Cover

Wie konnte der Mensch in die erschreckende Lage geraten, dem Boden, der Luft und den Lebensformen der Erde irreversiblen Schaden zuzufügen und damit sich und kommenden Generationen die Lebensgrundlage zu entziehen?

In seinem Buch verfolgt Hartmann den Gang der Menschheitsgeschichte über die Jahrtausende hinweg zurück. Was er dabei zum Vorschein bringt, ist eine ganz andere Welt als die, die wir kennen. Denn es gab eine Zeit, da die Menschen sich als Teil der Natur verstanden und in Kooperation mit den anderen Kreaturen der Erde zu leben wußten. Und darin liegt Hartmanns Botschaft der Hoffnung: Noch ist die Sehnsucht des Menschen nach einer Wiedervereinigung mit der Welt um ihn nicht erloschen. Noch können die alten Mythen zu neuem Leben erweckt und die Erinnerungen an das Wissen unserer Vorfahren wachgerufen werden.

»Unser ausgebrannter Planet« verbindet auf brillante Weise Spiritualität und Ökologie. Wenn es uns wieder gelingt, den Geist alter Bäume zu spüren und die Göttlichkeit der Natur um uns wahrzunehmen, werden wir auch erkennen, daß es nicht unsere Bestimmung ist, diese Natur, deren Teil wir sind, zu beherrschen. Mit dieser Erkenntnis werden wir unsere Rolle im Ökosystem neu bestimmen und den Weg aus der Krise in eine bessere Zukunft finden.

Thom Hartmann zählt zu den populärsten und einflußreichsten »prophetischen Denkern« der Gegenwart. Neben seiner erfolgreichen Autorentätigkeit ist er Psychotherapeut und NLP-Trainer. Seit über 20 Jahren behandelt er in eigener Praxis Menschen mit Lern- und Verhaltensstörungen. 1978 gründete er zusammen mit seiner Frau Louise das New England Salem Children's Village, ein Kinderdorf, das nach dem Konzept des Kinder- und Jugendhilfswerks Salem arbeitet. Oberstes Ziel ist dabei, ein gewaltfreies Zusammenleben aller Erdbewohner, Menschen wie Tiere, zu fördern und den Kindern Achtung vor der Erde und allen Wesen nahezubringen. Seit 1998 ist dem Kinderdorf auch eine Internatsschule (»The Hunter School«) angegliedert.

Thom Hartmann arbeitete auch für die Hungerhilfe des internationalen Salem-Programms in Afrika, Europa, Südamerika und Asien sowie als Berater für US-Regierungsstellen und Privatunternehmen. Gegenwärtig lebt Thom Hartmann mit seiner Familie in Vermont, USA.

 

 

Thom Hartmann

Unser
ausgebrannter
Planet
Von der Weisheit der Erde
und der Torheit der Moderne

 

Aus dem Amerikanischen
von Gisela Kretzschmar

 

Riemann Verlag
One Earth Spirit

 

Die amerikanische Originalausgabe erschien
unter dem Titel »The Last Hours of Ancient Sunlight«
bei Mythical Books, Northfield, Vermont, USA.

5. Auflage
©1998, 1999 Mythical Research, Inc.
This translation published by arrangement with Crown Publishers,
a division of Random House, Inc., New York
©2000 der deutschsprachigen Ausgabe Riemann Verlag GmbH, München
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
ISBN 978–3–570–50011–8

www.riemann-verlag.de

 

 

Gewidmet

meiner Tochter Kindra Hartmann für all die Lektionen, die sie uns über Mitgefühl und Liebe erteilt hat, und das beispielhafte Mitgefühl und Verständnis, das sie uns vorlebt;

meinem Sohn Justin Hartmann als Anerkennung für seine Liebe zu Büchern und Ideen und die Herausforderung, vor die er uns mit seiner Sehnsucht nach konkretem Handeln zur Verbesserung der Welt gestellt hat;

und meiner Tochter Kerith Hartmann für die Inspiration, die sie uns durch ihr Handeln und ihren leidenschaftlichen Einsatz für die Heilung der Menschen und des gesamten Lebens vermittelt.

 

Wir, die Generation, die dem nächsten Jahrhundert entgegensieht, können die … feierliche Aufforderung hinzufügen: »Wenn wir nicht das Unmögliche tun, werden wir das Undenkbare erleben.«

Petra Kelly (1947–1992)
Mitbegründerin der Grünen in Deutschland

 

 

Hinweis des Autors

Von Anbeginn der jüdisch-christlichen Tradition bis heute waren und sind einige Menschen der Ansicht, der Name des Schöpfers sei so heilig, daß er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht ausgesprochen oder vollständig geschrieben werden dürfe. Aus Respekt vor dieser Tradition folgt das Buch der Sitte, statt des Buchstaben »o« einen Bindestrich im Namen des Schöpfers einzusetzen – daher die Schreibweise »G-tt«.

Inhalt

Vorwort13
Einleitung: Warum dieses Buch?23
  
Teil I 
Unsere Vorräte an gespeichertem Sonnenlicht sind bald erschöpft29
Wir sind aus Sonnenlicht erschaffen31
Mehr Sonnenlicht gewinnen – aus anderen Tieren · Mehr Sonnenlicht gewinnen – aus dem Boden · Als das ehemalige Sonnenlicht in der Erde gespeichert wurde · Wir verbrauchen gespeichertes Sonnenlicht · Weitere Möglichkeiten, gespeichertes Sonnenlicht zu verbrennen · Wie lange reichen die Vorräte noch? Wieviel fossile Brennstoffe haben wir noch übrig? 
Wie kann die Situation so gut scheinen und doch so schlecht sein?49
Zahle nicht »an der Kasse« – lebe einfach vom »Startkapital« · Das »Ponzi-Schema« · Unsere fossilen Brennstoffquellen: »Startkapital« oder »Ponzi-Schema«? · Ist Wirtschaftswachstum die Lösung? · Alte Krankheiten kehren zurück · Vielleicht erscheint uns die Lage einfach deshalb so gut, weil wir nicht sehen oder hören, was passiert 
Sklaverei und Freiheit64
Flüchtige Eindrücke einer möglichen Zukunft in Haiti und anderen Brennpunkten68
Die Philippinen: Kinder suchen im Abfall nach Nahrung · Nepal: Vier Stunden Fußmarsch, um das Brennholz für einen Tag zu finden · Westafrika: Das Holz wurde verbraucht, Erosion setzte ein, jetzt ist dort Wüste · Wir bemerken die raschen Veränderungen, nicht die langsamen 
Das Baumsterben76
Bäume · Wurzeln als »Wasserpumpe« · Neu gepflanzte Setzlinge können das Wasser nicht nach unten ziehen · Bäume für Fleisch: Der Regenwald wird abgeholzt, damit die Amerikaner ihr Fast food bekommen · Mit den gerodeten Wäldern verschwinden die Wurzeln: Auswirkungen auf das Grundwasser und den Wasserkreislauf 
Ausgelöscht: Artenvielfalt hilft beim Überleben88
Artenvielfalt hilft beim Überleben, und wir verlieren sie · Kleine, lokale und weit verstreute Systeme sind relativ »fehlerfreundlich« · Auch die soziale Vielfalt leidet 
Klimaveränderungen99
Der Garten Eden und die Sintflut · Wir sollten bedenken, an welchem Punkt wir angekommen sind 
Besuch in einem Land, das sein Überleben plant: China117
Wer wird China ernähren? 
Das Verschwinden der Wälder, der Kampf um Brennstoffe und der Aufstieg und Fall von Weltreichen126
Können wir unsere Zivilisation retten, wenn wir Alternativen zum Öl entwickeln? · »Grüne« Energie · Wenn der Brennstoff knapp wird, beginnen die Kämpfe 
  
Teil II 
Jüngere und ältere Kulturen: Wie sind wir in diese Lage gekommen?139
Die Macht unseres Weltbildes: ältere und jüngere Kulturen141
Die Macht unserer Gedanken 
Die Kontroll-Drogen der jüngeren Kultur148
Wir schlafen nicht nur: Wir befinden uns im Drogenrausch · Die Krankheit eines »Lebens in der Kiste« · Wie es sich anfühlt, wieder mit der Welt in Berührung zu kommen 
Wie jüngere Kulturen die Dinge sehen167
Das heutige Weltbild »jüngerer Kulturen« · Wétiko: Gewinn durch die Vernichtung fremden Lebens · Die Grundlagen unserer Kultur · Wohin es führt, wenn wir denken, daß »alle anderen schlecht sind« · Die Geschichte der Gegenwart: Wir sind alle voneinander getrennt · Unsere Vorstellung von »primitiven« Menschen · Das Wachstum unserer Kultur hat Ähnlichkeiten mit Krebs · Der Angriff der jüngeren Kulturen läßt uns wenig Alternativen · Die Geschichten verändern 
Woran wir uns erinnern müssen199
»Das große Vergessen« · Die Schönheit des Erinnerns · Woran wir uns erinnern müssen: Das Weltbild der »älteren Kultur« · Die Geburt von Klassenunterschieden und Machtstrukturen · Wie es geschah · Die »Sklaverei« (Verlust der Freiheit) der Zivilisation · Freizeit · Kulturelle Tiefe · Moderne Sklaven 
Das Leben der alten Völker228
Die San und die Kogi: Die Bedeutung von Gemeinschaft und Kooperation; wir sind ein Teil der Welt und nicht von ihr getrennt · Die Kayapo: umweltverträgliche Landwirtschaft 
Macht versus Kooperation in sozialen Systemen: Stadt/Staat versus Stamm236
Stammeskulturen und Stadt- und Staatskulturen · Die Struktur einer Stammesgruppe · Die Struktur einer städtischen und staatlichen Kultur · Die möglichen Ursprünge von Städten und Staaten · Die Bevölkerung in Stammeskulturen · Aber wie haben die Stämme ihr Bevölkerungswachstum kontrolliert? · »Aber unsere Nationen sind so stabil …« · Anarchie oder Stammessystem? 
Aber was ist mit Darwin und dem Recht des Stärkeren?265
  
Teil III 
Was können wir dagegen tun?273
Die neue Wissenschaft277
Das Weltbild des ersten Menschen · Die Physik entdeckt das Bewußtsein · Wir verändern täglich unsere Welt · Praktizieren Sie kleine Akte anonymer Barmherzigkeit · Verbinden Sie sich wieder direkt mit G-tt 
Wir brauchen neue Weltbilder, um die Welt zu verändern298
Das herrschende Weltbild kann verändert werden und wird verändert: Dann ändert sich auch die Wirklichkeit 
Das Heilige berühren304
Ein Blick in die Vergangenheit · Ankunft in der Gegenwart 
Lernen Sie, Gewahrsam zu schaffen312
Lektionen eines Mönchs318
Den Frauen wieder die Macht übertragen327
Das Geheimnis des »Genug«330
Was Reichtum bedeutet · Der Reichtum der Sicherheit · Aber sind sie nicht bitterarm? · Unsere Armut 
Respekt vor anderen Kulturen und Gemeinschaften338
Respekt vor dem Sabbat für das Land und vor den Erlaßjahren · Der Reichtum alter Kulturen 
Dem Krieg gegen das Leben abschwören348
Sehen Sie in das Gesicht G-ttes351
Technologie anders nutzen354
Das Öl nutzen, um kein Öl mehr zu verbrauchen · Energieversorgung abseits der großen Netze · Energie sparen 
Schalten Sie den Fernseher ab363
Der moderne Stamm: die Zweckgemeinschaft368
Stämme und Gemeinschaften · Zweckgemeinschaften · Holen Sie sich Unterstützung und Informationen von der wachsenden Community-Bewegung · Ein Besuch bei einer »Zweckgemeinschaft« 
Das Alltagsleben und Rituale neu erfinden394
Rituale verschwinden nicht, sondern ändern sich nur · Sinnvolle Rituale · Rituale neu erfinden 
Wir haben viel zu lernen – und noch mehr, woran wir uns erinnern müssen404
Nachwort408
Literaturempfehlungen411
Danksagung414

[13]

Vorwort

Brillantes, innovatives, kreatives und originelles Denken zu entdecken, gehört zu den seltenen Sternstunden des Lebens. Um so ermutigender ist es, wenn man dann feststellt, daß ein solcher Denker sich mit eben jenem Thema auseinandersetzt, das für die Menschheit höchste Bedeutung hat. Weil es sich hier um ein zukunftweisendes Werk handelt, in dem ebenso originelle wie traditionelle Positionen vertreten werden, sehe ich unsere Situation heute in einem neuen Licht. Und weil dieses Werk so viele Aspekte der Problematik bis in die Tiefe auslotet, finde ich es ebenso inspirierend wie aufrüttelnd. Ich habe bereits bei meinem Lob für das letzte Buch von Thom Hartmann, The Prophet's Way (Der Weg des Propheten), alle Superlative strapaziert, indem ich es zu Recht »das wichtigste Buch, das ich je gelesen habe« nannte. Jetzt muß ich feststellen, daß dieses neue Werk ebenso beeindruckend ist, denn das Thema, um das es hier geht, betrifft die gesamte Menschheit, ja sogar alle Lebewesen auf dieser Erde.

Ich habe mir lange den Kopf darüber zerbrochen, warum diese herzzerreißende und geradezu beängstigende ökologische Krise oft nur so oberflächlich und nebenbei erörtert oder gar von einer schlafwandelnden Bevölkerung vollends ignoriert wird. Eine Krise von planetarem Ausmaß betrifft alle Aspekte unseres Daseins, vom Persönlichen über das Soziale bis hin zu weltweiten Zusammenhängen, aber trotz gelegentlicher Lippenbekenntnisse und Katastrophenszenarien scheinen die meisten unserer Gesten (ein bißchen Recycling, ein bißchen weniger Autofahren, etwas die Heizung oder die Klimaanlage herunterdrehen, eine Spende für eine Umweltorganisation) nur darauf abzuzielen, unser Schuldbewußtsein [14]zu verringern oder unser Gefühl der Ohnmacht zu verschleiern. Im Grunde tun wir nicht viel, um unseren Absturz aufzuhalten.

Vielleicht stecken wir lieber den Kopf in den Sand, weil die Vergewaltigung unserer Erde einfach zu riesig und zu schrecklich ist und Kräfte umfaßt, die sich unserer persönlichen Kontrolle vollständig entziehen (wenn wir genauer darüber nachdenken, sieht es so aus, daß sie sich jeglicher Kontrolle entziehen). Die einzige vergleichbare Bedrohung, die mir dazu einfällt, ist die Gefahr der atomaren Vernichtung, die fast ein halbes Jahrhundert als dunkle Wolke über unseren Köpfen hing und sich erst in jüngster Zeit verringert hat. Auf einer mehr regionalen und persönlichen Ebene könnte ich vielleicht auch noch die Zerstörung durch den Steinkohle-Tagebau in den Appalachen im südwestlichen Virginia und im östlichen Kentucky erwähnen, wo ich meine glückliche und idyllische Kindheit verbracht habe. Die Landschaftszerstörung durch den Tagebau, der dort nach dem Zweiten Weltkrieg begann, kann man sich nur vorstellen, wenn man sie gesehen hat. Auf einem unberührten Gebirgskamm stehend kann man sehen, wie ganze Landstriche buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht und vernichtet wurden, ausradiert – man blickt auf scheußliche Narben im südlichen Hochland, das früher zu den landschaftlich schönsten Gegenden gehörte. Wo man einst den Trail of the Lonesome Pine und andere Naturschönheiten bewundern konnte, sind heute die Flüsse voller Schlamm, die Täler mit Abraumhalden zugeschüttet, die Landschaft verunstaltet, aber es wurden riesige Summen in Aussicht gestellt – kurzfristige Angebote, die beinhalteten, daß ganze Bezirke in der Region verkauft wurden und jede Sanierungsmöglichkeit ausgeschlossen ist. Bagger mit Rädern, die zwei Stockwerke hoch sind (Fahrzeuge, die an Ort und Stelle zusammengebaut werden mußten), versetzten ganze Berge – doch nicht durch Glauben, sondern ausschließlich mit Erdöl.

Hartmann wirft ein neues Licht auf solche Vorfälle und zeigt uns, [15]daß unsere gegenwärtige Krise eine Jahrtausende zurückreichende Geschichte hat. Sie ist das ferne Echo jener Gedankenkräfte, die vor langer Zeit in Bewegung gesetzt wurden, eingewoben in die neuralen Prozesse unseres Gehirns. Ein kulturell vererbtes Gedankengebäude, das im Laufe von Jahrtausenden errichtet wurde, steckt hinter der zunehmenden Gewalt, die wir der Erde – und einander – antun. Die seltsamen Ängste und Wutgefühle, die unsere moderne Welt durchdringen, sind »altes Karma«, das wir schon lange mit uns herumschleppen und als ebenso selbstverständlich akzeptieren wie die Bezeichnung der Farbe Blau als blau oder Rot als rot – sie sind einfach unser Erbe, so wie die Söhne nervös werden, wenn die Väter verärgert sind, Generation für Generation – ein unbewußter Kreislauf, der jedoch, wie Hartmann zeigt, durch bewußtes Handeln unterbrochen werden kann.

»Ach, darum sollen sich die Ökos kümmern«, ist jedoch oft die Reaktion auf Umweltthemen, vor allem von Seiten der Erfolgsmenschen, die sich vorgenommen haben, Bill Gates zu übertrumpfen. Wir sind so von unseren eigenen Angelegenheiten in Anspruch genommen, wollen in der Welt einfach »weiterkommen« oder »es schaffen«, daß es schwierig ist, zurückzutreten und die Konsequenzen unseres gewöhnlichen alltäglichen Handelns zu bedenken, das wir unbewußt als Norm akzeptieren. Oder wir rationalisieren einfach, wie einer meiner Freunde, der als Geschäftsmann das »Ökogeschwätz« als unwesentlich abtat angesichts der enormen Größe unseres Planeten und unserer dementsprechend geringen Bedeutung als Bewohner dieser Erde – als seien wir Mikroben, die über den riesigen Erdball kriechen, ohne die planetaren Funktionen nennenswert zu beeinträchtigen.

Thom Hartmann erörtert unsere Notlage bewundernswert einfach und klar, wobei er sich auf zahlreiche Forschungsergebnisse stützt, die in der Tat ernüchternd sind. Ich habe sein Manuskript Freunden gezeigt und mit ihnen ausführlich darüber gesprochen, aber trotz meiner Begeisterung war ihre Reaktion enttäuschend. »Ach, [16]das …« hieß es, als ihnen klar wurde, daß es um das Thema Ökologie ging. Und dann wandten sie sich wieder den wirklich wichtigen Dingen zu – und dazu gehören eben keine Nebensächlichkeiten wie eine verwundete Erde, ein sterbendes Ökosystem, das Verdorren der menschlichen Spiritualität, die massive Überbevölkerung und drohende Hungersnöte.

Ich erinnere mich an meinen Platznachbarn auf einem Flug von Los Angeles nach Washington D.C. im Jahre 1979 (also vor fast 20 Jahren), einen Geophysiker, der als Geologe für die Regierung arbeitete und eben von einer internationalen Konferenz der Geophysiker in Tokio zurückkehrte. Er war wenig optimistisch. »Alles, was unser Ministerium in den letzten fünfzig Jahren prognostiziert und der Regierung vorgelegt hatte«, so behauptete er, »ist genau wie vorhergesagt eingetreten, aber jeder unserer Berichte über die schwerwiegenden ökologischen Probleme ist systematisch ignoriert oder regelrecht unterdrückt worden. Wahrscheinlich ist unser Beitrag zum Bruttosozialprodukt nicht allzugroß, und deshalb heißt es dann: ›Wir brauchen die Öffentlichkeit nicht mit den alarmierenden Meldungen dieser Wissenschaftler zu beunruhigen, die sich selbst so furchtbar ernst nehmen, wissen Sie.‹«

Die Hauptsorge bei jener Konferenz der Geowissenschaftler im Jahre 1979 galt der Zerstörung des Regenwaldes in der Region um den Äquator. Der Regenwald in dieser Gegend ist die einzige substantielle Quelle von Sauerstoff und nimmt gleichzeitig das Kohlendioxid aus der Luft auf. Zudem beeinflußt er nachhaltig die globalen Niederschläge und Wettermuster. Aber damals wurden stündlich etwa 1 200 000 Quadratmeter Regenwald abgeholzt, und die Wissenschaftler waren sich einig, daß es sich hier um einen verhängnisvollen Irrtum von globalen Ausmaßen handelte, der immer rascher um sich griff.

Um festzustellen, um wieviel schneller der Regenwald heute zerstört wird, sollten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, sich die Statistiken der letzten zwanzig Jahre ansehen – falls Sie den Mut dazu besitzen.

[17]

Eine andere Zufallsbekanntschaft aus dem Flugzeug war Geologe bei BP (British Petroleum). Ich traf ihn 1991. »Unsere Ölvorräte gehen zur Neige«, klagte er, »das Ende ist in Sicht, aber wir verbrennen weiterhin Öl. Wir sollten es lieber aufsparen, um daraus Kunststoffe und andere Produkte herzustellen. Wir könnten statt dessen Energie aus Wasserstoff gewinnen«, hob er hervor, »das ist die Substanz, die im Universum am weitesten verbreitet ist. Wir sind sicher, daß man damit Autos, Fabriken, Elektrogeneratoren und dergleichen mehr antreiben könnte. Aber wenn wir jetzt unsere letzten Ölreserven verbrennen«, wiederholte er, »dann ist das eine Riesenkatastrophe und absolut unvernünftig.« (Ich habe seitdem nichts mehr über die Wasserstoff-Technologie gehört, und auch nichts darüber, daß die Logik und Vernunft unserer Wirtschaftsweise in Frage gestellt worden wäre.)

Wäre das Verbrennen unserer Ölreserven der einzige unlogische Vorgang in der heutigen Zeit, vielleicht wäre dann die unterschwellige Angst, an der die gesamte Menschheit leidet, nicht so ausgeprägt, aber das Öl ist, wie Hartmann auf den folgenden Seiten darlegt, nur ein Faden im Gewebe unserer ineinandergreifenden Handlungen, die von extremer Geistesverwirrung zeugen. Warum sollen wir dieses Zeug lesen, fragen Sie vielleicht, wenn die Situation tatsächlich so ernst ist, wie die Experten behaupten? Warum nicht einfach essen, trinken und fröhlich sein, die letzten Rosenknospen sammeln, denn morgen …? Sie sollten weiterlesen, weil Bürgerinnen und Bürger, die nur durch oberflächliche Drei-Minuten-Beiträge in Funk und Fernsehen informiert werden, bestenfalls oberflächlich reagieren können. Es steht wesentlich mehr auf dem Spiel. Hartmanns Sammlung kalter Fakten ist notwendig, um die volle Bedeutung dessen zu erfassen, was hier vorgeht. Sein Aufruf zu verantwortungsbewußtem Handeln, einem Handeln, zu dem wir alle fähig sind, ist ein vernünftiger und praktikabler Aufruf, wieder zu geistiger Gesundheit zurückzukehren und, wenn wir die Situation schon nicht umkehren können, so doch wenigstens [18]den Samen für eine neue Ökologie und eine neue Erde zu pflanzen: zu retten, was noch zu retten ist, wenn ein nicht mehr lebensfähiges und chaotisches System sich am Ende selbst zerstört. Wir müssen erst die Krankheit begreifen, bevor wir die Therapie verstehen können.

Natürlich werden immer mehr Bücher über den ökologischen Kollaps veröffentlicht, während Wissenschaftler bei den Regierungen, der Industrie und den Verbrauchern um die Anerkennung der Fakten ringen – leider vergeblich. Viele von uns, die der Öffentlichkeit kritische Themen unserer Zeit vermitteln wollen, erreichen nur die Leute, die sich ohnehin schon umgestellt haben (die anderen hören nicht zu), während die große Maschine, die nun zur »globalen Ökonomie« herangewachsen ist, sich immer schneller auf den Abgrund zubewegt. Wir erinnern uns an Rachel Carsons prophetisches Buch Der stumme Frühling, das vor vielen Jahren erschienen ist, und sprechen davon, daß ihre Arbeit ein »Wendepunkt« in der Diskussion über die chemische Vergiftung der Erde war, doch rückblickend erkennen wir, daß keine nennenswerten Veränderungen stattgefunden haben, sondern nur ein wenig Oberflächenkosmetik betrieben wurde, um den Aufschrei zu mildern und unbeeindruckt weiterzumachen wie bisher. Unsere »Umweltschutzorganisationen« streiten vor den Kameras um kleine Fische, während sie hinter unserem Rücken riesige Kröten schlucken. Carsons Behauptungen hätten letztendlich auch wenig zum Bruttosozialprodukt beigetragen; folglich enthält die Muttermilch heutzutage mehr DDT als damals und zusätzlich noch eine Menge neuer Chemikalien, an die Carson nicht einmal im Traum gedacht hat. (Wir produzieren im Durchschnitt neuntausend neue Chemikalien pro Jahr, molekulare Kombinationen, die es nirgendwo sonst im Universum gibt, und 90 Prozent davon sind krebserregend.) Und Krebs, die Krankheit, an der die arme Rachel ironischerweise gestorben ist, breitet sich nahezu exponentiell aus.

Im Jahre 1954 – so lange ist es tatsächlich schon her – haben die [19]britischen Zellbiologen Williamson und Pierce nach dreißig Jahren medizinischer Forschung, die von der Peckham Foundation gefördert wurde, erklärt, die Menschheit sei zu einem Krebsgeschwür am lebenden Körper der Erde geworden, und sie haben vorhergesagt, da die Erde und ihre Bewohner eine einzige lebendige Symbiose darstellen, würden sich Krebskrankheiten in der menschlichen Bevölkerung epidemisch ausbreiten. Ihre Prognosen und Empfehlungen waren wenig geeignet, das Wachstum der britischen Industrie oder gar der Vereinigten Staaten zu fördern, und sie wurden völlig ignoriert.

Schon lange brauchen wir eine neue Sichtweise der Problematik und eine Darstellung der himmelschreienden Fakten, die so überzeugend ist, daß sie für sich selbst sprechen. Und genau das präsentiert uns Thom Hartmann hier: Er macht uns deutlich, daß die Verarmung und der Verfall der menschlichen Spiritualität die Wurzel unserer Krankheit ist, eine Entwicklung, die sich bereits über Jahrtausende erstreckt, und daß nur ein neues kulturelles Selbstbild und Weltbild uns retten kann. Wir hören zwar bis zum Erbrechen vom »wissenschaftlichen Paradigmenwandel«, aber nur die Wiederentdeckung eines sehr alten Paradigmas, bei dem es um die Heiligkeit des Alltagslebens, die Heiligkeit jeder Lebensform, von der lebendigen Erde über die Menschen bis zu allen anderen Lebewesen geht, kann die Wende bringen. Und diese Vorstellungen werden uns nicht durch das Fernsehen oder die Computertechnologie vermittelt.

Insofern ist der letzte Teil dieses Buches nicht nur ein Aufruf zu persönlicher Verantwortlichkeit – eine eher vage Abstraktion –, sondern eine sehr machtvolle und deutliche »Verhaltensvorschrift«, nach der sich auch der Letzte von uns richten kann, um in seinem eigenen Inneren dieses alte und doch stets neue Bild des Lebens zu entdecken und danach zu handeln. Hier ist eine Aufforderung zum Handeln, der jeder folgen kann, zur persönlichen Bereicherung und spirituellen Erneuerung, um geistigen Frieden [20]zu erlangen und unseren Planeten wieder zu dem zu machen, was er einmal war.

Ich kann nur dringend darum bitten, daß jeder dieses bemerkenswerte, ungewöhnliche, einzigartige und außerordentliche Buch liest, darüber spricht und es bekannt macht, so als würde unser persönliches Leben davon abhängen – was tatsächlich der Fall ist.

Zweifellos werden wir der Aufrufe zum Handeln müde, doch wenn wir diesen hier ignorieren, gefährden wir uns selbst, unsere Kinder und Kindeskinder und diese wunderbare Erde, für die wir Verantwortung tragen. Als ich Jerry Manders Meisterwerk In the Absence of the Sacred, das in dieselbe Richtung wie Hartmann weist, gelesen hatte, dachte ich, ich sei über ökologische Themen informiert, aber die Lektüre von Unser ausgebrannter Planet hat mir die Augen für neue Perspektiven geöffnet.

Lesen Sie also dieses Buch. Kaufen Sie ein weiteres Exemplar und schenken Sie es einem Freund. Machen Sie ein bißchen Wind – schicken Sie ein Exemplar an Ihren Bundestagsabgeordneten, an die Handelskammer, an eine Rundfunkanstalt. Bestehen Sie darauf, daß es in die Lehrpläne von Schulen, Hochschulen und Universitäten aufgenommen wird. Und ruhen Sie sich nicht nach ein paar noblen Gesten auf Ihren Lorbeeren aus (wie ich es oft tue). Bleiben Sie am Ball – der immer schneller fortschreitende Verfall, zu dem wir selbst beigetragen haben, wird sich nicht so leicht stoppen lassen. Wir haben ungeheure Kräfte in Bewegung gesetzt, und jetzt ist ein enormer Einsatz gefragt.

Als sie vom Gemetzel an den afrikanischen Elefanten erfuhr, warf sich meine damals elfjährige Tochter, besessen von der geradlinigen und klaren Logik der Vernunft und deshalb unfähig, die mörderische Unvernunft der Erwachsenen zu begreifen, weinend auf den Boden und schrie: »Wie können sie das nur tun? Wie nur?« – und dann drehte sie sich um, zeigte auf mich und klagte: »Und du sitzt einfach nur da rum!«

[21]

Was sollte ich sagen? Wenn ich gewollt hätte, hätte ich etwas tun können, aber ich wußte nicht was. Nach bemerkenswerten Einsichten in die Natur der Krankheiten, die uns befallen haben, stellen Ihnen die folgenden Seiten noch bemerkenswertere Mittel und Wege vor, zeigen Ihnen konkrete, ungewöhnliche und unerwartete Handlungsmöglichkeiten. Und sogar ich, in meinem siebten Lebensjahrzehnt auf dem Weg ins Unbekannte, kann wirklich etwas tun, ebenso wie Sie. Also, wie meine Tochter sagen würde: »Sitzen Sie nicht rum, tun Sie etwas!« Machen Sie dieses Buch bekannt, und setzen Sie seine Botschaft in Ihrem Leben um. Jetzt. Hier und heute, zu dieser Stunde.

Hochachtungsvoll

Joseph Chilton Pearce

Faber, Virginia, USA
Oktober 1997

 

 

[23]

Einleitung
Warum dieses Buch?

Wir hatten unsere letzte Chance. Wenn wir kein besseres oder gerechteres System schaffen können, wird das Armageddon[1] vor unserer Tür stehen.

Douglas MacArthur (1880–1964)
am 2. September 1945

In den letzten vierundzwanzig Stunden sind auf unserem Planeten 80 000 Hektar Regenwald zerstört worden. Volle 13 Millionen Tonnen giftiger Chemikalien wurden in unsere Umwelt entlassen. Mehr als 45 000 Menschen sind verhungert, davon 38 000 Kinder. Und mehr als 130 Pflanzen- oder Tierarten sind durch menschliches Handeln ausgelöscht worden. (Ein Artensterben von diesen Ausmaßen fand zuletzt beim Untergang der Dinosaurier statt.) Und all dies geschah in nur vierundzwanzig Stunden.

Wir Menschen in der modernen Welt denken oft im Leben nur an unsere Alltagsprobleme, ans Geldverdienen und an die Sicherung eines bestimmten Lebensstandards. Gelegentlich hören und sehen wir etwas genauer hin, und dann können wir ohne große Mühe eine Kakophonie von Stimmen wahrnehmen, die sich in düsteren Voraussagen über die Zukunft ergehen, von vernünftig bis unwahrscheinlich.

Täglich präsentieren uns die Medien Geschichten über neue Killerbakterien oder Viren, extreme Wetterverhältnisse, allgegenwärtige krebserregende Umweltgifte, alarmierende Bedrohungen für unsere Nahrungsmittelversorgung und Experten, die behaupten, [24]der wirtschaftliche Zusammenbruch und die weltweite Depression – vielleicht auch die letzte Schlacht von Armageddon – seien nur noch ein paar Tage oder Jahre entfernt.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch Leute, die uns sagen, alles sei bestens, vielen Dank, und es gebe keine Probleme: Die gesamte menschliche Weltbevölkerung passe in ein Gebiet in der Größe von Florida (obwohl die Einwohner von Florida von dieser Idee nicht begeistert sind), und die moderne Technologie werde eines Tages alle unsere Probleme lösen.

Zwischen diesen widerstreitenden Ansichten darüber, was in unserer Welt richtig oder falsch läuft, gibt es eine andere Kontroverse, bei der es darum geht, was wir zur Lösung der Probleme tun oder nicht tun sollten.

Bei den meisten Auseinandersetzungen dieser Art werden jedoch vier grundlegende Realitäten übersehen:

  1. Trotz der Bedeutung der modernen Technologie sind die gegenwärtigen Krisen und Gefahren nicht etwa Unfälle, die durch Veränderungen in jüngster Zeit verursacht worden wären. Sie sind das vorhersagbare Ergebnis der Art und Weise, wie die Menschheit seit dem Aufkommen der ersten Städte/Staaten, die von den Sumerern vor etwa 7000 Jahren gegründet wurden, gelebt hat. Außerdem spiegeln sie immer wiederkehrende Zyklen, die diese Städte/Staaten durchlaufen haben, seitdem einige Menschen sich entschieden haben, nicht mehr in Stammesgemeinschaften, sondern in Städten/Staaten zu leben.
  2. Wir (und alle anderen Lebewesen) bestehen aus der Nahrung, die wir essen, und die einzige Energiequelle der Nahrung ist das Sonnenlicht. Ohne Sonne kein Leben; Sonnenlicht im Überfluß und reichlich Wasser sorgen dagegen für eine Fülle von Lebensformen. Wir bestehen aus Sonnenlicht. Wie wir mit dieser fundamentalen Energiequelle umgehen, spiegelt unser Selbstbild im Verhältnis zur sonstigen Natur.
  3. [25]Unsere Probleme werden nicht durch unsere Technologie, unsere Ernährungsweise, Gewaltdarstellungen in den Medien oder durch irgend etwas anderes, das wir tun, hervorgerufen. Sie sind eine Folge unserer Kultur – unserer Weltsicht. Die meisten Vorschläge zur Lösung der weltweiten Krise sind nicht praktikabel, weil sie Ausdruck derselben Weltsicht sind, die eben jene Krise verursacht hat. Sie werden beim Lesen dieses Buches erkennen, daß weder Recycling noch Geburtenkontrolle noch der Schutz der verbliebenen Regenwälder die Welt retten kann. Selbst wenn wir all dies konsequent umsetzen würden, hätten wir das fundamentale Problem nicht gelöst, und der Teufelskreis würde sich unvermeidlich wiederholen. Nicht einmal die kalte Fusion, mit deren Hilfe wir unseren Energiebedarf ohne Erdöl decken könnten und die der ganzen Welt unbegrenzte Energiemengen bescheren würde, könnte »die Welt retten«. Nur wenn wir unsere Weltsicht und unser Verständnis der Welt ändern, können wir einen echten, bedeutsamen und dauerhaften Wandel herbeiführen. Und dieser Perspektivenwandel wird uns dann auf ganz natürliche Weise dazu bringen, daß wir das Bevölkerungswachstum eindämmen, unsere Wälder schützen, das Gemeinschaftsleben neu gestalten und unserem verschwenderischen Konsum Grenzen setzen.
  4. Die Lösungen, die ich in diesem Buch vorschlage, sind in der Geschichte der menschlichen Rasse weder neu noch radikal. Im Grunde sind sie Ausdruck einer Weltsicht, die die Menschheit seit Hunderttausenden von Jahren erhalten und ernährt hat. In Südamerika, Nordamerika, Afrika, Australien und im frühen Asien haben die einheimischen Stämme ihr Bevölkerungswachstum beschränkt und ihre Welt nicht zerstört, obwohl sie in den meisten Fällen über sehr viel mehr Ressourcen verfügten, als sie brauchten. Auch gibt es in der frühen Menschheitsgeschichte keine Hinweise darauf, daß die Menschen einen harten, verzweifelten Lebenskampf führten, wie es so oft in den Medien [26]dargestellt wird und wie es sich der moderne Durchschnittsbürger vorstellt. Sie lebten im Einklang mit ihrer Umwelt, sahen die Heiligkeit der Welt und die Gegenwart des Schöpfers und des Göttlichen in allen Dingen und führten im allgemeinen ein erfülltes Leben, in dem sie über sehr viel mehr Freizeit verfügten, als die durchschnittliche arbeitende Bevölkerung in der industrialisierten Welt sie je haben wird. Ihr Bewußtsein und ihr Lebensstil haben ihre Kultur und die Menschen hundertmal länger bewahrt, als die Vereinigten Staaten existieren, und sie erhalten immer noch Millionen dieser Menschen auf der ganzen Welt. Sie haben uns wichtige Lektionen zu vermitteln – obwohl, wie dieses Buch zeigen wird, wir »zivilisierten« Völker sie buchstäblich ausrotten und deshalb das entsetzliche Risiko eingehen, daß ihr Wissen verlorengeht, während wir ihnen ihr Land, ihre Sprache und ihr Leben rauben.

Wenn genügend Menschen ihre Sicht der Dinge ändern, dann werden Lösungen erkennbar, und zwar oft auf eine Weise, die wir uns nicht vorstellen konnten, bevor wir die Zusammenhänge nicht mit neuen Augen betrachtet haben. Unsere Kultur hat dazu geführt, daß wir viel von der Welt zerstört haben; wir können aber noch vieles retten, wenn wir unsere Kultur ändern. Wenn Sie dieses Buch lesen, werden Sie feststellen, daß wir im kulturellen Unterbau unserer Vorfahren die alten Schlüssel zu jenem Wissen finden, das die menschliche Rasse und den Planeten bewahren kann – ohne daß wir dazu wieder in Höhlen und Hütten leben müssen. Im gezielten und freiwilligen Konsumverzicht liegt ein Weg, der mehr Sicherheit für die Menschen und den Planeten bietet. Und dieses Buch wird Ihnen zeigen, wie Sie Ihre eigene Lebensqualität verbessern können, während Sie an der Rettung der Menschheit und unserer Welt mitwirken.

