemente zu ändern. Den meisten Erfolg wird es noch haben, wenn man schon die Kinder durch eine heilsame Erziehung gehen läßt. Diese Lenkung ist aber schwierig, weil wir uns einmal bemühen müssen, den Zorn in ihnen nicht zu nähren, zum anderen aber auch die Entwicklung ihrer Anlagen nicht zu hemmen. Es bedarf hierzu sorgsamer Beobachtung. In der Freiheit wächst der Unternehmungsgeist, durch sklavische Unterdrückung dagegen wird er erstickt. Der jugendliche Mensch wird geistig beflügelt, wenn man ihn lobt und zu gesundem Selbstvertrauen führt. Aber eben daraus können auch Mangel an Selbstbeherrschung und Zorn erwachsen. Die erzieherische Lenkung muß also einen Mittelweg wählen. Sie muß bald die Zügel straffer ziehen, bald die Sporen einsetzen.

Keine demütigende sklavische Zumutung soll dem jungen Menschen aufgegeben werden. Auch von Liebedienerei ist er fernzuhalten. Nur die Wahrheit [235]soll er zu hören bekommen. Manchmal soll er Furcht haben, immer soll er Ehrfurcht in sich tragen, vor Älteren soll er sich stets achtungsvoll erheben.

Nichts soll er durch Zornausbrüche durchsetzen. Was man ihm versagte, solange er weinte, soll man ihm gewähren, wenn er sich beruhigt hat. Er mag den Reichtum seiner Eltern vor Augen haben, aber das Verfügungsrecht darüber soll er nicht besitzen. Wegen unrechter Handlungen sollen ihm Vorhaltungen gemacht werden.

Es wird von Bedeutung sein, den Kindern ruhige Lehrer und Erzieher zu geben. Ein zartes, jugendliches Gemüt schließt sich an die Nächsten an und wird ihnen ähnlich. Das Betragen der Jünglinge ist ein Spiegelbild des Charakters ihrer Ammen und Erzieher.

Doch das alles gilt nur für unsere Kinder. Bei uns selbst jedoch ist bezüglich Anlage und Erziehung der rechte Zeitpunkt für Strafpredigten und Vorschriften verpaßt. Nur die weitere Charakterentwicklung kann noch in rechte Bahnen gelenkt werden. Die Ursachen des Zornes müssen schon in der Entstehung bekämpft werden. Die Ursache des Zornes aber ist die Vorstellung erlittenen Unrechts, der man nicht leicht Glauben schenken soll. Auch wenn die Umstände eindeutig und klar liegen, soll man nicht sogleich beipflichten. Man muß sich Zeit lassen. Die Zeit bringt die Wahrheit an den Tag. Allen Beschuldigungen gegenüber soll man sein Ohr verschließen. Einen Charakterfehler der menschlichen Natur müssen wir kennen und uns vor ihm hüten: Wir glauben bereitwillig, was wir mit Unwillen hören, und wir zürnen, bevor wir uns ein klares Urteil gebildet haben. Wir lassen uns nicht nur durch Anschuldigungen verleiten, sondern schon durch unbegründeten Verdacht, und wir [236]zürnen unschuldigen Menschen, deren Miene oder Lachen wir falsch auslegten. Man soll daher einen Abwesenden gegen sich selbst verteidigen und Zurückhaltung im Zorn üben. Eine aufgeschobene Bestrafung kann immer noch nachgeholt, eine vollzogene aber kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden.

Bekannt ist die Geschichte jenes Tyrannenmörders, der vor Vollendung seiner Tat ergriffen und von Hippias[126] gefoltert wurde, damit er seine Mitwisser angäbe. Er nannte die umstehenden Freunde des Tyrannen, von denen er wußte, daß ihnen die Sicherheit des Fürsten besonders am Herzen lag. Der Tyrann ließ sie alle, sobald ihre Namen fielen, töten. So bewirkte der Zorn, daß der Tyrann sich selbst zum Werkzeug des Tyrannenmörders machte und die Hüter seiner Sicherheit mit dem eigenen Schwert erschlug.

Wieviel mehr Vertrauen bewies dagegen Alexander! Als er den Brief seiner Mutter gelesen hatte, in dem sie ihn ermahnte, sich vor dem Gift seines Arztes Philippos zu hüten, trank er den dargereichten Trunk ohne Befürchtungen. Er schenkte, was den Freund anlangte, nur seinem eigenen Gefühl Glauben. Ich muß diese Haltung an Alexander deshalb besonders loben, weil er sehr zum Zorn neigte. Je seltener sich Selbstbeherrschung bei Königen findet, um so mehr verdient sie Lob.

Ebenso verhielt sich C. Caesar, der nach seinem Sieg im Bürgerkrieg große Milde walten ließ. Als ihm nämlich Kapseln in die Hände fielen mit Briefen an Pompejus von Leuten, deren politische Haltung [237]feindlich oder abwartend gewesen war, da verbrannte er sie. Obwohl er für seine Zurückhaltung im Zorn bekannt war, wollte er lieber keine Möglichkeit zum Zorn haben. Er hielt es für die beste Art der Verzeihung, gar nicht zu wissen, was diese Leute sich hatten zuschulden kommen lassen.

Man halte sich von Argwohn und Vermutungen fern. Es sind trügerische Einbildungen, wenn man denkt: »Jener hat mich nicht freundlich genug gegrüßt, jener hat mich nicht zu Tisch gebeten.« Dem Argwohn wird es nie an Beweisen fehlen. Darum ist Unbefangenheit am Platze und wohlwollende Beurteilung der Umstände.

Daraus folgt, daß wir uns durch kleine Unebenheiten nicht aus der Ruhe bringen lassen sollen. Der Diener ist nicht emsig genug, das Trinkwasser ist etwas zu kühl, das Liegebett ist nicht in Ordnung, der Tisch ist nachlässig gedeckt. Sich über solche Kleinigkeiten aufzuregen ist Wahnsinn.

Wenn wir uns über alles ein gerechtes Urteil bilden wollen, dann müssen wir die Überzeugung in uns bestärken, daß niemand unter uns ohne Schuld ist. Meist entspringt die Entrüstung dem Gedanken: »Ich habe nicht gefehlt. Ich habe nichts dergleichen getan.«

Du gestehst es nur nicht ein!

Wer könnte es wagen, von sich zu behaupten, er habe nie gegen ein Gesetz verstoßen? Und wenn es so wäre – welch enge Moral ist es, nur nach dem Buchstaben des Gesetzes gut zu sein! Wieviel weiter ist der Kreis der moralischen Pflichten als die Bestimmungen des Gesetzes! Welche hohen sittlichen Anforderungen stellen liebevolle Gesinnung, Menschlichkeit, Großzügigkeit, Gerechtigkeit und Treue an uns, Forderungen, [238]die auf keiner Gesetzestafel stehen! Aber nicht einmal für die Befolgung dieser ganz engen Norm des rechten sittlichen Verhaltens können wir uns verbürgen. Fremde Charakterfehler sehen wir mit aller Deutlichkeit, unsere eigenen tummeln sich inzwischen hinter unserem Rücken.

Wir werden zurückhaltender werden, wenn wir uns selbst betrachten, wenn wir uns fragen: Haben wir nicht auch schon solchen Fehler begangegn? Ist uns nicht schon ein ähnlicher Irrtum unterlaufen? Haben wir das Recht, solche Vergehen zu verdammen?