In diesem Buch geht es darum, wo sich die Welt hinbewegt und was wir dazu beitragen können. Das Ende ist optimistisch, aber auf [27]dem Weg dorthin erfahren Sie auch viele schlechte Nachrichten … wenngleich das Verständnis dafür, wie die Dinge sind und wie sie so wurden, uns auch erkennen läßt, daß es in unserer Umgebung Werkzeuge gibt – vor allem in der Art, wie wir leben und die Welt wahrnehmen –, die positiv sind und Veränderungen bewirken können. So gesehen sind sogar die »schlechten Nachrichten« in Wirklichkeit gute Nachrichten. Ich will mit diesem Buch keine Schuldgefühle und Depressionen erzeugen: Ich schreibe in der Hoffnung, daß ich damit einen positiven und dauerhaften Wandel herbeiführen kann.

Das Buch beginnt mit einer Darstellung des Zustands, in dem sich die Welt heute befindet: Bevölkerungswachstum, Raubbau an unseren Ressourcen, und wie wir auf dem Weg dahin »unser Nest beschmutzt« haben. Entscheidend ist an dieser Stelle ein Faktor, dessen Bedeutung bisher nur wenige Menschen erkannt haben: die Quelle der Energie, die wir in Form von Nahrungsmitteln und Brennstoffen verbrauchen, und der Nachweis, daß wir wirklich auf dem besten Weg sind, diese Quelle zu erschöpfen. Wir werden erörtern, wie es so weit kommen konnte, und erfahren, warum so viele Leute heute noch glauben, daß alles zum Besten steht, obwohl das keineswegs stimmt.

Menschen, die mir bei der Arbeit an diesem Buch geholfen haben, haben mir berichtet, daß sich nach dem Lesen des ersten Drittels ihre gesamte Sicht des Lebens verändert hat. Sie hatten ein neues, noch unklares, aber unentrinnbares Bild davon, warum die Dinge so sind, wie sie sind, und was das für die Zukunft bedeutet, wenn wir nicht bald etwas unternehmen. An diesem Punkt wird sich vielleicht der eine oder die andere abwenden und den Weg nicht zu Ende gehen wollen, der direkt von unserer Vergangenheit in eine Zukunft führt, die beunruhigend aussieht. Dennoch besteht Hoffnung für diese Zukunft, selbst angesichts der enormen Probleme, denen wir gegenüberstehen.

Im zweiten Teil des Buches wird erläutert, warum wir uns selbst [28]in diese mißliche Lage gebracht haben. Wenn wir dieses »Warum« verstehen, dann haben wir, glaube ich, den Schlüssel, mit dem wir unsere Zukunft retten und die Tür zu neuen Lösungen öffnen können, die sich bereits als realisierbar erwiesen haben.

Im letzten Teil des Buches werden wir sehen, was wir mit unseren neuen Erkenntnissen anfangen können. Wenn Sie mir bis dorthin folgen, werden Sie von einer realistischen, auf Tatsachen basierenden Zuversicht erfüllt sein, daß wir, wenn wir richtig handeln, es wirklich schaffen können.

Bitte gehen Sie diesen Weg mit uns. Wie meine Freundin Gwynn Fisher sagt: »Ohne Hoffnung können wir nicht reifen.« In diesem Buch geht es letztlich immer um Hoffnung, und es bietet uns – wenn wir erst einmal verstanden haben, warum die Dinge so wurden, wie sie sind – konkrete Lösungen für eine sinnvollere und erfreulichere Zukunft.

Thom Hartmann
Roxbury, Vermont, USA, 1997

 

 

[29]

Teil I
Unsere Vorräte an gespeichertem Sonnenlicht sind bald erschöpft

Wo unsere Energie herkommt, wie wir »über unsere Verhältnisse leben« und was unseren Kindern geschehen wird, wenn die Vorräte erschöpft sind

Es beginnt alles mit Sonnenlicht.

Sonnenlicht gießt Energie über die Erde, und diese Energie wird von einer Form in die nächste umgewandelt, in einem endlosen Kreislauf von Leben, Tod und Erneuerung. Ein Teil des Sonnenlichts wurde unterirdisch gespeichert, und dadurch verfügen wir über ein enormes »Sparkonto« an Energie, von dem wir zehren können. Unsere Zivilisation hat einen großen Hunger nach dieser Energie entwickelt, denn wir haben Milliarden und Abermilliarden von großen und kleinen Maschinen gebaut, die alle auf Brennstoff und Elektrizität angewiesen sind.

Doch unsere Ersparnisse sind bald aufgezehrt, und deshalb sehen wir höchstwahrscheinlich schweren Zeiten entgegen.

Im ersten Teil dieses Buches werden wir Ihnen einen Überblick über die Situation vermitteln, damit wir eine Grundlage haben, auf der wir unsere Aktionspläne entwickeln können. Themen sind unter anderem:

Lassen Sie uns mit dem Anfang beginnen, mit der Energiequelle, die diesem Planeten vor Millionen von Jahren das Leben geschenkt hat: das Sonnenlicht.

 

 

[31]

Wir sind aus Sonnenlicht erschaffen

Die Sonne, der Hort der Zuneigung und des Lebens, gießt brennende Liebe über die entzückte Erde.

Arthur Rimbaud (1854–1891)

In einem sehr konkreten Sinne sind wir alle aus Sonnenlicht erschaffen.

Die Wärme, das sichtbare Licht und das ultraviolette Licht der Sonne ist die Quelle allen Lebens auf der Erde. Alles Leben in Ihrer Umgebung existiert nur, weil irgendwann und irgendwo eine Pflanze fähig war, das Sonnenlicht einzufangen und zu speichern.

Alle Tiere leben von diesen Pflanzen, sei es direkt (als Pflanzenfresser) oder indirekt (als Fleischfresser, die sich von Pflanzenfressern ernähren). Das gilt für Säugetiere, Insekten, Vögel, Amphibien, Reptilien, Bakterien … alles, was lebt. Jede Lebensform auf der Oberfläche dieses Planeten existiert nur, weil eine Pflanze das Sonnenlicht sammeln und speichern konnte, und weil ein anderes Wesen sich von dieser Pflanze ernährt und das gespeicherte Sonnenlicht aufgenommen hat, um seinem Körper damit Energie zuzuführen.[2]

Insofern waren Überfluß oder Mangel an Nahrung für die Menschen bis vor wenigen Jahrhunderten weitgehend davon abhängig, wieviel Sonnenlicht auf den Boden fiel. Und für alle nichtmenschlichen Lebensformen auf diesem Planeten gilt das immer [32]noch: Sie werden feststellen, daß in vielen Gegenden um den Äquator herum, wo es reichlich Sonnenlicht gibt, auch zahllose Pflanzen und Tiere leben, wogegen man in den relativ sonnenarmen Polarregionen wesentlich weniger Lebewesen und eine geringere Artenvielfalt findet.

Pflanzen speichern das Sonnenlicht auf eine sehr direkte Weise. Unsere Atmosphäre enthält Millionen Tonnen von Kohlenstoff, der überwiegend gasförmig als Kohlendioxid (CO2) vorkommt. Die Pflanzen atmen dieses CO2 ein und benutzen die Energie des Sonnenlichtes für eine chemische Reaktion in ihren Blättern, die sogenannte Photosynthese, welche die beiden Sauerstoffatome vom Kohlenstoff trennt und auf diese Weise freien Kohlenstoff (C) und freien Sauerstoff (O2) produziert. Die Pflanze stellt aus dem Kohlenstoff Kohlenhydrate wie Zellulose her und so gut wie alle anderen Pflanzenteile – Wurzeln, Stämme, Blätter, Früchte und Nüsse –, während sie den Sauerstoff als »Abfallprodukt« ausatmet.

Viele Leute glauben, die Pflanzen würden aus der Erde aufgebaut – sie meinen, der Baum vor ihrem Haus bestehe überwiegend aus der Erde, in der er wächst. Das ist jedoch ein weitverbreiteter Fehler – tatsächlich setzt sich der Baum im wesentlichen aus den Gasen in unserer Luft (Kohlendioxid) und im Wasser (Wasserstoff und Sauerstoff) zusammen. Bäume sind eine feste Form von Luft und Sonnenlicht.

Die Blätter der Pflanzen fangen das Sonnenlicht ein und benutzen diese Energie, um Kohlenstoff und Kohlendioxid aus der Luft zu gewinnen, sie mit Sauerstoff und Wasserstoff aus dem Wasser zu verbinden und auf diese Weise Zucker und andere komplexe Kohlenhydrate (sie bestehen ebenfalls aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff) wie Zellulose zu bilden, woraus die Wurzeln, Stämme und Blätter überwiegend aufgebaut sind. Wenn wir Holz verbrennen, wird die »Sonnenenergie« in Form von Licht und Hitze (des Feuers) freigesetzt. Der größte Teil des Kohlenstoffs im Holz kehrt die Photosynthese um.

[33]

Das kleine Häufchen Asche, das am Ende zurückbleibt, enthält sämtliche Mineralstoffe, die der Baum aus der Erde aufgenommen hat. Alle anderen Bestandteile waren Gase aus der Luft: Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff.

Tiere und Menschen können ihre Körpergewebe nicht wie Pflanzen direkt aus dem Sonnenlicht, dem Wasser und der Luft bilden. Deshalb war die Zahl der Menschen auf unserem Planeten von Anfang an durch die begrenzte Menge an pflanzlicher Nahrung (und Tieren, welche Pflanzen fressen) limitiert. Somit gab es seit den Anfängen der Menschheit (vor schätzungsweise 200 000 Jahren) bis vor etwa 40 000 Jahren auf der ganzen Welt nie mehr als ungefähr fünf Millionen Menschen. Das entspricht einer Weltbevölkerung, die geringer war als die heutige Einwohnerzahl der Stadt Detroit.

Ich vermute, daß der Grund für diese niedrige Bevölkerungszahl darin zu suchen ist, daß die Leute damals nur wildwachsende Nahrung aßen. Wenn das Sonnenlicht, das auf 40 Hektar Land fiel, genügend Nahrung für zehn Menschen hervorbrachte – in Form von eßbaren Früchten, Gemüse, Samen und wilden Tieren, die Pflanzenfresser waren –, dann pendelte sich die Bevölkerungsdichte in diesem Gebiet darauf ein und blieb stabil. Untersuchungen aller Arten von Tierpopulationen zeigen, daß bei Säugetieren – einschließlich der Menschen – die Fruchtbarkeit nachläßt und die Sterblichkeit zunimmt, wenn die Nahrung in einer Gegend nicht ausreicht, um die dort lebende Bevölkerung zu ernähren. Auf diese Weise beschränkt die Natur die Population aller Tierarten durch die Menge der zur Verfügung stehenden Pflanzen und Nahrung.

Auch Kleidung und Obdach der Menschen wurden damals aus Pflanzen und den Häuten von Tieren hergestellt, die ihrerseits nur dank des »gegenwärtigen Sonnenlichts«, das während der wenigen Jahre ihres Lebens auf die Erde fiel, existieren konnten. Unsere Vorfahren benutzten die Tierfelle und die Bäume (Dinge, die vor [34]kurzem erst aus Sonnenlicht entstanden waren), um daraus Kleidung zu machen und Hütten zu bauen.

All das war im Laufe weniger Jahre vom Sonnenlicht hervorgebracht worden.

Mehr Sonnenlicht gewinnen – aus anderen Tieren

Vor ungefähr 40 000 Jahren geschah dann etwas sehr Wichtiges: Die Menschen fanden einen Weg, die natürlichen Abläufe so zu verändern, daß sie sich mehr Sonnenlicht und Nahrung verschaffen konnten als andere Lebewesen. Die Nahrung unserer Vorfahren war bis dahin auf jene Pflanzen und Tiere beschränkt, die von Natur aus in der jeweiligen Gegend existierten. Sie hing davon ab, wieviel Rehe oder Kaninchen in einem bestimmten Waldstück leben konnten oder wie viele eßbare Pflanzen man auf einem guten Boden finden oder anbauen konnte.

Dort, wo der Boden so schlecht war, daß nur Büsche und Gras gediehen, entdeckten die Menschen, daß Ziegen, Schafe und Kühe sich durchaus von solchen Pflanzen ernähren konnten und deshalb in der Lage waren, das tägliche Sonnenlicht, das Büsche und Gräser auf diesem »nutzlosen« Land einfingen, in tierisches Fleisch umzuwandeln, das wiederum den Menschen Nahrung bot. Indem es unseren Vorfahren also gelang, Weidetiere in Herden zu halten, konnten sie mehr von dem gegenwärtigen Sonnenlicht nutzen: Die Tiere fraßen die Pflanzen, die sich als menschliche Nahrung nicht eigneten, und die Menschen gewannen zusätzliche Energie in Form von Arbeitstieren, Milchvieh und Schlachtvieh.

Es gibt archäologische Hinweise, daß die Menschen vor etwa 40 000 Jahren begannen, Nutzvieh in Herden zu halten. Diese Praxis verbreitete sich rasch, denn die Tiere sorgten dafür, daß wir mehr von dem Sonnenlicht, das im Laufe des Jahres auf die Erde fiel, für uns nutzen konnten.

[35]

Mehr Sonnenlicht gewinnen – aus dem Boden

Ungefähr um dieselbe Zeit lernten die Menschen auch, daß sie nichteßbare Pflanzen (beispielsweise Wälder) durch eßbare ersetzen konnten. Nun konnte ein bestimmtes Stück Land nicht nur zehn, sondern hundert Menschen ernähren. Die Anfänge des Ackerbaus werden als landwirtschaftliche Revolution bezeichnet, und sie begann vor etwa 10 000 Jahren, sich rasant auszubreiten.

Nachdem unsere Vorfahren gelernt hatten, die Sonnenenergie durch Nutztierhaltung und Landwirtschaft effizienter in menschliche Nahrung umzuwandeln, wuchs das Nahrungsangebot. Und dem Naturgesetz folgend, daß dort, wo es mehr Nahrung gibt, auch mehr Menschen leben können, begann die menschliche Bevölkerung schneller zu wachsen.

Innerhalb weniger tausend Jahre hatten unsere Vorfahren auch entdeckt, wie man mineralische Gesteine abbauen konnte, um daraus reine Metalle zu gewinnen, aus denen man Werkzeuge herstellen konnte. Diese Werkzeuge wie Pflüge und Sensen machten die Landwirtschaft wesentlich ertragreicher, so daß die menschliche Bevölkerung in der Zeit von 8000 vor Christus bis etwa um Christi Geburt weltweit von vorher fünf Millionen auf 250 Millionen anwuchs, eine Zahl, die nur geringfügig unter der gegenwärtigen Einwohnerzahl der Vereinigten Staaten liegt.

Aber noch immer wurde jedes Jahr nur so viel Sonnenlicht verbraucht, wie in diesem Zeitraum auf die Erde fiel, und obwohl die Menschen inzwischen begonnen hatten, einige andere Arten zu vernichten, mit denen sie im Wettbewerb standen oder die ihnen als Nahrung dienten, blieben die Auswirkungen ihres Handelns auf den Planeten insgesamt schlimmstenfalls minimal. Wir waren noch nicht »ans Eingemachte gegangen«.

Doch dann entdeckten wir im Mittelalter eine Quelle des Sonnenlichts (das vor etwa 400 Millionen Jahren von Pflanzen eingefangen worden war), und das paßte hervorragend zu unserer neuen [36]Theorie, daß es für Menschen akzeptabel ist, ihre Nahrungskonkurrenten auszurotten und alle Ressourcen dieses Planeten für die Produktion von menschlicher Nahrung einzusetzen. Kohle ersetzte das Holz der Wälder als Wärmequelle, und folglich konnte man die Wälder roden, um neues Ackerland zu gewinnen und darauf mehr Nahrungsmittel anzubauen.

Als das ehemalige Sonnenlicht in der Erde gespeichert wurde

Vor etwa 400 Millionen Jahren gab es ein Zeitalter, das die Wissenschaftler als Karbon bezeichnen. Der Name wurde daraus abgeleitet, daß zu Beginn dieser Periode riesige Mengen Kohlenstoff in Form von Kohlendioxid in der Atmosphäre waren.

Kohlendioxid ist ein »Treibhausgas«, das ähnlich wie das Glas eines Gewächshauses die Sonnenhitze auf der Erdoberfläche hält und sie nicht in die Atmosphäre entweichen läßt. Während des Karbon-Zeitalters, das mehr als 70 Millionen Jahre dauerte und vor etwa 410 Millionen Jahren begann, gab es in der Erdatmosphäre so viel Kohlendioxid, daß die Temperatur unseres Planeten sehr viel höher war als heute.

Die Erde besteht aus 25 Prozent Landmasse und etwa 75 Prozent Wasser, den Ozeanen, und damals bildete die gesamte Landmasse einen riesigen Kontinent, den die Geologen Pangäa nennen.

Pangäa existierte lange, bevor Vögel und Säugetiere entstanden, ja sogar noch vor den Dinosauriern, und die einzigen Lebensformen auf dem Planeten waren damals Pflanzen, Fische, Insekten und kleine Reptilien. Der hohe Kohlendioxidanteil in der Luft sorgte nicht nur dafür, daß das Sonnenlicht die Erdoberfläche nachhaltig erwärmte, sondern bot den Pflanzen auch reichlich Kohlenstoff für die Photosynthese, so daß sie üppig wachsen konnten. Pangäa war fast vollständig von einer dichten, mehrere [37]hundert Meter hohen Vegetation bedeckt, welche am Boden eine dicke Schicht verrottender Pflanzen bildete, die an einigen Stellen mehrere hundert oder sogar tausend Meter tief reichte. Diese Schichten lebender und toter Vegetation wurden im Laufe von über 70 Millionen Jahren dicker und dicker.

Während die Pflanzen immer üppiger wuchsen, fingen sie mehr und mehr Kohlenstoff aus der Atmosphäre ein und verwandelten ihn in Zellulose, aus der sie ihre Blätter, Stämme und Wurzeln bildeten. Auf diese Weise verringerten sie den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre, wobei der Kohlenstoff zurückgehalten wurde und als dicke Schicht von Pflanzenmaterial den Boden des Kontinents Pangäa bedeckte.

Gleichzeitig beherbergten auch die Ozeane, die drei Viertel der Erdoberfläche bedecken, große Mengen von Pflanzenmaterial, wenngleich vieles davon einfacher aufgebaut war, wie etwa einzellige Algen und andere mikroskopische Pflanzen. Auch diese fingen in der Nähe der Wasseroberfläche Sonnenenergie ein. Sie benutzten diese Energie, um atmosphärisches Kohlendioxid in pflanzlichen Kohlenstoff zu verwandeln, und wenn sie starben, sanken sie auf den Grund des Meeres.

Vor schätzungsweise 300 Millionen Jahren ereignete sich ein schweres Unglück, eine der fünf historischen Katastrophen, die unseren Planeten getroffen haben. Niemand weiß genau, warum (man vermutet eine Kollision mit einem Kometen oder einem Asteroiden), aber eine riesige tektonische Explosion sprengte den Kontinent Pangäa auseinander und veränderte unwiderruflich die Umwelt auf dem Planeten. Die Erdkruste brach an vielen Stellen auf, Vulkane brachen aus, und Kontinente wurden in Stücke gerissen und trieben auseinander. An den Stellen, wo die Landmassen, die einmal Teile von Pangäa gewesen waren, mit anderen Teilen des vormals einzigen Kontinents zusammenstießen, wurden riesige Bodenflächen von Bergen oder anderem Land bedeckt. Die dicke Vegetationsschicht versank und mit ihr über 70 Millionen [38]Jahre gespeicherten Sonnenlichts, das in Form von Kohlenstoff gebunden war.

Fünfzig Millionen Jahre später erschienen die Dinosaurier, und auf der Erde mit ihren nunmehr zwei großen Kontinenten, die von den Geologen Laurasia und Gonwanaland genannt werden, herrschte nun eine weitere Periode relativer Stabilität. Die triassische und die jurassische Periode endeten vor 205 Millionen Jahren, als nach weitgehend übereinstimmender Ansicht der Wissenschaftler ein weiterer Meteor oder Asteroid mit der Erde zusammenstieß und eine erneute Katastrophe auslöste, die auch zum Untergang der Dinosaurier führte. Wieder änderte sich die Oberfläche des Planeten, und die beiden Kontinente Laurasia und Gonwanaland zerbrachen in kleinere Stücke, die wir heute als Asien, Nordamerika, Südamerika, Europa, Australien, Afrika und die Antarktis bezeichnen. Als die Kontinente sich ineinanderschoben, entstanden Berge, und ein Teil des Pflanzenmaterials, das nun schon Jahrmillionen alt war und viele hundert Meter unter der Erdoberfläche lag, sank noch weiter in die Tiefe, wo es großem Druck ausgesetzt war.

Wir verbrauchen gespeichertes Sonnenlicht

Vor etwa 900 Jahren entdeckten die Menschen in Europa und Asien Kohle unter der Erdoberfläche und begannen, sie zu verbrennen. Diese Kohle war der am nächsten unter der Oberfläche liegende Teil der alten Vegetationsschichten – des seit 300 Millionen Jahren gespeicherten Sonnenlichts –, und indem sie es verbrannten, waren die Menschen zum ersten Mal in der Lage, Sonnenenergie zu nutzen, die in ferner Vergangenheit gespeichert worden war.

Bis dahin hatten unsere Vorfahren einen gewissen Bestand an Wäldern erhalten müssen, weil sie das Holz brauchten, um damit während der kalten Winterzeit im Norden zu heizen. Die Wälder [39]fingen die Energie des »gegenwärtigen Sonnenlichtes« ein und gaben diese wieder frei, wenn das Holz an einer Feuerstelle oder in einem Ofen verbrannt wurde, um während der langen dunklen Wintertage ein Haus, eine Höhle oder ein Tipi zu heizen.

Die Ausbeutung der Kohlenvorkommen verringerte jedoch die Abhängigkeit vom gegenwärtigen Sonnenlicht und gestattete den Menschen, mehr Waldgebiete zu roden und in Ackerland zu verwandeln, denn die Bäume wurden jetzt nicht mehr unbedingt zum Heizen benötigt. Auf den größeren Anbauflächen konnte mehr Nahrung erzeugt werden, und so wuchs die Weltbevölkerung von etwa 500 Millionen Menschen im Jahr 1000 auf die erste Milliarde im Jahr 1800.

Dies war ein kritischer Augenblick in der menschlichen Geschichte, denn zu diesem Zeitpunkt begannen unsere Vorfahren, den Vorrat an Sonnenlicht, den unser Planet gespeichert hatte, aufzuzehren.

Weil sie nun über die Sonnenenergie verfügen konnten, die vor vielen Millionen Jahren von Pflanzen gespeichert worden war, begannen sie, zum ersten Mal mehr Ressourcen – in Form von Nahrung, Wärme und anderen Stoffen – zu verbrauchen, als unser Planet im Laufe der Erdgeschichte durch das tägliche Sonnenlicht hatte ansammeln können. Die menschliche Bevölkerung wuchs über die Zahl hinaus, welche die Erde hätte erhalten können, sofern die Menschen lediglich das regional verfügbare »gegenwärtige Sonnenlicht« als Energie- und Nahrungsquelle verbraucht hätten.

Wenn damals die Kohlevorräte unserer Vorfahren zur Neige gegangen wären, dann hätten sie schließlich nur noch die schreckliche Wahl gehabt, Ackerland aufzugeben (und damit Hungersnöte zu riskieren), um Wälder wiederaufzuforsten, damit sie Holz zum Heizen hatten, oder weiterhin genügend Nahrung zu produzieren, dafür aber im Winter zu erfrieren. (Sie hätten natürlich auch die Gegenden mit kälterem Klima verlassen und sich näher am Äquator [40]ansiedeln können, aber die Geschichte zeigt, daß die Völkerwanderungen immer vom Äquator wegführten, ein Trend, der durch die Verfügbarkeit von Brennstoffen gefördert wurde.)

Heutzutage sehen wir denselben Trend: Die Verfügbarkeit von Brennstoffen führt zu einer wachsenden Bevölkerung, die von diesen Brennstoffen abhängig ist und unter einem Mangel leiden müßte.

Wäre unseren Vorfahren die Kohle ausgegangen, hätte die Natur das Bevölkerungswachstum wieder auf ihre Weise kontrolliert.

Doch statt dessen entdeckten die Menschen ein weiteres »Sparkonto«, das sie anzapfen konnten, einen weiteren Vorrat an gespeichertem Sonnenlicht: das Pflanzenmaterial, das vor mehreren hundert Millionen Jahren auf den Grund des Ozeans gesunken und dort unter starkem Druck zu dem geworden war, was wir als Öl bezeichnen.

Öl wurde als neue Energiequelle um 1850 zunächst in Rumänien ausgiebig genutzt. Der richtige Boom begann jedoch 1859, als man in den Vereinigten Staaten in Titusville, Pennsylvania, Öl entdeckte. Damals betrug die Weltbevölkerung gerade etwas mehr als eine Milliarde, und die Menschen lebten sowohl von dem gegenwärtigen Sonnenlicht, das auf Ackerland und Viehweiden fiel, als auch in beträchtlichem Maße von gespeichertem Sonnenlicht, das sie in Form von Kohle in Europa, Asien und Nordamerika aus der Erde holten und verbrannten.

Doch erst mit der Entdeckung reichhaltiger Ölvorkommen öffnete sich die Tür zu einem wahrhaft riesigen Vorrat von gespeichertem Sonnenlicht.

Durch den Einsatz dieses in Form von Kohlenstoff gespeicherten Sonnenlichts als Wärme- und Energiequelle ersetzten unsere Vorfahren nun Zugtiere durch Traktoren, und damit wuchs die landwirtschaftliche Produktivität dramatisch. (Zugtiere wie Pferde und Ochsen fressen Gras und leben damit von »gegenwärtigem Sonnenlicht«. Insofern ist ihre Arbeitskapazität begrenzt … durch die [41]Menge Gras, die sie täglich fressen und in Energie umwandeln können. Ein mit Diesel betriebener Traktor dagegen kann an einem Tag soviel Sonnenlicht verbrennen wie mehrere hundert Pferde zusammen.)[3]

Weitere Möglichkeiten, gespeichertes Sonnenlicht zu verbrennen

Bald zeigte sich, daß sich Öl nicht nur als Brennstoff verwenden läßt, und so haben wir seit Anfang dieses Jahrhunderts begonnen, unser Sonnenlicht-Sparkonto noch stärker zu »plündern«.

Aus Öl lassen sich synthetische Gewebe herstellen (Nylon, Rayon, Polyester), Harze für die Bauwirtschaft und Kunststoffe (aus denen man fast alles machen kann, einschließlich der Tastatur, auf der dies geschrieben wird). Da die Menschen nun Kleidung aus Öl herstellen konnten, brauchten sie weniger Weiden für die Schafe und weniger Land für den Baumwollanbau, so daß noch mehr Ackerfläche für die Produktion von Nahrungsmitteln frei wurde.

Der sprunghafte Anstieg unserer Nahrungsmittelversorgung, der gleich nach dem amerikanischen Bürgerkrieg stattfand, sorgte dafür, daß die Weltbevölkerung (Abb. 1) von etwas über einer Milliarde [42]um die Zeit, als das Öl entdeckt wurde, auf zwei Milliarden im Jahre 1930 anstieg.

Um 1930 begann der extensive Einsatz landwirtschaftlicher Maschinen, und die dank des Öls verbesserte landwirtschaftliche Produktivität – man trieb damit nicht nur Traktoren an, sondern stellte daraus auch Düngemittel und Pestizide her – ließ die Nahrungsmittelproduktion explodieren. Während wir für die erste Milliarde Menschen 200 000 Jahre benötigt hatten, reichten 130 Jahre für die zweite und ganze 30 Jahre für die dritte Milliarde.

1960 erreichte die Weltbevölkerung die Drei-Milliarden-Marke. Und das war keineswegs das Ende. Wir verbesserten unsere Technik, gewannen mehr gespeichertes Sonnenlicht aus dem Öl, raffinierten es und bauten effizientere Verbrennungsmaschinen, und so erhöhte sich unsere Nahrungsmittelproduktion aufs neue. Und dasselbe geschah mit der Bevölkerungszahl.

Es dauerte nur noch 14 Jahre, von 1960 bis 1974, und wir hatten eine Weltbevölkerung von vier Milliarden erreicht. Nach weiteren 13 Jahren waren wir 1987 bei fünf Milliarden angelangt, und für die nächste Milliarde brauchen wir nur noch 12 Jahre: 1999 erreicht die Weltbevölkerung die Sechs-Milliarden-Marke.

Als wir 1987 fünf Milliarden erreicht hatten, waren die Menschen, gemessen an der gesamten Biomasse, die zahlenmäßig am stärksten vertretene Lebensform auf dieser Erde. Um 1990 wurden wir die zahlreichste Säugetierart auf diesem Planeten und übertrafen damit sogar die Ratten. Heute gibt es mehr menschliches Fleisch auf dieser Erde als Fleisch irgendeiner anderen einzelnen Spezies. Wir verbrauchen inzwischen über 40 Prozent der gesamten weltweiten Nettoprimärproduktion (NPP), welche ein Maß für die Gesamtsumme an Nahrung und Energie darstellt, die allen Lebewesen auf dieser Erde zur Verfügung steht. Wir verbrauchen mehr als 50 Prozent des Süßwassers auf diesem Planeten. Das bedeutet, daß alle anderen Tier- und Pflanzenarten um das wenige, das wir übrig lassen, konkurrieren müssen.

[43]

Abb. 1: Das Bevölkerungswachstum der modernen Menschen (Homo sapiens sapiens)

Quelle: U.S. Census Bureau

Wie Michael Tobias in seinem Buch World War III[4] (Der Dritte Weltkrieg) hervorragend dokumentiert, wächst die Weltbevölkerung heute alle drei Wochen um die Einwohnerzahl von Los Angeles. In einem Zeitraum, der weniger als ein Zehntel Prozent der gesamten Menschheitsgeschichte ausmacht, ist die menschliche Bevölkerung um mehr als 90 Prozent ihrer Gesamtzahl angewachsen.

Bei einer unveränderten Wachstumsrate würden wir 2030 schon zehn Milliarden erreichen, 2070 wären es zwanzig Milliarden und 2150 volle achtzig Milliarden. Doch niemand erwartet, daß die Wachstumsrate so bleibt. Es gibt einfach nicht genug Nahrung für so viele Menschen. Ob das Ende durch Hungersnöte, Krankheitsepidemien, Naturkatastrophen oder »gute Wissenschaft« (wie beispielsweise eine weltweite Geburtenkontrolle) kommt, darüber wird noch heftig diskutiert. Unbestritten ist jedoch, daß wir uns nicht mit der gegenwärtigen Wachstumsrate weiter vermehren können.

[44]

Wir haben diese übervölkerte Welt voll überschätzter Ressourcen dadurch geschaffen, daß wir ehemaliges Sonnenlicht in gegenwärtige Nahrung verwandelt haben, die wir jetzt verzehren, um noch mehr menschliches Fleisch zu schaffen.

Ohne das gespeicherte Sonnenlicht könnte unser Planet vielleicht zwischen einer Viertelmilliarde und einer Milliarde Menschen ernähren – ungefähr die Zahl, die er vor der Entdeckung von Öl und Kohle ernährte. Ohne Öl und Kohle würden die anderen fünf Milliarden Menschen verhungern.

Wie lange reichen die Vorräte noch?
Wieviel fossile Brennstoffe haben wir noch übrig?

Und so stehen wir zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts vor einer kritischen Überlebensfrage: Wir sind weitgehend davon abhängig, daß wir auch in Zukunft über gespeichertes Sonnenlicht in Form fossiler Meerespflanzen verfügen können, den fossilen Brennstoff, den wir als Öl bezeichnen. Doch unsere Ölvorräte gehen allmählich zur Neige.

Seit der Entdeckung von Öl in Titusville, wo die erste Ölquelle der Welt 1859 angebohrt wurde, haben die Menschen 742 Milliarden Barrel[5] Öl aus der Erde herausgeholt. Die gegenwärtigen Welterdölreserven werden auf ungefähr 1000 Milliarden Barrel beziffert, die (nach den optimistischsten Schätzungen der Ölindustrie) »bei gleichbleibenden Verbrauchsraten für fast 45 Jahre reichen würden«.

Für diejenigen von uns, die noch einige Jahrzehnte zu leben haben oder große Hoffnungen in die Zukunft ihrer Kinder und Enkel setzen, klingen diese Zahlen hart. Aber das sind die Erwartungen der Ölindustrie selbst, bezogen auf die Lebenszeit unserer Kinder.

[45]

Die verantwortlichen Manager der Ölindustrie scheinen derlei Aussichten jedoch nicht für problematisch zu halten.

1996 hob ein Manager der Ashland Chemical Company in einer beschwingten und optimistischen Ansprache vor dem Economic Club of Columbus in Ohio hervor, alternative Energiequellen seien »einfach nicht kostengünstig genug«, aber schließlich würden die Weltölreserven bei gleichbleibenden Verbrauchsraten ja noch »fast« 45 Jahre reichen. Er verkündete das als sehr gute Nachricht und sagte am Schluß seiner Rede, die Weisen hätten das Ende unserer Ölvorräte fast seit Beginn der ersten Bohrungen von Colonel Drake im Jahre 1859 prophezeit. Aber in der Vergangenheit seien diese Vorhersagen nie eingetroffen. Und mit dem typischen Optimismus der Ölindustrie stellte er fest, es werde »wahrscheinlich noch mehrere Jahrzehnte dauern, bis der Wolf vor der Tür steht«.

Andere Experten der Ölindustrie sind weniger optimistisch im Hinblick auf die sogenannte gute Nachricht, daß unsere Vorräte noch für »fast« 45 Jahre reichen werden. Petroconsultants in Genf, eine in der Schweiz angesiedelte internationale Consulting-Firma für die Petroleum-Industrie, hebt hervor[6], daß die nordamerikanische Ölproduktion 1974 ihren Höhepunkt erreichte. (Nebenbei bemerkt ist der Ausdruck »Produktion« ein hübscher Euphemismus. In Wirklichkeit produzieren wir genauso wenig Öl wie etwa Minenarbeiter Silber »produzieren«. Wir pumpen das Erdöl einfach aus der Tiefe nach oben. Produziert wurde es vor 300 Millionen Jahren, als die Vegetation das Sonnenlicht einfing.) Man erwartet, daß die Weltproduktion ihren Höhepunkt im Jahr 2002 erreicht, wenn wir mehr als die Hälfte der weltweiten Ölvorräte verbraucht haben.

Dabei geht man von der Annahme aus, daß irgendwann um diesen Zeitpunkt herum eine Preisexplosion für Produkte, die auf Ölbasis hergestellt werden, die ganze Welt erschüttern wird.

[46]

Die Petroconsultants-Studie hebt hervor, daß sogar bei verringerten Verbrauchsraten infolge der erwarteten Preiserhöhungen (und der wahrscheinlich dadurch verursachten weltweiten Depression) die schwindenden Vorräte dafür sorgen werden, daß wir im Jahre 2050 nur noch über soviel Öl verfügen können wie 1960, als auf diesem Planeten lediglich drei Milliarden Menschen lebten. Doch die meisten Demographen erwarten, daß die Weltbevölkerung im Jahre 2050 über zehn Milliarden beträgt.

Stellen Sie sich das vor: zehn Milliarden Menschen, aber das Öl reicht nur für drei Milliarden. Das würde bedeuten, daß die restlichen sieben Milliarden – mehr als die gesamte heutige Weltbevölkerung – vom Hungertod bedroht wären.

Wieder andere Experten halten die von der Ölindustrie geschätzten 45 Jahre für stark übertrieben, was bedeuten würde, daß die Situation noch schlimmer ist, als gerade beschrieben.

Der Wissenschaftler M. King Hubbard wies darauf erstmals 1956 hin, als er den bekannten Hubbard-Peak entwickelte, der den Moment bezeichnet, wo die Ölförderung ihren Höhepunkt erreicht und dann geringer wird. 1956 gab er an, die USA würden den Hubbard-Peak 1970 erreichen (er hat sich um vier Jahre geirrt; die Ölkrise war 1974), und im Jahre 1975 sagte er voraus, der weltweite Hubbard-Peak werde 1999 oder 2000 erreicht.

Obwohl Hubbard 1989 starb, wurde seine Arbeit von J. Colin Campbell fortgeführt. Er ist der Autor des Buches The Golden Century of Oil: 1950–2050: the depletion of a resource[7], das ursprünglich Teil einer Untersuchung über die weltweiten Ölvorräte und den weltweiten Ölverbrauch war, welche die norwegische Regierung 1989 in Auftrag gegeben hatte. In diesem Buch wie auch in anderen Veröffentlichungen heben Campbell und andere Wissenschaftler hervor, daß die ölfördernden Länder oft ihre geschätzten [47]Ölreserven übertreiben, um sich bei der OPEC für höhere Förderquoten zu qualifizieren, damit sie bei der Weltbank Kredite beantragen können, für die ihre angenommenen Ölreserven als Sicherheit dienen. Campbell und andere Experten schätzen, daß wir bereits mehr als die Hälfte der gesamten Weltölvorräte verbraucht haben und daß sich vielleicht weitaus weniger als 700 Millionen[Milliarden? Anm.d.Tippers] Barrel noch unter der Erde befinden.

Es gilt festzuhalten, daß wir kaum damit rechnen dürfen, demnächst leicht zugängliche neue Ölfelder zu entdecken. Der größte Teil der Welt ist inzwischen mit Hilfe von Satelliten, seismischen Geräten und Computern digital »durchleuchtet« worden, wobei 41 000 Ölfelder entdeckt wurden. 641 000 Probebohrungen wurden durchgeführt, und nahezu alle Felder, von denen man sich etwas verspricht, sind wohlbekannt und wurden in die geschätzte Summe von einer Billion Barrel einbezogen, auf welche die Ölindustrie die Weltölreserven beziffert.

Und schließlich müssen wir bedenken, daß die »optimistischen« Zahlen der Ölindustrie besagen, unsere Vorräte würden bei unveränderten Verbrauchsraten noch für 45 Jahre reichen. Legt man jedoch die Zahlen von Petroconsultants (und anderen) zugrunde, dann steigt der Weltölverbrauch um 2,8 Prozent jährlich. Und wenn wir diese Steigerungsrate extrapolieren, schmelzen die angenommenen 45 Jahre auf ganze 30 Jahre zusammen.

Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung in den nächsten zwölf Jahren um eine weitere Milliarde, während China, Indien, Mexiko und andere Länder der sogenannten Dritten Welt industriell aufrüsten – mehr Fabriken, Autos, Straßen und mit Öl betriebene Kraftwerke – mit Wachstumsraten, die höher liegen als die der Vereinigten Staaten oder Europas im vergangenen Jahrhundert. Folglich wird der weltweite Ölverbrauch die »gegenwärtigen Verbrauchsraten« erheblich übersteigen, und unsere Reserven werden mit Sicherheit nicht so lange halten, wie die Optimisten annehmen. Eine umfassende wissenschaftliche Untersuchung, die von [48]dem britischen Stromunternehmen PowerGen in Auftrag gegeben und veröffentlicht wurde und über die Associated Press im September 1997 weltweit berichtete, kommt zu dem Ergebnis: »Der globale Energiebedarf wird sich im Jahr 2020 wahrscheinlich verdoppelt haben« [Hervorhebung vom Autor], weitgehend bedingt durch das rasche Wachstum der asiatischen Schwellenländer, insbesondere Chinas.

Es bahnt sich also offensichtlich eine Kollision an zwischen der wachsenden Weltbevölkerung mit ihrem zunehmenden Verbrauch unserer schwindenden Vorräte an gespeichertem Sonnenlicht und unserer Fähigkeit, diese Bevölkerung zu ernähren. Und selbst wenn wir plötzlich große neue Ölvorkommen entdecken würden (es gibt zunehmend Stimmen aus der Ölindustrie, die das in Aussicht stellen), oder wenn alternative Energiequellen wie die kalte Fusion oder die Wasserstofftechnologie sofort und überall verfügbar wären, würde ihre rasche Vermehrung die Zerstörung des Planeten und den Tod von Milliarden Menschen nur noch beschleunigen, auf eine Weise, die bald deutlich wird. (Auf der anderen Seite gibt es Lösungen, auf die wir später noch genauer eingehen werden; doch sie haben mehr mit unserer Kultur als mit unserer Technologie zu tun.)

Wie konnte es so weit kommen? Und was sagt uns die Geschichte darüber, was wir tun können?

Wir werden diese Fragen und Antworten in den folgenden Kapiteln genauer untersuchen. Doch zunächst wollen wir einen Moment innehalten und uns einer anderen wichtigen Frage zuwenden: Wenn so gravierende Probleme auf uns zukommen, warum sind sie nicht für jeden offensichtlich?

 

 

[49]

Wie kann die Situation so gut scheinen
und doch so schlecht sein?

Die Zivilisation ist eine Verschwörung … Das moderne Leben ist eine stillschweigende Übereinkunft wohlhabender Menschen, den Schein zu wahren.

John Buchan (1875–1940)

Es gibt zwei Möglichkeiten, wie man so tun kann, als sei alles in Ordnung, selbst wenn eine ganze Zivilisation bedroht ist. Ich nenne sie »vom Startkapital leben« und »das Ponzi-Schema«.

Zahle nicht »an der Kasse« – lebe einfach vom »Startkapital«

In den frühen achtziger Jahren habe ich kurzfristig als Marketing-Berater für eine neu gegründete Firma gearbeitet, die in der Software-Branche Fuß fassen wollte. Vier junge Männer hatten gemeinsam 170 000 Dollar investiert, die sie teils selbst gespart, teils als Einlage von ihren Eltern bekommen hatten. Sie wollten ein neues Textverarbeitungsprogramm entwickeln und vertreiben, das besser sein sollte als das damals populäre WordStar, und auf diese Weise reich werden.

Mit ihrem Startkapital von 170 000 Dollar mieteten sie die zweite Etage eines kleinen Bürohauses: Sie hatten fünf private Büros, ein Konferenzzimmer und einen Empfangsraum, wo die Sekretärin arbeitete. Von einer Design-Firma ließen sie sich ein Logo, einen Briefkopf und ein großes Schild für den Eingang entwerfen. Sie leasten vier Saabs als Geschäftswagen. Sie kauften Eichenschreibtische und lederbezogene Chefsessel. Dann ließen sie [50]von einem Blumengeschäft in der Nähe die Räume mit Topfpflanzen ausstatten und von einem Fischgeschäft ein Salzwasseraquarium aufstellen und pflegen. Sie zahlten sich selbst Gehälter von jeweils 30 000 Dollar pro Jahr. Und sie engagierten mich für ein paar Tage und zahlten mir ein gutes Honorar.

Die Jungs waren fähige Programmierer und wußten alles über Computersprachen. Ich hatte nicht die geringsten Zweifel, daß sie ein benutzerfreundliches Textverarbeitungsprogramm entwickeln und als Massenprodukt vermarkten konnten. Als ich sie zum ersten Mal aufsuchte, war ich beeindruckt – sie und ihre Büros hatten die Ausstrahlung eines erfolgreichen, florierenden Unternehmens. Die junge Frau in der Empfangshalle war attraktiv und effizient, die vier Firmengründer trugen Designer-Anzüge und -Krawatten, ihr Teppichboden zeigte die typischen Staubsaugerstreifen, die die abendliche Reinigung hinterlassen hatte. Das leistungsfähige Kopiergerät, der Aktenvernichter, der Stempelautomat und die Computer zeugten von einem florierenden Geschäft. Alles war erstklassig.

Wir saßen im Konferenzzimmer um den Eichentisch in bequemen Lederstühlen, und sie berichteten mir zuversichtlich, wie sie alle dabei waren, Multimillionäre zu werden. Und das, so sagten sie, würde auch jeder werden, der sein Geld bei ihnen investierte. Sie wollten ihre Aufmerksamkeit zur Hälfte darauf konzentrieren, Anlagekapital zu gewinnen, und die andere Hälfte dafür einsetzen, ihr neues Produkt zu entwickeln und zu vermarkten. Innerhalb von zwölf Monaten sollte das neue Programm marktreif sein.

Ich weigerte mich jedoch, weiter mit ihnen zusammenzuarbeiten, weil ich diese unselige Geschichte schon zuvor bei anderen Möchtegern-Unternehmern erlebt hatte und mir ziemlich sicher war, wie die Sache enden würde.

Sechs Monate später besuchte ich die Jungunternehmer auf ihre Bitte hin erneut. Sie hatten jetzt zwanzig Angestellte, und der Laden brummte. Ihr Produkt würde bald fertig sein, und sie hatten schon Broschüren für eine bevorstehende Messe drucken lassen. Sie [51]waren ein wichtiger Arbeitgeber am Ort, ein guter Mieter für den Hauseigentümer, verfügten inzwischen über sechs Geschäftswagen und hatten so viele Investoren gewonnen, daß ihr Bankkonto sich auf eine Viertel Million Dollar belief. Noch immer hatten sie nichts produziert oder verkauft, aber sie würden bald »große Tiere« sein. Alles sah prächtig aus; das Leben war in Ordnung.

Weitere sechs Monate später hörte ich von einem ihrer Investoren, daß die Unternehmer pleite waren. Die vier Partner hatten ihre Gehälter verfünffacht, und dem Unternehmen war das Geld ausgegangen, noch bevor sie ihr Produkt auch nur auf den Markt bringen konnten. Die Büros sahen hell und strahlend aus, bis zu dem Tag, an dem die Angestellten erfuhren, daß sie innerhalb von 24 Stunden arbeitslos sein würden. Investoren verloren ihre gesamten Einlagen, weil die Eigentümer ihr Kapital verbraucht hatten, bevor die Firma irgendwelche Gewinne abwarf.

Das »Ponzi-Schema«

Das Ponzi-Schema ist die zweite Möglichkeit, wie man dafür sorgen kann, daß alles hervorragend aussieht, bis eines Tages nichts mehr zum Leben da ist. Es kommt dann zu einem plötzlichen, katastrophalen Zusammenbruch. Die Geschichte dieses typisch amerikanischen Unternehmers ist ebenso faszinierend wie lehrreich.

Im Jahre 1917 zog Charles A. Ponzi als Anstreicher in Florida herum. Der Erste Weltkrieg ging gerade zu Ende, und die europäischen Finanzmärkte lagen am Boden. Ponzi witterte eine Gelegenheit, aus den finanziellen Nachkriegswirren für sich Kapital zu schlagen und entwickelte eine Idee, die ihn zum Millionär machen sollte, während sie das Leben Tausender anderer Menschen ruinierte.

Ende 1919 zog Ponzi nach Boston und mietete ein Büro auf der Pie Alley, wo er eine Firma eröffnete, die sich The Securities [52]Exchange Company (SEC) nannte. Er behauptete, er habe seine Firma gegründet, um in Frankreich und Deutschland (deren Währungen massiv abgewertet worden waren) internationale Antwortscheine aufzukaufen, diese in den Vereinigten Staaten gegen US-Währung wieder einzulösen und damit einen Profit zu machen, welcher der Differenz zwischen den zusammengebrochenen europäischen Währungen und dem Dollar entsprechen würde.

Ein solches Projekt war in Wirklichkeit nicht praktikabel, aber Ponzi und seine frühen Investoren machten damit ein Vermögen.

Ponzi versprach 50 Prozent Zinsen auf das eingezahlte Kapital innerhalb von nur 45 Tagen, und mehr als 40 000 Bostoner Bürger vertrauten ihm ihre Ersparnisse an. Die ersten paar tausend Investoren erhielten ihr Geld samt den versprochenen Zinsen zurück. Ponzi verwendete dafür die Einlagen neuer Investoren. Die ersten Investoren erzählten von dem schnellen Geld, das sie verdient hatten, und die Kunde verbreitete sich rasch. Schließlich beschäftigte Ponzi mehrere Dutzend Angestellte, die bis spät in die Nacht die riesigen Stapel von Bargeld zählten, die sich in der Pie Alley ansammelten: über 15 Millionen Dollar in weniger als sechs Monaten. Auf dem Gipfelpunkt seines Erfolgs wurde Charles Ponzi von einem Zeitungsreporter als der größte Italiener gepriesen, der je gelebt habe.

»Das stimmt nicht«, antwortete der mit ungewohnter Bescheidenheit. »Immerhin gibt es noch Kolumbus, der Amerika entdeckte, und Marconi, der das Radio entdeckte.«

Später sorgte eine negative Publicity in den Bostoner Zeitungen schließlich dafür, daß Ponzi keine neuen Investoren mehr fand. Doch ohne den ständigen Zufluß von Geld konnte er seinen früheren Anlegern keine »Gewinne« mehr auszahlen, und so schloß er seinen Laden und machte sich mit den Lebensersparnissen Tausender gutgläubiger Menschen davon.

Ein ähnliches System sorgte 1996 in Albanien fast für einen Regierungssturz. Mehr als ein Viertel aller albanischen Bürger hatten [53]ihre Lebensersparnisse in eines der verschiedenen großen Ponzi-Projekte gesteckt, die von regionalen Verbrechersyndikaten betrieben wurden. Albaniens Präsident, Sali Berisha, sagte, die Regierung sei nicht dagegen vorgegangen, weil man geglaubt habe, solche Dinge seien auf einem freien Markt normal, und die Regierung habe nicht in die Marktmechanismen eingreifen wollen. Die Demonstrationen und Aufstände der Albaner blieben erfolglos. Sie werden ihr Geld nie zurückbekommen.

Unsere fossilen Brennstoffquellen:
»Startkapital« oder »Ponzi-Schema«?

Die Welt lebt (und wächst) zur Zeit davon, daß sie Energie (Sonnenlicht), die in Form fossiler Brennstoffe (Öl, Kohle, Gas) gespeichert ist, von ihrem »Sparkonto« abhebt. Wird unsere Weltwirtschaft nun wie ein Ponzi-Projekt oder wie das zuvor beschriebene vielversprechende Software-Unternehmen betrieben? Ich denke, die Lage ähnelt mehr der der Software-Firma, obwohl es Elemente aus beiden Systemen gibt.

Die Erde enthält eine begrenzte Menge fossiler Brennstoffe. Obwohl man sich über das Ausmaß der noch vorhandenen Reserven nicht einig ist, bestreitet niemand, daß sie begrenzt sind, und im Grunde spüren wir sehr deutlich, worum es dabei geht. Wir haben diese Brennstoffe verbraucht, damit die menschliche Bevölkerung von etwa einer halben Milliarde vor der Entdeckung von Öl und Kohle bis auf den heutigen Stand anwachsen konnte – 1997 waren es fast sechs Milliarden. Diese Brennstoffe liefern uns Energie für hektische weltweite Aktivitäten, die sehr sinnvoll und wichtig erscheinen, und diese Aktivitäten führen zu permanenten und irreversiblen Veränderungen auf diesem Planeten und in der menschlichen Gemeinschaft.

Und wenn uns der Brennstoff nun ausgeht?

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Diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten des Wohlstands große Gewinne verbuchen konnten, glauben vielleicht, sie hätten eine gute Überlebenschance, und wenn es nicht zu weltweiten Epidemien oder einem Atomkrieg kommt, könnten sie sogar recht haben. Vielleicht kommt auch noch ein kleiner Teil der restlichen Bevölkerung als Trittbrettfahrer mit davon, so wie das im Wirtschaftsleben ebenfalls gelegentlich geschieht. Aber den weniger Glücklichen geht es möglicherweise ähnlich wie den Verlierern beim Ponzi-Schema oder bei der Software-Firma: Was für sie an Nahrung und Energie übrig bleibt, ist wenig oder nichts.

Als die Software-Unternehmer vor dem Bankrott standen, gaben sie einfach ihre Büroetage auf und suchten sich eine andere Arbeit, um wieder zu Geld zu kommen. Doch wenn unserer Weltwirtschaft das Öl ausgeht, können wir nicht einfach die Tür hinter uns schließen und uns »eine andere Energiequelle suchen«.

Einerseits hat uns die Geschichte gelehrt, daß Energieknappheit zu Kriegen führt (mehr darüber später).

Andererseits sind unsere »alternativen Energiequellen« noch nicht ausreichend entwickelt.

Doch an dieser Stelle gibt es auch gute Neuigkeiten: Nicht-fossile Energiequellen existieren tatsächlich, und sie werden zunehmend genutzt. Wie der Gewinner des Pulitzer-Preises, Ross Gelbspan, 1997 in seinem Buch The Heat Is On[8] ausführte, blockieren die amerikanischen Öl- und Kohlekonzerne leider aktiv die weitere Entwicklung dieser Technologien.

Wie Gelbspan eindeutig zeigt, müssen wir diese Alternativen stärker fördern, damit unsere Kinder neue Energiequellen haben, wenn das Erdöl verbraucht ist.

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Ist Wirtschaftswachstum die Lösung?

Derweil ermutigen uns Experten und Wirtschaftswissenschaftler, das Problem »durch Wachstum« zu lösen. Der erste, der 1954 diesen Vorschlag machte, war der britische Finanzminister R.A. Butler. Er vertrat die Ansicht, der Staat solle sich keine spezifischen Wachstumsziele wie eine bestimmte Anzahl von Wohnhäusern oder neuen Eisenbahnlinien setzen, sondern die Regierung solle einfach für ein stetiges Wirtschaftswachstum von drei Prozent sorgen. Mit dieser Wachstumsrate, so errechnete er, würde jeder britische Bürger 1980 doppelt so reich sein wie 1954.

Tatsächlich funktionierte das Szenario genauso wie von Butler vorhergesagt: eine 1989 von dem irischen Wirtschaftswissenschaftler Richard Douthwaithe durchgeführte Untersuchung bestätigt das. Das Problem liegt jedoch darin, daß sich jeder andere Index ebenfalls verdoppelte. Das Einkommen der »oberen Zehntausend« verdoppelte sich genauso wie das Einkommen derjenigen, die in tiefster Armut lebten, was bedeutete, daß jemand, der vorher zehn Millionen Pfund im Jahr verdient hatte, nun zwanzig Millionen bekam, während jemand, der vorher tausend Pfund verdient hatte, nun zweitausend bekam – und damit immer noch in bitterster Armut lebte, auch wenn sich sein Lebensstandard leicht verbessert hatte. Gleichzeitig kam es im Verlauf der Entwicklung zu einer »sozialen und ökologischen Katastrophe«, um Douthwaithe zu zitieren. Die Kriminalität wuchs um das Achtfache, die Arbeitslosigkeit stieg an, chronische Krankheiten und Geisteskrankheiten nahmen zu, und die Scheidungsrate explodierte. All dies waren Auswirkungen, die Douthwaithe zunächst vorhergesagt hatte und später dokumentierte.

Auf ähnliche Weise verschlechterten sich die Lebensbedingungen in den Vereinigten Staaten. An einem durchschnittlichen Tag des Jahres 1997 nahmen 100 000 amerikanische Kinder Schußwaffen mit in die Schule, und vierzig Kinder wurden durch Schußwaffen [56]getötet oder verletzt, auch wenn es sich dabei meist um Unfälle handelte. (Seit kurzem gibt es einen Autoaufkleber mit der Aufschrift: »Eine bewaffnete Gesellschaft ist eine freundliche Gesellschaft.« Da fragt man sich, ob die Leute, die sich diesen Spruch ausgedacht haben, glauben, unsere Schulen seien heutzutage freundlicher als eine Generation zuvor.) Und der Traum vom dauerhaften Familienglück hat einer Realität Platz gemacht, die aus einer Armee von Kindern alleinerziehender Mütter und Väter besteht: mehr als die Hälfte aller Kinder der Nation.

Überall auf der Welt stellen wir fest, daß rasches Wachstum nahezu alle Nationen belastet, wobei gewöhnlich die Individuen und Familien am stärksten darunter leiden, die keinen Anteil an der extremen Macht und dem Reichtum der herrschenden wirtschaftlichen, politischen oder militärischen Eliten haben.

Die moderne Technologie hat diesen Prozeß erheblich beschleunigt. Während beispielsweise um die Jahrhundertwende 90 Prozent aller kriegerischen Auseinandersetzungen lediglich Soldaten betrafen, stellen wir am Ende dieses Jahrhunderts fest, daß die ferngesteuerten High-Tech-Waffen (die effizienter töten und die Soldaten vor einem direkten Gefecht bewahren) sowie die weite Verbreitung hocheffizienter Waffen das Verhältnis auf den Kopf gestellt haben: Heute sind 90 Prozent der Toten in allen Kriegen Zivilisten. Seit dem Zweiten Weltkrieg sind über zwanzig Millionen Menschen in Kriegen getötet worden, und von den 82 Kriegen, die seitdem stattgefunden haben, waren 79 Bürgerkriege. Und bei den meisten dieser Kriege ging es um die Kontrolle von Ressourcen wie Waldland, Ackerland, Öl, Kohle und Mineralien.

Bei einem Weltkongreß der Zentralbanken in Hongkong am 25. September 1997 hob Weltbankpräsident James D. Wolfensohn hervor, daß über drei Milliarden Menschen – mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung und das Dreifache der gesamten Menschheit, die im Jahre 1800 auf diesem Planeten lebte – heute von weniger als zwei Dollar pro Tag existieren müssen. »Wir sitzen auf einer [57]Zeitbombe, und wenn wir jetzt nicht handeln, könnte sie mitten ins Gesicht unserer Kinder explodieren«, erklärte Wolfensohn. Ungefähr zur gleichen Zeit veröffentlichte das Population Institute in Washington einen Bericht, der dokumentiert, daß 82 Nationen (mehr als die Hälfte aller Länder dieser Welt) nun das kritische Stadium erreicht haben, wo sie nicht mehr genügend Nahrungsmittel anbauen können und auch nicht über das für entsprechende Importe notwendige Geld verfügen, um ihre Bevölkerung ausreichend zu ernähren.

Alte Krankheiten kehren zurück

Doch unsere stark bevölkerte Welt leidet nicht nur unter Krieg, Armut und Hunger. Viele Wissenschaftler befürchten, daß durch die hohe Bevölkerungsdichte und die rasche weltweite Mobilität jederzeit Krankheitsepidemien ausbrechen könnten. Am 21. August 1997 berichtete Associated Press, daß eine Woche zuvor ein dreijähriger Junge in Hongkong an einem Grippevirus gestorben war, den man bis dahin bei Menschen noch nie gefunden hatte. Dieser tödliche Virusstamm hatte offenbar die Artgrenzen von Vögeln auf Menschen übersprungen (wie auch bei der Grippewelle, die im Jahre 1918 weltweit zwanzig Millionen Menschenleben gefordert hatte) und wurde in den USA und in Holland als H4N1-Typ-A-Strang identifiziert, gegen den es keinen Impfstoff gibt.

Am nächsten Tag berichtete AP, daß ein Mann in Michigan sich kürzlich mit einem neuen Strang des weltweit verbreiteten Bakteriums Staphylococcus aureus infiziert hatte, welcher gegen alle bekannten Antibiotika einschließlich des neuesten und effektivsten Wirkstoffes, Vancomycin, resistent ist. Dr. William Jarvis, der als Epidemiologe für die Centers of Disease Control in Atlanta arbeitet, erklärte anläßlich dieser ersten Entdeckung des als biologische Zeitbombe wirkenden Killerbakteriums in den USA, daß nun »die [58]Zeitbombe tickt«. Drei Tage später berichtete das Wall Street Journal über einen zweiten Fall von Vancomycin-resistenten Staphylokokken in den Vereinigten Staaten; betroffen war ein Patient in einem Krankenhaus in New Jersey. Seitdem sind überall im Land weitere Fälle aufgetreten.

In der Bibel, im fünften Buch Mose, Vers 28, 22, ist von »Auszehrung« die Rede, einem Wort, das bis vor etwa fünfzig Jahren häufig zur Bezeichnung von Tuberkulose (TB) verwendet wurde. Dort heißt es: »Der Herr wird dich schlagen mit Auszehrung, Entzündung und hitzigem Fieber, Getreidebrand und Dürre; die werden dich verfolgen, bis du umkommst.«

Auszehrung? Auch wenn manche Leute die Situation noch nicht alarmierend finden – immerhin macht TB in den amerikanischen Zeitungen oder im Fernsehen heutzutage nur selten Schlagzeilen –, sollten wir die folgenden Fakten berücksichtigen, die deutlich machen, welche Rolle die TB mittlerweile wieder in der Welt spielt:

In einem Bericht, der kürzlich von der Regierung der Vereinigten Staaten[9] veröffentlicht wurde, heißt es: »Unter den Infektionskrankheiten ist Tuberkulose weltweit die Haupttodesursache bei Erwachsenen und stellt nach Ansicht der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine ernste Bedrohung für das öffentliche Gesundheitswesen dar. Die Sorge angesichts der weltweiten Ausmaße der modernen TB-Epidemie ist so groß, daß die WHO Tuberkulose im April 1993 zu einem ›globalen Notfall‹ erklärt hat – die erste Erklärung dieser Art in der Geschichte der WHO.«

Der Bericht geht dann genauer auf das Ausmaß der Probleme ein: »Buchstäblich bei jedem Ticken der Uhr infiziert sich irgend jemand auf der Welt mit TB – eine Person pro Sekunde. Ein volles Drittel der gesamten Weltbevölkerung ist jetzt schon mit dem TB-Bazillus infiziert. [Hervorhebung von mir: Denken Sie daran, daß nur ungefähr fünf bis zehn Prozent aller »Infizierten« tatsächlich eine [59]»aktive« TB entwickeln und den Erreger weiter verbreiten.] … An TB sterben gegenwärtig mehr Erwachsene pro Jahr als an AIDS, Malaria und Tropenkrankheiten zusammen …«

Eines der Probleme bei TB besteht darin, daß sie so ansteckend ist. Das US-Gesundheitsministerium hebt hervor: »Wie eine gewöhnliche Erkältung und anders als AIDS wird diese Krankheit [TB] durch die Luft übertragen, wobei ein zufälliger Kontakt ausreicht. Wenn jemand, der ansteckend ist, hustet, niest, spricht oder Schleim auswirft, werden die TB-Bazillen aus der Lunge dieses Patienten durch die Luft gewirbelt, wo sie stundenlang bleiben und von anderen Menschen eingeatmet werden.

Unbehandelt infiziert ein Mensch mit aktiver TB im Laufe eines einzigen Jahres zehn bis fünfzehn andere Menschen.«

Aber wird die Wissenschaft uns nicht retten? Inzwischen stellt sich leider heraus, daß die moderne Medizin selbst das Problem zu einem großen Teil verursacht hat. Während sich die TB so rasch ausbreitet, besonders in den Ländern der Dritten Welt mit ihrer hohen Bevölkerungsdichte (wo die Menschen versuchen, ihr Leben durch Wirtschaftswachstum zu verbessern), hat sich eine neue und fast unheilbare Form von TB entwickelt, die eine Folge davon ist, daß Ärzte und Krankenhäuser die Medikamente gegen TB nicht korrekt einsetzen.

Als »mehrfachresistente Stämme« bezeichnet, führen diese neuen Varianten des TB-Erregers fast immer zu einem entsetzlichen Tod unter großen Schmerzen. Das US-Gesundheitsministerium stellt dazu fest: »Es gibt keine Therapie für Infektionen mit einigen der mehrfachresistenten Stämme, und es herrscht große Sorge, daß diese Stämme sich weltweit rasch ausbreiten werden. Zwar gibt es gegenwärtig nur wenige zuverlässige Zahlen, doch die Wissenschaftler gehen bei ihren Schätzungen davon aus, daß mehr als 50 Millionen Menschen mit TB-Stämmen infiziert sind, die zumindest gegen eines der üblichen Antibiotika resistent sind.«

Glauben Sie nicht, dieses Problem sei auf die Dritte Welt beschränkt! [60]Ein Artikel in der angesehenen Wissenschaftszeitschrift Nature[10] stellt dar, daß die Krankheit auch schon in New York und Los Angeles »besonders gefährlich« ist und sich in den Vereinigten Staaten weiter ausbreitet. Immerhin bewegt sich die TB so schnell wie ein hustender Mensch in einem Flugzeug, Bus oder Zug. In der medizinischen Fachzeitschrift Chest[11], die sich speziell an Thoraxchirurgen wendet, führen die Autoren aus, daß es in den Vereinigten Staaten »eine alarmierende Umkehrung des Abwärtstrendes bei den Neuinfektionen mit TB gibt«, der etwa 1984 eingesetzt hat. Sie erklären ganz offen: »In den letzten zehn Jahren haben die Neuinfektionen mit HIV und TB in verschiedenen großen Städten der USA epidemische Ausmaße angenommen. Am Bellevue Hospital Center in Manhattan ist die Zahl der Neuinfektionen mit mehrfachresistenten TB-Stämmen 1991 im Vergleich mit jedem der vorangegangenen zwanzig Jahre um das Siebenfache angestiegen.«

Und dies ist natürlich nicht die einzige Krankheit, die sich besorgniserregend entwickelt. Kritisch ist die Situation auch im Hinblick auf das Hantavirus, auf die Enzephalitis, eine mögliche Wiederholung der tödlichen Grippe-Epidemie von 1918 (das Virus wurde Ende 1997 von Wissenschaftlern »vorsichtig« isoliert, damit man es »untersuchen« konnte – nachdem man unter dem ewigen Eis im Norden Europas einige Leichen ehemaliger Opfer gefunden hatte), im Hinblick auf den Erreger Pfisteria piscicida, der an der Ostküste der USA das Leben in vielen Meeresbuchten und Flüssen[12] dezimiert, und Dutzende anderer.

Beim Fleischverzehr gibt es sogar Probleme mit »krankheitserregenden« Proteinen (sogenannten Prionen[13]), für deren Entdeckung ein Wissenschaftler 1997 den Nobelpreis erhielt. Zwar [61]hat der Rinderwahnsinn in Großbritannien in den achtziger Jahren dieser speziellen Manifestation von Prionen weltweite Aufmerksamkeit beschert, doch es gibt noch viele andere Formen, und sie verbreiten sich weltweit sehr rasch in den Schlachttieren und in der menschlichen Bevölkerung.

Aber selbst angesichts dieser und anderer Hinweise auf die potentiellen Gefahren und gegenwärtigen Katastrophen, die durch unser explosives Wachstum hervorgerufen werden, bezeichnet man diejenigen, die sich für alternative, langsamere Wachstumspfade einsetzen, als technologiefeindliche Umweltextremisten oder wirtschaftliche Ignoranten – oder sogar als »Wachstumsgegner«, so als ob wir tatsächlich mehr Wachstum brauchten.

Beachten Sie jedoch, daß solche Buh-Rufe überwiegend von jenen kommen, die an der Spitze der wachsenden »Wohlstandspyramide« stehen, unter der unser Planet zu ersticken droht.

Vielleicht erscheint uns die Lage einfach deshalb so gut, weil wir nicht sehen oder hören, was passiert

Ein weiterer Grund, warum wir Amerikaner meinen, alles sei in bester Ordnung, besteht darin, daß die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung bemerkenswert schlecht über die Situation außerhalb der eigenen Landesgrenzen informiert ist. Der in den USA erscheinende »Weltalmanach« World Almanac and Book of Facts beispielsweise führt Hunger oder Hungersnöte nicht einmal als Kategorie auf. Er enthält jedoch ausführliche Listen amerikanischer Werbefirmen, amerikanischer Universitätspräsidenten, Filmschauspieler, Kongreßmitglieder und Leistungssportler.

Wie ist es möglich, daß wir im reichsten Land der Erde mit der bei weitem größten Zahl von Medien so schlecht informiert sind? Das ist eine wichtige Frage.

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Das amerikanische Fernsehen berichtet selten eingehend über internationale Ereignisse, sondern stürzt sich lieber auf »heiße« Storys wie den O.J.-Simpson-Prozeß, die Einschaltquoten bringen und dadurch die Werbeeinnahmen erhöhen. Schließlich ist das Privatfernsehen ein Geschäft, und das gilt auch für die Nachrichtensendungen. Die Gehälter sämtlicher Mitarbeiter stammen aus Werbeeinnahmen, und deren Höhe hängt von den Einschaltquoten ab. Wie Calvin Coolidge sagt: »In Amerika geht es immer nur ums Geschäft.«

Bei den Nachrichten haben wir heutzutage leider oft folgende Situation: Die großen, multinationalen Unternehmen, die an vorderster Front der globalen Umweltzerstörung stehen, gehören zu den hundert größten Unternehmen in den USA, und vier von ihnen besitzen eigene Fernsehsender, die Abendnachrichten ausstrahlen. Sie haben einen nicht geringen Anteil daran, daß die Amerikaner so schlecht informiert sind.

Für solche Sender sind »Nachrichten« auch nur ein Geschäft. Und die meisten »Nachrichtenkonsumenten« vergessen, daß die Zeitungen und Fernsehsender bei ihren Geschichten immer die verkauften Auflagen, die Einschaltquoten und die Werbeeinnahmen im Auge haben, denn das ist ihr Profit. Der Anspruch, die Öffentlichkeit korrekt über das zu informieren, »was hier wirklich passiert ist«, kommt bei den Medien oft zu kurz, weil es der geschäftliche Erfolg ist, der Einnahmen bringt und sicherstellt, daß die Rechnungen bezahlt werden können.[14]

Doch der geschäftliche Erfolg der Medien ist kein Garant dafür, daß wir erfahren, was wirklich in der Welt geschieht.

[63]

Auch in ihren sonstigen Sendungen präsentieren uns die Medien eine idealisierte Wirklichkeit und keineswegs das echte Leben in dieser Welt. Obdachlose treten beispielsweise nur selten in Fernsehserien oder anderen Shows auf. Doch die Wirklichkeit sieht so aus, daß Teile der Vereinigten Staaten langsam, aber unverkennbar beginnen, Erinnerungen an die Armut in Städten wie Bombay wachzurufen.

 

 

[64]

Sklaverei und Freiheit

Sklaverei ist der erste Schritt zur Zivilisation. Um sie zu entwickeln, müssen die Lebensbedingungen für einen Teil der Menschen wesentlich besser sein als für den Rest der Bevölkerung, damit sich dann diejenigen, denen es besser geht, auf Kosten der anderen entfalten können.

Alexander Herzen (1812–1870)

Wir haben bisher darüber gesprochen, daß wir alle »aus Sonnenlicht geschaffen« sind, und wie die Fähigkeit, die Menge des verfügbaren Sonnenlichts durch fossile Brennstoffe zu erhöhen, unser außerordentliches Bevölkerungswachstum in den letzten Jahrhunderten ermöglicht hat.

Sklaverei war ebenfalls ein Werkzeug der modernen Zivilisation, und einige Historiker behaupten, daß die Mesopotamier, Ägypter, Chinesen, Griechen, Römer, Ottomanen, Europäer und Amerikaner ohne Sklaverei nicht annähernd das Wohlstandsniveau erreicht hätten, dessen sie sich zu ihrer Zeit erfreuen konnten. (Science News vom 20. Sept. 1997 erwähnt »die einflußreiche Theorie, daß größere Bauten und andere Aspekte einer komplexen Kultur nur in Ackerbaugesellschaften auftraten, die über strikte Machthierarchien und die Arbeitskraft zahlreicher Sklaven verfügten«.)

Sklaverei ist ein weiterer Weg, sich das Sonnenlicht anzueignen, das im Körper eines anderen gespeichert ist, und es im Interesse des Ausbeuters »einzuspannen«.

 

Die früheste Geschichte der Sklaverei finden wir in der Wiege der westlichen Zivilisation: Sie fand vor fünf- bis sechstausend Jahren im sumerischen Reich von Mesopotamien statt, der fruchtbaren [65]Gegend des heutigen Irak. Es gibt auch schriftliche Aufzeichnungen darüber, daß Sklaven in Ägypten, Persien, Babylonien und Assyrien eine zentrale Rolle spielten. Außerdem wird Sklaverei häufig in der Bibel (im Alten wie im Neuen Testament) erwähnt (und auch gebilligt).

In diesen Gesellschaften wurde der größte Teil aller körperlichen Arbeiten von Sklaven verrichtet. Als die Gesellschaften sich ausbreiteten und Handelsnetzwerke entstanden, wuchs die Nachfrage nach Sklaven, was dazu führte, daß in der Blütezeit des griechischen und römischen Reiches sogar die »gewöhnliche« römische Familie zumindest einen Haussklaven hatte, und daß bei der griechischen Volkszählung im Jahre 400 vor Christus die Athener Bevölkerung zu einem ganzen Drittel aus Sklaven bestand.

Aristoteles schrieb über die Haushaltsführung und die wichtige Rolle, die Sklaven für die Lebensqualität in jedem modernen Haushalt spielten:

Beginnen wir mit dem Verhältnis zwischen Herr und Sklave … Denn einige Denker meinen, die Funktion des Herrn sei eine exakte Wissenschaft … Da das Eigentum ein Teil des Haushalts ist und die Kunst des Eigentumserwerbs ein Teil der Haushaltsführung (denn ohne die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse ist kein Leben und erst recht kein gutes Leben möglich), und da der Haushaltsvorstand so wie ein Künstler Werkzeuge benötigt, um bestimmte Arbeiten zu verrichten, braucht man auch für die Haushaltsführung seine Werkzeuge, lebende und nicht-lebende, und so ist das Eigentum zugleich ein Werkzeug zur Bewältigung des Lebens und jegliches Eigentum generell eine Sammlung von Werkzeugen, und ein Sklave ist ein lebender Teil des Eigentums. Und jeder Helfer ist wie ein Werkzeug, das verschiedenen anderen Werkzeugen dient.

Bei seinem Versuch, die Sklavenhaltung als Werkzeuggebrauch zu rechtfertigen, verfehlte Aristoteles freilich die entscheidende Funktion, die Sklaven in den Zivilisationen der jüngeren Kulturen erfüllten: [66]Sklaven waren keine Werkzeuge, sondern Energiequellen – für kinetische Energie, gespeicherte Energie, erneuerbare Energie.

Von den Anfängen der Zivilisation bis heute haben Sklaven sehr viel mehr geleistet, als ihren Herren nur das zu ermöglichen, was Aristoteles ein »gutes Leben« nennt. Von den afrikanischen Sklaven, die im amerikanischen Süden Baumwolle pflückten, bis zu den russischen Sklaven (den Slaven), die von den Römern und Portugiesen vor etwa tausend Jahren eingeführt wurden, um auf den Zuckerplantagen der Mittelmeerinseln zu arbeiten, und zurück zu den Haussklaven aus aristotelischen und noch früheren Zeiten waren Sklaven stets mehr als reine »Werkzeuge«. Sie waren eine Energiequelle, so wie Pferdestärken oder elektrischer Strom. Von den Sklaven des römischen Reichs bis zu den verdeckten Formen der Sklaverei wie den Leibeigenen im mittelalterlichen Europa oder der elendiglich armen Arbeiterklasse im viktorianischen England war die kostenlose oder billige Rückenkraft, Beinkraft und Armkraft der lebenswichtige Treibstoff für das Wachstum dessen, was wir als Zivilisation und Industrie bezeichnen. Eine der wertvollsten Waren, die Kolumbus entdeckte, als er in der heutigen Dominikanischen Republik landete, waren die dortigen Eingeborenen – über mehr als zwei Jahrzehnte verschiffte er Tausende von Sklaven nach Europa und wurde dadurch zu einem sehr reichen Mann.

Es ist interessant, daß die Sklaverei in den Vereinigten Staaten etwa zur gleichen Zeit ein Ende fand, als man über reichlich Erdöl verfügen konnte.

Die amerikanischen Sklaven verwandelten gegenwärtiges Sonnenlicht (Nahrung) in Arbeitskraft, welche den Motor unserer Nation antrieb. Als Kohle und Erdöl reichlich und kostengünstig verfügbar wurden, verloren die Sklaven an Bedeutung, weil wir sie nun durch Maschinen ersetzen konnten, die das gespeicherte Sonnenlicht, das reichlicher vorhanden war als gegenwärtiges Sonnenlicht, effektiver zu nutzen vermochten.

Die alten Römer versorgten sich primär auf ihren Kriegszügen [67]mit Sklaven, indem sie ihre besiegten »Feinde« versklavten. Das erhöhte den Reiz, ferne Länder zu erobern: Die Beute des Siegers bestand nicht nur aus natürlichen Reichtümern wie Holz und Mineralien, sondern auch aus Sklaven. Auf ähnliche Weise verschifften die Europäer in der Zeit zwischen 1500 und 1800 mehr als zwölf Millionen afrikanische Sklaven nach Nord- und Südamerika, wobei die meisten nach Brasilien und auf die Inseln zwischen Florida und Venezuela verschleppt wurden.

Die meisten Leute stellen sich die Indianer der amerikanischen Plains als Krieger auf dem Rücken ihrer Pferde vor. Aber die amerikanischen Ureinwohner dieser Gegend waren zehntausend Jahre lang zu Fuß gegangen, bis die Spanier nach der fehlgeschlagenen Revolte des Tewa-Medizinmanns Pope im Jahre 1698 dort Pferde einführten.