Das beste Mittel gegen den Zorn ist der Aufschub. Verlange nicht sofort von einem zornigen Menschen, er solle verzeihen, sondern nur, er solle sich ein Urteil bilden.

Wenn du auch nur wegen einer kleinen Summe einen gerichtlichen Spruch fällen müßtest, du würdest die Sache ohne Zeugen nicht entscheiden, der Zeuge würde ohne Schwur nicht gelten, beiden Teilen würdest du Gelegenheit geben, sich zu äußern. Du würdest ihnen Zeit lassen und sie nicht nur einmal anhören. Wird doch die Wahrheit um so deutlicher, je öfter man sich mit einer Sache beschäftigt. Deinen Freund aber willst du nach dem ersten Eindruck verdammen? Du willst ihm zürnen, bevor du ihn anhörst, bevor du ihn befragt hast, bevor er etwas von seinen Anklägern und seinen angeblichen Vergehen erfahren hat?

Manchmal wird es uns milde stimmen, wenn wir uns überlegen, wieviel Gutes uns der, dem wir zürnen, schon erwiesen hat. So werden Beleidigungen durch Verdienste aufgewogen.

Für manche zornige Menschen ist es, wie Sextius sagt, von Segen gewesen, in einen Spiegel zu schauen. Die [239]gewaltige Veränderung ihres Wesens brachte sie in Verwirrung. Sie kamen sozusagen wieder zu sich und erkannten sich nicht wieder. Aber wie wenig von ihrer wirklichen Häßlichkeit gab doch dieses Spiegelbild wider! Wenn aber das geistige Wesen eines solchen Menschen selbst sichtbar werden und durch die Materie hindurchschimmern könnte, dann würde es uns völlig aus der Fassung bringen, wenn wir es betrachten, so dunkel, so befleckt, so unruhig, so verzerrt, so verschwollen wäre es. Schon jetzt ist die Häßlichkeit noch groß genug, wo sich der Geist doch nur durch Knochen, Fleisch und andere Hindernisse hindurch ausprägen kann. Wie wäre es, wenn er sich ohne alle Hülle zeigen würde?

Du glaubst nicht recht, daß einer durch den Blick in den Spiegel vom Zorn abgeschreckt werden kann? – Warum? Wer an den Spiegel tritt, um sich zu ändern, der hat sich schon geändert.

Kämpfe mit dir selbst! Wenn du den Willen hast, den Zorn zu besiegen, dann wird er dich nicht mehr besiegen können. Der erste Schritt zum Siege aber wird es sein, wenn du ihn im Verborgenen hältst, wenn du ihn nicht ausbrechen läßt. Wir sollten alle Anzeichen des Zornes zurückdrängen und ihn soweit wie möglich im geheimen und verborgenen halten. Das wird uns nicht geringe Anstrengung kosten; denn der Zorn drängt zum Ausbruch, er will unsere Augen entflammen, unsere Miene verändern. Wenn wir ihn aber hervortreten lassen, dann hat er auch schon Gewalt über uns.

Wir sollten vielmehr alle seine Anzeichen ins Gegenteil verkehren. Unser Gesichtsausdruck mag freundlicher werden, unsere Stimme sanfter, unser Schritt langsamer. Allmählich richtet sich auch das innere [240]Geschehen nach der äußeren Haltung. Bei Sokrates war es ein Zeichen von Zorn, wenn er gedämpfter und seltener sprach. Offensichtlich kämpfte er dann mit sich selbst. Dann erkannten seine Freunde seine Gemütsverfassung und tadelten ihn deswegen. Ihm war dieser Vorwurf verhaltenen Zornes nicht einmal unangenehm. Konnte er sich doch freuen, daß viele seinen Zorn bemerkten, keiner jedoch ihn zu fühlen bekam. Seine Freunde hätten ihn aber zu fühlen bekommen, wenn er ihnen nicht das Recht zugestanden hätte, ihm Vorwürfe zu machen, wie er sich das gleiche Recht auch ihnen gegenüber nahm. Wieviel mehr haben wir Anlaß, uns so zu verhalten!

Alle Kräfte unserer Seele müssen gefestigt werden. Von Natur sind sie bildsam, wenn wir sie nicht selbst herabwürdigen. Wir müssen uns daher täglich zur Rechenschaft ziehen. Das tat Sextius, wenn er sich nach vollbrachtem Tagewerk, sobald er sich zur nächtlichen Ruhe begeben hatte, fragte: Welchen schlechten Charakterzug hast du heute bei dir geheilt? Welcher schlechten Anlage hast du widerstanden? In welchem Punkte bist du besser geworden? Der Zorn wird aufhören zu toben oder doch maßvoller werden, wenn er weiß, daß er täglich vor seinen Richter treten muß. Was ist schöner als diese Gewohnheit, seinen Tag einer genauen Prüfung zu unterwerfen? Welch ein Schlaf folgt auf diese Selbstbetrachtung, wie ruhig und unbeschwert, wenn man sich gelobt hat oder als Richter über seinen Charakter in aller Stille das Urteil gesprochen hat!

Auch ich mache von dieser Möglichkeit Gebrauch und halte täglich eine Gerichtsverhandlung bei mir ab. Sobald das Licht fortgetragen ist und meine Frau, die meine Gewohnheit schon kennt, schweigt, durchforsche [241]ich meinen ganzen Tag und überdenke in der Rückschau, was ich getan und gesagt habe. Nichts verberge ich mir, nichts übergehe ich. Warum sollte ich auch meine Fehler fürchten, da ich doch sagen kann: »Sieh zu, daß du es nicht wieder tust, heute verzeihe ich dir. In diesem Gespräch hast du zu heftig gesprochen. Laß dich nicht wieder mit unverständigen Menschen ein. Wer niemals lernte, will auch nichts mehr hinzulernen. Jenen hast du offener zurechtgewiesen, als es deine Pflicht war. So hast du ihn nicht gebessert, sondern beleidigt. Achte künftig nicht nur darauf, ob wahr ist, was du sagst, sondern ob auch der, dem es gesagt wird, die Wahrheit vertragen kann.«

Geben wir uns doch inneren Frieden! Der innere Frieden aber wird uns zuteil werden durch unablässige Beschäftigung mit heilsamen Lebensregeln, durch Verwirklichung guter Taten und durch einen festen Willen, dessen Streben einzig auf das sittlich Gute gerichtet ist. Das Gewissen sei die Richtschnur unseres Handelns, das Gerede der Leute soll uns gleichgültig sein!

Halten wir uns fern vom Laster des Zornes, reinigen wir unseren Charakter und tilgen wir alle schlechten Regungen mit der Wurzel aus! Sie wuchern nämlich wieder empor, wenn sich auch nur ein kleiner Rest von ihnen bei uns erhalten hat. Wir sollen daher den Zorn nicht mäßigen, sondern ihn ganz und gar ausrotten!

Am meisten kann uns hierzu die Überlegung helfen, daß wir sterbliche Menschen sind. Sage ein jeder zu sich und zum anderen:

Was nützt es, sich gegenseitig mit Zorn zu verfolgen, als hätten wir ewig zu leben? Wozu verschwenden wir die kurze Zeit unseres Lebens?