Der »heilige Hund« (so nannten sie das Pferd) der amerikanischen Ureinwohner wurde das Lasttier und Transportmittel der Wahl bei den Stämmen, die vorher zu Fuß gegangen waren und Hunde als Helfer bei der Jagd eingesetzt hatten. Das führte zu einem hundert Jahre währenden goldenen Zeitalter ungeahnten Wohlstands und großen Bevölkerungswachstums bei diesen Stämmen – bis das schreckliche und blutige Ende mit den Europäern aus dem Osten kam, die das Land für sich beanspruchten.

Gleichwohl hat die Einführung einer neuen Energiequelle als leichterer oder effizienterer Weg, gegenwärtiges Sonnenlicht in Arbeitskraft zu verwandeln – seien es nun Sklaven oder Pferde oder mit Kohle oder Öl betriebene Maschinen –, immer zu dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen geführt.

Umgekehrt führt der Verlust solcher Energiequellen ebenfalls zu großen Veränderungen, denn dies war die unmittelbare Ursache für den Verfall und die Zerstörung aller historisch bekannten Zivilisationen, bis zurück zu den Sumerern.

Überleben und Wohlstand hängen davon ab, über wieviel Sonnenenergie wir verfügen können.

 

 

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Flüchtige Eindrücke einer möglichen Zukunft in Haiti und anderen Brennpunkten

Die Zukunft besteht aus demselben Stoff wie die Gegenwart.

Simone Weil (1909–1943)

Christoph Kolumbus öffnete nicht nur das Tor zu einer neuen Welt, sondern er gab uns allen auch ein Beispiel, indem er zeigte, welche großartigen Leistungen man durch Beharrlichkeit und Gottvertrauen vollbringen kann.

George Bush, 1989 in einer Ansprache

Wenn man über Haiti im westlichen Teil der Insel Hispaniola fliegt, wo Kolumbus landete, dann hat man den Eindruck, jemand habe eine Fackel genommen und alles Grün abgebrannt. Sogar das Meer um die Hauptstadt Port au Prince herum erstickt meilenweit im Braun menschlicher Abfälle und erodierter Böden. Aus der Luft sieht es so aus, als würde sich ein Lavafluß ins Meer ergießen.

Die Geschichte dieser kleinen Insel repräsentiert in vieler Hinsicht einen Mikrokosmos dessen, was in der ganzen Welt geschieht.

Als Kolumbus 1492 auf Hispaniola landete, war fast die gesamte Insel von üppigen Wäldern bedeckt. Die dort lebenden Taino-»Indianer« hatten offensichtlich vor Kolumbus ein idyllisches Leben geführt, wie man aus schriftlichen Aufzeichnungen entnehmen kann, die Mitglieder der Schiffsbesatzung des Kolumbus wie Miguel Cuneo hinterlassen haben.

Als Kolumbus und seine Männer jedoch zum zweiten Mal nach Hispaniola kamen, nahmen sie etwa zweitausend Einheimische gefangen, die zu ihrer Begrüßung erschienen waren. Cuneo schrieb: »Als wir mit unseren Schiffen … wieder nach Spanien aufbrechen [69]wollten, trieben wir …eintausendsechshundert Indianer, Männer und Frauen, zusammen und brachten einen Teil von ihnen am 17. Februar 1495 auf unsere Schiffe. … [Den Spaniern, die als Besatzung des Inselforts zurückblieben] sagten wir, jeder, der ein paar Indianer haben wolle, könne sich nach Bedarf welche nehmen, was sie auch taten.«

Cuneo notierte auch, daß Kolumbus ihm ein wunderschönes junges Mädchen aus der Karibik als persönliche Sklavin schenkte. Als er jedoch versuchte, sich ihr sexuell zu nähern, habe sie sich »mit aller Kraft gewehrt«. Deshalb, so schreibt er weiter, habe er sie »gnadenlos verprügelt und vergewaltigt«.

Obwohl Kolumbus die Taino-Indianer als Kannibalen bezeichnet hat, gibt es dafür bis heute nicht die geringsten Hinweise. Kolumbus hatte diese Geschichte – sie wird heute noch in einigen amerikanischen Schulen gelehrt – offensichtlich frei erfunden, als Rechtfertigung für das Abschlachten und die Versklavung der einheimischen Bevölkerung. An das spanische Königshaus schrieb er 1493: »Wir können hier im Namen der Heiligen Dreieinigkeit unbegrenzt Sklaven verkaufen … Es gibt hier so viele von ihnen und auch soviel Holz, daß sie, obwohl Lebewesen, so gut wie Gold sind …«

Kolumbus und seine Männer benutzten die Taino auch als Sex-Sklaven: Kolumbus belohnte seine Männer gerne damit, daß er ihnen eine einheimische Frau zur Vergewaltigung schenkte. Als er begann, Taino als Sklaven in andere Teile der Welt zu exportieren, wurde der Handel mit Sex-Sklaven zu einem wichtigen Teil des Geschäftes, wie Kolumbus einem Freund im Jahre 1500 schrieb: »Man erhält für eine Frau wie für eine Farm leicht hundert Castellanoes [spanische Münze]; der Handel ist allgemein üblich und es gibt viele Händler, die sich nach Mädchen umsehen; besonders gefragt sind Mädchen im Alter von neun bis zehn [Jahren]«.[15]

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Doch auf den Plantagen, die die Spanier und später die Franzosen auf Hispaniola anlegten, erwiesen sich die Taino nicht als besonders gute Arbeiter: Sie waren wütend darüber, daß man ihnen ihr Land und ihre Kinder nahm, und versuchten, sich gegen die Eindringlinge zu wehren. Kolumbus führte harte Strafen für sie ein: Selbst für ein geringes Vergehen wurde einem Indianer die Nase oder das Ohr abgeschnitten, damit er in sein Dorf zurückkehren und seine Leute damit beeindrucken sollte, zu welcher Brutalität die Spanier fähig waren. Kolumbus hetzte die Hunde auf die Indianer, spießte ihren Rumpf vom After bis zum Mund auf Pfähle und erschoß sie. Schließlich wurde das Leben für die Taino so unerträglich, daß, wie Pedro de Cordoba 1517 in einem Brief an König Ferdinand schrieb, »die Indianer als Resultat ihrer Leiden und der harten Arbeit, zu der sie gezwungen wurden, Selbstmord verübt haben und weiterhin verüben. Bei einer Gelegenheit haben hundert von ihnen einen Massenselbstmord begangen. Die Frauen sind von der Arbeit erschöpft und versuchen, Schwangerschaften und Geburten zu verhindern … Viele treiben ihre ungeborenen Kinder ab oder töten sie eigenhändig gleich nach der Geburt, um ihnen ein Leben in Unterdrückung und Sklaverei zu ersparen.«

Am Ende gingen Kolumbus und später sein Bruder Bartholomäus Kolumbus, dem er die Verantwortung für die Insel übertragen hatte, einfach dazu über, die Taino vollständig auszurotten. Die meisten Wissenschaftler gehen davon aus, daß auf Haiti/Hispaniola vor der Ankunft des Kolumbus etwa drei Millionen Menschen lebten. Im Jahre 1496 ergab eine von Bartholomäus Kolumbus durchgeführte Volkszählung noch ganze 1 100 000 Einwohner. Im Jahre 1516 war die einheimische Bevölkerung auf 12 000 reduziert, und nach Angaben von Las Casa (der dort war) lebten 1542 nur noch weniger als 200 Einheimische. 1555 war auch der letzte von ihnen tot. (Heute gibt es auf der ganzen Welt keinen einzigen Taino mehr: Ihre Kultur, die Menschen und ihre Gene sind von diesem Planeten verschwunden.)

[71]

Als die aus Afrika verschleppten Sklaven in Haiti heimisch wurden, begannen sie, die Wälder abzuholzen, um Ackerland und Feuerholz zu gewinnen. Als Folge davon stehen heute nur noch auf weniger als einem Prozent der Fläche Haitis Bäume. Auf dem nackten Boden wird das Erdreich vom Regen ausgewaschen, fließt die Hügel hinab, vermischt sich mit Abfall und Abwässern und wird von Port au Prince aus vier Meilen weit ins Meer hinausgespült. Millionen von Menschen leben dicht gedrängt in den Städten, wo sie extrem billige Arbeitskräfte für die multinationalen Konzerne abgeben, als Haushaltshilfen ausgebeutet werden und – Kinder wie Erwachsene – europäischen und amerikanischen Managern der großen Multis sowie Touristen als billige Prostituierte dienen.

Das Vermächtnis des Kolumbus besteht darin, daß die Haitianer nicht nur in Armut, sondern in Verzweiflung leben. Bis zu sechzehn Stunden am Tag verbringt die durchschnittliche Landbevölkerung mit der Suche nach Nahrung oder Feuerholz, und die Stadtbewohner verbringen die gleiche Zeit mit der Suche nach Geld oder eßbaren Abfällen. Krankheiten von Cholera bis AIDS grassieren in dem überbevölkerten Land.

Obwohl Haiti zu den ärmsten Ländern in der westlichen Welt gehört, ist die Situation dort nicht einzigartig. Die Dominikanische Republik auf der anderen Seite der Insel wie auch der Rest von Mittel- und Südamerika hat ähnliche Probleme.

Die Philippinen: Kinder suchen im Abfall nach Nahrung

Als ich 1985 auf den Philippinen war, nahm mich Pater Ben Carreon, der eine populäre Kolumne für die Manila Times schreibt und als Priester-Aktivist in Manila lebt, mit zu den riesigen Müllhalden der Stadt. Der Gestank war entsetzlich, die Luft stand vor Insekten, und Berge von verrottendem Abfall erstreckten sich bis in weite Ferne. [72]Wir standen dort in der heißen Nachmittagssonne, und Pater Ben sagte: »Sehen Sie sich die Abfallberge genau an.«

Ich blinzelte in das grelle Licht, betrachtete die entfernten Müllhalden, und dann fiel mir etwas auf: »Sie bewegen sich!« sagte ich.

»Nein, es sind die Kinder, die sich darauf bewegen«, erklärte er. »Tausende von Kindern. Ihre Familien leben in der Nähe, und die Kinder verbringen ihre Tage damit, im Abfall nach Essensresten für ihre Familien zu suchen.«

Als Pater Ben Jahre zuvor entdeckt hatte, daß Heerscharen von Kindern ihr Leben auf den Müllhalden verbrachten, hatte er ein Stipendienprogramm eingerichtet, um den »Müllhaldenkindern« den Besuch der Schule zu ermöglichen. Als Resultat seiner Bemühungen haben Hunderte von ihnen die High School abgeschlossen und einige Dutzend haben sogar einen College-Abschluß. »Trotzdem ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein«, sagte er mir einige Jahre nach unserem ersten Zusammentreffen. »Die Aufgabe ist einfach unermeßlich.«

Nepal: Vier Stunden Fußmarsch, um das Brennholz für einen Tag zu finden

Ähnliche Geschichten spielen sich überall in den »Entwicklungsländern« ab. Nepal hat allein in den letzten Jahrzehnten über dreißig Prozent seiner Waldflächen verloren, weil die Menschen Feuerholz und Ackerland brauchten. Jahrtausende lang hatten dort Stammesvölker gelebt, und die sorgfältig terrassierten Hügel hatten die Bevölkerung zuverlässig mit Nahrung versorgt. Heute werden die meisten dieser Terrassen vom Regen ausgewaschen, und ohne den Schutz der Wälder fließt das Erdreich die steilen Abhänge Nepals hinunter.

Wie in den meisten Entwicklungsländern sammeln auch in Nepal hauptsächlich die Frauen das Feuerholz; sie beschaffen die [73]Nahrung und bereiten sie zu. Als Folge der raschen Waldzerstörung, so heißt es in wissenschaftlichen Studien, die Dr. Sharon L. Camp vom Population Crisis Committee zitiert, brauchen die Frauen in Nepal neuerdings ein bis vier Stunden zusätzlich zu ihrem Zehn-Stunden-Arbeitstag, nur um Brennholz aus den zunehmend entfernter liegenden Wäldern zu beschaffen. In absehbarer Zeit werden auch diese Quellen erschöpft sein, und in Nepal wird dann wahrscheinlich dasselbe geschehen wie in Haiti.

Westafrika: Das Holz wurde verbraucht, Erosion setzte ein, jetzt ist dort Wüste

Das westafrikanische Land Burkina Faso (früher Obervolta) ist ein weiteres interessantes Beispiel. Die Entwicklungshilfe beträgt 18 Prozent des Bruttosozialprodukts, und die Bevölkerungsepxlosion schreitet weiter fort. Durchschnittlich haben die Frauen 7,2 Kinder. Nachdem sich das Land Zehntausende von Jahren selbst erhalten konnte, deckt die eigene Nahrungsproduktion heute nur noch vierzig Prozent des Bedarfs. Feuerholz wird ungefähr fünfmal schneller verbrannt, als es nachwachsen kann, und die Frauen verbringen ungefähr die Hälfte des Tages allein mit der Suche nach Wasser. Während die Erosion fortschreitet und die Böden immer stärker ausgelaugt werden, sind die Bauern von Burkina Faso gute Kunden der internationalen Düngemittelindustrie geworden, die jährlich Milliarden-Dollar-Umsätze macht. Doch das ist bestenfalls eine kurzfristige Lösung, und so hat sich in den letzten vierzig Jahren die Wüste über große Teile des Landes ausgebreitet.

1984 fielen in ganz Afrika Millionen von Menschen einer Hungersnot zum Opfer, und Burkina Faso gehörte zu den am stärksten betroffenen Ländern. Dr. Camp zitierte 1992 in einer Rede den burkinischen Bauern John Marie Zawadogh, dessen Land bereits zur Hälfte aus Wüste besteht. Er sagte: »Zur Zeit meines Vaters waren [74]die Kornspeicher mit Hirse gefüllt, und die Erde reichte fast zwei Meter in die Tiefe, bevor man auf Felsen stieß. Heute müssen wir, abgesehen von besonders regenreichen Jahren, Getreide zukaufen, und die Erde liegt nur noch eine Handbreit über dem Felsen … In meiner Kindheit standen hier überall undurchdringliche Wälder. Stück für Stück wurden sie um die Siedlungen herum abgeholzt, bis eine Lichtung an die nächste reichte und das Land so kahl war, wie es jetzt aussieht.«

In den Vereinigten Staaten ist die Lage nicht viel anders: Seit 1950 haben wir ein Drittel des Mutterbodens verloren. Aber die meisten Leute scheinen nicht zu merken, daß es hier oder irgendwo auf der Welt ein Problem gibt. Warum?

Wir bemerken die raschen Veränderungen, nicht die langsamen

1976 kauften meine Frau Louise und ich eine 30-Hektar-Farm im Norden von Michigan, weil wir dachten, daß es eines Tages vielleicht nötig sein könnte, unsere Nahrung selbst anzubauen. Wir hatten in Detroit gelebt, als 1973 das arabische Ölembargo verhängt worden war, gefolgt vom Streik der LKW-Fahrer aus Protest gegen die steigenden Benzinpreise und die wirtschaftlichen Restriktionen, mit denen die Nixon-Regierung versucht hatte, eine ökonomische Katastrophe zu verhindern. 1973 hatte es in Detroit etwa eine Woche lang wenig oder gar keine Nahrungsmittel in den Regalen der Supermärkte gegeben, und ich erinnere mich noch, daß ich vier Stunden in der Schlange gestanden habe, um meine Ration von knapp 23 Liter Benzin zu bekommen. Schon damals hatten wir erkannt, wie störungsanfällig das ganze System war und daß die großen Städte bei einem ökonomischen Zusammenbruch zu tödlichen Fallen werden konnten.

Die Lage besserte sich, als die Araber den Ölhahn wieder aufdrehten. [75]1978, als Louise und ich das New England Salem Children's Village in New Hampshire gründeten, verkauften wir die Farm, weil wir Geld brauchten. Aber ich habe nie den kurzen Blick hinter die Kulissen in Detroit vergessen, das erschreckende Bild, das die Stadt damals bot, nur wenige Tage, nachdem die Lastwagen nicht mehr fuhren und das Benzin zur Mangelware geworden war.

Ein Freund, der gerne Meeresfrüchte ißt, erzählte mir einmal, man könne einen Hummer auch langsam kochen. »Wenn man ihn in einen Topf mit kaltem Wasser legt, das man auf kleiner Flamme erwärmt, dann schläft der Hummer im warmen Wasser ein und wird anschließend gekocht«, sagte er. »Er schlägt dann nicht so um sich, wie er es tut, wenn man einen lebenden Hummer in einen Topf mit kochendem Wasser wirft.« Doch echte Hummer-Fans bevorzugen die letztere Methode, weil das Fleisch beim schnellen Kochen aromatischer wird, so habe ich mir sagen lassen.

Nicht anders als Hummer neigen auch wir Menschen dazu, Veränderungen in unserem »Wasser« nicht zu bemerken, solange sie allmählich geschehen. Wenn ein Amerikaner in einen »heißen Topf« wie Haiti oder Burkina Faso fällt, führt das zu einer schockartigen Erkenntnis: Unser ganzer Planet befindet sich in demselben Topf, in dem es einige besondere »Brennpunkte« gibt, aber der Topf als Ganzes erwärmt sich weltweit.

 

 

[76]

Das Baumsterben

Die Entwicklung von Gesellschaft und Industrie hat sich generell immer als so zerstörerisch für die Wälder erwiesen, daß alles, was zu ihrem Erhalt oder zur Wiederaufforstung geschehen ist, im Vergleich dazu völlig bedeutungslos war.

Karl Marx (1818–1883), Das Kapital (1867)

Wir haben (in unserer Lebensspanne) der Erde, dem Wasser, der Luft und allen Lebewesen auf der Erde bereits unwiderruflichen Schaden zugefügt. Mehr als 76 Prozent des Mutterbodens, der weltweit existierte, als die ersten Europäer sich in Amerika ansiedelten, ist jetzt verloren, und dem Wasserkreislauf ist durch das Abholzen der Wälder erheblicher Schaden zugefügt worden. Damit wollen wir uns in diesem Kapitel genauer beschäftigen, um zu sehen, was das für unsere Zukunft bedeutet.

Durch das Verbrennen von Holz, Kohle und Erdöl setzen wir heute alljährlich über sechs Milliarden Tonnen Kohlenstoff in die Atmosphäre frei, was gemessen an den 1,6 Milliarden Tonnen, die wir 1950 ausgestoßen haben, eine Explosion bedeutet. Dieser Kohlenstoff (meist in Form von Kohlendioxid) hüllt uns ein wie ein Treibhaus und wird nach Ansicht der Vereinten Nationen und vieler wissenschaftlicher Experten weltweit für heftige Wetterextreme sorgen.

Die Produktion von Getreide und anderen Feldfrüchten hat in Amerika wie auch im Rest der Welt während der achtziger Jahre ihren Höhepunkt erreicht (und sank in den neunziger Jahren), was den Agrar-Multis Rekordgewinne eingetragen, zugleich aber auch für die schlimmsten Hungersnöte der Weltgeschichte gesorgt hat.

[77]

Wie ist es möglich, daß unsere wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ja durchaus real sind und handfesten Nutzen hervorbringen, gleichzeitig unsere Existenzgrundlagen zerstören? Die Antwort lautet, daß der handfeste Nutzen auf ganz spezifische einzelne Bereiche beschränkt ist und nur dadurch erzielt werden kann, daß wir unsere Zukunft mit einer schweren Hypothek belasten: Wir fördern einen Teil des Systems auf Kosten eines anderen Teils.

Bäume

Als ich in die Grundschule ging, lernten wir, daß die Meere und die Wälder die Hauptquellen des Sauerstoffs für unseren Planeten sind. Es zeigt sich jedoch, daß dies zumindest für die Tiere, die den Sauerstoff aus der Luft atmen, nur teilweise zutrifft. Die Meere spenden nur etwa acht Prozent des atmosphärischen Sauerstoffs, und diese Rate sinkt rapide: Es gibt inzwischen riesige Meeresgebiete, in denen alles Leben abstirbt, weil sie zu stark mit giftigen Abfällen belastet sind, oder weil sich die Meerestemperatur verändert hat, und diese Meeresgebiete verbrauchen heutzutage Sauerstoff.

So berichteten Forscher beispielsweise im Januar 1999 bei einem Treffen der American Association for the Advancement of Science, daß die 7000 Quadratmeilen große »tote Zone« im Golf von Mexiko seit 1992 doppelt so groß geworden ist, womit nun ein riesiges Gebiet von Fischen, Krabben und nahezu allen Meerestieren entvölkert ist, abgesehen von bestimmten Bakterien, die eine Umgebung mit niedrigem Sauerstoffgehalt vorziehen. Nach Angaben von Professor Otto Doering von der Purdue University hängt diese Entwicklung damit zusammen, daß amerikanische Farmer im Rahmen ihrer intensiven Anbaumethoden jährlich 6,5 Millionen Tonnen Stickstoff als Dünger auf ihre Felder ausbringen. Über Tausende von Bächen und Flüssen, die in den Mississippi münden [78](der 40 Prozent der gesamten Abwässer des Kontinents ins Meer leitet), gelangt dieser Stickstoff in den Golf.

Während die tote Zone im Golf von Mexiko gut untersucht ist, weil sie genau vor der Küste der Vereinigten Staaten liegt, gibt es überall in der Welt eine wachsende Zahl anderer, weniger bekannter Meeresgebiete, in denen ebenfalls kein Leben mehr möglich ist, wodurch die Fischbestände bedroht sind und das gesamte Ökosystem auf unserem Planeten aus dem Gleichgewicht gerät.

Demnach sind also die Bäume die Hauptquelle des atmosphärischen Sauerstoffs. Sie sind die Lungen unseres Planeten.

Eine ausgewachsene Kiefer oder ein Hartholzbaum hat eine Blattoberfläche, die je nach Art von etwa tausend Quadratmeter bis zu zwölftausend Quadratmeter reicht. Die Blattoberflächen der Bäume in den Regenwäldern können bis zu hundertsechzigtausend Quadratmeter pro Baum betragen. Auf dieser enormen Oberfläche wird das Sonnenlicht als Energiequelle benutzt, um Kohlendioxid in Sauerstoff und Pflanzenmaterial zu verwandeln (unter Einsatz von »C«, was Kohlenstoff bedeutet). Die Bäume atmen das CO2 buchstäblich über ihre enormen Blattflächen ein, nachdem wir es als Abfallprodukt ausgeatmet haben, und sie atmen ihrerseits Sauerstoff als Abfallprodukt aus. Ohne Bäume würde unsere Atmosphäre wahrscheinlich giftig für uns werden, und weil die Bäume in den Regenwäldern eine so viel größere Blattoberfläche als gewöhnliche Bäume haben, spenden die Regenwälder der Welt viel von dem Sauerstoff, den Sie einatmen, während Sie diese Seite lesen.

Dieser Zusammenhang ist allgemein bekannt, doch er gehört im Grunde zu den weniger wichtigen Funktionen der Bäume: Andere Einzelheiten über die Bedeutung der Bäume für unser Überleben sind weniger bekannt.

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Wurzeln als »Wasserpumpe«

Ein Baum im Regenwald zieht durch seine Wurzeln fast vierzehn Millionen Liter Wasser nach oben, die während der Lebenszeit des Baumes als Wasserdampf in die Atmosphäre entweichen. Obwohl es so aussieht, als würde der Erde dadurch Wasser entzogen, trifft eigentlich das Gegenteil zu: Die Bäume ziehen Wasser in das Erdreich, und das ist der erste Schritt in einem komplexen Kreislauf, der verhindert, daß das Land zur Wüste wird.

Ohne die Wälder, die Millionen Tonnen Wasser in die Atmosphäre pumpen, gäbe es nur wenig Feuchtigkeit in der Luft, die zu Wolken kondensieren und dann abregnen könnte. Die Folge ist, daß auf der dem Wind zugekehrten Seite unterhalb eines ehemaligen Waldgebietes, das abgeholzt worden ist, kein Regen mehr fällt und ein Prozeß beginnt, den man Desertifikation nennt und der zur Wüstenbildung führt. Dies ist in weiten Teilen des nördlichen und östlichen Afrika geschehen und hat zu massiven Hungersnöten geführt, weil der Regen ausfiel, die Ernte vertrocknete, der Mutterboden vom Wind weggeweht wurde und nur Wüste zurückblieb.

Der größte Teil des Regens, der auf baumloses Land fällt, versickert entweder als Grundwasser oder wird über unterirdische Wasserläufe, Gräben, Abwasserkanäle, Bäche und/oder Flüsse ins Meer geleitet. Nur Bäume können auf den kontinentalen Landmassen große Wassermengen effektiv in die Atmosphäre zurückleiten.

Stellen Sie sich zum Vergleich vor, wie das Wasser in einem 160 000 Quadratmeter großen See verdunstet. Das scheint eine Menge Wasser zu sein, entspricht aber gerade der Blattoberfläche eines einzigen großen Baumes.

Während ich dies schreibe, werden stündlich 600 Hektar Land weltweit zur Wüste, hauptsächlich durch die Zerstörung der Wälder. Der gesamte Bestand an Regenwäldern auf diesem Planeten [80]entspricht in etwa noch dem kontinentalen Teil der Vereinigten Staaten, und jedes Jahr wird davon ein Gebiet so groß wie Florida abgeholzt und für immer zerstört.

Neu gepflanzte Setzlinge können das Wasser nicht nach unten ziehen

Die Holzindustrie zeigt in ihrer Werbung, wie nach dem Roden neue Setzlinge gepflanzt werden, doch im Hinblick auf den Wasserkreislauf sind diese Bilder völlig irreführend. Hier werden zwar gerodete Bäume ersetzt, doch es entsteht ein Jahrzehnte währende Lücke im Wasserkreislauf.[16]

Wenn man Tausende Tonnen Biomasse aus einem Wald herausholt und statt dessen Setzlinge pflanzt, die nur ein paar hundert Gramm wiegen, dann trägt das kaum dazu bei, atmosphärische Feuchtigkeit zu erzeugen, die sich als Regen niederschlägt.

Und auch wenn die Setzlinge zu Bäumen herangewachsen sind, ist die ökologische Vielfalt zerstört, und die natürliche Fauna und Flora der betreffenden Region ist einer Monokultur gewichen, in der nur noch die Baumart wächst, die von den holzverarbeitenden Firmen verwendet wird.

Aber nicht nur die Holzindustrie ist für die Zerstörung unserer Wälder verantwortlich.

[81]

Bäume für Fleisch: Der Regenwald wird abgeholzt, damit die Amerikaner ihr Fast food bekommen

Die von der Weltbank und den Vereinten Nationen gegründete Consultative Group on International Agricultural Research berichtete 1996, daß jede Minute 29 Hektar Regenwald zerstört werden, überwiegend von notleidenden Menschen, die den Wald roden und abbrennen, um Ackerland oder Viehweiden für Rinder zu gewinnen, deren Fleisch dann in die Vereinigten Staaten exportiert wird.

Dieser Verlust von 15 Millionen Hektar Regenwald pro Jahr wird, wenn er unvermindert anhält, noch zu Lebzeiten unserer Kinder die gesamten Regenwälder der Welt zerstören. Das Ende ist buchstäblich absehbar.

Ein Sprecher der Weltbank hat erklärt, die Studie zeige deutlich, daß Armut und Überbevölkerung die Hauptursachen für die Zerstörung jener Wälder sei, deren Erhalt so wichtig für das Leben auf diesem Planeten ist.

Kürzlich klagte ein Freund meines Sohnes bei mir darüber, eine der großen Hamburger-Ketten sei für die Zerstörung zahlreicher Regenwälder in Lateinamerika verantwortlich. Ich verstand nicht, was er meinte. Ich hatte immer angenommen, die Regenwälder würden im Auftrag der holzverarbeitenden Industrie gerodet, um in Japan und Skandinavien seltene Hölzer zu Möbeln und anderen Einrichtungsgegenständen verarbeiten zu können. Wenn die Fast-food-Ketten die Regenwälder zerstörten, so dachte ich, dann doch wohl nur, um billiges Holz für das Papier zu bekommen, in das sie ihre Burger einwickeln, oder vielleicht weil ihre Plastikverpackungen auf irgendeine Weise den Regenwald schädigen.

Doch damit war ich einem weit verbreiteten Mißverständnis aufgesessen, an dessen Fortbestehen die amerikanische Fast-food-Industrie wahrscheinlich ein lebhaftes Interesse hat.

Zwar werden viele Regenwälder, die im Laufe von Jahrhunderten [82]gewachsen sind, oft gerodet, um das Holz zu verkaufen, aber genausooft werden sie einfach abgebrannt und nicht wieder aufgeforstet, besonders an Stellen, wo es sehr notwendig wäre, das Holz auf den Markt zu bringen. Das »kostenlose« Holz ist dabei meist nur ein »Zubrot« für die Kleinbauern, eine Art Startkapital zum Erwerb der ersten Zuchtrinder.

Der häufigste Grund für die Zerstörung der süd- und mittelamerikanischen Regenwälder ist Armut: Der hohe Fleischkonsum in den USA hat sowohl für die armen Kleinbauern als auch für die großen Rancher zu einem Nachfrageboom geführt, und das ist der wichtigste Grund für die Zerstörung der tropischen Regenwälder Lateinamerikas. Kleinbauern und Großgrundbesitzer betreiben eine Landwirtschaft, die auf Brandrodung basiert: Sie zerstören die alten Wälder, um an deren Stelle riesige Weiden für das Vieh anzulegen.

Jedes Jahr importieren die Vereinigten Staaten fast 100 Millionen Kilo Rindfleisch aus El Salvador, Guatemala, Nicaragua, Honduras, Costa Rica und Panama – während der Durchschnittsbürger in diesen Ländern weniger Fleisch ißt als die durchschnittliche amerikanische Hauskatze.

Die Zerstörung der lateinamerikanischen Regenwälder für Fast-food ist vor allem deshalb so besorgniserregend, weil in diesem sehr empfindlichen Gebiet 58 Prozent aller Regenwälder unseres Planeten stehen. (19 Prozent befinden sich in Afrika und 23 Prozent in Ozeanien und Südostasien.)

Mit den gerodeten Wäldern verschwinden die Wurzeln: Auswirkungen auf das Grundwasser und den Wasserkreislauf

Ein weiteres Problem im Zusammenhang mit der Waldzerstörung sind die Verluste von Trinkwasser. Trinkbares Wasser fällt als Regen vom Himmel und versickert im Boden.

In tieferen Erdschichten hat das Wasser oft viele gelöste Mineralien (aus der Erde) aufgenommen, insbesondere Salze. Die Wurzeln der Bäume reichen tief nach unten und ziehen die Feuchtigkeit aus den Schichten direkt oberhalb des salzigen Wassers nach oben, pumpen es in die Atmosphäre und nutzen die Mineralien, um damit ihr Holz zu härten. Wenn das Wasser so aus der Erde entfernt wird, entsteht ein Abwärtssog, der das frische Regenwasser nach unten zieht. Dieser Kreislauf hält das Erdreich gesund.

Wenn die Wälder jedoch gerodet werden, steigt mehr von dem salzhaltigen Grundwasser nach oben und dringt in immer höhere Erdschichten ein.

Wenn dieses Salzwasser schließlich bis auf wenige Meter an die Erdoberfläche heranreicht, schädigt es das Immunsystem der noch verbliebenen Bäume, die ähnlich wie Menschen mit AIDS anfällig für Parasiten werden. So kommt es zu Schädlingsbefall und Pilzinfektionen wie »Rost«, unter denen heute die Bäume überall auf der Welt leiden.

Oft glauben die Leute, Schädlinge wie Käfer, Raupen, Motten und Pilze seien äußere Faktoren, die das Sterben der Wälder verursachen, und reagieren darauf, indem sie große Mengen von Insektiziden und Fungiziden versprühen, oder sie zucken einfach mit den Schultern und sagen, man könne nichts dagegen tun. Aber in einem gesunden Wald kommt es nur selten zu Schädlingsbefall, so wie bei einem gesunden Menschen opportunistische Infektionen die Ausnahme sind. Doch inzwischen sterben sogar schon die Mischwälder in Europa und den Vereinigten Staaten, [84]weil sie dadurch geschwächt werden, daß die Menschen einen großen Teil des oberflächennahen Grundwassers abpumpen, während gleichzeitig saurer Regen fällt und die benachbarten Wälder zerstört werden.

In Europa sind nur noch 27 Prozent der Fläche bewaldet. In Asien sind es 19 Prozent. In Nordamerika beträgt die Waldfläche (einschließlich der weiten kanadischen Wälder) 25 Prozent.

Der weltweite Trend, Wälder durch Weideland für Rinder zu ersetzen, ist inzwischen so ausgeprägt, daß im waldarmen England einige Gemeinden jetzt »Holzkohle« aus verbrannten Rinderknochen statt der echten Holzkohle verwenden, um das Trinkwasser zu filtern. Als Vegetarier in Yorkshire gegen dieses Verfahren protestierten, erklärte die Yorkshire Water Company, die Knochen seien aus Indien importiert worden, weil man sich die traditionelle Holzkohle aus Kostengründen nicht mehr leisten könne, und Associated Press zitierte einen Vertreter der Wasserwerke, der erklärt hatte: »Wir können keine Wasserversorgung gewährleisten, die individuellen Ernährungsbedürfnissen entspricht …«[17] Im Jahre 1997 wurde die »Holzkohle« aus Rinderknochen, die trotz der Transportkosten aus Indien billiger ist als echte Holzkohle, in zehn Wasseraufbereitungsanlagen verwendet, und die Wasserwerke hatten vor, weitere sechs Anlagen in den folgenden Monaten umzustellen.

Wenn das salzige Wasser immer höher steigt und schließlich nur noch etwa einen halben Meter unterhalb der Oberfläche steht, beginnen die Ernten zu verderben. Hat es am Ende die Oberfläche erreicht, kann auf dem Boden nichts mehr gedeihen, und das Land wird zur Wüste.

Um mit diesen immer stärker versalzenen Böden fertig zu werden, haben die Landwirte von Kalifornien über Europa bis nach Australien damit begonnen, Grundwasserpumpen zu installieren, [85]welche das salzhaltige Wasser beseitigen sollen, das durch die Mitwirkung der Bäume früher in tiefere Schichten gezogen wurde. Dadurch kommt es zwar zu einer vorübergehenden Entlastung, aber auf lange Sicht wird das Problem nur weiter verschärft, weil das unerwünschte Wasser nicht in die Atmosphäre zurückgelangt (wofür die Bäume sorgen würden), sondern die Wasserläufe vergiftet, über die es ins Meer fließt.

Die starke Anreicherung von Mineralien und Salzen im Grundwasser gefährdet auch die menschliche Trinkwasserversorgung. In vielen Städten der Welt ist das Trinkwasser so belastet, daß es die Gesundheit gefährdet. In den meisten größeren Städten der USA und Europas schmeckt das Trinkwasser im günstigsten Fall scheußlich. Bei einem Salzgehalt von 1300 ppm (Teile pro Million) ist jedoch der Punkt erreicht, wo die Menschen, die solches Wasser trinken, krank werden und Schwindelanfälle bekommen: In vielen Städten liegt der Salzgehalt mittlerweile über 1000 ppm.

Durch den Verlust der Bäume verschwindet jedoch nicht nur der Mutterboden durch Versalzung und Verwüstung, sondern wir verlieren auch die Aussicht auf zukünftigen Mutterboden. Die Wurzeln der meisten Pflanzen verankern sich lediglich im Mutterboden, den sie als Transportmedium benutzen und aus dem sie sich Nährstoffe und Wasser holen. Bäume haben dagegen tiefe Wurzeln, die bis in die obersten Felsschichten reichen, diese aufbrechen und langsam nach oben holen, aber auch oberflächennahe Wurzeln, welche das Oberflächengestein aufbrechen. Außerdem ziehen Bäume Mineralstoffe aus der Erde, um daraus Pflanzenmaterial zu bilden. Wenn sie ihre Blätter abwerfen, wird das Laub zu einem wichtigen Bestandteil der obersten Erdschicht.

Auf diese Weise entsteht durch die Bäume schließlich neuer Mutterboden. Es dauert durchschnittlich vierhundert Jahre, bis ein Wald etwa 30 Zentimeter Mutterboden hervorgebracht hat, auf dem andere Pflanzen wachsen können. Ohne den Wald kann sich fast gar kein neuer Mutterboden bilden. (Wind und Wasser sorgen [86]zwar für eine Erosion der Felsen, aber daraus entsteht nur etwas Sand und kein Mutterboden.) Das zeigt auch, wie kurzsichtig es ist, eine Landwirtschaft auf Brandrodung zu gründen, bei der durch das Verbrennen der Wälder zwar eine dünne Schicht Mutterboden entsteht, die aber schon nach wenigen Jahren verbraucht ist.

Wenn wir bedenken, daß es ohne Mutterboden keine Ernte gibt, sollten wir eigentlich sehr besorgt sein über den Verlust der Mutterboden hervorbringenden Bäume und den Verlust des gegenwärtigen Mutterbodens. Doch statt dessen sehen die Regierungen und die Agrarunternehmen, die den größten Teil der landwirtschaftlichen Erträge in Amerika produzieren, einfach weg, wenn weltweit jede Minute über 300 Tonnen Mutterboden verlorengehen.

Wegen der steigenden Durchschnittstemperaturen aufgrund der globalen Erwärmung hat sich der Reproduktionszyklus des Borkenkäfers in Alaska von zwei Jahren auf ein Jahr verkürzt. Das hat fast zu einer Verdoppelung der Borkenkäfer-Population geführt, die riesige Flächen alaskischer Wälder zerstört haben.

Weltweit sind die Wälder gefährdet.

 

Kaum ein anderes Beispiel verdeutlicht die vielfältigen, komplexen Wechselwirkungen in unserer natürlichen Umwelt so gut wie die Rolle der Bäume, doch sie werden weiterhin gerodet und verbrannt. Das macht unsere Lage in diesen letzten Tagen des gespeicherten Sonnenlichts noch schlimmer: Wir haben weniger Blattoberflächen, die Sauerstoff abgeben, die Wasserkreisläufe stagnieren, wir riskieren, daß die Wüsten sich noch weiter ausbreiten, und gleichzeitig gelangt durch die Brandrodung noch mehr Kohlenstoff in die Atmosphäre.

Dieses Vorgehen erweckt den Eindruck, als hätten die Menschen (zumindest diejenigen, welche die Entscheidungen treffen) keine Vorstellung von ihrer Rolle im Ökosystem.

Doch unsere Vorherrschaft in der Welt schwächt uns auch noch [87]auf andere Weise: Dieselbe Ausrottungsmentalität, die zum Aussterben der Taino führte (und aller anderen Völker, die den Herrschern nicht genehm waren), führt auch zu einem unvorstellbaren Artensterben in der Tier- und Pflanzenwelt, woraus sich eine weitere Veränderung ergibt, die wir nicht so bald ungeschehen machen können: der Verlust der Artenvielfalt.

 

 

[88]

Ausgelöscht: Artenvielfalt hilft beim Überleben

Eine Nation, die ihren Boden zerstört, zerstört sich selbst.

Franklin D. Roosevelt (1882–1945)

Die modernen Menschen erschienen vor etwa 200 000 Jahren auf dieser Erde. (Einige Schätzungen bewegen sich zwischen 400 000 und 70 000 Jahren, aber die meisten Experten nehmen aufgrund fossiler Funde etwa 200 000 Jahre an.) Bis zur Zeit um Christi Geburt – also während der ersten 198 000 Jahre – wuchs die Weltbevölkerung auf 250 Millionen Menschen.

Aber sogar diese erste Viertelmilliarde Menschen hatte schon deutlich erkennbare Auswirkungen auf die Artenvielfalt in der Welt. In Nordamerika sind beispielsweise viele Tiere ausgestorben, die noch vor 20 000 Jahren ein Teil des Ökosystems waren (heute finden wir sie nur noch als Versteinerung im Museum). Verschwunden sind unter anderem die riesigen langhaarigen Mammuts, die Tiger mit den Säbelzähnen, Elefanten, Riesenbären und Faultiere und auch die wilden Vorfahren der Pferde und Kamele.

Vor ungefähr zehn- bis zwölftausend Jahren sind diese Tiere und siebenundfünfzig andere weitverbreitete Säugetierarten vom amerikanischen Kontinent verschwunden, ein Artensterben, das sich, gemessen an der Lebenszeit unseres Planeten, in einem kurzen Augenblick abgespielt hat.

Aber warum?

Eine beliebte Theorie besagt, daß diese riesigen Säugetiere einer Klimaveränderung zum Opfer gefallen sind, die vor etwa 12 000 Jahren das Ende der Eiszeit brachte. Doch neuere Forschungsergebnisse, über die Richard Leaky ausführlich berichtet hat, zeigen, daß diese Theorie beachtliche Lücken hat.

[89]

So kam es beispielsweise auf den pazifischen Inseln (einschließlich Hawaii), in Australien und Neuseeland zu einem ähnlich massiven Artensterben. Hunderte großer Tierarten, die am Boden lebten, wurden in einem Zeitraum von weniger als tausend Jahren ausgelöscht; dazu gehörten Vögel ohne Flügel, Tapire, nilpferdähnliche Tiere, eine riesige Echsenart, eine elefantengroße Säugetierart und riesige, am Boden lebende Faultiere.

Doch das Artensterben in Australien, Neuseeland und auf den anderen pazifischen Inseln geschah nicht zur gleichen Zeit wie auf dem amerikanischen Festland, obwohl das Ende der Eiszeit alle Teile der Welt gleichmäßig traf. Warum?

Der Paläontologe Paul Martin von der University of Arizona weist darauf hin, daß das Artensterben in diesen verschiedenen Weltgegenden nicht mit Klimaveränderungen zusammenfiel, sondern mit einem anderen Ereignis – dem plötzlichen Erscheinen des tödlichsten und mutwilligsten Räubers, den es auf dieser Erde gibt: des Menschen.

»Clovis-Menschen« nennen Paläontologen und Archäologen jene Menschen, die vor ungefähr 11 500 Jahren die Bering-Landbrücke überquerten, welche Asien mit dem amerikanischen Kontinent verband. Innerhalb von nur 350 Jahren, so berichtet Martin, seien sie bis zum Golf von Mexiko vorgestoßen, und ihre Zahl sei auf mehr als eine halbe Million angewachsen. Vor etwa 10 500 Jahren sollen sie die südlichste Spitze von Südamerika erreicht haben.

Auf ihrem Weg ließen sie Souvenirs zurück, die unsere Paläontologen heute entdecken. Pfeilspitzen und Speerspitzen, die zwischen den fossilen Überbleibseln der heute ausgestorbenen Tierarten verstreut liegen. (Die Form dieser Speerspitzen hat ihnen die Bezeichnung »Clovis« eingetragen[18]).

[90]

Wie Leakey in Die sechste Auslöschung[19] graphisch darstellt, fand das Artensterben der Tiere in Australien (vor etwa 20 000 Jahren), in Nordamerika (vor ungefähr 10 000 Jahren) sowie auf Madagaskar und Neuseeland (vor etwa 1000 Jahren) nicht zeitgleich mit klimatischen Veränderungen, sondern mit der Ankunft der Menschen in diesen Gegenden statt.

Vertreter dieser »Pleistozän-Overkill«-Hypothese mußten sich der Frage stellen: »Wenn tatsächlich all diese Tiere von Menschen ausgerottet wurden, wieso haben dann die Bisons und Büffel, vier Arten von Känguruhs, Bären und andere Tierarten überlebt?«

Leakey gibt darauf eine elegante Antwort, mit der Darwin wohl sehr glücklich gewesen wäre. Er nimmt an, daß die Tierarten, die ausgerottet wurden, nur wenige natürliche Feinde hatten und deshalb dieses neue kleine haarlose Tier in ihrer Umgebung nicht fürchteten. Sie hatten keine Ahnung, daß die Menschen eine tödliche Gefahr darstellten, und so verschwanden sie von der Bildfläche, noch ehe sie Gelegenheit hatten, Nachkommen in die Welt zu setzen, die den Menschen fürchteten. Die überlebenden Tierarten waren jene, die sich instinktiv vor allen Lebewesen in ihrer Umgebung hüteten – auch vor den Menschen.

So müssen wir feststellen, daß sogar diese frühe und relativ kleine menschliche Bevölkerung einen nachhaltigen Einfluß auf den Planeten hatte, der höchstwahrscheinlich ein größeres Artensterben ausgelöst hat. Heute indessen, da wir zusätzlich über die Energie der fossilen Brennstoffe verfügen, hat sich unsere Zahl vervielfacht, und die Auswirkungen unseres Handelns haben einen Punkt erreicht, an dem sie das gesamte Ökosystem der Erde gefährden.

[91]

Artenvielfalt hilft beim Überleben, und wir verlieren sie

Mit dem Verlust der Artenvielfalt steht uns ein Zusammenbruch ökologischer und ökonomischer Systeme bevor.

Mitte 1996 gab es in den meisten Staaten der Westküste Amerikas einen Stromausfall, durch den Millionen Menschen fast einen ganzen Tag lang ohne Elektrizität waren. Krankenhäuser mußten ihre Notaggregate einschalten, in Hunderten von Städten hingen die Menschen in Aufzügen fest, und weil die Klimaanlagen ausfielen, schwitzten sie bei Temperaturen von fast vierzig Grad. Der Zusammenbruch der Stromversorgung war dadurch zustande gekommen, daß man ein paar Bäume in Oregon nicht richtig beschnitten hatte. An einem besonders heißen Tag hatten sich einige Hochspannungsleitungen ausgedehnt und hingen nach unten durch, wie es geschehen kann, wenn Metall zu heiß wird. Die Leitungen waren in die Bäume gesunken, und das hatte zu einem Kurzschluß im gesamten Stromnetz des Nordwestens geführt.

Weil die überschüssige Energie aus diesem Netz nach Kalifornien und Nevada weitergeleitet wurde, hatte der Ausfall dort zu einer Überlastung des Systems geführt, wodurch auch in diesen Regionen die Stromversorgung zusammenbrach. Jedesmal, wenn man versuchte, die Generatoren wieder hochzufahren, kam es zum erneuten Zusammenbruch, bis die Ingenieure die verschmorten Bäume in Oregon fanden und den Schaden behoben.

Dieser Domino-Effekt zeigt, wie eine kleine Veränderung in einem Teil eines komplexen Systems zu großen Wirkungen an anderen Stellen führen kann. Elektroingenieure wissen das schon lange: Auf diesem Weg können Transistoren den schwachen Strom von der Nadel eines Plattenspielers in den ohrenbetäubenden Klang eines Lautsprechers umsetzen. Aber die meisten Leute begreifen nicht, wie zerbrechlich dieser Effekt menschliche und ökologische Systeme macht.

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Kleine, lokale und weitverstreute Systeme sind relativ »fehlerfreundlich«[20]

Als die Menschen noch mit Holz heizten, die Dunkelheit mit Kerzenlicht erhellten und ihre Nahrung in der näheren Umgebung anbauten und jagten, waren auch die Probleme lokal begrenzt und hatten wenig Einfluß auf andere Teile des Landes.

Ähnliches gilt im Hinblick auf die Nahrungsvielfalt: Als die Menschen noch viele verschiedene Nahrungspflanzen anbauten, hatten Ernteausfälle bei einer bestimmten Pflanzenart keine schwerwiegenden Folgen. Als jedoch in Irland die Kartoffeln zum Hauptnahrungsmittel wurden, führte eine Mißernte im Jahre 1846 zu einer landesweiten Hungersnot.

Amerika hat (wie die meisten anderen Länder) alles darangesetzt, Produktion und Dienstleistungsgewerbe so weit wie möglich zu zentralisieren. Obwohl allein in Nordamerika über 15 000 bekannte Nahrungspflanzen wachsen, verzehren die meisten Amerikaner im Jahr durchschnittlich weniger als dreißig Pflanzen und weniger als fünfzig während ihres gesamten Lebens. Riesige Ackerflächen werden als Monokulturen bewirtschaftet (oft mit Hybridsaaten) und sind damit ein gefundenes Fressen für Schädlinge.

Der größte Teil unserer Nahrung wird von wenigen riesigen Konzernen[21] produziert; diese Firmen haben unser Überleben in der Hand. Und sie sind sich dieser Tatsache so bewußt, daß viele Arten von Hybridsamen gezielt gezüchtet werden, damit die Bauern aus den Pflanzen kein neues Saatgut herstellen können, sondern [93]sich damit jedes Jahr wieder bei den großen Saatgutmultis neu versorgen müssen. (Wenn Sie das nur schwer glauben können, denken Sie daran, daß in den vergangenen zehn Jahren mehrere Bauern von Saatgutfirmen des Diebstahls beschuldigt worden sind, weil sie von ihrer eigenen Ernte Samen zurückbehalten haben, um sie im nächsten Jahr wieder auszusäen.)

Nach Richard Leakey beträgt die normale oder »Hintergrund«-Rate der Artenverluste eine Art alle vier Jahre. Diese Hintergrundrate ist über 300 Millionen Jahre konstant geblieben – der Planet verlor durchschnittlich in jedem Jahrhundert 25 Arten oder in jedem Jahrtausend 250 Arten –, bis zu diesem Jahrhundert.

Doch jetzt, angesichts der Geschwindigkeit, mit der die Menschen die planetaren Ökosysteme zerstören, hat die Erde fast ein Viertel aller Pflanzen- und Tierarten verloren, die existierten, als die ersten Menschen auf der Bildfläche erschienen. All diese Verluste haben sich überwiegend in den letzten hundert Jahren ereignet.

Weil es auf diesem Planeten inzwischen über fünf Milliarden Menschen gibt, verlieren wir jährlich zwischen 17 000 und 100 000 Arten (je nachdem, von welchen Statistiken man ausgeht): ein weltweiter Schwund von pflanzlichem und tierischem Leben, den es in dieser Größenordnung nur fünfmal in den letzten fünf Milliarden Jahren gegeben hat (zuletzt beim Untergang der Dinosaurier).

Dies, so sagt Leakey, entspricht einer Massenvernichtung und hat das gesamte Gleichgewicht der Natur zerstört. Und er betont ausdrücklich, daß jenes Tier an der Spitze der Evolutionspyramide – das für die Vernichtung all dieser Arten, die sein Überleben gewährleistet haben, verantwortlich ist – bald selbst das Opfer einer Massenvernichtung wird, wenn sich die Situation nicht radikal und schnell ändert.

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Auch die soziale Vielfalt leidet

Die räuberische Art und Weise, wie wir andere Lebewesen ausrotten, drückt sich aus und wird zum Teil verursacht durch die Besessenheit, mit der unsere Gesellschaft Reichtum anhäuft, oft ohne die geringste Rücksicht auf die Konsequenzen, die sich daraus für das Ökosystem oder andere Menschen ergeben. Wenn es akzeptabel ist, anderen Arten ihre Lebensgrundlage zu rauben, warum sollte man dann nicht auch anderen Menschen ihre Ressourcen nehmen? Wenn man die Ausbeutung anderer Arten gutheißt, was spricht dann dagegen, andere Menschen auszubeuten? Worum es geht, zeigen folgende Statistiken des United Nations Development Program:

Die Konzentration von Macht in den Händen einiger weniger Menschen und multinationaler Konzerne hat einige Geschäftsleute und Politiker reich werden lassen, aber auch zur Anhäufung und Vernichtung von Ressourcen geführt: Wir stehen in direktem Wettbewerb mit jeder anderen Lebensform auf diesem Planeten. Solange es »dort draußen« noch mehr auszubeuten gab, war Wachstum möglich. Doch jetzt, da wir an die Grenzen stoßen, über die hinaus unser Planet keine Nahrung mehr erzeugen und unsere Abfälle nicht mehr aufnehmen kann, müssen wir uns zu der Erkenntnis durchringen, daß der Begriff »umweltverträgliches Wachstum« ein Widerspruch in sich ist. (Dies hat der Weltbank-Ökonom und Professor an der University of Maryland, Herman Daly in seinem Buch Wirtschaft jenseits von Wachstum[22] brillant dargelegt.)

Und selbst wenn die Natur uns nicht töten sollte, dann werden wir es wahrscheinlich selber tun. Der Verbrauch an Pestiziden ist in den USA seit dem Zweiten Weltkrieg um über dreitausend Prozent gestiegen, doch das hat keineswegs zu geringeren Ernteverlusten durch Insektenfraß geführt. Im Gegenteil: Heute haben wir 20 Prozent mehr Fraßschäden, aber wegen der zunehmenden Pestizidresistenzen bei Insekten und bedingt durch die stark technisierten Formen der Landwirtschaft hat die Pestizidindustrie viele Bauern von ihren Produkten ökonomisch abhängig gemacht. Harmlose Arten verschwinden tatsächlich von unserem Planeten, aber keine einzige Schädlingsart ist vernichtet worden.

Insekten, die sich während eines einzigen menschlichen Generationszyklus [96]Hunderte bis Millionen Male vermehren können, werden zunehmend resistent gegen unsere Pestizide, nicht jedoch die Menschen. Und so werden wir selbst zu Opfern jener Gifte, die wir entwickelt haben, um andere Arten zu töten.

Im September 1997 erschien beispielsweise in der New York Times ein Artikel von John H. Cushman jr. unter dem Titel »Krebserkrankungen bei Kindern nehmen zu: verdächtige Toxine«. Dargestellt wurde, daß die Krebsrate bei Kindern in den Vereinigten Staaten seit den siebziger Jahren – damals wurden im Vergleich zu heute weniger als die Hälfte der Pflanzengifte auf die Felder ausgebracht – sprunghaft in die Höhe geschnellt ist. Ein heute in Amerika geborenes Kind wird mit einer Wahrscheinlichkeit von 1 zu 600 in den ersten zehn Jahren seines Lebens an Krebs erkranken. Krebs ist inzwischen (nach Unfällen) die zweithäufigste Todesursache bei Kindern und zählt zu den am weitesten verbreiteten tödlichen Kinderkrankheiten, auf deren Konto volle zehn Prozent aller Todesfälle bei Kindern gehen. So sind beispielsweise seit 1973 die Erkrankungen an akuter lymphatischer Leukämie bei Jungen um 27 Prozent gestiegen, und die Fälle von Hirntumoren während desselben Zeitraums sogar um 40 Prozent. Neunundneunzig Prozent der Muttermilch amerikanischer Frauen enthält heute nachweisbare Mengen an DDT.

Im Jahre 1950 wurde festgestellt, daß 0,5 Prozent der männlichen amerikanischen Collegestudenten unfruchtbar waren. 1978 war diese Rate sprunghaft auf 25 Prozent gestiegen, und in den vergangenen 32 Jahren ist die durchschnittliche Spermaproduktion bei amerikanischen Männern um 30 Prozent gesunken. Einige Forscher führen dies auf die Belastung mit chlorierten Kohlenwasserstoff-Pestiziden zurück (die oft eingesetzt werden, um Schädlingsinsekten unfruchtbar zu machen), während andere spekulieren, daß einige Kunststoffe, die bei der Verpackung von Lebensmitteln verwendet werden, in ihrer chemischen Struktur dem weiblichen Hormon Östrogen gleichen und dadurch die Männer »verweiblichen«, [97]während sie bei Frauen das Risiko für Brustkrebs und Gebärmutterkrebs erhöhen.

Aber damit fängt das Problem erst an.

1960 war eine routinemäßige Anreicherung von Tierfutter mit Antibiotika nahezu unbekannt. Seitdem ist die Verabreichung von Antibiotika an Schlachtvieh jedoch so drastisch gestiegen, daß heute mehr als 55 Prozent aller in den Vereinigten Staaten produzierten Antibiotika über das Futter oder auf andere Weise an Tiere verabreicht werden. Das hat unseren Viehbestand in eine riesige Brutstätte für antibiotikaresistente Mikroorganismen verwandelt.

Die pharmazeutische und die fleischverarbeitende Industrie in den Vereinigten Staaten sehen darin kein Problem (und auch nicht die Politiker, die von diesen Unternehmen jährlich Spendengelder in Millionenhöhe bekommen), und so fördern sie weiterhin die routinemäßige Behandlung von Milch- und Schlachtvieh mit solchen Medikamenten. Aber diese Haltung wird keineswegs durch die herrschende Wissenschaft gestützt: Die Europäische Gemeinschaft hat die Einfuhr von antibiotikabelasteten amerikanischen Fleischprodukten verboten.

Warum? Die Europäer sind besorgt, weil Forschungsergebnisse gezeigt haben, daß 1960 nur bei 13 Prozent der Staphylokokken-Infektionen in Amerika die Erreger penizillinresistent waren, während deren Zahl 1988 auf über 90 Prozent explodiert war. Der Schöpfer der Muppets-Show, Jim Henson, starb beispielsweise an einer solchen Infektion mit antibiotikaresistenten Erregern, obwohl er enorm reich war und Zugang zum besten und teuersten Gesundheitssystem der Welt hatte.

Und solche Krankheitserreger sind nicht nur zu Lande ein Problem. James W. Porter, Spezialist für Meeresstudien an der University of Georgia, weist darauf hin, daß menschliche Viren und Bakterien sich auch in den Weltmeeren explosionsartig vermehren, die Korallenriffe zerstören und Krankheiten unter den Menschen verbreiten. Er geht davon aus, daß 20 bis 30 Prozent der Korallenriffe [98]bedroht sind, wobei sich die Infektionen innerhalb der Riffe um 446 Prozent erhöht haben, seit er 1996 damit begonnen hat, die Korallen vor der Küste Floridas regelmäßig zu untersuchen. Joan B. Rose, wissenschaftliche Mitarbeiterin der University of South Florida, hebt hervor, daß sich 20 bis 24 Prozent aller Menschen, die an den Stränden von Florida ins Wasser gehen, mit Viren infizieren, die Herzkrankheiten, Ohrinfektionen, Halsschmerzen und Augenbeschwerden, Meningitis, Magen-Darm-Krankheiten, Hepatitis und Diabetes auslösen können. Bei etwa einem Prozent der Betroffenen, so sagt sie, wird die Infektion chronisch. Außerdem hat sich gezeigt, daß bei einer Probe von Schalentieren aus den Gewässern um New York 40 Prozent mit menschlichen Pathogenen infiziert waren. Eine Wasseruntersuchung im Gebiet des Waikiki-Strands in Hawaii ergab, daß mehr als ein Drittel der untersuchen Proben mit menschlichen Viren infiziert waren.

In Vermont hat der Eiscreme-Hersteller Ben & Jerry's die Regierung verklagt: Die Firma will ihre Produkte mit dem Hinweis versehen, daß die bei der Produktion verwendete Milch von Kühen stammt, die nicht mit Wachstumshormonen oder unnötigen Antibiotika behandelt wurden. Aber die Regierung ist der Meinung, diese Information sei für den Verbraucher so irrelevant, daß sie – auf den finanziell gut ausgestatteten Vorschlag der Pharmalobby hin – ein Gesetz erlassen hat, das den Herstellern von Milchprodukten verbietet, auf ihren Produktverpackungen zu vermerken, ob die verwendete Milch von hormon- oder antibiotikabelasteten Tieren stammt oder nicht.

Zumindest jetzt noch fällt in Vermont genügend Regen, und es herrscht ein Klima, das den Milchbauern erlaubt, ihre Kühe so zu halten, daß sie eine qualitativ hochwertige Milch für Ben & Jerry's Eiscreme liefern. Doch Klimaforscher sehen bereits erste Warnzeichen, die darauf hindeuten, daß das »gute Wetter« der letzten paar tausend Jahre sich bald ändern könnte, auch dies wieder als Reaktion auf menschliche Aktivitäten.

 

 

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Klimaveränderungen

Zu den außergewöhnlichen Dingen bei Ereignissen, die von Menschen verursacht werden, gehört es, daß das Undenkbare denkbar wird.

Salman Rushdie (geb. 1948)

An einem Nachmittag im Juli 1997 hatten wir hier mitten in Vermont ein so schweres Unwetter, daß zwei meiner Computer dabei zerstört und die Lichtschalter durch das Haus gewirbelt wurden. Wir waren nicht die einzigen Opfer: Viele Familien verloren den größten Teil oder sogar alle ihrer Elektroanlagen.

Larry, ein Arbeiter, der in unserem Auftrag Reparaturen an unserer Zufahrt, die eine halbe Meile lang ist, durchführte, stand eine Woche später zusammen mit mir auf einem Hügel und erzählte, seine Frau sei, als sie während des Gewitters die Fliegentür berührt habe, von einem elektrischen Schlag quer durchs Zimmer geschleudert worden. »Das ist kein normales Wetter hier«, sagte er. »Das Wetter in Vermont war zwar immer wechselhaft und schwer vorherzusagen, aber nie so wie in den letzten Jahren.«

Die Versicherungsunternehmen sehen das genauso: Das Jahrzehnt zwischen 1980 und 1989 war das teuerste in der Versicherungsgeschichte für Schadensfälle, die durch »höhere Gewalt« verursacht wurden; deren Gesamtsumme belief sich auf über 50 Milliarden Dollar. Aber allein die Jahre 1990 bis 1994 brachten eine Schadenssumme von 162 Milliarden Dollar, was die Versicherungsunternehmen veranlaßte, einen beispiellosen Appell zur Verringerung der Kohlendioxidemissionen an die Industrie zu richten.

Am 11. Juli 1996 veröffentlichte Associated Press weltweit einen Bericht darüber, daß die Wachstumsphase in der nördlichen Hemisphäre [100]sich in den letzten zwanzig Jahren um etwa eine Woche verlängert habe. Zitiert wurde der Forscher Charles Keeling von der Scripps Institution of Oceanography in La Jolla, Kalifornien, der in einem Artikel in der Zeitschrift Nature die Vermutung geäußert hatte, dies sei ein Resultat der globalen Erwärmung.

Die globale Erwärmung gehört zu den Dingen, über die anscheinend jeder eine Meinung hat, die jedoch nur wenige Leute wirklich verstehen. Die Erdatmosphäre setzt sich aus Gasen und Wasserdampf zusammen, im wesentlichen aus Stickstoff (78 Prozent) und Sauerstoff (21 Prozent). Das Edelgas Argon steht an dritter Stelle, doch es bildet mit allen anderen Gasen zusammen nur etwa ein Prozent der Gesamtatmosphäre. Sie erkennen also gleich, daß das berüchtigte Kohlendioxid nur in sehr geringen Mengen in der Atmosphäre vorkommt.

Sauerstoff und Stickstoff lassen Licht und Wärme relativ leicht hindurch. Kohlendioxid jedoch (das nur einen kleinen Teil jener verbleibenden ein Prozent Restgase ausmacht) verhält sich ganz anders. Es umhüllt die Erde wie eine wärmende Decke und läßt die Hitze nicht nach oben entweichen. Gase, die sich so verhalten, werden oft als »Treibhausgase« bezeichnet, weil sie wie das Glasdach auf einem Gewächshaus wirken, das die Sonnenwärme festhält und die Pflanzen im Inneren wärmt. (Methan, das ebenfalls Kohlenstoff enthält, ist ein weiteres Treibhausgas.)

Der Planet Venus beispielsweise, welcher der Sonne nur 27 Prozent näher ist als die Erde, hat eine Oberflächentemperatur von fast 400 Grad Celsius. Wenn man lediglich die Entfernung zwischen Venus und Sonne berücksichtigt, müßte die Oberflächentemperatur der Venus wesentlich niedriger sein, doch der Planet ist von einer Atmosphäre umgeben, die viel Kohlendioxid enthält: ein Treibhausgas. Deshalb ist es dort erheblich wärmer, als wenn die Atmosphäre wie die der Erde zu 99 Prozent aus Stickstoff und Sauerstoff bestehen würde.

Eine der wichtigsten Funktionen des Kohlendioxids in unserer [101]Atmosphäre besteht darin, die Oberflächentemperatur der Erde zu regulieren. Wenn es wesentlich weniger Kohlendioxid gäbe, wäre die Erdoberfläche mit Eis bedeckt. Gäbe es indessen mehr Kohlendioxid als heute, dann würde sich die Erdoberfläche erwärmen (was sie seit etwa 1890 stetig tut, weil wir durch die Verbrennung fossiler Rohstoffe rasch wachsende Mengen von Kohlenstoff in die Atmosphäre entlassen).

In früheren Phasen der Erdgeschichte gab es sehr viel mehr Kohlendioxid in der Atmosphäre als heute. Während der passenderweise als Karbon bezeichneten Periode vor über 300 Millionen Jahren war unser Planet auf seiner gesamten Oberfläche nicht nur warm, sondern fast heiß, und die Pflanzen wucherten üppig in der warmen, kohlendioxidreichen Umgebung.

Die Kombination aus Hitze und Kohlendioxid führte zu einer solchen Explosion pflanzlichen Lebens, daß der Atmosphäre große Mengen Kohlendioxid entzogen und in Vegetation umgewandelt wurden. Dadurch verringerte sich der Kohlendioxidgehalt der Luft, was zu einer allmählichen Abkühlung der Atmosphäre führte, weil die wärmende »Hülle« aus Kohlendioxid dünner wurde.

Kohlendioxid wird hauptsächlich auf zweierlei Weise aus der Atmosphäre entfernt: durch das Wachstum von Bäumen und von Korallenriffen. Dies sind die beiden aufnahmefähigsten »Kohlenstoffspeicher«. Die Korallen binden den Kohlenstoff zwar dauerhafter, aber auch Wälder halten ihn jahrhundertelang fest. Und wenn die Wälder fossilisieren und zu Öl oder Kohle werden, können sie den ehemals atmosphärischen Kohlenstoff über Millionen von Jahren binden.

Die Wälder der Erde haben mehrere hundert Millionen Jahre gebraucht, um Milliarden Tonnen Kohlenstoff aus der Atmosphäre zu binden und in der Erde zu speichern.[23] Der daraus resultierende [102]Rückgang des Kohlendioxidgehalts der Luft hat zusammen mit anderen Faktoren unser gegenwärtiges Klima geschaffen, das völlig anders ist als in früheren Zeiten. Die heutigen Wälder sind die wichtigsten Kohlenstoffspeicher der Gegenwart. Wissenschaftler heben hervor (in dem eben erwähnten Nature-Artikel), daß es eine meßbare jährliche Fluktuation des Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre gibt, die damit zusammenhängt, daß die Pflanzen im Sommer wachsen (und dann mehr Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen), während sie im Herbst und Winter ihre Blätter abwerfen (und dadurch wieder Kohlenstoff in die Luft abgeben, wenn die Blätter sich zersetzen oder verbrannt werden). Die Amplituden dieser Kurve sind in den letzten dreißig Jahren um 40 Prozent gestiegen, und der Wissenschaftler Keeling vermutet, daß dafür die einwöchige Verlängerung der Wachstumsperiode in der nördlichen Hemisphäre verantwortlich ist.

Das Ausmaß, in dem »gespeicherter« Kohlenstoff wieder in die Atmosphäre gelangt, steigt ungeheuer stark. Wissenschaftler schätzen, daß in den Jahren zwischen 1980 und 1989 volle 15 Prozent des neu in die Atmosphäre entlassenen Kohlendioxids aus einer einzigen Quelle stammte, die durch menschliche Aktivitäten gespeist wurde: die Brandrodung der lateinamerikanischen Regenwälder, deren Ziel überwiegend darin bestand, Weideland für die Viehzucht zu schaffen.

Das hat zu einem wissenschaftlichen Streit über die Auswirkungen der Waldzerstörung geführt, weil die Höhe der Waldverluste nicht dem Niveau des Kohlendioxidanstiegs in der Atmosphäre entsprach. Der Kohlendioxidgehalt ist nicht so stark gestiegen, wie es nach dem Ausmaß der Brandrodung hätte erwartet werden müssen, was einige Skeptiker der Treibhaus-Theorie veranlaßt hat, die Vorstellung, daß die Vernichtung der Wälder zu einem Anstieg der Treibhausgase führt, als lächerlich darzustellen. Diese Skeptiker weisen darauf hin, daß ein ganzes Viertel der durch die Brandrodung verursachten Kohlendioxidemissionen scheinbar aus der Atmosphäre [103]verschwunden ist, was ihrer Meinung nach entweder bedeutet, daß die ursprünglichen Berechnungen über den Kohlendioxidausstoß nicht stimmen, oder daß man die Stabilisierungsmechanismen falsch eingeschätzt hat.

Aber eine neue Untersuchung, die der Wissenschaftler Jeffrey Andrews von der Duke University durchgeführt hat und über die er 1996 auf der Jahrestagung der Ecological Society of America berichtet hat, erklärt diesen Sachverhalt und zeigt, daß die Bäume sogar noch wichtiger für die Aufrechterhaltung eines stabilen Kohlendioxidgehalts der Atmosphäre sind, als dies bisher angenommen wurde.

Andrews untersuchte das Grundwasser in der direkten Umgebung von Bäumen und verglich es mit dem Wasser aus Böden, auf denen keine Bäume standen. Er stellte dabei fest, daß das Wasser in der Nähe von Bäumen mehr Kohlendioxid enthielt. Die Bäume ziehen anscheinend große Mengen von Kohlendioxid aus der Atmosphäre und pumpen es nach unten in den Boden. Von hier sickert es ins Grundwasser, was dafür sorgt, daß es nicht so schnell wieder in die Atmosphäre gelangen kann. Manchmal sinkt das Grundwasser noch tiefer und bleibt gemeinsam mit dem gebundenen Kohlendioxid über mehrere zehntausend Jahre in der Erde. (Wenn solches Wasser später wieder an die Oberfläche befördert wird, enthält es »natürliche Kohlensäure«; dafür haben die Bäume gesorgt.)

Um seine Beobachtungen zu demonstrieren, hat Andrews Bäume in einem geschützten Waldgebiet in North Carolina mit Kohlendioxid eingesprüht, um ihre Blätter auf diese Weise einem um 50 Prozent höheren Kohlendioxidgehalt als normal auszusetzen. Dann untersuchte er die Erde, die sich in etwa einem Meter Tiefe unter den Bäumen befand. Die Kohlendioxidkonzentration war um 25 Prozent gestiegen.

Andrews sagte, daß es die lebenden Bäume sind, die überschüssiges Kohlendioxid aus der Verbrennung von totem Holz oder fossilen [104]Brennstoffen aufnehmen und in den Boden leiten, wo bis zu 20 Prozent des (nach den wissenschaftlichen Berechnungen) fehlenden Kohlendioxids gespeichert werden und über Jahrtausende im Grundwasser bleiben.

Obwohl das im ersten Moment wie eine gute Nachricht klingt, weil es bedeutet, daß die Atmosphäre durch die Vernichtung der Wälder nicht so stark beeinflußt wird, sind die langfristigen Auswirkungen unheilvoll. Solange es einen bestimmten (bisher unbekannten) Prozentsatz lebender Bäume gibt, können sie überschüssiges Kohlendioxid ins Grundwasser ableiten.

Aber wenn der Waldbestand so weit reduziert worden ist, daß die lebenden Bäume nicht mehr in der Lage sind, das überschüssige Kohlendioxid aufzunehmen, könnte das zu einem Dominoeffekt führen, der das ganze System mit einem sehr plötzlichen Anstieg des atmosphärischen Kohlendioxids zusammenbrechen läßt. Zunächst würde sich der Anstieg langsam, aber stetig vollziehen, bis auch die letzten Waldflächen vernichtet sind, und dann würde es plötzlich zu einem unerwarteten sprunghaften Anstieg kommen, der vielleicht innerhalb weniger Jahre das Klima grundlegend verändern könnte.

Die Vereinten Nationen haben einen Kongreß veranstaltet, bei dem 2500 führende Wissenschaftler aus aller Welt zusammenkamen, die sich in den Bereichen Meteorologie, Ökologie, Geologie und anderen Geowissenschaften jahrelang mit diesen Fragen beschäftigt hatten. Dieser Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der UN kam zu dem Schluß, daß wir aufgrund der globalen Erwärmung durch die Erhöhung der Treibhausgase in der Atmosphäre in der Tat einer Krise von möglicherweise biblischen Ausmaßen entgegensehen.

Wenn wir zum Himmel hinaufblicken, ist es leicht, sich vorzustellen, daß er endlos und ewig ist, und es scheint nahezu unmöglich, diesem weiten blauen Gewölbe Schaden zuzufügen. Doch wie Bill McKibben in seinem Buch The End of Nature (Das Ende der [105]Natur)[24] ausdrücklich hervorhebt, beträgt die Entfernung zwischen dem Boden (auf der Höhe des Meeresspiegels) und dem oberen Ende der Troposphäre – also jener Teil unserer Atmosphäre, der nahezu alles Leben ermöglicht – nur ungefähr sechs Meilen. Das ist alles, was wir über uns und um uns herum haben, nicht mehr als sechs Meilen Luft, innerhalb deren sich alles irdische Leben abspielt. Vor hundert Jahren enthielt diese dünne Luftschicht über uns im Durchschnitt 315 ppm (Teile pro Million) Kohlendioxid.

Bei der Untersuchung der Jahresringe von 120 Jahre alten Bäumen in den Bergen von Vermont fanden Waldexperten für ungefähr die ersten dreißig Jahre regelmäßige jährliche Wachstumsmuster. Dann nahmen die mit Öl und Kohle betriebenen Fabriken des Industriegürtels im Mittelwesten, in den Tälern des Tennessee und des Ohio ihren Betrieb auf, und in Detroit wurde intensiv gebaut. Zu diesem Zeitpunkt begannen sich die Jahresringe der Bäume zu verändern.

Anfangs wuchsen die Bäume schneller, denn das natürliche Kohlendioxid war Nahrung für sie. Doch dieses rasche Wachstum erhöhte die Rate, mit der die Bäume Wasserdampf »ausatmeten«, und damit wuchs ihr Bedürfnis nach Regen; doch die Niederschläge erhöhten sich nicht in gleichem Maße wie die Kohlendioxidmenge in der Luft.

Außerdem wurde der Regen nun sauer, wodurch sich das Mineralstoffgleichgewicht im Boden veränderte. Alkalische Mineralien wie Kalzium wurden ausgewaschen und hochgiftiges Aluminium freigesetzt. Die Folge war, daß ein Teil des Wurzelwerks durch toxische Metalle zerstört wurde und daß die Bäume durch den Mangel an Kalzium und anderen alkalischen Mineralien geschwächt wurden.

Auch der Qualm aus den Fabrikschloten enthielt giftige Metalle. Substanzen wie Vanadin, Zink, Quecksilber, Blei und andere giftige [106]Metalle oder Schwermetalle – die in den früheren Jahresringen nicht nachzuweisen waren – zeigten sich nun in den Ringen, die aus der Zeit der amerikanischen Industrialisierung stammten. Ihre Konzentration wuchs allmählich von der Jahrhundertwende bis in die fünfziger Jahre und explodierte dann regelrecht.

Abb. 2: Kohlendioxidemissionen aus fossilen Brennstoffen

Quelle: Worldwatch Institute, Oak Ridge National Laboratory

Und so begannen die Bäume zu sterben. Forschungsergebnisse von Dr. Hubert Vogelmann an der University of Vermont, über die Charles E. Little in seinem brillanten Buch The Dying of the Trees (Das Sterben der Bäume)[25] berichtet, zeigen, daß das Baumsterben in der Region von Vermont, die er untersucht hat, sich innerhalb von nur vierzehn Jahren zwischen 1965 und 1979 so beschleunigt hat, daß 40 Prozent der Rotfichten, 73 Prozent der Bergahornbestände, 49 Prozent der Pennsylvanischen und 35 Prozent der Zucker-Ahornbäume starben, jener Baumart, welche die meisten Leute besonders mit Vermont verbinden.

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Abb. 3: Atmosphärische Kohlendioxidkonzentration

Quelle: Brad Walrod/High Text Graphics, Inc.
Daten: Woods Hole Oceanographic Institution

Durch die Verbrennung von Öl, Gas und Kohle pumpen wir jedes Jahr mehr als sechs Milliarden Tonnen (Abb. 2) des Treibhausgases Kohlendioxid in die dünne Schicht unserer Erdatmosphäre – so viel, daß sich allein in den letzten zwanzig Jahren die Kohlendioxidkonzentration von 315 ppm auf 360 ppm erhöht hat (Abb. 3). Nach weiteren zwei Jahrzehnten wird sie voraussichtlich über 500 ppm liegen und damit zu einer dramatischen Erwärmung unseres Planeten führen (Abb. 4).

Aber wie warm wird es werden? Die Wissenschaftler des IPCC der Vereinten Nationen rechnen mit einer Erwärmung von mindestens 3 bis 4 Grad Celsius; möglicherweise könnten es sogar 7 Grad werden.

»Was ist daran so schlimm?« fragen viele Leute. »Drei Grad sind nichts, und wenn es in Michigan oder Maine ein bißchen wärmer würde, wäre das nicht besser für die Wachstumsperiode, für die Urlauber und alles andere?«

Leider ist die Sache nicht so einfach.