[242]

Warum konzentrierst du dich nicht lieber mit deinem kurzen Leben auf wesentliche Dinge und lebst nicht mit dir und der Welt in Frieden? Warum sorgst du nicht lieber dafür, daß alle Menschen dich lieben, solange du lebst, daß sie sich noch nach dir sehnen, wenn du schon abgetreten bist?

Bald werden wir unseren letzten Atemzug tun. Solange wir aber atmen, solange wir unter Menschen weilen, wollen wir uns Menschlichkeit zur Pflicht machen! Mögen wir für niemanden ein Gegenstand der Furcht, eine Quelle der Gefahr sein! Verluste, Ungerechtigkeiten, Beschimpfungen und Kränkungen sollten wir verachten und alle diese kurzen Unbequemlichkeiten guten Mutes auf uns nehmen.

Im Umsehen, sozusagen, im Umdrehen tritt der Tod an uns heran.

 

 

[243]

TEXTKRITISCHE BEMERKUNGEN

Der vorliegenden Übersetzung wurden die Teubnerschen Textausgaben zugrunde gelegt (Dialoge, ed. Hermes, 1905; Briefe, ed. Hense, 1914; Von den Wohltaten, ed. Hosius, 1914; Naturw. Unters., ed. Gercke, 1907). Abweichungen vom Teubnertext sind unten aufgeführt, um eine Vergleichung mit dem Text zu ermöglichen. Solche Abweichungen waren nicht selten notwendig, da die vorliegenden Ausgaben sämtlich noch keine abschließenden Leistungen darstellen. Der Seneca-Text ist besonders in den Briefen und den Naturw. Unters. stark verderbt auf uns gekommen. So bietet er dem Emendator ein reiches Tätigkeitsfeld.

Die umfangreichen Arbeiten Castiglionis boten nur wenige brauchbare und glaubhafte Verbesserungen (Studi Anneani III, Osserv. crit. alle Epist. Morali in Stud. Ital. di Filolog. Class. N. SII, 1920–22. Stud. Anneani IV, Note crit. ai libri delle Quest. Natural. Rivista di Filologia 49, 1921).

Noch weniger ergiebig war die Arbeit von Francesco Vivona (Note crit. alle epist. di Seneca, Roma 1935), dessen gewagte Verbesserungsversuche ich bis auf eine Verbesserung ablehnen mußte.

Das gleiche gilt in noch stärkerem Maße von H. W. Garrod (Notes on the Nat. Quaest. of Seneca, The Classical Quaterly. Vol. VIII, 1914). Auch K. Busche (Kritische Beiträge zu Senecas Natur. Quaest., Rhein. Mus. N. F. 70, 1915) brachte für die vorliegende Auswahl keine brauchbaren Verbesserungen.

Anregend und wertvoll dagegen waren mir die klaren Ausführungen von E. Löfstedt (Zu Senecas Briefen, Eranos 1914, Bd. 14).

Weit bedeutender aber als alle diese Versuche sind die gründlichen Arbeiten von B. Axelson, der wohl als der beste [244]lebende Senecakenner anzusehen ist. Seine klaren, besonnenen Ausführungen stellen oft gegenüber kritiklosen Emendationen (»Verschlimmbesserungen, totgeborene Konjekturen, die nie die Druckerschwärze zu erreichen gebraucht hätten«) den Text der Handschriften wieder her, wenden sich andererseits aber auch mit Schärfe gegen eine »ultrakonservative Interpretierungskunst«, die den Unsinn in den Text nimmt, nur weil es so in der verderbten Handschrift steht. Löfstedts Klauselgesetz ist ihm oft ein überzeugendes Kriterium für die Richtigkeit oder Unrichtigkeit einer Lesart.

Axelsons Arbeiten bedeuten auch, gemessen an der klassischen Periode der Textkritik und im Vergleich mit Diels und Wilamowitz, Spitzenleistungen philologischer Präzisionsarbeit. Bestechend wirkt bei Axelson die vollendete Einfühlung in Senecas Stilgefühl. Niemals bringt er eine Verbesserung oder eine Lesart, die Senecas Stilgefühl widerspricht. Oft lehnt er die Verbesserungsversuche anderer Autoren nur aus diesem Grunde ab. Seinen Wiederherstellungen, Verbesserungen und Lesarten konnte ich fast durchweg folgen.

(Bertil Axelson, Senecastudien, Krit. Bemerk. zu Senecas Nat. Quaest., Lund, Acta Univ. Lund. N. F. Avd 1, 29, 1. 1933. Ders., Neue Senecastudien, Textkrit. Beitr. zu Senecas Epist. moral., Lund–Leipzig 1939.)

Nur in zwei Fällen halte ich Axelsons Änderungen für Fehlgriffe, und zwar nat. quaest. VII, 32, 4, wo Axelson in Verkennung von Senecas skeptischer Haltung vix in mox ändern will und epist. 108, 23, wo er sich darüber entrüstet, daß Seneca »die Schilderung seines jugendlichen Vegetarianismus in eine beiläufige kurze Notiz über seine Matratze hat ausklingen lassen«. Diese Entrüstung ist fehl am Platze; denn diese beiden Dinge (Vegetarianismus und hartes Lager) gehören in der Askese auch anderwärts, beispielsweise im Buddhismus, zusammen. Die logische Bindung fehlt also durchaus nicht, auch wenn Axelson sie nicht sieht.

Bei der Lektüre der Arbeiten Axelsons fiel mir auf, daß fünf der besten Verbesserungen und Lesarten des Textes der Natur. Quaest. von Axelson (die Arbeit erschien 1933) bereits in der englischen Übersetzung von John Clarke (erschienen 1910) zu finden sind, ohne daß Axelson etwas davon [245]erwähnt (John Clarke, Physical Science in the time of Nero, being an translation of the nat. quaest. of Seneca, London 1910). Es handelt sich bei den erwähnten Stellen um Quaest. nat. II, 59, 6–IV a, Praef. 5–VI, 32, 2–VI, 32, 7–VII, 30, 5.

Ich kann nicht glauben, daß ein so kluger Kopf wie Axelson, der gewohnt ist, jeden Mißgriff seiner textkritischen Vorgänger schonungslos aufzudecken, sich die Blöße geben würde, in seinen Emendationen verschämte Lesefrüchte als eigene Leistung auszugeben. Die Übereinstimmung dürfte zufällig sein. Im Interesse der Wahrung der Priorität wollte ich nur auf Clarke hingewiesen haben.

Daß Axelsons neue Abhandlung über die Seneca-Briefe noch während meiner Übersetzungsarbeit erschien, muß ich als einen ganz besonders glücklichen Zufall ansehen. Axelson hat hier auch den Cod. Quirinianus B II, 6, den Beltrami ans Licht zog, gewürdigt und die von Beltrami überschätzte Bedeutung dieses Cod. auf ein zuträgliches Maß gemildert. In seiner umfangreichen Abhandlung über die Seneca-Briefe bietet Axelson weiter eine Fülle wertvoller Verbesserungen und Lesarten, auch aus den jüngeren Handschriften, die in ihrer Bedeutung von der Seneca-Forschung bisher viel zu wenig gewürdigt worden sind. In ihrer Klarheit der Darstellung und in der geistreichen Kritik der Gegner ist die Arbeit nicht nur eine Bereicherung für den Übersetzer, sondern zugleich (ein Novum in der philologischen Literatur!) ein literarischer Genuß für den Leser.