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Abb. 4: Globale Temperatur

Quelle: Dr. James Hansen, NASA Goddard Institute for Space Studies Analysis

Schon jetzt scheint die Temperaturerhöhung überall auf dem Planeten zu gewaltigen Wetterextremen zu führen, denn Hitze ist Energie, und ein Anstieg der Hitze in der Atmosphäre bedeutet eine erhöhte Energie in der Atmosphäre. Diese erhöhte Energie führt dazu, daß das Wetter weltweit weniger stabil ist und zu heftigeren Extremen neigt.

Der erwartete Anstieg der Durchschnittstemperatur um drei bis vier Grad Celsius entspricht erschreckenderweise den weltweiten Veränderungen zwischen der letzten Eiszeit und unserer Gegenwart. (Als die Eiszeit vor 10 000 Jahren zu Ende ging, stieg der Meeresspiegel um rund 165 Meter, weil sich der Planet um 7 Grad Celsius erwärmte.)

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Die Ölindustrie leugnet das, aber Insekten und Wildtiere lassen sich nicht betrügen: Sie begeben sich auf Wanderschaft, weil sich das Wetter ändert.

Als wir 1983 nach Atlanta zogen, gab es dort kaum Moskitos. Wenn sie überhaupt kamen, dann waren sie ziemlich groß und schwerfällig, flogen langsam und wurden nur am frühen Abend zur Plage. Aber das änderte sich um 1990 herum. Die Moskitos begannen, uns ständig zu belästigen; sie waren kleiner und schneller und stachen auch am hellichten Tag. Sie waren den größten Teil des Jahres unterwegs und von einer Hartnäckigkeit, wie ich sie bei amerikanischen Moskitos noch nie erlebt hatte.

Schließlich stellte sich heraus, daß es sich um die Spezies Aedes aegypti handelte, Moskitos, die normalerweise in den Tropen heimisch sind, mit einer Ladung Reifen aus Asien nach Florida gekommen waren und nun nordwärts zogen. Ein Insektenkundler von einer der Universitäten in Atlanta erklärte mir: »Sie stechen bei Tag, vermehren sich rasch, fliegen schnell, und sie sind kleiner und schlauer als unsere heimischen Moskitos. Und anders als diese übertragen sie Gelbfieber, hämorrhagisches Dengue-Fieber, Japanische Enzephalitis und Malaria.«

Im darauffolgenden Frühjahr lasen wir in der Zeitung Berichte über den ersten Fall von neu aufgetretener Malaria in South Carolina, und in dem Maße, wie sich das Klima in Nordamerika erwärmt, werden sich die Erreger nach Norden verbreiten, so wie es heute auch in anderen Teilen der Welt geschieht.

Auf ähnliche Weise, so besagen Forschungsergebnisse aus den Niederlanden und Großbritannien, wird die von vielen Wissenschaftlern vorhergesagte globale Erwärmung zu einer Verdoppelung der Malaria übertragenden Moskitos in den Tropen führen. Doch die Forscher betonen, daß die Gefahr in den Ländern mit gemäßigtem Klima sehr viel größer ist: Den Vereinigten Staaten, Europa, Rußland und China droht ein hundertfach erhöhtes Risiko. Die zu erwartenden 50 bis 80 Millionen Malariainfektionen [110]würden sich in Regionen wie den Vereinigten Staaten besonders verheerend auswirken, weil die dortige Bevölkerung die Krankheit seit Generationen nicht mehr kennt und deshalb nicht über die geringste Immunität verfügt.

Dengue-Fieber wird von denselben Moskitos übertragen. Im Englischen bezeichnet man es oft als »Breakbone«-Fieber (Knochenbruch), weil es zu massiven Schmerzen in Knochen und Gelenken und zu schweren Kopfschmerzen führt. Es hat sich in jüngster Zeit bis nach Puerto Rico ausgebreitet, wo bei einer Epidemie 15 000 Menschen daran erkrankten. Während das herkömmliche Dengue-Fieber den Patienten stark schwächt und zu den weltweit schmerzhaftesten, nicht tödlichen Krankheiten gehört, gibt es neuerdings einen mutierten Erreger, der das sogenannte hämorrhagische Dengue-Fieber hervorruft, das häufig zum Tode führt. Es beginnt ähnlich wie das herkömmliche Dengue-Fieber mit roten Flecken, Fieber und den charakteristischen Schmerzen, doch dann greift es die kleinen Blutgefäße im Körper an, so daß massive innere Blutungen in Gehirn, Lungen und Därmen auftreten. Das Blut strömt aus Nase und After, und der Patient stirbt an den inneren Blutungen. Zwischen 1981 und 1985 gab es durchschnittlich 100 000 Fälle von hämorrhagischem Dengue-Fieber pro Jahr, doch diese Zahl hat sich in den »heißen Jahren« von 1986 bis 1990 auf 450 000 Fälle pro Jahr mehr als vervierfacht.

Eine weitere Krankheit, die von Moskitos übertragen wird und neuerdings vor allem in der Region von New Jersey, Massachusetts und New York gehäuft auftritt, ist die asiatische Pferde-Enzephalitis. Früher befiel sie Menschen nur selten, aber das neue Virus tötet 60 Prozent derjenigen, die durch einen Moskitostich damit infiziert werden, und einige Ausbrüche in neuerer Zeit haben dazu geführt, daß in den betroffenen Staaten an der amerikanischen Ostküste Insektizide versprüht wurden.

An der Westküste hat eine Erhöhung der durchschnittlichen Wassertemperatur von gut einem Grad Celsius seit 1950 verheerende [111]Auswirkungen auf die Wasservögel von Kalifornien bis Oregon gehabt, denn dadurch ist der Strom kalten, nährstoffreichen Meereswassers von den Küsten abgelenkt worden. Das wiederum hat zu einer vierzigprozentigen Abnahme des Zooplanktons geführt, das den Krabben und anderen kleinen Meerestieren als Nahrung dient. Fische und Tintenfische ernähren sich von Krabben, und die Vögel ernähren sich von den Fischen. So starben beispielsweise allein zwischen 1987 und 1994 vier Millionen Dunkelsturmtaucher entlang der Küste, wodurch die Population um über 90 Prozent verringert wurde.

Im Glacier National Park, Montana, schmilzt der 30 000 Jahre alte Gletscher so schnell, daß die Wissenschaftler vorhersagen, er werde in weiteren dreißig Jahren abgeschmolzen sein. Im Norden von Michigan kommen viele Zugvögel wie der Rotschulterstärling, die kanadische Gans, der Breitflügelbussard und der Kolibri drei Wochen früher an als 1965.

Am 30. August 1997 wurden in einem Artikel in Science News britische Forscher zitiert, die 74 258 Aufzeichnungen über 65 Vogelarten analysiert und dabei festgestellt hatten, daß, von einer Ausnahme abgesehen, alle Vogelarten ihre Eier inzwischen »neun Tage früher als 1971 legen«, was ein klarer Hinweis auf die Auswirkungen der globalen Erwärmung ist. Die Forscher zeigten sich besorgt, daß diese Entwicklung die normalen Fütterungs- und Fortpflanzungszyklen der Vögel durcheinanderbringen könnte, auch wenn es noch einige Zeit dauern wird, bis man alle Auswirkungen kennt.

Obwohl sich die amerikanische Öl- und Kohleindustrie bemüht, die wissenschaftlich belegten Fakten zu verschleiern (wie Ross Gelbspan in seinem Buch Der Klima-GAU darstellt), wachen die Leute allmählich auf.

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Der Garten Eden und die Sintflut

Dies ist nicht das erste Mal, daß weltweite Klimaveränderungen für den Menschen bedrohlich werden. In der Bibel finden wir zwei Geschichten, die möglicherweise solche Ereignisse beschreiben:

In der Schöpfungsgeschichte (1. Mose, 2, 10–14) heißt es, der Garten Eden habe dort gelegen, wo sich vier Flüsse vereinigten: Pischon, Gihon, Tigris und Euphrat. In einem ausgetrockneten Flußbett, das man heute Wadi Batin nennt, glauben viele Archäologen, den ehemaligen Pischon gefunden zu haben. Tigris und Euphrat tragen heute noch dieselben Namen, und den Gihon glaubt man, im heutigen Karun wiedergefunden zu haben, der, bevor er gestaut wurde, von den Höhen des Iran herabströmte, um das Delta des heutigen Persischen Golfs zu bilden.

Wenn man diese vier Flüsse weiterverfolgt, stellt man fest, daß sie sich an einem Punkt treffen, der mehrere Meilen draußen im Persischen Golf liegt. Auch wenn dieses Gebiet heutzutage unter dem Meer liegt, war es vor etwa 10 000 Jahren am Ende der letzten Eiszeit ein reiches und fruchtbares Waldland. Damals hatten die Gletscher so viel Wasser gebunden, daß der Meeresspiegel etwa 165 Meter tiefer lag als heute. Die Menschen, die damals auf der Erde lebten, waren, soweit wir es wissen, alle Jäger und Sammler, die das »müßige Leben« der !Kung/San, Hottentotten, Schoschonen und anderer Stämme führten, die wir später in diesem Buch noch kennenlernen werden. Dann veränderte sich das Klima, und die Menschen waren gezwungen, dem steigenden Meeresspiegel zu weichen und sich in einer anderen Gegend niederzulassen. Dort wurden aus den Jägern und Sammlern Hirten und Bauern, was den Tätigkeiten entspricht, mit denen die beiden ältesten Söhne von Adam und Eva ihren Lebensunterhalt sicherten. Damit, so heißt es in der Schöpfungsgeschichte, seien die Menschen aus dem Garten Eden verstoßen und dazu verdammt gewesen, im Schweiße ihres Angesichts auf den Feldern zu arbeiten.

[113]

Andere konnten nicht einfach weggehen, um den steigenden Fluten zu entkommen. Im Gilgamesch-Epos, das mehrere tausend Jahre vor der Bibel verfaßt wurde, gibt es die Geschichte von Upnatistim, einem rechtschaffenen Mann, der im Traum aufgefordert wurde, eine Arche zu bauen. Das tat er und versammelte, als der Regen einsetzte, seine Familie auf dem Boot sowie von jeder Tierart ein Paar. Seine Arche schwamm auf dem Wasser und brachte ihn, seine Familie und seine Tiere zu einem Berggipfel, wo sie alle in Sicherheit waren. Colin Tudge hebt in seinem Buch The Time Before History[26] (Die Zeit vor der Geschichte) hervor, daß diese Geschichte aus dem Gilgamesch-Epos genau mit dem Bericht über Noah und seine Arche in der Schöpfungsgeschichte übereinstimmt.

In der Bibel heißt es (1. Mose 11, 31), daß Abraham mit seiner Familie aus Ur in Chaldäa nach Kanaan aufbrach, und Tudge behauptet, das Gebiet von Ur sei ungefähr dort, wo Gilgamesch viele Jahre zuvor in Uruk regiert habe. Wahrscheinlich ist das Gilgamesch-Epos die Quelle, aus der die Geschichte von der biblischen Sintflut stammt, ebenso wie viele ähnliche Geschichten. Jedenfalls ist es durchaus möglich, daß die Geschichten von der Arche im Gilgamesch-Epos und in der Bibel auf historische Begebenheiten hinweisen, die sich am Ende der letzten Eiszeit ereigneten. Damals stiegen die Durchschnittstemperaturen weltweit um volle 7 Grad Celsius, wodurch so viel Eis schmolz, daß die Meeresspiegel um etwa 165 Meter stiegen und die Atmosphäre einige Zeit dermaßen mit Feuchtigkeit gesättigt war, daß es zu monsunartigen Regenfällen kam, die wahrscheinlich jahrelang anhielten. (Tudge zitiert Experten, die Hinweise darauf gefunden haben, daß diese radikale Klimaveränderung sich in einem Zeitraum von nur zwanzig Jahren abspielte.) Menschen, die ein Boot besaßen, hatten eine wesentlich bessere Überlebenschance, und ein oder zwei haben es vielleicht wirklich geschafft und später ihre Geschichte erzählt.

[114]

Der 2. Januar 1999 war ein schwarzer Tag für die Bemühungen zum Schutz der brasilianischen Regenwälder – ein Gebiet, das halb so groß ist wie die Vereinigten Staaten und zwei Drittel der nicht zu Gletschern gefrorenen Süßwasserreserven unseres Planeten enthält. An diesem Tag wurde berichtet, die brasilianische Regierung habe sich dem Druck des Weltwährungsfonds zur Ausgabenbeschränkung gebeugt und ihr Budget zum Schutz der Regenwälder drastisch gekürzt.

In den brasilianischen Regenwäldern leben Hunderte eingeborener Stämme, und die höchste Priorität des 250-Millionen-Dollar-Programms zum Schutz der Regenwälder bestand darin, ein Gebiet von über zehn Millionen Hektar zu begutachten, das man theoretisch dauerhaft schützen wollte, um es ausschließlich diesen Stämmen zur Nutzung zu überlassen. Durch die Kürzung des Budgets von 250 auf sechs Millionen Dollar ist das Programm kaum überlebensfähig, und es kann nun nichts Wesentliches mehr geschehen, um die Bäume oder die Menschen dort zu schützen. In der Zwischenzeit fallen Heerscharen von Holzfällern, Ranchern, Sägewerksarbeitern und Farmern über die Wälder her, und während Missionare sich um das »Seelenheil« der »heidnischen« Stammesvölker kümmern, werden täglich mehr als 80 000 Hektar Wald gerodet und abgebrannt.

Dieser Wald, der 20 Prozent der weltweiten Süßwasserreserven enthält, gehört zu den wichtigsten Quellen atmosphärischen Wasserdampfes, über die unser Planet verfügt, übertroffen nur noch von den Ozeanen, und seine Zerstörung hat deshalb enorme Auswirkungen auf die weltweiten Wettermuster. Er ist zugleich einer der wichtigsten Kohlenstoffspeicher des Planeten, der den Kohlenstoff stabil in den Bäumen hält.

Nun, da weite Gebiete des ehemaligen Regenwaldes dem Kahlschlag zum Opfer fallen, während überall Sägewerke gebaut werden und Weideland für das Vieh entsteht, wird Kohlenstoff statt Wasserdampf in die Luft entlassen, was die globale Erwärmung fördert [115]und die Wettermuster in Europa, im Mittleren Osten und in Nordafrika verändert.

Südlich von Brasilien sind 70 Prozent der weltweiten Süßwasserreserven in der Antarktis gebunden, wo sie seit Hunderttausenden von Jahren zu Eis gefroren sind. Von Gletschern bedeckt, die oft mehr als drei Meilen hoch sind, erstreckt sich der antarktische Kontinent über 5,4 Millionen Quadratmeilen, eine Fläche, die größer ist als China und Indien zusammen. Würde das antarktische Eis von der kontinentalen Landmasse abschmelzen und ins Meer fließen, dann würde es auf der ganzen Welt zu einem erheblichen Anstieg der Meeresspiegel kommen.

Und genau das geschieht offenbar.

Im April 1999 wurde berichtet, daß Wissenschaftler der British Antarctic Survey in Cambridge und der University of Colorado Daten vom Boden und von Satellitenaufnahmen analysiert haben. Sie fanden dabei überzeugende Beweise, daß die globale Erwärmung die jährliche Eisschmelze in der Antarktis um drei Wochen verlängert hat, was zu drastischen Veränderungen der Gletscher führt. So befinden sich beispielsweise der Wilkins- und der Larsen-B-Gletscher – um die Wissenschaftler zu zitieren – in »voller Remission«. In den nur vier Monaten von November 1998 bis Februar 1999 sind mehr als 170 000 Hektar der insgesamt 0,7 Millionen Hektar des Larsen-B-Gletschers abgeschmolzen. Und allein im März 1999 hat der Wilkins-Gletscher über 100 000 seiner 1,2 Millionen Hektar verloren.

David Vaughan, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim British Antarctic Survey, wird von Associated Press zitiert, er habe gesagt, in nur wenigen Jahren werde es »den Wilkins-Gletscher nicht mehr geben«.

Der Grund dafür: Die Durchschnittstemperaturen in der Antarktis, die seit den Anfängen der Menschheit relativ stabil waren, sind seit 1950 um 2,5 Grad Celsius gestiegen, wodurch sich die Sommertemperatur dort über den kritischen Gefrierpunkt erhöht hat.

[116]

Wir sollten bedenken, an welchem Punkt
wir angekommen sind

Sehen wir uns an, wie ein riesiges Land dieses Problem zu lösen versucht.

 

 

[117]

Besuch in einem Land, das sein Überleben plant: China

Im Hinblick auf die Kunst des Lebens ist der Mensch einfallslos; aber in der Kunst des Sterbens übertrifft er die Natur selbst und bringt durch Chemie und Technik Seuchen, Pest und Hungersnot hervor.

George Bernard Shaw (1856–1950)

Die Chinesen planen ihr künftiges Überleben. Ich habe vor einigen Jahren entdeckt, daß sie diesbezüglich viel zielstrebiger vorgehen und viel besorgter sind als die meisten anderen Länder in der Welt. Sie planen langfristig und rechnen in bezug auf Nahrung, Energie und Ressourcen in Zeiträumen, die zehn Jahre oder sogar eine ganze Generation umfassen, während amerikanische Unternehmen für die Zeit eines Jahres oder sogar nur eines Vierteljahres planen und die Politik auf wöchentliche Meinungsumfragen reagiert.

Eine graugesprenkelte Wolkenschicht lag über Peking wie eine riesige Hand, die sich kaum bewegte, nur wenige hundert Meter über der großen Halle des Volkes. Ich stand in meinem braunen Regenmantel auf dem Platz des himmlischen Friedens, hatte den Kragen hochgeschlagen und trug gegen den kalten Nebel eine Kosakenmütze auf dem Kopf. Es war im November 1986, und ich hatte in der letzten Woche im größten Lehrkrankenhaus für Akupunktur mein Zimmer mit drei Ärzten aus Kolumbien und Japan geteilt. Morgens hatte ich die chinesischen Ausdrücke für Akupunkturpunkte und Meridiane gelernt, am Nachmittag auf den Stationen Nadeln in Patienten gestochen und abends die Stadt erkundet. Heute war mein erster freier Tag seit einer Woche, und ich wollte die Sehenswürdigkeiten besuchen, die abends geschlossen waren.

[118]

Der Nebel nahm der Luft nur wenig von dem schweren Geruch nach Millionen winziger Kohlenfeuer; die meisten Bewohner der Stadt heizten einen einzigen Raum mit ihrer wöchentlichen Zuteilung von ein paar Kohlebriketts, und der Qualm verbreitete sich überall und machte das Atmen oft schmerzhaft.

Neben mir stand Dr. Wu[27], ein schlanker, großer, leidenschaftlicher Mann Ende Zwanzig, der sich erboten hatte, mir die Stadt zu zeigen, um dabei seine Englischkenntnisse auffrischen zu können. Die Kälte der feuchten Luft drang durch jeden Muskel und Knochen meines Körpers; seit einigen Tagen fror ich ständig.

Der Platz des himmlischen Friedens ist ein weiter, zementierter Platz, um den herum wichtige Gebäude stehen: die große Halle des Volkes, Maos Grabmal, das Museum des Volkes.

»Haben Sie Kinder?« fragte ich meinen Begleiter. Wir waren einige Minuten schweigend gegangen, weil er angenommen hatte, jemand würde uns folgen. Nun war uns niemand näher als sechs bis sieben Meter.

»Ja«, sagte er und seufzte, als komme ihm aus weiter Ferne eine bittersüße Erinnerung. »Meine Frau und ich haben eine Tochter. Sie leben etwa eine Tagesreise von hier.«

»Nur ein Kind?«

Er sah einen Moment zu Boden und betrachtete den Beton wie jemand, der Angst hat, auf etwas Zerbrechliches zu treten. »Ja, ein Kind.«

»Was halten Sie von dieser Politik?« fragte ich.

Er warf mir einen schuldbewußten Blick zu und sah sich kurz um. »Sie ist klug«, antwortete er dann. »Sie ist nötig, um die Zukunft Chinas zu sichern.«

»Hätten Sie gerne einen Sohn?«

Er zuckte mit den Schultern. »Jeder hätte gerne einen Sohn. Die Chancen stehen fünfzig zu fünfzig.«

[119]

»Trotzdem gibt es unter den Kindern mehr Jungen als Mädchen.«

Ich hatte vom Krankenhaus aus den Spielplatz des gegenüberliegenden Kindergartens gesehen. Etwa zwei Drittel der Kinder waren Jungen.

Er schüttelte heftig den Kopf. »Darüber wird nicht geredet. Vor allem nicht in meinem Beruf.« Er blickte sich um, ob uns jemand folgte, aber anscheinend beobachtete uns niemand.

Alle Leute um uns herum bewegten sich sehr zielstrebig. Auf der Hauptstraße, die am Platz vorbeiführt, fuhren Hunderte identischer Fahrräder vorbei, auf denen Leute in graubraunen Jacken und ausgebeulten Hosen saßen; alle paar Minuten kam ein Auto oder ein Bus vorbei. Es war ein bemerkenswerter Kontrast zu den Städten in Deutschland, wo ich damals lebte. Dort waren die Straßen der Innenstädte ständig mit Autos verstopft, und Fahrräder sah man nur selten, außer in den ländlichen Regionen.

Das ließ mich wieder an die Unterschiede zwischen Ost und West denken. Ich fragte mich, ob dieser junge Vater und seine Frau wie so viele andere chinesische Eltern bei der Geburt ihrer Tochter daran gedacht hatten, ihr Kind zu töten. Ich fragte mich, was ich wohl empfinden würde, wenn meine Regierung mir erklärt hätte, daß ich nur ein Kind haben dürfte. Ich wußte, ich würde mich dagegen auflehnen, aber in China bedeutete Protest, daß man in ein Arbeitslager oder in ein Umerziehungslager eingewiesen wurde, Orte, an denen es so brutal zuging, daß einem der Tod oft wie eine Erlösung vorkam.

»Finden Sie, die Regierung sollte wirklich die Macht haben, darüber zu bestimmen, wie viele Kinder eine Familie haben darf?« fragte ich, weil ich dieses Thema gedanklich abschließen wollte.

Dr. Wu vergrub seine Hände tiefer in die Taschen seines erbsengrünen Mantels und seufzte laut, als ob er tief in seinem Magen Schmerzen hätte. »Vielleicht erinnern Sie sich nicht an 1960«, sagte er nach ein paar Schritten. »Damals gab es eine entsetzliche Hungersnot, und viele Menschen starben.«

[120]

Ich erinnerte mich dunkel an die Hungersnot, unter der China zwischen 1959 und 1961 gelitten und die 30 Millionen Menschenleben gefordert hatte. Doch das waren für mich nur abstrakte Zahlen, denn ich war damals ein Kind von zehn Jahren gewesen. Ich hatte nie Einzelheiten darüber erfahren, nie Fotos gesehen oder irgend jemanden getroffen, der diese Katastrophe erlebt hatte.

»Ich habe davon gehört«, sagte ich.

»China hat jetzt über eine Milliarde Menschen«, erklärte er, während er mit schweren Schritten über den feuchten Zement ging. »Das ist ein Fünftel der Weltbevölkerung allein in unserem Land, und es sind doppelt so viele Menschen wie damals während der Hungersnot. Und heute haben wir schon Mühe, unsere Milliarde Menschen zu ernähren. Irgend etwas muß geschehen. Verstehen Sie?«

»Ja«, erwiderte ich. »Aber warum erhöhen Sie nicht einfach die landwirtschaftliche Produktivität? Die meisten Bauern in diesem Land bearbeiten den Boden immer noch mit Hilfe von Ochsen oder lassen den Pflug von ihren Frauen ziehen, während die Regierung auf ihren Öl- und Kohlereserven sitzt. Auf meinen Reisen durch China habe ich Hunderte von Menschen auf den Feldern gesehen, aber nur ein oder zwei Traktoren.«

»Nein«, widersprach er. »Das würde die Situation nur verschlimmern. Produzieren Sie mehr Nahrung, und es wird mehr Menschen geben. Es gibt jetzt schon zu viele Menschen in China; deshalb sind wir so arm.«

»Aber Sie verfügen über reichhaltige Naturschätze …«

»Wir haben ein Ziel«, sagte er und straffte seinen Körper. Seine Stimme bekam einen anderen Tonfall, wurde befehlend und autoritär, als würde er zu einem minder intelligenten Untergebenen sprechen, einer Krankenschwester oder einem Hilfspfleger Anweisungen geben, wie ich es im Krankenhaus schon erlebt hatte. »China wird nicht die Fehler wiederholen, die im Westen gemacht wurden. Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt.«

[121]

»Fehler?«

»Wenn der Winter hereinbricht, und Sie haben genügend Nahrungsvorräte, um ihn mit Ihrer Familie zu überstehen, würden Sie dann Ihren Kindern erlauben, alles schon im ersten Monat aufzuessen?«

»Nein, natürlich nicht.«

»China wird diesen Fehler auch mit seinen Ölvorräten nicht machen«, sagte er ausdruckslos. »Wir werden Wasserkraftwerke bauen und einen Teil unserer Wälder und Kohlereserven einsetzen, aber wir müssen unsere Vorräte für den Winter aufsparen.«

»Wann ist der Winter?«

»Wenn Amerika, Europa und der Mittlere Osten kein Öl mehr haben. Einige Leute behaupten sogar, daß wir dann die ganze Welt beherrschen werden, daß diese Zeit das Dritte Chinesische Reich einläuten wird.«

Er schauderte und blickte zu Boden. »Aber es ist gefährlich, darüber zu reden.«

»Wie das Dritte Reich?« fragte ich und bereute meine Worte sofort.

Er sah mich an, als würde er einen Feind auf dem Schlachtfeld abschätzen. »Nationalisten gibt es in China wie in jedem anderen Land der Welt.«

Ich fühlte mich bei seinem scharfen Tonfall unbehaglich, und so versuchte ich, das Thema zu wechseln. »Kennen Sie die amerikanischen Untersuchungen über den Einfluß der Geburtenabfolge auf die Persönlichkeitsstruktur?«

Er nickte, während wir auf das Museum zugingen, ein riesiges Gebäude, in dem die ältesten Beispiele technologischer Errungenschaften stehen, die je von einer Zivilisation hervorgebracht wurden. »Ja, ich kenne diese Untersuchungen«, sagte er.

»Haben Sie Geschwister?«

»Ich habe zwei ältere Brüder und eine jüngere Schwester«, antwortete er verhalten. »Und Sie?«

[122]

»Ich habe drei jüngere Brüder«, erwiderte ich.

»Zum Führen geboren.«

»Wie bitte?«

»Der älteste in einer so großen Familie ist zum Führen geboren«, erklärte er. »Das ist bei den Untersuchungen herausgekommen. Der älteste lernt, die jüngeren Geschwister zu führen.«

Ich zuckte mit den Schultern, denn ich hatte keine Lust, den einen oder anderen von uns einer Psychoanalyse zu unterziehen. »Aber wir haben beide Geschwister«, sagte ich. »Sie wissen, daß Einzelkinder eine ganz spezifische Persönlichkeitsstruktur haben?«

»Ja«, bestätigte er. »Das hängt natürlich von der Erziehung ab. Aber oft sind sie ziemlich dominierend, weil sich die ganze Aufmerksamkeit der Familie während ihres ganzen Lebens auf sie konzentriert. Sie haben ein einzigartiges psychologisches Profil.«

Wir stiegen die Stufen zum Museum hinauf und gingen hinein. Das riesige Gebäude aus Ziegeln und Marmor war nicht geheizt, und unsere Stimmen mischten sich mit dem Widerhall von hundert anderen Stimmen, während die Leute über die kalten Steinböden gingen, die Ausstellungsstücke betrachteten und leise miteinander sprachen. Wir blieben vor einer wasserbetriebenen Uhr stehen, die fünftausend Jahre alt war. Sie bestand aus Messing und Stein, war etwa 1,20 Meter hoch und gut 90 Zentimeter breit. Das Wasser tropfte durch sie hindurch, bewegte Hebel und füllte Behälter, deren Wasserstand die Zeit anzeigte.

»Wie wird China aussehen, wenn die gesamte Bevölkerung einschließlich aller Führer und Manager nur noch aus Einzelkindern besteht?« fragte ich leise.

Er blickte lange auf die Uhr. »Es wird dann Winter sein, und wir werden immer noch über unsere Vorräte verfügen, während der Rest der Welt sie verbraucht hat.« Er sah mich mit seinen dunkelbraunen Augen direkt an. »Und wir werden dann am Ziel sein.«

[123]

Wer wird China ernähren?

Das war 1986, und ich schreibe diese Zeilen elf Jahre später, 1997. Zwei Jahre nach jenem Winter 1986 begann der Mitbegründer des Worldwatch Institute, Lester R. Brown, darüber zu sprechen und zu schreiben, daß China bald nicht mehr in der Lage sein würde, seinen wachsenden Bedarf an Nahrungsmitteln durch die einheimische Produktion zu decken. 1994 veröffentlichte er seinen Artikel Who will Feed China?[28] (Wer wird China ernähren?), in dem er darauf hinwies, daß der Trend zur Industrialisierung in China zwangsläufig dazu führen würde, daß das Land Nahrungsmittel importieren müßte, wofür er von der chinesischen Regierung als Bangemacher kritisiert wurde.

Doch als die Industrialisierung fortschritt und immer mehr Ackerflächen aufgegeben wurden, um Fabriken und Straßen Platz zu machen, änderte die chinesische Regierung 1995 ihre Haltung. In diesem Jahr mußte das bevölkerungsreichste Land der Erde Nahrungsmittel importieren, und diese Nachricht löste auf den Weltgetreidemärkten Schocks aus.

Während der nächsten zwanzig Jahre, so sagt Brown vorher, werde Chinas Bedarf an Getreideimporten von ein paar Millionen Tonnen auf über 200 und vielleicht sogar auf bis zu 300 Millionen Tonnen anwachsen. Aber nach Angaben des amerikanischen Landwirtschaftsministeriums lagen die weltweiten Getreideexporte 1994 bei weniger als 230 Millionen Tonnen. Und diese Exporte helfen mehr als hundert Ländern, die Nahrungsmittel importieren müssen. Dagegen gibt es nur ein paar Dutzend exportierende Länder, von denen lediglich Kanada und die USA Getreide in nennenswerten Mengen exportieren.

Außerdem hängen die kanadischen und amerikanischen Exportkapazitäten entscheidend vom Wetter ab. 1988, damals das heißeste [124]Jahr in der Geschichte der USA, verursachte die Trockenheit im amerikanischen Mittelwesten Ernteausfälle, die dazu führten, daß Kanada um 37 Prozent und die USA um 30 Prozent weniger Getreide produzierten als vorher. Damals verbrauchten die Vereinigten Staaten zum ersten Mal seit über 300 Jahren mehr Getreide, als sie selbst produziert hatten.

Wenn China in den nächsten Jahren hungrig wird, dann werden nach Ansicht von Brown und anderen die Weltmarktpreise für Getreide in Bewegung geraten. Bei einem weltweiten Preisanstieg werden diejenigen Länder, die nicht über genügend Geld für Importe verfügen, Hunger leiden, während China, das heute Industriegüter exportiert, für seine Nahrungsmittelimporte zahlen kann.

Es ist durchaus möglich, daß die Nahrung eher knapp wird als das Öl. Doch leider verstehen nur wenige Menschen in den reichsten Ländern der Welt – die die finanzielle und politische Macht hätten, daran etwas zu ändern – den Ernst der Lage.

Während dieses Buch entstand, veröffentlichte National Geographic (im September 1997) einen Artikel über einen anderen Aspekt der chinesischen Überlebensbemühungen: das große Staudammprojekt am Jangtse, das sich über drei Schluchten erstreckt. Dieser fast 200 Meter hohe Staudamm wird ein 370 Meilen langes Wasserreservoir schaffen, das mit einer Reihe von Schleusen ausgestattet ist, damit die Handelsschiffe weit ins Binnenland fahren können. Im Inneren der Staumauern werden 26 der weltgrößten Turbinen arbeiten, jede 400 Tonnen schwer, und 18 200 Megawatt Strom erzeugen, was der Leistung von 18 Atomkraftwerken entspricht – alles in einem einzigen Staudamm.

Das ist der Gegenwert von 900 Millionen Barrel Öl pro Jahr oder von 10 000 Quadratmeilen Solarzellen bei hundertprozentiger Effizienz. Kritiker sprechen davon, daß der Versuch, einen so mächtigen Fluß zu stauen, verheerende Auswirkungen haben kann (und vielleicht eine Torheit ist). Einige behaupten, der Stausee werde eine [125]riesige offene Kloake sein: Jetzt strömt das Wasser durch die Schluchten, aber »stehendes Wasser ist faules Wasser«, sagen die Kritiker. Und National Geographic hebt hervor, eine »kanadische Umweltgruppe warne vor den Giftstoffen, die aus den dann unter Wasser liegenden ehemaligen Fabriken austreten werden: Arsen, Zyanid, Methylquecksilber.« Doch das Projekt schreitet weiter voran.

Offensichtlich sind die Chinesen bereit, fast jeden Preis dafür zu zahlen, daß sie in den kommenden Jahrzehnten von niemandem abhängig sind.

 

 

[126]

Das Verschwinden der Wälder, der Kampf um Brennstoffe und der Aufstieg und Fall von Weltreichen

Worauf wir heute zusteuern, ist die Fortsetzung einer uralten Geschichte

Ein Weltreich ist der Ausdruck einer ungeheuren Geltungssucht.

Ralph Waldo Emerson (1803–1882)

Eins der bewunderungswürdigsten Weltreiche aller Zeiten war das Reich der Sumerer. Einer meiner Freunde in Atlanta weiß alles über diese alte Zivilisation. Zu seiner enzyklopädischen Sammlung gehört ein Steinfragment, das vor sechs- bis achttausend Jahren im sumerischen Königreich von Uruk in Mesopotamien gemeißelt worden ist, in der Gegend des heutigen Syrien, Irak und Libanon.

»Die meisten Leute erinnern sich nicht einmal an die frühen Sumerer«, sagte Tom, während er mir dieses kostbare Stück aus seiner Sammlung behutsam reichte. »Aber sie waren sozusagen die Urväter jenes Lebensstils, den wir heute als westliche Zivilisation bezeichnen.«

Im Gilgamesch-Epos, der ältesten schriftlichen Geschichte der Welt, heißt es, einer der ersten Könige der frühen sumerischen Zivilisation (der Uruk) sei ein Mann namens Gilgamesch gewesen. Er war der erste Sterbliche, der dem Waldgott Humbaba trotzte, dem die oberste sumerische Gottheit, Enlil, aufgetragen hatte, die Zedernwälder des Libanon vor den Menschen zu schützen.

König Gilgamesch wollte eine große Stadt bauen, Uruk, um damit seinen Beitrag zur sumerischen Zivilisation zu verewigen. Also lehnte er sich mit seinen Waldarbeitern gegen Humbaba auf [127]und begann, die Wälder zu roden, die sich damals vom Jordan bis zur libanesischen Mittelmeerküste erstreckten. Die Geschichte endet damit, daß Gilgamesch den Waldgott Humbaba enthauptet, und damit Enlil, den Gott aller Götter, erzürnt. Enlil rächt Humbabas Tod, indem er dafür sorgt, daß das Wasser im Königreich ungenießbar wird und die Felder verdorren – so daß Gilgamesch und sein Volk sterben müssen.

Abgesehen von seiner sonstigen Bedeutung ist das Gilgamesch-Epos die früheste schriftliche Aufzeichnung darüber, wie das Wasser versickert und das Land zur Wüste wird, weil die Menschen große Waldgebiete zerstört haben. Die Waldflächen des Libanon (die berühmten »Libanonzedern«) sind innerhalb von 1500 Jahren von 90 Prozent auf unter sieben Prozent zusammengeschrumpft, wodurch sich die Niederschläge um 80 Prozent verringert haben, denn die Bäume und ihre Wurzeln sind ein wichtiger Bestandteil des Wasserkreislaufs. Als Folge davon sind Millionen von Hektar Land in dieser ehemals so fruchtbaren Gegend in Wüste oder Buschland verwandelt worden und bis heute unfruchtbar.

Das Hauptnahrungsmittel der Mesopotamier war Gerste, aber nachdem das Land mehrere hundert Jahre bewässert worden war, um dort Gerste anzubauen, waren die Böden ausgelaugt und so versalzen (das Salz war durch die Bewässerung in die Erde gelangt), daß sie keine Erträge mehr lieferten. Gleichzeitig war Holz durch die rasche Zerstörung der Wälder zu einer Kostbarkeit geworden, ähnlich wertvoll wie Edelsteine oder Edelmetall: So eroberte man die Nachbarländer, um an Holz zu kommen und neues Ackerland für den Gerstenanbau zu gewinnen. Riesige Waldgebiete an Euphrat und Tigris wurden gerodet, was dazu führte, daß die Versalzung der Böden entlang der Bewässerungskanäle weiter um sich griff und die Niederschläge sich weiter verringerten.

Die Folge dieser regionalen Klimaveränderung vor über 5000 Jahren war eine ausgedehnte Hungersnot. Der Zusammenbruch des letzten mesopotamischen Weltreichs fand vor etwa 4000 Jahren [128]statt, und die uns überlieferten Aufzeichnungen zeigen, daß die Menschen damals erst ganz zum Schluß erkannten, wie sie ihre kostbaren Nahrungs- und Energiequellen durch die Vernichtung ihrer Wälder und den Raubbau an ihrer sonstigen Umwelt zerstört hatten. Über Tausende von Jahren »wußten« sie, daß ihre Lebensweise in Ordnung war. Alles schien bestens geregelt, und es war ihnen nicht klar, daß sie so nicht ewig weitermachen konnten: Die Sache funktionierte nur so lange, wie es Nachbarländer gab, die sie erobern konnten. Als es nichts mehr zu erobern gab, war der Absturz plötzlich und verheerend, genau wie beim Ponzi-Schema.

 

Der Zusammenbruch des mesopotamischen Weltreiches ebnete den Weg für den Aufstieg des griechischen Imperiums in der späten Bronzezeit. Zwischen 2000 und 1500 vor Christus übernahmen die Griechen weit verbreitete Ackerbaumethoden, die dem mesopotamischen System ähnelten. Im dreizehnten Jahrhundert vor Christus veranlaßte das wachsende Nahrungsangebot die Griechen, große Waldgebiete zu roden, um Lebensraum, Brennstoff und zusätzliches Ackerland für ihre ständig wachsende Bevölkerung zu gewinnen. Außerdem brauchten sie riesige Mengen Holz, um die berühmten Bronzeschmelzöfen damit zu heizen.