Eine kleine Probe dieser, eines Lessing würdigen Kritik möge zeigen, mit welchem Schwung und Temperament Axelson der scheinbar so nüchternen philologischen Materie Leben zu geben versteht: Den Herausgebern, die sich aus falscher Ehrfurcht vor einer schlechten handschriftlichen Überlieferung nicht scheuen, völlig unsinnige Lesarten abzudrucken, schreibt er folgende ironische Worte ins Stammbuch:

»Aus teilweise höchst leichtverständlichen Gründen erfreut sich die auf einem delikaten Grenzgebiet zwischen Wissenschaft und Dichtung betätigte Konjekturalkritik keines sehr guten Rufes. Dem reichlich skeptischen Herausgeber bleibe das Recht, auch ihren, menschlich zu urteilen, sicheren Ergebnissen kühl gegenüberzustehen. Dann aber bleibt ihm [246]doch wenigstens die Pflicht, durch den Gebrauch des Kreuzzeichens (auch »Kreuz der Verzweiflung« genannt) oder anderer ehrlicher Mittel anzudeuten, daß ihm eine Korruptel eine Korruptel ist. Und müßte der Text den Anblick eines Gottesackers gewähren – besser wäre das immerhin als die Art, wie man scheu an den Fehlern vorbeihuscht und ohne weiteres als Worte des Autors druckt, was er nicht so geschrieben haben kann … Mit Hilfe ungenügender Sprachkenntnis und nichtvorhandenen Sprachgefühls läßt sich nun ein gut Teil vor der Verbesserung bewahren; und gibt es eigentlich eine faule Sache, deren sich der Ultrakonservativismus von heute nicht mit promptem Sachverstand annähme? … So stellt ein moderner Kritiker im Dienste frommen (übrigens akademisch preisgekrönten) Handschriftenglaubens mit Lust und Liebe die Vernunft auf den Kopf.« (a. a. O., p. 46/47.)

 

Einige wenige Worte wären noch über die Prinzipien zu sagen, nach denen die vorliegende Auswahl vorgenommen wurde. Sie will nur die zeitlosen, auch heute noch lebensfähigen Gedanken Senecas vermitteln. Vollständigkeit war bei dem Umfang der Auswahl nicht immer möglich. Eine Anzahl Dialogschriften, die stellenweise noch gar zu sehr das Gepräge des stoischen Rigorismus tragen, konnten nicht berücksichtigt werden. Galt es doch, Seneca nicht in seiner historischen Gebundenheit zu zeigen, sondern die zeitlose Weite seines Werkes aufzuweisen. Deshalb wurde auch auf einige weniger bekannte Schriften Senecas (Von den Wohltaten, Naturwissenschaftliche Untersuchungen) zurückgegriffen, die es verdienen, stärker als bisher in weiteren Kreisen bekanntzuwerden. Das Schwergewicht der Auswahl aber mußte auf den Briefen liegen, diesem reifsten Werk Senecas, das eine unergründliche Fundgrube wertvoller Gedanken darstellt. Die lebendige Form der Briefe, ihr glänzender Stil, ihr abwechslungsreicher Inhalt machen ihre Lektüre zu einem literarischen Genuß ersten Ranges.

Der Titel eines Seneca-Breviers läßt vielleicht erwarten, daß hier Senecas Aussprüche wohlgeordnet und nach inhaltlichen Gesichtspunkten kapitelweise zusammengefaßt gebracht werden. Diese Methode läßt sich vielleicht bei einer kurzen Spruchauswahl durchführen, wie dies vom [247]Herausgeber auch früher versucht worden ist. Hier aber, wo es sich darum handelte, ein möglichst umfassendes Bild vom Wesen des großen römischen Autors zu geben, durfte das Gefüge seines Werkes nicht angetastet werden. Die reizvolle Eigenart von Senecas Darstellungsweise wäre durch eine solche Ordnung nach inhaltlichen Gesichtspunkten nicht zur Wirkung gekommen. Seneca liebt die Abschweifung, den Wechsel. Er ist kein trockener Schulphilosoph, der als Theoretiker an einer Stelle einen Gedanken ganz bis zu Ende verfolgt. Die Abschweifung ist für ihn charakteristisch. Mit ihrer Hilfe gewinnt seine Darstellung an Leben und Farbigkeit. Nicht nur das »Was«, sondern ebenso das »Wie« gehört zu Senecas Wesen und Eigenart.

VERZEICHNIS DER VOM TEUBNERTEXT ABWEICHENDEN LESARTEN

Ep. ad Luc. 8; 7: Nach Axelsons Empfehlung lese ich mit den jüngeren Handschriften compilamus.

Ep. ad Luc. 15; 1: Mit Axelson lese ich enim statt autem.

Ep. ad Luc. 18; 7: Statt dat lese ich mit Haupt und Löfstedt dabit.

Ep. ad Luc. 23; 10: Nach Axelsons geistvoller Interpretation lese ich praestat statt putat.

Ep. ad Luc. 26; 3: Die zahlreichen Verbesserungsvorschläge des folgenden verderbten Passus (Madvig, Kronenberg, Thomas, Vivona) befriedigen alle nicht. Ich habe daher auf Übersetzung verzichtet und den Satz vorzeitig geschlossen.

Ep. ad Luc. 28; 8: Ich lese mit Madvig und Axelson aera statt sacra.

Ep. ad Luc. 26; 9: Ich folge der einleuchtenden Verbesserung Madvigs, die Axelson wieder ans Licht zog und lese: vel si commodius sic transire ad nos hic potest sensus.

Ep. ad Luc. 31; 11: Nach dem Vorgang von Fickert, Haase und Axelson lese ich mit den jüngeren Handschriften peius statt eius.

Ep. ad Luc. 45; 2: Mit Axelson bin ich der Ansicht, daß die Lesart nollem nicht in den Apparat, sondern in den Text gehört, denn Henses vellem gibt beim besten Willen keinen Sinn.

[248]

Ep. ad Luc. 45; 9: Im Gegensatz zu Haupt und Haase lese ich mit den Handschriften nach Axelsons Rat mirabilia statt mutabilia.

Ep. ad Luc. 52; 5: Ich lese mit Disselbeck: quicquid facit alter apparet, alterius …

Ep. ad Luc. 54; 1: Ich lese mit Castiglioni appellent.

Ep. ad Luc. 56; 6: Nach Axelson lese ich mit den Handschriften quam.

Ep. ad Luc. 62; 2: Mit den jüngeren Handschriften lese ich nach Axelsons Vorschlag civili statt civi.

Ep. ad Luc. 66; 6: Axelson, dem ich hier folge, setzt das Komma erst hinter ex aequo.

Ep. ad Luc. 66; 7: Mit Axelson lese ich nach den jüngeren Handschriften sunt, quae pro …

Ep. ad Luc. 66; 50: Ich lese mit dem cod. Marcianus 270 exercitata.

Ep. ad Luc. 80; 2: Nach Axelsons Empfehlung lese ich mit den jüngeren Handschriften contemplationem statt contentionem.

Ep. ad Luc. 82; 1: Ich lese mit Vivona animum tuum.

Ep. ad Luc. 82; 7: Mit dem cod. Paris. 8658 A lese ich securus.

Ep. ad Luc. 83; 2: Ich ergänze nach Axelsons Rat aus den jüngeren Handschriften und dem cod. Quirinianus: et id raro; quid fecerimus non cogitamus.

Ep. ad Luc. 84; 11: Mit Beltrami und Axelson ergänze ich aus dem cod. Quirinianus: nihil vitaverimus nisi ratione suadente und a. a. O. einige Zeilen weiter ebenfalls nach dem Quirin. secum statt post se.

Ep. ad Luc. 88; 3: Die Einsicht in die stilistische Feinheit dieses Satzes verdanke ich Axelson. (Neue Senecastud. p. 184 f.).

Ep. ad Luc. 88; 41: Ich lese mit Axelson nach den jüngeren Handschriften: non vis cogitare.

Ep. ad Luc. 93; 6: Nach Axelsons Verbesserung dieser textkritisch schwierigen, inhaltlich aber völlig klaren Stelle lese ich: quamdiu ero, vere ut sim, meum est.

Ep. ad Luc. 93; 9: Statt erant lese ich mit Axelson erunt.

Ep. ad Luc. 103; 1 und 2: Statt rariores lese ich mit Axelson rari und streiche das ab der Handschriften zu Beginn des folgenden Paragraphen. Den Verbesserungsvorschlag ac halte ich nicht für annehmbar.

[249]

Ep. ad Luc. 104; 20: Ich folge hier Kronenberg, der emenda tilgt.

Ep. ad Luc. 108; 15: Ich lese nach Löfstedts schöner Verbesserung impetu statt inceptu.

Ep. ad Luc. 108; 38: Nach Axelsons Verbesserung lese ich nominum statt nostrorum.

Ad Marciam de cons. 3; 4: Ich lese mit Thomas ultro statt non.

Ad Marc. de cons. 25; 1: Mit Gertz lese ich beneficio suo. Alle anderen Verbesserungsvorschläge entsprechen nicht dem Stil Senecas.

Natural. Quaest. I, Praef. 11: Ich lese mit Axelson und Castiglioni ac se contentus.

Natural. Quaest. II, 59; 4: Da bessere Deutungen fehlen, habe ich mich für Castiglionis Lesart entschieden, ohne davon restlos befriedigt zu sein: alia varia fors itura ordine disponit.

Natural. Quaest. II, 59; 6: perditos esse: et sumus. So lese ich mit Axelson und Clarke, die sich beide an die Überlieferung halten und die stilistische Feinheit dieses Satzes nicht durch »Emendationen« verderben.

Natural. Quaest. VI, 1; 9: Axelson liest cumulo ac pulvere und deutet diese umstrittene Stelle als ἓν διὰ δυοῖν. Seneca liebte diese Art der Ausdrucksweise sehr, was die meisten Übersetzer nicht berücksichtigt haben.

Natural. Quaest. VI, 32; 1: Mit Axelson und Clarke lese ich nach der handschriftlichen Überlieferung magnis naturae partibus.

Natural. Quaest. VI, 32; 7: Mit Axelson und Clarke, die die Überlieferung der Handschriften wiederherstellen, lese ich: istud leve est: quid timemus? grave est: potius semel incidat …

 

 

[250]

ZUM BILDNIS SENECAS

nach S. XVI

L. Annaeus Seneca. Berlin, Altes Museum R 106

Höhe 0,28 m. Nase ergänzt. Römische Kopie von etwa 240 n. Chr. Von einer Doppelherme aus Rom, die ihn nach dem Brauch der Doppelhermen mit Sokrates als Wesensverwandtem verbindet. Es ist das einzig inschriftlich bezeugte Bildnis des Philosophen. Die vereinfachende Kopie zeigt, wie der Vergleich mit Bildnissen des Vitellius und Bronzen aus der letzten Zeit vom Pompeji lehrt, die Stilelemente der spätneronischen Kunst (um 65 n. Chr.). Es scheint für den Römer Seneca charakteristisch, daß sein Porträt so wenig nach dem Bild griechischer Philosophen stilisiert ist. Auf dem Höhepunkt der römischen Kunst (der mit der wechselseitigen Durchdringung von griechischer Plastizität und römischem linearen Realismus in flavischer Zeit erreicht wird) ist allein der menschliche Eindruck des Dargestellten bestimmend. Andere Darstellungen Senecas sind bisher noch nicht mit Sicherheit nachgewiesen worden; ein viel abgebildeter Greisenkopf des sogenannten Seneca (Bronze in Neapel, Marmor u. a. in Florenz) stellt einen Dichter aus der Blütezeit des Hellenismus dar.

Ernst Kirsten

 

 

[251]

VERZEICHNIS DER AUSGEWÄHLTEN STÜCKE

Von der Kürze des Lebens

S. 1 Die meisten bis S. 15 gewinnen: Ad Paulinum de brevitate vitae cap. I–VIII, XI–XV, XIX (gekürzt)

Von der Vorsehung

S. 16 Du hast mich bis S. 25 euer Glück: Ad Lucilium de providentia cap. I–VI (gekürzt)

Moralische Briefe an Lucilius

(Ad Lucilium epist. moral.)

S. 26 Nach allem bis S. 27 begehrt = ep. 2. – S. 28 Bleibe bis S. 29 unruhig = ep. 4. – S. 29 Ich billige bis S. 34 sein wird = ep. 5/6. – S. 34 Du fragst bis S. 38 werden soll = ep. 7/8. – S. 38 Es ist bis S. 40 korrigieren = ep. 10/11. – S. 40 Wohin bis S. 42 Menschheit sind = ep. 12. – S. 42 Es war bis S. 45 Bemühen ist = ep. 15/16. – S. 45 Es ist jetzt bis S. 47 ansieht = ep. 18. – S. 47 Es freut bis S. 48 finden = ep. 20. – S. 48 Du siehst bis S. 50 fest = ep. 22. – S. 50 Glaubst du bis S. 52 begonnen haben = ep. 23. – S. 53 Kürzlich bis S. 56 sterben = ep. 26/27. – S. 56 Niemals wollte bis S. 57 gekommen bist = ep. 29. – S. 57 Stelle dich bis S. 62 frei = ep. 31/32. – S. 62 Du wünschst bis S. 64 werden müssen = ep. 33. – S. 64 Gut und bis S. 66 unser = ep. 41/42. – S. 66 Du fragst bis S. 68 erheben = ep. 43/44. – S. 69 Du beklagst bis S. 72 leben = ep. 45. – S. 72 Zu meiner bis S. 76 zu lernen = ep. 47/48. – S. 76 Deinen bis S. 78 ablegen = ep. 50. – S. 78 Warum bis S. 85 kann = ep. 52/53. – S. 85 Meine Krankheit bis S. 86 nicht = ep. 54. – S. 86 Der Schlag bis S. 88 erfunden hat = ep. 56. – S. 88 Wie arm bis S. 93 vollkommen halten = ep. 58/59. – S. 94 Hören wir bis S. 96 überlassen will [252]= ep. 61/62. – S. 96 Es tut bis S. 100 Platze = ep. 63/64. – S. 100 Ich traf bis S. 106 verwöhnen = ep. 66/67. – S. 106 Ich stimme bis S. 109 scheiden = ep. 68. – S. 110 Im Streben bis S. 110 besiegt hat = ep. 71. – S. 110 Es scheint bis S. 112 von Früchten = ep. 73. – S. 112 Du beklagst bis S. 119 wußte es = ep. 75/76. – S. 119 Daß du bis S. 124 liegt = ep. 78. – S. 124 Daß ich bis S. 128 Diener = ep. 80/81. – S. 129 Ich mache bis S. 134 Worten = ep. 82/83. – S. 135 Ich glaube bis S. 138 fortschreiten = ep. 84. – S. 138 Diese Reise bis S. 145 zu leben = ep. 87/88. – S. 145 Es ist ohne bis S. 146 zu werden = ep. 90. – S. 146 In dem Brief bis S. 150 erfahren = ep. 93/94. – S. 150 Du bist bis S. 152 frei = ep. 96/97. – S. 152 Halte bis S. 153 gestalten = ep. 98. – S. 153 Jeder Tag bis S. 154 Leben = ep. 101. – S. 155 Warum sorgst bis S. 162 erfüllen kann = ep. 103/104. – S. 162 Eine Last bis S. 169 verkünden = ep. 108. (Fast sämtliche Briefe wurden erheblich gekürzt.)