Der Untergang ihrer Zivilisation wird in historischen Aufzeichnungen darauf zurückgeführt, daß der einzige verfügbare Brennstoff, Holz, für die wachsende Bevölkerung nicht mehr ausreichte. Um 600 vor Christus war der größte Teil Griechenlands verödet, von den kahlen Abhängen wurde das Erdreich in die versalzenen Flüsse gespült, und die bewässerten Felder verloren ihre Fruchtbarkeit, weil die Böden immer mehr Salz aufnahmen und keine Nährstoffe mehr enthielten. Prämien wurden ausgesetzt, damit die Bauern auf den Hügeln Olivenbäume anpflanzten, denn die verzweifelten Griechen hatten festgestellt, daß nur Olivenbäume dort wachsen und der Erosion entgegenwirken konnten. Doch es war schon zu spät. Wie Plato in seiner Kritias schreibt:

[129]

»Was nun bleibt, ist im Vergleich zu früheren Zeiten wie das Skelett eines kranken Mannes, all die fette, weiche Erde weggespült, und nur das bloße Gerüst des Landes ist zurückgeblieben.«

Es ist tatsächlich auch früher schon geschehen.

 

Dem Zusammenbruch des griechischen Reiches folgte der Aufstieg der Römer.

Rom hatte ebenfalls einen großen Bedarf an Holz: Um 200 vor Christus waren die Wälder im heutigen Italien fast vollständig gerodet, um Brennstoff und Bauholz zu liefern, die öffentlichen Bäder zu heizen und Metalle zu schmelzen. Große Mengen Holz wurden benötigt, um reines Silber aus Silbererz zu gewinnen, es zu veredeln und daraus die Münzen zu prägen, welche die Basis des römischen Währungssystems waren. Als sich dann im ersten Jahrhundert vor Christus die Holzpreise für die Silberschmelzen mehrmals verdoppelten, führte das zu einer monetären Krise, die dem römischen Imperium den ersten großen Riß zufügte.

Ungefähr zur gleichen Zeit kam es zu Einbrüchen in der landwirtschaftlichen Produktivität, weil die Böden versalzten und ausgelaugt waren und die Niederschläge ausblieben. Nahrungsmittelknappheit bedrohte die Stabilität des Römischen Reiches. Das veranlaßte die Führung Roms, eine Flotte von sechzig Holzschiffen zu bauen, um die benachbarten Mittelmeerstaaten zu erobern und das Reich noch in seinen letzten Tagen zu erweitern, während sie außerhalb ihrer angestammten Grenzen nach Mineralien, Nahrung und Holz suchten. Schließlich sorgte die Zerstörung der Wasserkreisläufe, der Wälder und der Böden zusammen mit einem explosionsartigen Bevölkerungswachstum für ausgedehnte Hungersnöte, die zum Zusammenbruch des römischen Imperiums führten.

Sogar das mächtige Rom konnte sich also nicht aus eigener Kraft erhalten und lebte über seine Verhältnisse – selbst nachdem es die Hälfte der damals bekannten Welt erobert hatte. Und natürlich ist [130]das nur ein Beispiel von vielen: Hunderte von anderen, jüngeren Kulturen sind kurzfristig entstanden, haben ihre Existenzgrundlagen vernichtet und sind wieder untergegangen, von den Ägyptern bis zu den Bewohnern von Ur, von den chinesischen Dynastien bis zu den längst entschwundenen Zivilisationen des präkolumbianischen Südamerika.

 

Als Amerika sich auf den Weg machte, die größte Weltmacht zu werden, war Holz die wichtigste Energiequelle. Es lieferte George Washingtons Armee Energie und Wärme und blieb unsere Hauptquelle für Brennstoff, Wärme und Baumaterial bis zum Ende des Bürgerkriegs, als man begann, die Kohle stärker zu nutzen.

Wie schon erwähnt, erhöhte die Entdeckung gespeicherten Sonnenlichts in Form von Öl in Pennsylvania gleich nach dem Bürgerkrieg auf dramatische Weise unsere Fähigkeit, immer mehr Menschen weltweit zu ernähren. Und das bringt uns in eine Situation, die auf unbehagliche Weise an Mesopotamien, Griechenland und Rom erinnert: Nachdem wir nun so viele Menschen von einer bestimmten Energiequelle abhängig gemacht haben, was geschieht, wenn diese Quelle versiegt?

Können wir unsere Zivilisation retten, wenn wir Alternativen zum Öl entwickeln?

Schon seit vielen Jahren gibt es Leute, die darauf hinweisen, daß unsere Ölreserven ziemlich bald zur Neige gehen werden. Sie haben verschiedene »alternative« oder »erneuerbare« Energiequellen vorgeschlagen, die das Öl ersetzen könnten. Da es hier immer darum geht, unsere Abhängigkeit vom Öl zu verringern – und so zu verhindern, daß ein Zusammenbruch der Energieversorgung wie bei den Sumerern zum Untergang unserer Kultur führt –, sollten wir uns diese Alternativen genauer ansehen.

[131]

Eine hohe ökonomische Hürde: Weil die Ölpreise künstlich niedrig gehalten werden, fehlt der Anreiz für Investitionen in alternative Energien

Wenn wir über Alternativen nachdenken, müssen wir berücksichtigen, warum die Regierungen so wenig Interesse daran zeigen, Energiequellen zu entwickeln, die fossile Brennstoffe ersetzen könnten.

Der Hauptgrund liegt darin, daß die Ölpreise heute (bereinigt um die Inflationsrate) niedriger denn je sind, weil wir weltweit so aggressiv Öl fördern. In den USA kann eine Literflasche Mineralwasser viermal so viel kosten wie ein Liter Benzin – obwohl das Benzin achttausend Meilen entfernt als Rohöl aus dem Boden gepumpt, um die halbe Welt transportiert, raffiniert und zur Tankstelle gebracht werden muß.

Von einigen Ausnahmen abgesehen, fördern die Länder, die über reiche Ölvorkommen verfügen, ihr Öl so schnell wie möglich, um die ständig wachsende Nachfrage aus aller Welt zu befriedigen. Jedes Land, das erwägt, seine Förderung zu drosseln oder die Quellen eines Nachbarlandes zu annektieren, braucht nur daran zu denken, mit welcher Härte Amerika reagiert hat, als der Irak versuchte, sich die kuwaitischen Ölfelder anzueignen (die nach Angaben des CIA zehn Prozent der bekannten Weltölreserven enthalten). Dann werden sie sich die Sache zweimal überlegen und darauf verzichten, den Status quo zu brechen.[29]

Die Industriezweige, die fossile Brennstoffe verarbeiten, verbindet das gemeinsame Ziel kurzfristiger Profite, sogar auf Kosten unserer langfristigen Überlebenschancen. Sie sind fest entschlossen, durch den Verkauf ihrer Produkte – so schnell wie möglich – Milliarden [132]zu verdienen, auch wenn es sich dabei um nicht erneuerbare Energiequellen handelt.[30]

All dies hält die Ölpreise zur Zeit niedrig, so daß wenig Anreiz besteht, Alternativen zu entwickeln.

Eine weitere Hürde: Man braucht Öl, um Technologien zu entwickeln, die Öl ersetzen könnten

Bei der Entwicklung alternativer Energien gibt es noch ein weiteres großes Problem.

Denken Sie beispielsweise an die Solarenergie. Solarzellen fangen gegenwärtiges Sonnenlicht ein, so daß wir die Energie sofort nutzen können. Aber die Sache hat einen Haken: Für die Herstellung von Solarzellen brauchen wir Öl, also gespeichertes Sonnenlicht:

Was wird also geschehen, wenn unsere Ölvorräte aufgebraucht sind – wenn wir kein gespeichertes Sonnenlicht mehr haben?

Woher sollen dann die Solarzellen kommen?

Die Solarzellen von heute liefern nicht genug Energie, um mehr Solarzellen zu produzieren. Sie reichen kaum aus, um ein kleines Auto anzutreiben. Mit Sicherheit können sie nicht genug Sonnenlicht einfangen, um einen Bulldozer zu bewegen, einen Hochofen zu heizen oder eine Glasfabrik mit Elektrizität zu versorgen, damit mehr Solarzellen hergestellt werden können. Mit diesem Problem müssen sich Umweltexperten ernsthaft auseinandersetzen.

Ähnliche Probleme gibt es bei der Windkraft. In bestimmten Gegenden mag der Wind zwar unablässig wehen, aber um daraus elektrischen Strom zu gewinnen, braucht man High-Tech-Turbinen, die aus hochwertigem Stahl und anderen Materialien bestehen, zu deren Herstellung wir heutzutage Energie aus fossilen Brennstoffen benötigen. Wenn wir kein Öl mehr haben, können solche Verschleißteile nicht mehr ersetzt werden, und uns bleiben dann nur noch die klassischen Holzwindmühlen aus Holland, die es mit Hilfe der Windenergie gerade schaffen, das Meerwasser aus einem kleinen Feld von acht- oder zehntausend Quadratmetern herauszupumpen.

Gegenwärtig verbrauchen wir den größten Teil des Öls, um daraus elektrischen Strom zu erzeugen. Deshalb sind die amerikanischen [134]Kraftwerke nach Angaben der Environmental Protection Agency verantwortlich für 66 Prozent aller Schwefeldioxidemissionen, 29 Prozent aller Stickoxide in der Luft, 21 Prozent aller Quecksilberbelastungen und 36 Prozent aller Kohlendioxidemissionen.

»Grüne« Energie

Wegen der starken Luftverschmutzung durch Ölkraftwerke, und weil Öl eine nicht erneuerbare Energiequelle ist, gibt es in den USA in letzter Zeit eine starke Bewegung, die sich dafür einsetzt, »grüne Elektrizität« zu produzieren und zu vermarkten: Energie, die aus erneuerbaren Quellen gewonnen wird, welche gegenwärtiges Sonnenlicht einfangen, beispielsweise Holz, Wasser, Solarzellen und Wind.[31]

Aber die Nachfrage nach Elektrizität ist in den Vereinigten Staaten heute viel zu groß, als daß sie aus gegenwärtigem Sonnenlicht befriedigt werden könnte. Das ließe sich vielleicht ändern, aber da der überwiegend aus Öl gewonnene elektrische Strom so billig ist, haben neue Technologien meist nicht einmal eine Startchance.

Deshalb ist es in dieser Branche, in der man entweder schnell Geld verdient oder untergeht, für ein Unternehmen sehr schwierig, wettbewerbsfähige »grüne Energie« zu erzeugen. Weil angesichts der niedrigen Ölpreise nur begrenztes Investitionskapital zur Verfügung steht, müssen sich die »grünen« Energiefirmen gelegentlich etwas nach der Decke strecken, was dazu führt, daß sie eine Art »pseudo-grüner« Energie anbieten – bei der so getan wird, als sei sie grün (erneuerbar, »sauber«), was aber in Wirklichkeit nicht zutrifft.

[135]

Der Verkauf von pseudo-grüner Energie

Das wurde auf einer Konferenz im Mai 1997 in Boston deutlich, bei der mehrere neue »grüne« Energieanbieter an einem Pilotprogramm in Massachusetts und New Hampshire teilnahmen, wo sie ihre Ware (private Elektrizitätsversorgung) mit Heißluftballons und kostenlosen Fichtensetzlingen zu verkaufen versuchten. Den Kunden wurde versprochen, daß die Energie aus einer »grünen« Quelle käme, womit gemeint war, daß es sich um erneuerbare Energien handelte, die keine Umweltverschmutzung verursachen. Die Verbraucher wurden stark umworben, und man bat sie, im Interesse des Umweltschutzes einen geringfügig höheren Preis für ihre Stromversorgung zu zahlen.

Daß sich die Sache in Wirklichkeit etwas anders verhielt, erfuhren die Konferenzteilnehmer, als ein Sprecher der Union of Concerned Scientists sich erhob und über des Energie-Kaisers neue Kleider sprach: »Wir sind der Meinung, daß die Werbung in New Hampshire … ziemlich irreführend war«, sagte er.

Es stellte sich heraus, daß ein Unternehmen »Wasserenergie« von Hydro-Quebec verkaufte, einem großen Unternehmen, das kürzlich weite Landstriche, die den amerikanischen Ureinwohnern gehörten, trotz heftiger Proteste der Eigentümer und Anwohner geflutet hatte, um dort ein Wasserkraftwerk zu errichten.

Ein anderer Anbieter wollte Wasserenergie verkaufen, die aus »hochgepumptem Speicherwasser« gewonnen wurde, was bedeutet, daß schwere konventionelle elektrische Pumpen (betrieben mit Strom aus dem lokalen Netz, der durch Kohle, Kernkraft oder Öl erzeugt wird) eingesetzt wurden, um das Wasser in ein höhergelegenes Reservoir zu befördern, aus dem man es dann wieder herausfließen ließ, um eine Turbine anzutreiben, welche die angeblich »grüne« Elektrizität erzeugte. Dabei handelt es sich bestenfalls um ein Speichersystem für »schmutzige« Energie, schlimmstenfalls um einen regelrechten Betrug am Verbraucher. In anderen Staaten haben Stromversorger sogar damit argumentiert, [136]daß sie Energie aus Kernkraftwerken als »grün« bezeichnen könnten, weil dadurch, wie sie sagen, keine Luftverschmutzung verursacht wird.

Solche Täuschungsmanöver sind zur Zeit unvermeidlich, weil echte »grüne« Energie einfach zu teuer ist. Ohne billiges Öl zur Herstellung von Solarzellen und Turbinen könnte es in der Tat sogar unmöglich sein, grüne Energie in den Mengen zu liefern, die in Amerika und Europa gegenwärtig nachgefragt werden. Wenn wir jedoch jetzt beginnen würden, mit Hilfe von Öl Energiesysteme zu entwickeln, die ohne Öl auskommen, dann könnte sich die Situation zum Besseren wenden.

Wenn der Brennstoff knapp wird, beginnen die Kämpfe

Heutzutage verkauft jedes Unternehmen in der industrialisierten Welt, gleichgültig, welche Produkte oder Dienstleistungen angeboten werden, irgend etwas, zu dessen Herstellung Öl benötigt wird. Die erforderliche Elektrizität stammt aus ölbetriebenen Reaktoren, die Raumwärme wird durch Ölheizungen erzeugt, die Autos und Busse, mit denen die Angestellten zur Arbeit und wieder nach Hause fahren, werden mit Diesel oder Benzin betrieben, und so geht es weiter bis zu den scheinbar unbedeutendsten Aktivitäten oder Einrichtungsgegenständen, wie beispielsweise den aus dem Rohstoff Öl hergestellten synthetischen Teppichböden, mit denen die Büros ausgelegt sind.

Ohne Öl würde unsere Produktivität wieder auf das Niveau der Zeit um 1800 zurückfallen, als nur ein Sechstel der heutigen Weltbevölkerung auf diesem Planeten lebte und unsere Brennstoffquellen aus Pflanzenöl, Walfett, Kohle und Holz bestanden. Und wenn die Produktivität sinkt, werden die Ressourcen sogar noch knapper.

[137]

Selbst eine geringfügige Verknappung der Hauptenergiequelle kann eine ganze Nation aus dem Gleichgewicht bringen. Viele Historiker teilen die Ansicht, daß Hitler, wenn Deutschland unbeschränkt über Öl verfügt hätte, durchaus in der Lage gewesen wäre, seine Pläne zur Eroberung Europas erfolgreich umzusetzen. Historische Aufzeichnungen zeigen, daß Japan Pearl Harbor im wesentlichen deshalb bombardiert hat, weil die amerikanische Flotte die Gewässer im Westen Japans blockierte und das Land damit von den Öllieferungen aus den Förderländern im Indischen Ozean abschnitt. Japanische und amerikanische Militärstrategen wußten, daß das Reich der aufgehenden Sonne damit innerhalb weniger Monate in die Knie zu zwingen gewesen wäre, auch wenn die amerikanischen Militärs offenbar die Härte des japanischen Vergeltungsschlages unterschätzt haben.

Wenn das Öl in den nächsten Jahrzehnten knapp wird, steigen die Preise, so wie es einst mit den Holzpreisen im sumerischen, griechischen und römischen Reich geschah. Wenn die Kosten für den wichtigsten Energieträger sprunghaft in die Höhe schnellen, werden die oberen Zehntausend, die den Reichtum und die Armeen der Welt unter Kontrolle haben, ihre Schäfchen ins Trockene bringen können, aber die Masse der Bevölkerung hat dann ernste Probleme. Wir können das heute in Ländern wie Haiti beobachten, wo die Bevölkerungsexplosion angesichts begrenzter Energiequellen weit verbreitet zu Armut und Hunger geführt hat.

Wir im Westen stehen an der Spitze der Energiepyramide und werden wahrscheinlich als letzte unter dem Mangel zu leiden haben (vorausgesetzt, wir verfügen noch über handlungsfähige Armeen, die arabische und südamerikanische Länder zwingen können, uns ihre letzten Ölvorräte zu verkaufen. Als den Mesopotamiern, Griechen und Römern das Holz ausging, zettelten auch sie Kriege an. Die Frage ist jedoch, wo wir den Treibstoff für unsere Flugzeuge und Panzer hernehmen sollen, wenn wir nicht mehr genug Öl haben …).

[138]

Aber selbst wenn die Erste Welt ihr Militär einsetzen kann, um den Zugang zu den Ölvorräten der Dritten Welt zu erzwingen, wird die zunehmende weltweite Energieknappheit zu weitverbreiteten und verheerenden Folgeerscheinungen führen. In den letzten siebentausend Jahren ist jede »moderne« Zivilisation letztlich daran zugrunde gegangen, daß ihre Hauptenergiequelle knapp wurde. Ob wir dasselbe Schicksal erleiden oder nicht, bleibt abzuwarten, aber es ist fast sicher, daß das kommende Ungleichgewicht der Ressourcen die Grundlagen der Demokratie einer Zerreißprobe aussetzen wird.

Doch warum entwickeln sich die Dinge anscheinend immer auf dieselbe Weise? Und was können wir dagegen tun?

 

 

[139]

Teil II
Jüngere und ältere Kulturen: Wie sind wir in diese Lage gekommen?

Im ersten Teil dieses Buches haben wir uns mit den Fakten beschäftigt, die darauf hindeuten, daß wir schon jetzt in ernsten Schwierigkeiten stecken: Wir sind alle aus Sonnenenergie geschaffen; wir verbrauchen die Energie, die unser »Startkapital« bildet (das gespeicherte Sonnenlicht, das in unterirdischen »Sparkonten« angelegt ist, die bald erschöpft sein werden); wir zerstören die Bäume, die unseren Wasserkreislauf erhalten, den Boden vor Erosion bewahren und das Kohlendioxid aus der Luft aufnehmen; wir rotten eine immense Zahl von Tier- und Pflanzenarten aus, und die von uns verursachten Klimaveränderungen führen zu unvorhersehbaren Wetterextremen, die Ernteerträge und Menschenleben gefährden.

Wie sind wir in diese Lage gekommen?

Wie haben wir es fertiggebracht, in einem halben Jahrhundert von einer Ausgangsposition, die zweifellos zu großem Optimismus Anlaß gab, in eine Lage zu geraten, die uns allem Anschein nach nur noch eine Generation Zeit läßt, bevor eine Katastrophe die industrialisierte Welt ereilt? Eine Katastrophe, der die Dritte Welt, wo Hunger und Krankheit explosionsartig zunehmen, schon zum Opfer gefallen ist.

Am Ende dieses Buches werden wir darüber nachdenken, was wir gegen das sich anbahnende Desaster tun können. Wenn wir uns richtig verhalten, gibt es Anlaß zur Hoffnung. Aber zunächst müssen [140]wir verstehen, wie es soweit kommen konnte, und darum geht es hier im zweiten Teil, wo wir uns mit folgenden Themen beschäftigen wollen:

Die historische Perspektive

Sozialpsychologische Aspekte

Um die zentrale Bedeutung des gespeicherten Sonnenlichts zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit der entscheidenden Rolle beschäftigen, welche die Kultur für alle Zivilisationen in Vergangenheit und Gegenwart gespielt hat.

 

 

[141]

Die Macht unseres Weltbildes:
ältere und jüngere Kulturen

Eine Kette ist nicht stärker als ihr schwächstes Glied, und das Leben ist letzten Endes eine Kette.

William James (1842–1910)

Durch menschliches Handeln – und Nichthandeln – scheint unser Planet auf eine Katastrophe zuzusteuern.

Die Weltbevölkerung ist schon lange über die Zahl hinausgewachsen, die wir ohne eine intensive Nutzung von Benzin und Öl hätten ernähren können, und so verbrennen wir fossile Pflanzenstoffe, die 300 Millionen Jahre alt sind (und die, wenn sich nichts ändert, noch während der Lebensspanne unserer Kinder aufgebraucht sein werden), um jene sechs Milliarden Menschen zu ernähren, die sich gegenwärtig an Bord des Raumschiffs Erde befinden. In Zukunft werden noch viel mehr von ihnen verhungern als heute. Und die Regierungen der Welt tun so gut wie nichts, um diese sehr reale Möglichkeit zu verhindern.

Aber was können wir selbst tun? Wir trennen Müll für die Wiederverwertung, ernähren uns vegetarisch, fahren Autos mit geringem Benzinverbrauch, und es kommt uns so vor, als würden wir damit etwas Nützliches tun. Tatsache bleibt jedoch, daß jeder Obdachlose in New York monatlich über mehr Geld verfügt, als der größte Teil der Weltbevölkerung im ganzen Jahr zu sehen bekommt. Aber nicht einmal auf diesem »Armutsniveau« kann unser Planet die Menschen erhalten, ohne daß unsere fossilen Brennstoffquellen innerhalb von ein oder zwei Generationen erschöpft sein werden.

Die meisten Leute glauben wahrscheinlich, daß sie nichts tun können, um diese Last zu erleichtern.

[142]

Doch sie irren sich. Es gibt sehr wohl wichtige und wirksame Schritte, die wir unternehmen können.

Vielleicht ist es zu spät (um mindestens vier Jahrzehnte, wie viele Experten behaupten), um sämtliche Schäden zu verhindern, auf die wir uns zubewegen: den Tod von Milliarden Menschen und die weitere nachhaltige Zerstörung eines großen Teils unserer Umwelt durch Krieg, Ressourcenausbeutung und Industrieabfälle. Überall auf der Erde werden Kriege geführt, Hungersnöte brechen aus, während Sie diese Worte lesen, und die Überbevölkerung hat einen Punkt erreicht, wo Straßenkinder in vielen größeren Städten der Dritten Welt von »Jagdclubs«, zu denen sich junge Männer der Mittel- und Oberklasse und Polizisten in ihrer Freizeit zusammenrotten, mit Gewehren verfolgt werden.[32] Manche Leute machen sich darauf gefaßt, daß wir Zeugen der letzten Tage des amerikanisch/europäischen Weltreichs werden könnten, ähnlich wie die Römer vor 1600 Jahren den Untergang ihres Imperiums miterlebten.

Wahr ist aber auch, daß wir jetzt die Grundlagen für eine positive und hoffnungsvolle Welt schaffen können, in der zukünftige Generationen, unsere Kinder und Kindeskinder leben werden – den Anfang der nächsten Zivilisation, der Nach-Öl-Ära.

Ihre Zukunft liegt in unseren Händen.

Die Macht unserer Gedanken

Wenn Sie in der Stadt eine Straße entlang gehen oder fahren, dann ist das, was Sie sehen, eine Manifestation von Gedanken. Am Anfang eines jeden Gebäudes stand die Idee, die jemand hatte. Jemand kaufte das Land. Jemand entwarf das Haus. Jemand hatte die Idee, eine Gruppe von Menschen zu organisieren, die das Haus [143]bauten, entweder gegen Lohn oder um selbst darin zu wohnen. Die Bäume, die Sie sehen, wurden gepflanzt, um im Garten, auf dem Gehweg oder am Straßenrand Schatten zu spenden. Die asphaltierten oder gepflasterten Straßen und Wege, die wir als »natürliches« Element der Landschaft empfinden, wurden von menschlichen Gehirnen geplant, entworfen, in die Realität umgesetzt und erhalten.

Gedanken schaffen unsere materielle Wirklichkeit, und sie schaffen auch unsere kulturelle Wirklichkeit. Wenn es in alten Zeiten ein Gewitter gab, dann nahmen die Menschen Donner und Blitz als die Stimme einer mächtigen Gottheit wahr. Wenn jemand vom Blitz getroffen wurde, dann war das für die anderen der Beweis, daß dieser Mensch ein Verbrechen begangen oder die Gottheit erzürnt hatte. Wenn es laut donnerte, dann knieten die Menschen auf dem Boden nieder und riefen laut ihre Gebete. Wenn sie die schrecklichen Blitze über den Himmel zucken sahen, dann erkannten sie darin den Finger ihres Gottes, der Botschaften übermittelte oder seine Meinung kundtat. Heute betrachten wir Blitz und Donner als Entladung elektrischer Energie zwischen Ionen in der Luft und dem entgegengesetzt geladenen Boden. Wenn jemand vom Blitz getroffen wird, dann ist das entweder seine eigene Dummheit (wenn er auf dem Golfplatz steht und den Schläger in die Luft hält) oder einfach Pech. Wenn es sich um ein heftiges Unwetter handelt, dann suchen wir Schutz, weil wir ein gefährliches Naturereignis fürchten, nicht jedoch einen erzürnten Gott. Dasselbe Ereignis führt bei den Menschen von heute zu völlig anderen Gefühlen, Gedanken und Verhaltensweisen, als bei den Menschen in alter Zeit. Der entscheidende Punkt ist, daß wir heute die Realität anders wahrnehmen und deshalb auch anders darüber denken.

Vor ein paar Jahren war ich eingeladen, auf einer Konferenz, die von der Hebräischen Universität in Jerusalem veranstaltet wurde, einen Vortrag zu halten. Anschließend machten Louise und ich einen [144]Bummel durch die Altstadt hinunter zum arabischen Viertel, wo die meisten Touristengeschäfte sind. Es war Freitag, der moslemische Sabbat, aber da wir keine Moslems waren, glaubten wir nicht, daß das unsere Besichtigungs- und Einkaufspläne irgendwie beeinträchtigen würde. Da es ein sehr heißer Tag im Mai war, trug Louise bequeme Shorts. Als wir so durch die Straßen schlenderten, kam ein Kaufmann aus seinem Laden und begann Louise als »westliches Schwein«, »Hure« und »Gotteslästerin« zu beschimpfen. »Du Hexe, weißt du nicht, daß dies ein heiliger Tag ist?« schrie er. »Du hast nicht das Recht, deine nackten Beine zu zeigen!«

Ich erwähne diesen kulturellen Zusammenstoß, weil die Wirklichkeit des Kaufmanns so aussah, daß eine Frau (die im Islam einen anderen sozialen Status hat als in den meisten jüdisch-christlichen oder westlichen Kulturen) auf schamlose Weise gegen das Gesetz verstieß. Louises Wirklichkeit sah so aus, daß sie sich an einem heißen Tag in einem Touristenzentrum befand und mit ihren Shorts nach westlichen Vorstellungen bequem und angemessen gekleidet war, wofür sie nun angepöbelt wurde. Meine Wirklichkeit sagte mir, daß dieser Mann schlechte Manieren hatte, meine Kultur und Religion, Frauen im allgemeinen und ein anderes menschliches Wesen im besonderen nicht respektierte, weil er uns anschrie, statt ruhig zu uns zu kommen und seinen Einwand angemessen vorzutragen.

Wir alle waren im Recht.

Und so sieht sich nun die gesamte Menschheit einer verwirrenden Vielfalt widersprüchlicher Realitäten gegenüber. Wie wir damit umgehen, entscheidet über unser aller Zukunft. Überlegen Sie einmal, welche unterschiedlichen Vorstellungen die Menschen vom Leben haben können:

Diese Vorstellungen haben ihren Ursprung in den Geschichten – den Mythen unserer Kultur, unseren Paradigmen, unseren Überzeugungen –, welche den Kern dessen bilden, was wir als unsere »Wirklichkeit« betrachten. Geschichten sind in diesem Zusammenhang alles, womit wir unsere direkte Erfahrung anreichern und was dazu führt, daß sich unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit ändert oder daß wir anders darüber denken.

Da so vieles von dem, was wir als Wirklichkeit bezeichnen, subjektiv ist, gibt es kaum »richtige« oder »falsche«, sondern nur »nützliche« und »nutzlose« Geschichten, je nachdem, welcher Kultur man angehört und welche Stellung man darin einnimmt, je nachdem, welche Beziehung man zur Natur und welche Vision man von der Zukunft hat.

Die Geschichten, die wir uns nun seit Jahrhunderten erzählen, gehören mittlerweile zunehmend nicht mehr in die Kategorie der »nützlichen«, sondern der »nutzlosen« Geschichten.

Ein Beispiel dafür ist die biblische Aufforderung, so viele Kinder wie möglich zu bekommen. In den Tagen von Noah und Abraham war der Stamm mit der größten Anzahl junger Männer, die ein Heer bilden konnten, gewöhnlich der Stamm, der überlebte. »Seid fruchtbar und mehret euch« war eine Formel, die das kulturelle Überleben sicherte, auch wenn die Sache fast immer damit endete, [146]daß es hieß: »Und wenn die Ressourcen und der Lebensraum knapp werden, dann tötet eure Nachbarn und raubt ihr Eigentum.«[33]

Wir haben dies im Laufe der Jahre rationalisiert, indem wir sagen, daß dieser erobernde und beherrschende Lebensstil uns so viele »gute Dinge« beschert hat: das Fernsehen, die Mondlandungen, moderne Technik und den Sieg über viele Krankheiten. Ich erinnere mich, daß, als ich in der High School war, ein Vertreter der Army kam, um den Zehntklässlern die Streitkräfte schmackhaft zu machen: »Die meisten wirklich wichtigen Fortschritte in unserer Zivilisation, von der Entwicklung der Raketen bis zur Entdeckung neuer Antibiotika, sind auf die Erfordernisse des Kriegs zurückzuführen«, sagte er und präsentierte uns damit eine weitere Rationalisierung des periodisch auftretenden Massenmordes an Menschen, die uns ein gutes Gefühl vermitteln sollte. Krieg ist gut, lautete seine Botschaft: Er führt zum Fortschritt und verbessert den Lebensstandard.

Früher, als nur ein paar Millionen Menschen auf unserem Planeten lebten, konnte man sich vielleicht noch Situationen vorstellen, in denen große Familien, ein hohes Bevölkerungswachstum und die Eroberung benachbarter (oder ferner) Länder vorteilhaft waren. Ein solches Verhalten mochte moralisch fragwürdig sein, wurde jedoch durch die Normen einer Kultur gedeckt, deren hauptsächliches Ziel Überleben und Wachstum war. Heute jedoch gefährden solche Geschichten genau jene Kultur, aus der sie hervorgegangen sind.

Die alten Griechen veränderten die Welt und errichteten die Fundamente der westlichen Zivilisation auf der Idee, daß man Demokratie und Sklaverei miteinander vereinbaren könne. Wann immer sich davor oder seitdem eine Kultur zum Besseren oder zum [147]Schlechteren verändert hat, war die Ursache dafür eine Idee, eine Erkenntnis, ein neues Verständnis davon, wie die Dinge sind und was möglich ist. Ideen waren die Vorläufer jeder Revolution, jedes Kriegs, jeder Veränderung und jeder Erfindung.

Folglich besteht die gute Nachricht darin, daß wir unsere kulturellen Normen neu definieren, die Geschichten, die über unsere Wahrnehmung der Realität entscheiden, neu erzählen können, um auf diese Weise dafür zu sorgen, daß sich das Verhalten der Menschen ändert und sich diesen neuen Geschichten anpaßt.

Doch zunächst müssen wir die Geschichten der Gegenwart und der Vergangenheit verstehen, um dann für die Zukunft andere Geschichten zu entwickeln, die die erwünschte Wirkung haben können.

 

 

[148]

Die Kontroll-Drogen der jüngeren Kultur

Es sind nicht Heroin oder Kokain, die einen Menschen süchtig machen, es ist das Bedürfnis, der harten Realität zu entfliehen. Es gibt in diesem Land mehr Fernsehsüchtige, mehr Baseball- und Footballsüchtige, mehr Filmsüchtige und mit Sicherheit mehr Alkoholiker als Drogensüchtige.

Shirley Chisholm (geb. 1924)

Als eine Folge des Kriegs haben nun die Konzerne das Zepter übernommen, und eine Ära der Korruption in leitenden Positionen bricht an … bis der gesamte Reichtum in wenigen Händen konzentriert und die Republik zerstört sein wird.

Abraham Lincoln

Politiker und Schriftsteller nennen unsere Zeit oft das Informationszeitalter. Der heutige Durchschnittsmensch, so sagen sie, weiß mehr als irgend jemand zu irgendeiner Zeit in der Vergangenheit. Durch das Internet, CD-Rom-Enzyklopädien und eine Vielzahl von Fernsehkanälen, so heißt es, hätten selbst die meisten Normalbürger augenblicklich Zugang zu dem gesamten Wissen unseres Planeten. Einfach wunderbar, und wir sind phantastisch gut informiert.

Aber stimmt das wirklich?

Wenn wir tatsächlich so gut informiert sind, warum können dann die meisten Amerikaner nicht einmal simple Fragen zur Weltgeschichte beantworten? Wie viele unserer Kinder haben auch nur ein einziges Stück von Shakespeare vollständig gelesen? Und wie viele Menschen wissen beispielsweise über den Ursprung [149]und die Bedeutung der Kriege in Bosnien und im Kongo mehr als in den Fünfzehn-Sekunden-Häppchen der Abendnachrichten serviert wird? Oder daß die Regierung der Vereinigten Staaten auch heute noch in Nevada, Minnesota, Wyoming, Arizona, New Mexico, Alaska und einem Dutzend anderer Staaten Land stiehlt, das den Indianern gehört.

Ja, das Internet ist eine beachtliche Informationsquelle. (Ich benutze es selbst für Recherchen und habe eine Web-Seite für meine Bücher.) Aber die Leute, die beruflich damit zu tun haben, sagen einem, daß die Mehrzahl der profitablen und häufig benutzten Internetseiten jene sind, die Sex oder pornografische Fotos anbieten. Alle Unternehmen, die »Suchmaschinen« betreiben, berichten, das am häufigsten benutzte »Suchwort« sei »Sex«, gefolgt von anderen Worten, die Nacktheit oder verschiedene Sexualakte bezeichnen. Danach kommen die Sport- und Unterhaltungs-»Kanäle« sowie interaktive »Seifenopern« und Clips von den neuesten Filmen und Fernsehshows. Es ist schlicht eine Tatsache, daß das Internet keinen großen Einfluß darauf hat, wie gut die Amerikaner informiert sind.

Und was ist mit dem Fernsehen? Wenn ich gelegentlich in Vorträgen sage, daß wir seit einigen Jahren in unserem Haus keinen Fernseher mehr angeschlossen haben – nicht wegen der Inhalte der Sendungen, sondern weil das Medium als solches dazu führen kann, daß die Aufmerksamkeitsphasen der Kinder kürzer werden und an Intensität verlieren –, erklären mir die Zuhörer lang und breit, wieviel sie beispielsweise durch Naturdokumentationen im Fernsehen gelernt haben.

Ich bestreite nicht, daß es im Fernsehen einige interessante und informative Sendungen gibt. Aber ihre Zahl ist sehr gering, und die meisten Informationen kann man in Büchern nachlesen – doch neuere Untersuchungen zeigen, daß nur eine kleine Minderheit der Amerikaner im vorangegangenen Monat ein Buch gelesen hat. Als der frühere FCC-Beauftragte Newton Minnow das Fernsehen [150]als eine »weite Wüste« bezeichnete, hat er noch weit untertrieben. Auf der Jagd nach Werbeeinnahmen, die von den Einschaltquoten abhängig sind, setzen die Programmgestalter immer mehr auf Unterhaltung und verzichten zunehmend auf Information (auch in den »Nachrichtensendungen«). Und sogar die »Information« im Fernsehen soll oft nur einem besonderen Unternehmensinteresse dienen.[34]

Es mag sein, daß wir in gewissem Sinne in einem »Informationszeitalter« mit einem »Informationsüberschuß« leben. Aber wenn es darum geht, was wirklich in den Köpfen der Menschen ankommt, dann ist unser Zeitalter durch einen »Mangel an Wissen« gekennzeichnet.

Die Menschen verfügen nicht mehr über so lebenswichtige Informationen, wie etwa, was sie tun müssen, um ihre eigene Nahrung anzubauen, wie man trinkbares Wasser findet, was in ihrer Nahrung enthalten ist, wie man eine Feuerstelle baut und sich warm hält, wie man in der Natur überlebt, was die Himmelszeichen bedeuten und wie man sie liest, wann die Wachstumsperioden beginnen und enden, welche Pflanzen im Wald und auf den Feldern eßbar sind, wie man Wild aufspürt, erlegt, würzt, ißt und haltbar macht, wie man ohne (oder auch mit) Chemikalien und Traktoren den Acker bestellt, wie man Knochenbrüche und andere häufig vorkommende medizinische Notfälle behandelt oder einem Baby auf die Welt hilft.

Durch dieses »Informationsdefizit« haben wir alle den Kontakt zur Wirklichkeit verloren und stehen am gefährlichen Rand einer ölabhängigen, von Konzernen herbeigeführten Informations-Hungersnot. Während der großen Weltwirtschaftskrise in den dreißiger Jahren lebten weit mehr Menschen auf dem Land als in [151]den Städten. Das Wissen darüber, wie man Nahrung anbaut und haltbar macht, in schweren Zeiten überlebt und mit wenig auskommt, war noch weit verbreitet. Heute kennen wir die Namen der neuesten Filmstars und wissen, wieviel ihre Filme eingespielt haben oder wo der Dow-Jones-Indes gerade steht, aber nur wenige von uns könnten zwei Monate überleben, wenn die Supermärkte plötzlich schließen würden.

Außerdem sind nach Angaben der Barbara Bush Foundation for Family Literacy volle 27 Prozent aller erwachsenen Amerikaner »funktionale Analphabeten«, wogegen weniger als ein Prozent aller amerikanischen Hausbesitzer kein Fernsehgerät haben.

Das verschafft all jenen enorme Vorteile, die davon profitieren, daß wir von ihren Systemen und Informationen, ihrem Öl und ihren Nahrungsmitteln abhängig sind. Es ist sehr einfach geworden, uns zu beherrschen und zu kontrollieren. Wir wählen jeden, der den besten Zehn-Sekunden-Spot in den Abendnachrichten hat oder die wirksamste und teuerste Werbung ausstrahlt.