Vom zurückgezogenen Leben

S. 170 Mögen wir bis S. 176 gewesen sind = Ad Serenum de otio cap. I–VI (gekürzt)

Die Trostschrift an Marcia

S. 177 Wäre ich bis S. 186 bewegen = Ad Marciam de consolatione cap. I–III, VII, XII–XIV, XVI, XVII, XIX, XX, XXII, XXIV, XXV (gekürzt)

Von den Wohltaten

S. 187 Wenn ich bis S. 192 zurückkehren = Ad Liberalem de beneficiis Lib. I. – S. 192 Wir wollen bis S. 197 sein könnte = de benefic. Lib. II. – S. 197 Für Wohltaten bis S. 201 vergessen = de benefic. Lib. III. – S. 201 Es gibt Leute bis S. 205 ist undankbar = de benefic. Lib. IV. – S. 205 Glaubst du bis S. 208 bewähren = de benefic. Lib. VI. – S. 208 Der Kyniker bis S. 210 fortfährt = de benefic. Lib. VII (sämtl. stark gekürzt)

Naturwissenschaftliche Untersuchungen

S. 211 Es entgeht bis S. 215 wertlos sein = natur. quaest. Lib. I praef. – S. 215 Derselbe bis S. 218 verschreiben = natur. quaest. Lib. I praef. – S. 218 Ich sehe schon bis [253]S. 220 Leben = natur. quaest. Lib. II cap. 59. – S. 220 Bekanntlich bis S. 226 entgegengehen kannst = natur. quaest. Lib. VI cap. 1, 3, 32. – S. 226 Wohl niemand bis S. 230 beitragen = natur. quaest. Lib. VII cap. 1, 3, 25 (gekürzt)

Vom Zorn

S. 231 Du hast bis S. 231 häßlich ist = Ad Novatum de ira Lib. I cap. 1. – S. 232 Daß der bis S. 234 fehlen = de ira Lib. II cap. 1, 2, 6, 9, 10, 12, 13. – S. 234 Nachdem wir bis S. 239 schon geändert = de ira Lib. II cap. 18–25, 28, 29, 34, 36. – S. 239 Kämpfe mit bis S. 242 an uns heran = de ira Lib. III cap. 13, 36, 41, 42, 43 (gekürzt)

 

 

[254]

REGISTER


Fußnoten

[1]Friedrich der Große, Gespräche mit Catt. Deutsch von Willy Schüßler. Sammlung Dieterich Bd. 79.

[2]Erasmus an Th. Ruthall, Briefe herausg. v. Köhler, Leipzig, Sammlung Dieterich 1938 Bd. 2, p. 118.

[3]Die einzig wahre Philosophie nachgewiesen aus den Werken d. A. L. Seneca von Joseph Weber, München 1807.

[4]U. Knoche, Der Philosoh Seneca, Frankfurt 1933, p. 25.

[5]Um die Erforschung der Abfassungszeiten der einzelnen Schriften Senecas hat sich Karl Münscher in seiner Arbeit: Senecas Werke, Unters. z. Abfassungszeit und Echtheit, Philologus, Suppl.-Bd. 14, Leipzig 1922, bemüht.

[6]»Über die Unerschütterlichkeit des Weisen«, cap. 3–5.

[7]Trostschrift an Polybius.

[8]Über die Milde des Herrschers, I, 5, 1.

[9]Fragment aus »Über die Milde«, entd. von Roßbach (Berl. phil. Woch. 1907, 1489).

[10]Über die Milde I, 18, 1.

[11]Ebenda I, 1, 6.

[12]Über die Gemütsruhe 4; 5–7.

[13]Über das zurückgezogene Leben 3; 3.

[14]Lessing, Theatral. Bibliothek, Zweites Stück, 1754. VII. Von den lateinischen Trauerspielen, welche unter dem Namen Senecas bekannt sind.

[15]J. L. Klein, Geschichte des Dramas II, 378.

[16]O. Regenbogen, Schmerz und Tod in den Tragödien Senecas. Leipzig 1930.

[17]Agamemmnon, Vers 589–595, und Hercules Oetaeus, Vers 104–111.

[18]Hercules Oetaeus 930/931.

[19]Naturw. Unters. III, Vorrede 2.

[20]Briefe an Lucilius 26; 4–5.

[21]O. Regenbogen: Seneca als Denker römischer Willenshaltung, Die Antike, 12. Bd. Berlin 1936, p. 122 f.

[22]Briefe an Lucilius 68; 8.

[23]Briefe an Lucilius 21; 5.

[24]Vgl. hierzu B. Axelson, Neue Senecastudien, p. 19/20.

[25]Briefe an Lucilius 82; 8.

[26]Über die Gemütsruhe 14; 7–10.

[27]Über den Zorn III; 36.

[28]Briefe an Lucilius 61; 2.

[29]Vgl. hierzu Cicero, Von den Pflichten, I § 110. Diese Abhandlung Ciceros schließt sich eng an eine Arbeit des Panaitios an.

[30]Briefe an Lucilius 33; 11.

[31]Über die Wohltaten IV, 7; 1.

[32]Naturw. Unters. II, 45; 1–3.

[33]Über die Wohltaten IV, 8; 3.

[34]Fragm. 123 der Seneca-Ausg. von Haase, Bd. III. (von Haase zitiert nach: Lactant. inst. lib. II, 25; 3).

[35]Briefe an Lucilius 88; 36, 43, 32, 42.

[36]Briefe an Lucilius 58; 26.

[37]Seneca-Ausgabe von Haase III, Von den Mitteln gegen die schlimmen Zufälle, Fragment.

[38]Über den Zorn III, 43; 1.

[39]Briefe an Lucilius 18; 13.

[40]Briefe an Lucilius 26; 10.

[41]Briefe an Lucilius 93; 10.

[42]C. Marchesi, Seneca, Messina 1938, p. 351/2.

[43]An seine Mutter Helvia 5, 4.

[44]Briefe an Lucilius 96; 5.

[45]Briefe an Lucilius 98; 2.

[46]Über die Wohltaten IV, 17; 3.

[47]Über die Wohltaten IV, 1; 2–3.

[48]Briefe an Lucilius 66; 32–76; 10–124; 23.

[49]Vgl. hierzu: Max Wundt, Der Intellektualismus in der griechischen Ethik, Leipzig 1907.

[50]Briefe an Lucilius 90; 44. – 16; 2. – Über das zurückgezogene Leben 6; 3.

[51]Briefe an Lucilius 6; 1.

[52]Briefe an Lucilius 11; 8.

[53]Briefe an Lucilius 89; 13.

[54]Briefe an Lucilius 8; 2.

[55]Briefe an Lucilius 7; 11.

[56]Briefe an Lucilius 6; 6.

[57]Briefe an Lucilius 94; 40.

[58]Briefe an Lucilius 16; 1.

[59]Naturwissenschaftl. Unters. VII, 25; 5.

[60]Nicolai Hartmann, Syst. Philos. in eig. Darst., Berlin 1935, p. 4 ff.

[61]N. Hartmann, Ethik, 1935, p. 392.

[62]Paulinus, wahrscheinlich Senecas Schwager, nahm eine hohe öffentliche Stellung ein. Ihm unterstand die Getreideversorgung der Hauptstadt.

[63]Fabianus Papirius, römischer Philosoph.

[64]Epikur, Begründer der nach ihm benannten Schule, lebte um 300 v. Chr. in Athen. Seneca schätzte ihn sehr. Vgl. Einleitung Seite XXIX.

[65]Die Kyniker, zu denen Antisthenes und Diogenes gehörten, waren Philosophen, die die antike Gesellschaftsordnung ablehnten und völlige Bedürfnislosigkeit erstrebten. Sie machten sich oft durch anstößiges Benehmen unbeliebt. Auch ernste Männer, wie Senecas Freund Demetrius, bekannten sich zur kynischen Schule.

[66]Zenon lebte 315 v. Chr. in Athen und war der Begründer der stoischen Schule. Von seinen Schriften kennen wir nur Fragmente. – Pythagoras aus Samos (um 550 v. Chr.) gründete in Unteritalien eine sektenartige Philosophenschule, in der Zahlenmystik und Seelenwanderungslehre eine bedeutende Rolle spielten. Überliefert sind von ihm die »Goldenen Worte des Pythagoras«, die aber wohl ein späteres Erzeugnis seiner Schule sind. Senecas Lehrer Sotion war Pythagoräer. – Demokrit aus Abdera (geb. 460 v. Chr.), Begründer der Atomtheorie und Verfasser wertvoller ethischer Schriften, die uns nur fragmentarisch überliefert sind. Seneca kannte ihn gut, zitiert ihn oft und hat fraglos manche Gedanken von ihm übernommen.

[67]C. Mucius Cordus Scaevola legte 508 v. Chr. in Gegenwart des etruskischen Königs Porsenna seine rechte Hand in ein Kohlenbecken und ließ sie verbrennen. Porsenna empfing durch diese mutige Tat einen so starken Eindruck von der römischen Tapferkeit und Opferbereitschaft, daß er die begonnene Belagerung Roms aufgab. – C. Fabricius (um 280 v. Chr.) führte erfolgreiche Kriege gegen Pyrrhus und die Samniter. Er soll in tiefster Armut gestorben sein. – P. Rutilius Rufus, Konsul zur Zeit des Marius, mußte auf Grund gegnerischer Verleumdungen in die Verbannung gehen. – M. Atilius Regulus wurde 255 v. Chr. von den Karthagern gefangengenommen. Er wurde zu Verhandlungen nach Rom gesandt, wo er jedoch die Annahme der unwürdigen Friedensbedingungen, die Karthago stellte, selbst widerriet. Seinem gegebenen Wort entsprechend stellte er sich nach Erledigung seiner Mission wieder den Karthagern und wurde von ihnen zu Tode gefoltert.

[68]Das Fensterglas war den Römern bereits bekannt, galt aber als Luxus.

[69]Diese Heizmethode (hypocaustum) war eine Art antiker Zentralheizung. Man findet Hypokausten in Pompeji an mehreren Stellen, z. B. in den Stabianerthermen. Fußboden und Wände sind dort doppelt. In dem Zwischenraum kreiste Heißluft.

[70]Senecas Freund Lucilius war ein römischer Ritter und Prokurator auf Sizilien. Ihm ist auch die Schrift von der Vorsehung gewidmet sowie die naturwissenschaftlichen Untersuchungen.

[71]Hier verurteilt Seneca den theatralischen Aufzug, mit dem zahlreiche »Philosophen« damals als eitle Wichtigtuer in Rom öffentlich hervortraten und dem Ansehen der ernsten Philosophie schadeten.

[72]Diese Polemik richtet sich gegen die asketischen Exzesse mancher Kyniker. Die philosophische »chronic scandaleuse« des Altertums, die Abhandlung des Diogenes Laërtios über Leben und Meinungen berühmter Philosophen, berichtet im 6. Buche eine Anzahl abstoßender Geschichten aus dem Leben der kynischen Philosophen, die sich in bewußten Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaftsordnung stellten.

[73]Vgl. Fußnote, S. 13.

[74]Kyniker und Lehrer Zenons, des Begründers der stoischen Schule.

[75]Es bleibt unklar, ob Seneca hier den älteren Cato, den Zensor (234–149 v. Chr.), das Urbild echten Römertums, meint oder dessen Urenkel, den jüngeren Cato, den er sonst oft erwähnt, der durch seine heroische Haltung im Bürgerkrieg berühmt wurde und sich nach dem Zusammenbruch der Republik 46 v. Chr. selbst den Tod gab.
C. Laelius war ein Freund des jüngeren Scipio und lebte um 200 v. Chr.

[76]Ein Fest zu Ehren des Gottes Saturn im Dezember. Zu diesem Fest durften die Sklaven vorübergehend die Herren spielen. Das Fest war mit froher Geselligkeit verbunden. Man beschenkte sich gegenseitig und veranstaltete frohe Gelage.

[77]Peripatetiker nannte man die Schüler des Aristoteles, Akademiker die Schüler Platons.

[78]Diese These der Stoa ist in ihrer intellektuellen Starrheit von Seneca selbst an anderen Stellen widerlegt worden. Vgl. hierzu Einleitung S. XXXIX f.

[79]Panaetius aus Rhodos (180–110 v. Chr.) und Posidonius aus Syrien (135–51 v. Chr.) gehörten zur stoischen Schule. Sie gewannen besonderen Einfluß auf den römischen Stoizismus.

[80]Die Stenographie war schon im Altertum bekannt. Seneca selbst hat ein stenographisches System ausgearbeitet.

[81]Lucilius war der Sohn eines Freigelassenen. Als solchem war ihm der Aufstieg zu den höchsten staatlichen Würden verschlossen.

[82]Lucilius war Prokurator in Sizilien.

[83]Besonders die Sophisten machten sich eine Freude daraus, ihre Gesprächspartner durch Trugschlüsse in die Enge zu treiben.

[84]Epimenides, der Kreter, sagt: »Alle Kreter sind Lügner.« Also ist Epimenides auch ein Lügner. Also sprechen alle Kreter die Wahrheit. Also spricht auch Epimenides die Wahrheit. Also sind alle Kreter Lügner. Also ist Epimenides, der Kreter, auch ein Lügner …

[85]Der Weg zu einflußreichen Persönlichkeiten ging vielfach über die käuflichen Kreaturen in den Vorzimmern.

[86]Es gab im Altertum nur eine römische Staatspost, mit der amtliche Nachrichten und Anordnungen in kürzester Zeit befördert wurden. Privatleute gaben ihre Briefe Reisenden mit.

[87]Metrodor und der später genannte Hermarch waren Schüler des Epikur.

[88]Stoischer Philosoph und Lehrer Senecas.

[89]Mit erstaunlicher Treffsicherheit hat Seneca hier die zentrale Bedeutung der freien Entscheidung des Menschen für die Beurteilung des sittlichen Wertes seines Handelns erkannt.

[90]Seneca gibt hier eine klassische Beschreibung der Herzangst (Angina pectoris), die von Vernichtungsgefühl und Todesangst begleitet ist.

[91]Dieser Satz, der überhaupt nicht in den gedanklichen Zusammenhang gehört, sondern nur einen störenden, beiläufigen Einfall enthält, ist typisch für eine stilistische Eigenart Senecas.

[92]Er verstopfte seinen Gefährten die Ohren mit Wachs.

[93]Aus dieser Stelle erhellt besonders deutlich, daß Seneca unter Philosophie nur die Moralphilosophie verstehen will.

[94]Q. Sextius, Vater und Sohn, den Pythagoräern nahestende Philosophen des 1. Jh. v. Chr.

[95]Die bisher übliche Übersetzung »Güter« (für bona) kann dem Sinn nicht gerecht werden.

[96]Skythische Völkerschaft jenseits des Kaspischen Meeres.

[97]Die Lehre von den lógoi spermatikoí, den samenartigen Vernunftgedanken, die in der ganzen Welt verteilt sind, stellt eine der schönsten überzeitlichen Ideen der Stoa dar.

[98]Mit dieser These weicht Seneca deutlich von der starren stoischen Schulmeinung ab, die neben den Weisen nur Toren kannte.

[99]Vgl. über den Philosophen Metronax auch Brief 93, Seite 146 der vorliegenden Auswahl.

[100]Seneca spricht hier offenbar von dem, was er in jüngeren Jahren selbst erlebt hatte. Er verdankt es nur seiner schwächlichen Gesundheit, daß Caligula ihn nicht hinrichten ließ. Man nahm damals an, er würde ohnehin in Kürze an seinem Lungenleiden sterben.

[101]Ein Denar = 80 Pfg.

[102]Seneca reiste, wie es damals üblich war, meist in der Sänfte.

[103]Er lebte in Alexandria zur Zeit des Cäsar und Augustus.

[104]Nomentum, in der Nähe von Rom gelegenes Wein-Städtchen, heute La Mentana.

[105]L. Junius Gallio, Senecas Bruder, Statthalter in Achaia. Er wird auch im Neuen Testament erwähnt.

[106]Das herzliche Verhältnis, das Seneca mit seiner jungen Gattin Paulina verband, bewies seine Dauerhaftigkeit auch in Senecas Todesstunde. Seine Gattin wollte mit ihm in den Tod gehen. Nero hinderte sie jedoch an diesem Vorhaben. Er ließ ihre Wunden verbinden und zwang sie, weiterzuleben. Aus Gram über den Tod ihres Gatten siechte sie aber rasch dahin.

[107]Qu. Aelius Tubero, ein philosophisch interessierter Neffe Scipios.

[108]Zenon, Chrysippos und Kleanthes: die Väter der Stoa.

[109]Das war eine der grundlegenden Thesen der Stoa.

[110]Seneca vertritt hier also die Forderung einer Synthese des stoischen und des epikureischen Lebensideals.

[111]Marcia, die Tochter des Historikers Cremutius Cordus, hatte einige Zeit zuvor ihren Vater unter tragischen Umständen verloren. Er hatte einen Konflikt mit Seian, dem Gardepräfekten des Tiberius, gehabt und sich selbst den Tod gegeben, um der Rache des aufgebrachten Machthabers zu entgehen. Marcia hatte sich damals sehr tapfer gehalten. Sie ehrte das Andenken des Vaters durch Herausgabe seiner Geschichtswerke. Bald darauf starb auch ihr Sohn. Diesen Verlust konnte sie nicht überwinden. Als sie sich mehrere Jahre nach dem Tode ihres Sohnes noch immer nicht fassen konnte, suchte sie der befreundete Seneca mit der vorliegenden Schrift zu trösten.

[112]Aemilius Paulus Macedonicus, der Vater des Scipio.

[113]Sie war die Gattin des Pompeius, des mächtigen Gegenspielers von Caesar. Solange sie lebte, kam es nicht zum Bruch zwischen den beiden Männern. Bald nach ihrem Tode verfeindeten sich Caesar und Pompeius, und es kam zum Bürgerkrieg.

[114]Lucretia, eine vornehme Römerin, tötete sich selbst, als ihr der Sohn des Tarquinius Superbus, des letzten römischen Königs, zu nahe getreten war. Darauf erhob sich unter Führung des Iunius Brutus ein Aufstand gegen das Königshaus, der mit Vertreibung des Königs endete.

[115]Die moderne Wertethik nennt diese Werkzeuge, deren sich der liebevolle Wille bedient, »Sachverhaltswerte« oder »Güterwerte«. Diesen äußeren Sachverhaltswerten stehen die sittlichen Werte der Handlung, die »Aktwerte« gegenüber. Der sittliche Wert einer Handlung liegt nicht in der äußeren Gabe, sondern im Willen, in der Gesinnung. (Vgl. hierzu: Nicolai Hartmann, Ethik, 1935.)

[116]Griechischer Philosoph, gestorben 241 v. Chr., der Begründer der »zweiten Akademie«, der das Prinzip des Zweifelns in die Schule des Platon einführte.

[117]Das antike Rom kannte tatsächlich behördliche Bekanntmachungen, die unseren Zeitungen ähnlich waren. Sie wurden von Schreibern kopiert, öffentlich angeschlagen und im ganzen Reich verbreitet.

[118]Ein Talent = 4500 RM.

[119]Ein Denar = 0,80 RM.

[120]Die Kyniker hatten die völlige Bedürfnislosigkeit zum Lebensideal erhoben.

[121]Ein Denker der mittleren Stoa, lebte im 2. Jahrh. v. Chr.

[122]Mit solcher Deutlichkeit hat erst wieder Kant alle Nützlichkeitsgedanken aus der Moral verbannt.

[123]Zeitgenosse Senecas.

[124]Dieses Erdbeben ereignete sich im Jahre 63 unserer Zeitrechnung. Noch heute finden sich in Pompeji und Herkulaneum zahlreiche Spuren dieses Erdbebens. Es ging dem großen Vesuvausbruch des Jahres 79, der beide Städte verschüttete, voran. Den Vesuvausbruch hat Seneca nicht mehr erlebt.

[125]Städte in Achaia (Griechenland), die 372 v. Chr. bei einem Erdbeben untergingen.

[126]Hippias, Sohn des Peisistratos, Tyrann von Athen, wurde 510 v. Chr. aus Athen vertrieben.

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