Unternehmen, die giftige oder krebserregende Chemikalien verkaufen oder Produkte herstellen, bei deren Erzeugung jene als Abfallstoffe anfallen, können Nachrichten so effektiv lancieren oder unterdrücken, daß die meisten Bürger von Vermont beispielsweise nicht wissen, daß fast 50 000 Pfund einer Chemikalie, die in Deutschland, Italien, den Niederlanden, Schweden, Österreich und anderen Ländern verboten ist, jedes Jahr auf ihren Futtermais gesprüht werden.[35] Wissenschaftliche Studien haben diese Chemikalie mit Brustkrebs, Leukämie, Lymphomen, angeborenen Mißbildungen und Tumoren der Fortpflanzungsorgane in Verbindung gebracht. An dem Tag, an dem die Umweltgruppe Food & Water[36] diese Geschichte in einer Anzeige veröffentlichte, wurde in einem anderen Teil derselben Zeitung erwähnt, daß Wissenschaftler zahlreiche [152]Berichte über mißgebildete Frösche an den Seeufern von Vermont erhalten hatten. Zu den angeborenen Defekten gehörten »fehlende oder deformierte Gliedmaßen«, »Frösche, deren Augen auf dem Rücken saßen« und »Finger mit Saugnäpfen, die an den Seiten des Rumpfes wuchsen«.

Doch trotz aller Aktivitäten von Umweltgruppen, die versuchen, solche Nachrichten zu verbreiten, sieht es so aus, als würden wir einfach schlafen und nichts davon merken. Aber ich vermute, wir schlafen gar nicht; man kann auch wach sein und trotzdem nicht wahrnehmen, was um einen herum vorgeht.

Wir schlafen nicht nur: Wir befinden uns im Drogenrausch

Als Teenager, der in den sechziger Jahren in College-Städten und in San Francisco aufwuchs, lernte ich mehrere Drogensüchtige kennen. Es waren im großen und ganzen nette Leute – nicht die Stereotypen, die wir aus dem Fernsehen und der Literatur kennen, sondern relativ normale Mittelklassekinder, die sich bis über beide Ohren auf eine Droge eingelassen hatten, die stärker war, als sie erwartet oder geglaubt hatten. Als ich älter wurde, lernte ich auch eine Reihe von Alkoholikern kennen. Ähnlich wie die Junkies waren die meisten von ihnen keine schlechten Menschen, sondern wurden von einer Droge beherrscht, die ihr Leben aufzehrte. Ich habe im Laufe der Jahre auch viele Raucher getroffen, die meisten ebenfalls mit besten Absichten, die immer dachten, sie könnten eines Tages einfach nein sagen, und dann entdeckten, wie unglaublich schwer das war.

Bei all diesen Süchtigen ist mir aufgefallen, daß die Versorgung mit der jeweiligen Droge zur wichtigsten Sache in ihrem Leben geworden war. Es war der Mittelpunkt ihres Daseins. Wenn sie morgens aufwachten, galt ihr erster Gedanke dem Tagesbedarf ihrer jeweiligen [153]Droge. Der Tag war durchtränkt von dieser Droge, und sie gingen mit ihrer Droge schlafen.

Außerdem kann man feststellen, daß Drogensüchtige auch Dinge, die ihnen eigentlich wichtig sind, ihrer Sucht opfern. Vielleicht haben sie große Pläne im Hinblick auf Karriere, Ausbildung oder Partnerschaft, aber irgendwie wird alles dem Genuß der Droge untergeordnet. Selbst wenn die Droge schon längst nicht mehr »high« macht, sondern nur noch die schmerzhaften Entzugserscheinungen verhindert, sind die Betroffenen jeden Tag über viele Stunden mit ihr beschäftigt.

Es ist keineswegs klar, ob das aus der Sicht der Herrschenden in unserer Kultur historisch negativ bewertet wurde – es gibt sogar durchaus Hinweise, daß die Regierenden in jüngeren Kulturen es für wünschenswert hielten, wenn die Leute süchtig wurden.

Denken Sie beispielsweise daran, daß die amerikanische Regierung weiterhin Subventionen (ein netter Euphemismus für Geschenke oder Zuwendungen aus Steuergeldern) in Milliardenhöhe an Tabakproduzenten zahlt. In etwas fernerer Vergangenheit, dreißig Jahre nachdem sie den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg verloren hatten, führten die Briten einen Krieg mit China um ihr »Recht«, weiterhin Opium an die mehr als zwölf Millionen Menschen verkaufen zu können, die sie in China süchtig gemacht hatten. Sie gewannen den Krieg, annektierten Hongkong als Teil ihrer Beute, und das Empire verdiente Milliarden am Opiumhandel und an den Opiumsteuern. Viele Historiker glauben, daß die Briten den Opiumkrieg vor allem deshalb gewonnen haben, weil so viele Mitglieder der chinesischen Kaiserfamilie und der Bürokratie selbst opiumsüchtig waren. Das verringerte ihre Effizienz als militärische Gegner und schmälerte auch die Begeisterung dafür, die Briten – und ihr Opium – zu vertreiben.

In auf Herrschaft ausgerichteten jüngeren Kulturen besteht das oberste Ziel der Kultur als solcher, an dem Regierungen und Kirchen ihr Handeln ausrichten, darin, die Bürger zur Anpassung zu [154]bewegen. Wir haben bereits festgestellt, was mit Menschen geschieht, die sich nicht »anpassen« wollen: Sie werden ausgelöscht. Dieses Schicksal haben viele Naturvölker erlitten; das Ergebnis ist, daß die Überlebenden in eroberten Ländern zur Fügsamkeit tendieren. (Wenn das für Sie so klingt, als würden die Eroberer die Besiegten wie Tiere behandeln, die gezähmt werden müssen, dann haben Sie genau verstanden, was ich ausdrücken wollte.) Wie jeder Heroindealer, Zigarettenverkäufer und Spirituosenhändler weiß, machen Menschen, die für ihr Wohlbefinden auf ihre tägliche Dosis des jeweiligen Suchtmittels angewiesen sind, wenig Ärger. (Sie machen vielleicht anderen Leuten Schwierigkeiten, aber ihre Händler lassen sie gewöhnlich in Ruhe.)

Auf ähnliche Weise hat auch unsere technologische Kultur eine technologische Droge gefunden, mit der sie die Menschen fügsam macht. Ein Maßstab für das Suchtpotential einer Droge ist der Prozentsatz von Menschen, die jederzeit frei entscheiden können, ob sie sie nehmen wollen oder nicht. Diese Leute nennt man in Amerika »Chippies«, gelegentliche Drogennutzer, die aber auch ohne Probleme oder Entzugssymptome monate- oder jahrelang darauf verzichten können. Untersuchungen, über die Science News berichtet hat, sind zu dem Ergebnis gekommen, daß ziemlich viele Leute jederzeit vorübergehend auf Marihuana verzichten können, ein mittlerer Prozentsatz auf Alkohol, Kokain und sogar Heroin, aber nur sehr wenige (weniger als fünf Prozent) auf Tabak. Nun stellen Sie sich eine »Droge« vor, auf die nicht einmal fünf Prozent der Amerikaner einen Monat lang verzichten können, ohne sich dabei unwohl zu fühlen. Definitionsgemäß hätte eine solche Droge das höchste Suchtpotential, das es überhaupt geben kann.

Abgesehen davon, daß sie die Leute vom vorübergehenden Verzicht abhält, hätte diese Droge auch noch einen stabilisierenden Einfluß auf die Stimmungslage. Sie würde die Menschen in einen solchen Geisteszustand versetzen, daß sie die Langeweile, den Schmerz und die Eintönigkeit des täglichen Lebens hinter sich lassen [155]könnten. Sie würde ihre Gehirnwellen und ihre Neurochemie verändern und ihnen ständig versichern, daß ihre Abhängigkeit keine Sucht, sondern lediglich eine Vorliebe ist. Wie ein Alkoholiker, der behauptet, nur in Gesellschaft zu trinken, würden diese Drogenabhängigen öffentlich erklären, sie könnten auch ohne ihr Suchtmittel auskommen. In Wirklichkeit würden sie aber nicht einmal daran denken, über Tage, Wochen oder sogar Jahre darauf zu verzichten.

Eine solche »Droge« gibt es bereits.

Sie wirkt stärker sedierend als Opium, bestimmt unser Verhalten und unsere Erwartungen weit effektiver als Alkohol und wird täglich länger konsumiert als Tabak: Die eindringlichste und heimtückischste Droge unserer Kultur ist das Fernsehen.

Viele Drogen sind letztendlich das konzentrierte Destillat einer natürlichen Substanz: Penizillin wird aus Schimmelpilzen gewonnen, Opium aus Mohnpflanzen. Auf ähnliche Weise ist das Fernsehen ein destillierter Extrakt – hochkonzentriert wie die meisten unserer starken Drogen – des »wirklichen« Lebens.

Die Menschen verbringen große Teile ihres Lebens damit, in diese Flimmerkiste zu starren – jeden Tag mehrere Stunden lang. Sie beziehen den größten Teil ihrer Informationen über die Welt aus dieser Kiste, lassen sich von ihr sagen, wie sich die Politiker verhalten und was wirklich ist, obwohl der Inhalt dieser Kiste von ein paar Konzernen kontrolliert wird, deren Mehrzahl auch im Waffengeschäft sowie im Tabak- und Alkoholhandel mitmischt.[37] Amerikanische Bürger stehen morgens mit dieser Droge auf, konsumieren im Laufe des Tages so viel wie möglich davon und gehen abends wieder mit ihr zu Bett. Viele können nicht einmal während der Mahlzeiten darauf verzichten.

[156]

Was die meisten Leute heutzutage in ihrem Leben bereuen, sind nicht die Dinge, die sie getan haben, sondern die Dinge, die sie nicht getan haben, die Ziele, die sie nie erreicht haben, beispielsweise nicht der Partner oder Freund, der Vater oder die Mutter gewesen zu sein, die sie gerne gewesen wären. Aber unsere Kultur hält uns dazu an, (mindestens) mehrere Dutzend Stunden pro Woche vor einer flimmernden Kiste zu sitzen, Hunderte oder Tausende Stunden pro Jahr, und dabei wie aus weiter Ferne zuzuschauen, wie unsere Lebenszeit uns wie Sand durch die Hände rinnt.

Die Krankheit eines »Lebens in der Kiste«

Psychologen sind übereinstimmend der Ansicht, daß es unserer geistigen Gesundheit und unserem Wohlbefinden generell schadet, wenn wir von anderen Menschen getrennt sind. Um uns wohl zu fühlen, brauchen wir die Verbindung zu anderen.

Meine Frau und ich leben mit einer Katze namens Flicker zusammen, einem wunderschönen, sterilisierten, schwarzen Weibchen mit einer dicken grauen Mähne, die sie wie ein kleiner Löwe aussehen läßt. Flicker ist verrückt. Die Leute, von denen wir sie bekommen haben, erzählten uns, Flicker sei davon überzeugt, daß jeder Mensch auf der Welt darauf aus sei, sie zu töten, und inzwischen haben wir selbst festgestellt, daß dies offenbar zutrifft. Sie ist ein »Angsthase« und im klinischen Sinne paranoid.

Gestern traf ich Flicker zufällig in der Diele, als ich durch die Küche ins Wohnzimmer gehen wollte. Sie sah mich mit vor Angst hervorquellenden Augen an, wirbelte herum und rannte auf die Küche zu. Da ich in dieselbe Richtung wollte, ging ich weiter. Nun war sie überzeugt, daß ich hinter ihr her war. In der Küche machte sie eine kurze Pause, aber ich kam näher, weil der Weg ins Wohnzimmer durch die Küche führt. Sie sah sich mit einem panischen Blick um und lief dann auf das Wohnzimmer zu: Ich war immer [157]noch hinter ihr her. Ich versuchte, sie durch sanfte, schnurrende Geräusche zu beruhigen und rief ihren Namen, aber bei dieser paranoiden Katze hilft nichts: Sie wußte, daß ich kam, um ihr weh zu tun. Im Wohnzimmer begegnete ich ihr erneut, was dazu führte, daß sie hoch in die Luft sprang und dann hinausrannte in die zweite Diele, die zur Haustür führt.

Flicker lebt in einer feindseligen Welt voll böswilliger Riesen. In den paar Monaten, seit sie bei uns ist, ist es uns nur hin und wieder gelungen, ihr näher zu kommen, aber sie hat immer diesen verrückten Ausdruck, diese latente Überzeugung, daß sie nur sich selbst trauen kann.

Vor einigen Wochen war ich Gast in einer überregionalen Radiosendung, wo ich über einige Themen sprach, die in diesem Buch behandelt werden, und ein Mann aus Kansas rief im Studio an.

»Wollen Sie etwa sagen«, fragte er, »daß Pflanzen und Tiere auf diesem Planeten ein Recht auf Leben haben?«

»Ja«, antwortete ich, »genau das will ich sagen.«

»Wissen Sie«, fragte er weiter, »daß das die Position der radikalen Umweltschützer ist – der Leute, die um jeden Baum kämpfen?«

»Ja, das habe ich gehört«, gab ich zurück. »Und was ist Ihre Position?«

»Daß wir die Dinge bewerten müssen, nach wissenschaftlichen und ökonomischen Kriterien. Einige Wälder sind schützenswert und andere nicht. Einige Arten sollten erhalten werden, beispielsweise Kühe und Hunde und Rehe, die können gemeinsam mit uns weiterleben, aber andere nicht, und über die sollten wir uns auch keine Gedanken machen.«

»Und wo wollen Sie die Grenze ziehen?« fragte ich. »Woher wissen Sie, welche Art wir erhalten und welche wir auslöschen sollten, um mehr Raum für die Arten zu schaffen, die wir erhalten wollen, oder für mehr Menschen?«

»Wir sollten diejenigen erhalten, die nützlich sind!« erklärte er mit großer Selbstverständlichkeit. »Wer braucht denn um Gottes [158]Willen einen Fleckenkauz oder einen Schlangenhalsvogel. Wir brauchen Jobs, ökonomische Sicherheit, saubere Straßen und sichere Städte. Das sind die wichtigen Dinge.«

Ich versuchte ihm klarzumachen, daß, selbst wenn seine Annahme (daß die Welt nur für die Menschen da sei) richtig wäre, solche massiven Eingriffe wie das Auslöschen Hunderttausender von Arten und die Veränderung der Atmosphärenchemie gleichwohl unerwünschte Folgen haben könnten, die letzten Endes dazu führen würden, daß der Planet auch für unsere »Herrenrasse« ein ungastlicher Platz wäre. Und in der Tat finden sich in diesem Buch und vielen anderen zahlreiche Hinweise darauf, daß genau dies geschieht.

Wenn wir nicht mehr von unserer eigenen Vormachtstellung ausgehen, sondern uns statt dessen dem Weltbild der älteren Kulturen anschließen würden, daß alle Wesen einen Wert und ein geheiligtes Lebensrecht auf diesem Planeten haben, dann wären die Risiken, daß wir unseren Planeten ungewollt vernichten, wesentlich geringer.

Wie Flicker sieht der Mann, der während dieser Radiosendung im Studio anrief, nur eine Welt. Seine Welt ist ein Ort, den strahlende, farbenprächtige und »wirkliche« menschliche Wesen bevölkern, und jedes andere Lebewesen verblaßt dahinter. Jedes »Ding« ist hier, um uns zu dienen, und wir besitzen das Wissen und die Macht über Leben und Tod. Wenn es uns einen Vorteil bringt, die Erde von allem Leben bis auf eine einzige Art von Bäumen, Getreide, Gemüse und Fisch zu »befreien«, dann bitte. Wir haben beschlossen, daß das richtig ist, weil wir die Welt so wahrnehmen und verstehen, wie sie wirklich ist. Und für diejenigen, die sich dagegen sperren, haben wir ein paar Worte verschiedener Götter zum Beweis, überliefert von Menschen, die sich für unfehlbar halten.

Das ist die Logik von Geisteskranken.

So wie Flicker überzeugt ist, daß sie die Welt durchschaut hat und daß mein Weg vom Schlafzimmer zum Wohnzimmer – ganz [159]gleich, welche Motive ich selbst dabei zu haben glaube – der Beweis für die bösen Absichten aller Menschen ist, lebt dieser Anrufer in der Überzeugung, daß alles, was er in der Welt wahrnimmt, nur für ihn da ist. Wenn ich ihm versichere, daß alle Wesen ihr eigenes Recht auf Leben haben, dann beteilige ich mich an einer Verschwörung, die ihn seines Eigentums berauben will. Paranoiker konstruieren sich eine bis ins kleinste Detail wohlorganisierte Welt, in der alles einen Sinn hat und die eigene Wahrnehmung bestätigt. Der Mann dort an der Ecke, der Sie ansieht, ist ein CIA-Spion, der den Auftrag hat, Ihnen einen Sender ins Gehirn zu setzen. Er sieht weg, damit Sie nicht merken, daß er ein Spion ist. Er hat Ihnen nicht deshalb einen flüchtigen Blick zugeworfen, weil Sie ihn angestarrt haben, sondern weil er sich fragt, ob Sie schon herausgefunden haben, daß er für den Sender verantwortlich ist. Er steigt nicht in den Bus, um zur Arbeit zu fahren, sondern um Ihnen zu folgen. Und so weiter und so weiter.

Ganz gleich, welches Weltbild wir haben, wir sammeln immer Hinweise darauf, daß es stimmt. Flicker glaubt, daß die Leute hinter ihr her sind, und findet überall Anzeichen dafür. Wenn Sie nun glauben, daß alles auf der Welt nur existiert, damit Sie es zu Ihrem Vorteil ausbeuten können, dann werden auch Sie überall Anzeichen dafür finden.

Sigmund Freud, der Vater der Psychoanalyse und der Mann, bei dem viele heute nach Definitionen dessen suchen, was geistige »Kranhkeit« oder »Gesundheit« bedeutet, hat diesbezüglich einige Jahre vor seinem Tod verschiedene interessante Beobachtungen gemacht. Er war zu der Überzeugung gelangt, daß das, was unsere Zivilisation als ein »gesundes Ego« bezeichnet, in Wirklichkeit ein »geschrumpfter Rest« dessen ist, was wir früher im Leben waren, als das Ego noch eine »sehr viel umfassendere« und »engere Bindung« an seine Umgebung erfuhr.[38] Viele Psychologen behaupten, [160]eine Folge dieses »Schrumpfungsprozesses« bestehe darin, daß Selbstmord nach Angaben der National Institutes of Mental Health die dritthäufigste Todesursache bei jungen Amerikanern zwischen 15 und 27 Jahren ist.

Dieses Schrumpfen in die Getrenntheit, dieses Zerbrechen der engen Verbindung mit der Welt um uns herum, dieses Aufspalten in isolierte »Kisten« war während der ersten mehr als hunderttausend Jahre der menschlichen Geschichte weitgehend unbekannt. Es ist auch heute noch bei den Stammesgesellschaften in aller Welt fast unbekannt, deren Selbstmordrate, sofern sie wenig Kontakt mit Menschen aus jüngeren Kulturen haben, so niedrig liegt, daß man sie oft kaum messen kann.

Professor Theodore Roszak von der University of California in Hayward hat die Beziehung zwischen Menschen und ihrer natürlichen Umgebung untersucht und verwendet zur Definition dieser Beziehung den Ausdruck Ökopsychologie.[39] Roszak stellt wortgewandt dar, wie der Mangel an physischer, mentaler und spiritueller Verbundenheit bei modernen Menschen für den gesamten Bereich individueller und kollektiver Geisteskrankheiten verantwortlich sein und eine erneute Verbindung mit der Natur für den einzelnen Menschen und die Gesellschaft insgesamt zu einem mächtigen therapeutischen Prozeß werden könnte.

Doch dieser Mangel an Verbundenheit mit der Natur war die zentrale Erfahrung der »zivilisierten« Menschen, seit vor etwa siebentausend Jahren die erste derartige »Zivilisation« entstand. Aristoteles feierte sie in seinen Schriften, in denen er ausführte, das Universum und die Natur seien lediglich Ansammlungen einfacher Teilchen (Atome), die die Menschen manipulieren könnten, wenn sie sie erst einmal verstanden hätten. Descartes verfeinerte die Argumentation durch seine Behauptung, das gesamte Universum sei eine riesige Maschine, und diese maschinenartige Natur [161]finde ihren Widerhall bis hinunter in die kleinsten Teilchen. Wenn wir nur herausfinden könnten, wo die Hebel und Schalter seien, dann könnten wir auch stets einen Weg finden, die Maschine zu kontrollieren. Wir zogen uns aus der natürlichen Welt zurück und schufen in unseren Städten eine künstliche Welt, die sich stark von unserer ursprünglichen Umgebung unterscheidet. Im Laufe der Zeit überzeugten wir uns selbst davon, daß mit dem Rest des Planeten einiges in Ordnung und einiges nicht in Ordnung sei, und machten uns daran, die »äußere« Welt so zu gestalten, daß sie unseren »inneren« Bedürfnissen entsprach.

Wir stellten unseren Planeten in die Mitte des Universums und uns selbst an die Spitze der Hierarchie unserer Welt. Die Religionen und Philosophien unserer jüngeren Kultur proklamierten explizit und implizit, die gesamte Schöpfung sei nur für den Menschen da. Galilei verstieg sich sogar zu der Behauptung, die Welt würde aufhören zu existieren, wenn es keine Menschen mehr gäbe, welche sie beobachteten. Als man schließlich akzeptierte, daß unser Planet nicht der Mittelpunkt der Schöpfung war, änderten wir lediglich unsere Ausdrucksweise, um sie einem im Kern unveränderten Weltbild anzupassen: Heute geht fast jeder »religiöse« Bürger jeder »zivilisierten Gesellschaft« davon aus, daß wir das spirituelle Zentrum des Universums sind.

Auf dem Hintergrund dieser Geschichte und dieser Weltsicht – daß unsere von Menschen erbauten Städte zivilisiert sind, während die Natur wild ist und die Menschen, die dort leben, primitiv und unzivilisiert oder Wilde sind – haben wir eine Psychologie entwickelt, die nur uns selbst und unsere eigene Kultur anerkennt und preist und die jeglichen Kontakt mit der wirklichen materiellen Welt und ihren außerordentlichen Kräften und Mysterien verloren hat.

Als die frühen europäisch-amerikanischen Siedler in die Prärie ausschwärmten und jeden Büffel erschossen, der ihnen begegnete, beobachteten die amerikanischen Ureinwohner schockiert und [162]entsetzt dieses Verhalten, das ihnen wie der sinnlose Amoklauf von Geisteskranken erschien. Wie konnten die Siedler das Leben in den Plains einfach auslöschen? Wie konnten sie das Fleisch von Mutter Erde in Parzellen aufteilen? Wie konnten sie so verrückt sein, jeden Baum in ihrer Nähe zu fällen?

Die Siedler ihrerseits hielten die »Indianer« für verrückt, weil sie nicht so viele Büffel wie möglich töteten. Wie konnten sie zehntausend Jahre lang darauf verzichten, diese wertvolle Quelle vollständig auszubeuten? Sie mußten Wilde sein, unzivilisierte Halbmenschen, die nicht genug Verstand hatten, um die Schätze der Natur im Interesse der menschlichen Rasse richtig zu nutzen.

Eine Zeitlang funktionierte die Sache für die »amerikanischen« Eroberer. Genau wie Gilgamesch die Libanonzedern abholzen konnte, genau wie die Griechen ihre Wälder zerstören konnten, genau wie die Amerikaner zulassen konnten, daß die Hälfte des Mutterbodens von ihrem Land weggeschwemmt wurde, funktionierte die rasche Ausbeutung »dort draußen«, um unsere Bedürfnisse »hier drinnen« zu befriedigen, für mehr als nur ein paar Generationen.

Doch damit ist es jetzt vorbei, wie wir am »Frühwarnsystem« der Dritten Welt erkennen. Wie bei einem Unternehmen, das sein Startkapital verzehrt, hat unser Raubbau an der Umwelt gut funktioniert, bis nichts mehr da war.

In den amerikanischen Stadtzentren, wo die Leute Angst haben, mit unverriegelten Türen oder geöffneten Fenstern Auto zu fahren, auf unseren Farmen, wo Dioxin oder PCB-haltige Abfälle als Dünger über die Pflanzen ausgestreut werden, in unseren Krankenhäusern, wo ein ursprüngliches Abfallprodukt, das bei der Produktion von Kernwaffen anfällt (Yttrium), als experimentelle Therapie zur Behandlung von Krebs (der zu einem großen Teil auf die Luft, die Nahrung und die Medikamente und Drogen unserer Kultur zurückzuführen ist) erprobt wird – dort überall sehen wir, daß die Welt, die wir geschaffen haben, nur für sehr wenige Menschen [163]funktioniert. Es entspricht dem Wesen von hierarchisch aufgebauten Herrschaftssystemen, stets auf diese Weise zu Ende zu gehen.

Andere Kulturen sind älter, weil sie seit Zehntausenden von Jahren überlebt haben. Im Vergleich dazu sind jüngere Kulturen immer noch ein Experiment, und jedesmal wenn es unternommen wurde (Mesopotamien, Rom, Griechenland), endete es trotz aller Größe in einer Selbstzerstörung, während Stammesgesellschaften Jahrtausende überleben.

Jüngere Kulturen basieren auf einer Grundlage, die psychologisch und spirituell krank ist: Freuds »geschrumpfter Rest« der echten und historischen Schönheit des menschlichen Lebens in enger Verbindung mit der Natur. Wir leben zunehmend in der Isolation, in »Kisten« – und wir leiden darunter.

Wie es sich anfühlt, wieder mit der Welt in Berührung zu kommen

Es ist möglich, aus der Kiste herauszusteigen und wieder Kontakt mit der Welt aufzunehmen.

Während der letzten fünfundzwanzig Jahre habe ich an mehreren Kursen über eßbare Wildpflanzen oder Heilpflanzen teilgenommen. Gewöhnlich gehörten dazu ein oder mehrere Ausflüge in Wald und Feld, um die entsprechenden Pflanzen zu suchen. Eine der Kursleiterinnen trug ein kleines Fläschchen mit Maiskörnern bei sich. Sie sagte: »Wenn ich eine Pflanze aus der Erde herausziehe oder ein Blatt abschneide, dann lege ich ein paar Maiskörner auf die Erde, um damit den Pflanzengeistern zu danken und ihnen ein Opfer darzubringen, weil sie uns einen Teil ihrer selbst geben.«

[164]

In seinem Buch Der Ursprung des Bewußtseins[40] stellt Julian Jaynes, Professor für Psychologie an der Columbia University, die These auf, daß die Menschen in prähistorischen Zeiten (vor über sieben- bis zehntausend Jahren) tatsächlich die Stimmen der verschiedenen Götter hörten. Wenn sie in die Natur hinausblickten und beobachteten, dann sahen sie Feen, Kobolde, Geister und andere Wesenheiten.

Das war möglich, so meint Jaynes, weil bei diesen Menschen die beiden Hälften des Gehirns besser miteinander verbunden waren, so daß die für das Hören zuständige Region der linken Hirnhälfte eine direkte Verbindung zu den halluzinatorischen Regionen der rechten Hirnhälfte (Wernicke- und Broca-Zonen) hatte, die bei uns heutigen Menschen normalerweise nur noch aktiv sind, wenn wir träumen oder unter Schizophrenie leiden. Wegen dieser direkten Verbindung nimmt Jaynes an, daß das, was wir heute als Halluzinationen bezeichnen, bei unseren Vorfahren vielleicht eine weitverbreitete Alltagserfahrung war.

Es sei der Aufstieg des mesopotamischen Stadt-Staat-Reiches gewesen, so die These von Jaynes, und die dortige Verwendung der Schrift, die zum Zusammenbruch dieser Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften geführt habe, mit der Folge, daß wir alle – außer ein paar Mystikern oder Schizophrenen – während des normalen Wachbewußtseins keinen Kontakt mehr zu unserer rechten Hirnhälfte haben.

Jaynes Argumente sind überzeugend, besonders dort, wo er sich auf historische Aufzeichnungen und moderne neurologische Forschungsergebnisse bezieht. Wenn seine Sicht der Dinge zutreffend ist, dann müßten wir davon ausgehen, daß Leute, die heutzutage genauso leben, wie es alle Menschen vor zehntausend Jahren taten, sich in einer Welt lebendiger Geister, Energien und Stimmen befinden. Wenn sie nun aus dieser Welt entfernt würden, »zivilisiert« würden, indem sie Lesen und Schreiben lernen, dann würden sie alsbald (innerhalb einer Generation, vielleicht innerhalb der Lebenszeit [165]eines Menschen) den Kontakt zu jener anderen Welt verlieren.[41]

Eine andere Sicht vertritt Terence McKenna in seinem Buch Die Speisen der Götter.[42] McKenna glaubt, daß die Verbindung der beiden Gehirnhälften in alten wie in modernen Kulturen durch die Einnahme bestimmter Pflanzensubstanzen herbeigeführt wird. Halluzinogene Pflanzen, so McKenna, werden in zahlreichen Kulturen benutzt, um die Pforten zur Welt der Götter zu öffnen. Er stellt sogar die These auf, daß die Strenge, der Schmerz und die Sterilität des modernen Lebens weitgehend darauf zurückzuführen sind, daß wir den Zugang zu diesen Welten verloren haben, weil diese Substanzen, die einst überall wuchsen, wo Menschen lebten, heute stark reglementiert und kontrolliert werden. McKenna geht davon aus, daß diese Pflanzen als eine Art Katalysator bei der Geburt des menschlichen Bewußtseins in frühen Primaten wirkten. Dies wiederum beschleunigte die Entwicklung des denkenden und mystischen Gehirns/Geistes und gab der menschlichen Rasse die geistige Kraft, die Pflanzen durch eigene Formen der Kontrolle mystischer Erlebnisse oder Gotteserfahrungen zu ersetzen, im wesentlichen durch die Kraft der Gesetze, die durch organisierte Religionsgemeinschaften gefördert wurden.

Sowohl Jaynes als auch McKenna haben entscheidend zu unserem Verständnis der historischen Entwicklung des Bewußtseins beigetragen. McKenna hat als teilnehmender Beobachter das Leben von Stammesgesellschaften studiert, die heute noch diese [166]Pflanzen verwenden, um mit den Geistern ihrer Welt in Kontakt zu kommen, und Jaynes hat sich intensiv mit den schriftlichen Zeugnissen vergangener Zivilisationen beschäftigt und mit Leuten gesprochen, die erklärten, sie würden die Stimmen ihrer Götter im Inneren ihres Kopfes hören.

Ungeachtet ihrer Technik oder Methode sind sich beide Autoren und auch andere Experten einig, daß alte und »moderne primitive« Menschen über die Fähigkeit verfügen, etwas zu sehen, zu fühlen und zu hören, wozu die Menschen der modernen westlichen Gesellschaft im allgemeinen keinen Zugang haben.

Wenn ein Schoschone auf Nahrungssuche war, horchte er auf das, was das Land ihm erzählte, auf die Stimmen der Pflanzen und Tiere und der Erde selbst. Sie zeigten und sagten ihm, wo er sein tägliches Mahl finden würde, und von ihnen erfuhr er auch, welche Zeremonien geeignet waren, der Welt für dieses Geschenk zu danken.

Betrachten wir im Gegensatz dazu das Leben der europäischen Könige im Mittelalter, dann sehen wir, wie die herrschende Geisteshaltung jener Zeit in ein ironischerweise unbewußtes Pseudo-Informationszeitalter geführt hat, woraus vielleicht unbemerkt das entstanden ist, was die australischen Aborigines als das »große Vergessen« bezeichnen.

 

Unsere Gedanken und unsere Kultur haben uns in die Situation gebracht, in der wir uns heute befinden. Wenn wir das verstehen, haben wir etwas Wichtiges begriffen und finden darin die Kraft zu erkennen, welche Rolle wir selbst dabei spielen können, die Zukunft des Planeten für uns selbst und unsere Kinder neu zu bestimmen.

 

 

[167]

Wie jüngere Kulturen die Dinge sehen

Stellen Sie sich die Erde als ein Lebewesen vor, das von Milliarden Bakterien angegriffen wird, deren Zahl sich alle vierzig Jahre verdoppelt. Entweder der Wirt stirbt, oder sie [die Parasiten] sterben, oder beide sterben.

Gore Vidal

Ich erinnere mich an das Jahr 1960. John F. Kennedy war gerade zum Präsidenten der Vereinigten Staaten gewählt worden und versprach, unsere Nation von der Politik der Ausbeutung und Trennung wegzuführen, die frühere Regierungen institutionalisiert hatten. Kennedy forderte uns auf, die Zukunft unserer Kinder über unsere eigenen Interessen zu stellen, einen dauerhaften Wandel einzuleiten und eine neue Welt aufzubauen, die Bestand haben und dabei ihre wertvollen natürlichen Ressourcen schützen konnte.

Nach Angaben des U.S. Census Bureau lebten 1960 auf der Erde 3 038 930 391 Menschen. Im selben Jahr wuchs die Weltbevölkerung um 40 622 370 Menschen, von denen jeder täglich drei Mahlzeiten, eine angemessene Menge Trinkwasser und Waschwasser und einen Platz zum Leben brauchte. Während die Regierungen der Welt sich noch bemühten, die Bedürfnisse jener über 40 Millionen neuer Erdenbürger zu erfüllen, überstieg 1961 weltweit die Geburtenrate die Sterbefälle um weitere 56 007 855 Menschen. Und während wir uns noch bemühten, Platz für sie zu finden, wuchs die Weltbevölkerung 1962 um weitere 69 393 370 Menschen an. Im Jahre 1963 schließlich konkurrierten zusätzliche 70 987 231 Menschen um Nahrung, Wasser, Obdach und Wärme auf diesem Planeten.

[168]

In den drei Jahren, die von der Vereidigung Kennedys bis zu seinem gewaltsamen Tod im November 1963 vergingen, wuchs die Weltbevölkerung um eine Zahl, die höher war als die gesamte Bevölkerung der Vereinigten Staaten.

Diese explosionsartige Vermehrung hat dazu geführt, daß bald jeder bewohnbare Fleck auf dieser durch den Raum treibenden kleinen blauen Kugel mit menschlichem Fleisch gefüllt war.

Es ist leicht, von der »guten alten Zeit« zu schwärmen: Fast jede Generation hat das getan, seit die Geschichte aufgezeichnet wird. Tatsache ist jedoch, daß man 1960 zu fast jedem Ort auf diesem Planeten reisen und sich dabei ziemlich sicher fühlen konnte. Man konnte per Anhalter durch Nord-, Mittel- und Südamerika fahren (was viele taten) und dabei überleben, und Hungersnöte waren lokal begrenzt und traten nur ausnahmsweise auf.

Heute gilt das alles nicht mehr. Und heute leben ungefähr doppelt so viele Menschen auf der Erde wie 1960.

Nun, wenn Sie sich das vorstellen können, sind wir dabei, diese Entwicklung zu wiederholen. In weiteren dreißig Jahren werden wir zusätzlich zu unserer jetzigen Weltbevölkerung noch einmal so viele Menschen auf diesem Planeten haben, wie die gesamte Weltbevölkerung von 1960.

Und während Nahrung, Wasser, Obdach und Platz immer knapper werden, wächst die Verzweiflung derjenigen, die darum kämpfen, ihren Anteil daran zu sichern und zu schützen. Die Kämpfe werden gewalttätiger und tödlicher.

Das heutige Weltbild »jüngerer Kulturen«

Unsere Kultur ist jung: Nachdem die Menschheit mehrere hunderttausend Jahre überlebt hat, repräsentiert unsere Kultur nun eine Idee, eine Geschichte, die erst vor etwa siebentausend Jahren aufkam. Die Idee ist im Laufe dieser Jahre erstarrt, zu verschiedenen [169]Werten geronnen und schließlich zu dem geworden, was wir als unsere Kultur bezeichnen. Unsere Kultur ist der Ausdruck unserer kollektiven Vorstellungen davon, wie die Dinge waren, sind und sein werden. Sie ist unsere kollektive Geschichte darüber, wie die Verhältnisse wurden, wie sie sind, und wie die Entwicklung weitergehen oder enden wird.

Das moderne Bewußtsein setzt sich aus sehr spezifischen Mythen, Überzeugungen und Paradigmen (die ich als Geschichten bezeichne) zusammen, und es sind diese Geschichten, die uns zu Überfluß und Wohlstand verholfen haben, obwohl sie paradoxerweise den Untergang unserer Kultur beschleunigen. Man kann sie folgendermaßen zusammenfassen:

Jüngere Kulturen sehen sich selbst als Herrscher und Eroberer. Sie leben nicht nur in ihrem eigenen Land, ernähren sich davon und verteidigen sich gegen Angreifer; vielmehr suchen sie sich Feinde (Tiere oder Menschen), die sie gefangennehmen, versklaven oder auslöschen. Mit ihren landwirtschaftlichen Methoden versuchen sie, so viel wie möglich aus der Erde herauszupressen, selbst wenn der Boden anschließend tot ist. Sie enthalten sich gegenseitig Dinge vor, und sie haben Polizeikräfte und Armeen, die den Reichen helfen, ihren Reichtum zu sichern.

Diese Ideen spiegeln sich in den Schriften der Begründer und maßgeblichen Denker unserer Kultur. Aristoteles bestimmte die klassische griechische Sichtweise in seinem Essay unter dem Titel »Politik«: »Pflanzen existieren zum Wohl der Tiere und Tiere zum Wohl des Menschen – Haustiere als Nutzvieh und Nahrung und wilde Tiere (die meisten jedenfalls) als Nahrung oder Rohstoff für andere Gegenstände wie Werkzeuge und Kleidung.«

Die römische Perspektive wurde von Cicero gut zusammengefaßt, der schrieb: »Wir sind die absoluten Herren dessen, was die Erde hervorbringt. Die Berge und die Ebenen sollen uns erfreuen. Die Flüsse sind unser Eigentum. Wir säen die Samen und pflanzen die Bäume. Wir düngen den Boden. Wir stauen die Flüsse und lenken sie in beliebige Richtungen; kurzum: Mit unseren eigenen Händen und durch unser Handeln in dieser Welt gestalten wir sie, als sei sie eine andere Natur.«

Im siebzehnten Jahrhundert erklärte Francis Bacon im Novum Organum ausdrücklich: »Ich bin in Wahrheit gekommen, euch die Natur mit all ihren Kindern als Sklaven zu Diensten zu machen.«

[171]

Im neunzehnten Jahrhundert schrieb Karl Marx, das Ziel des Sozialismus bestehe darin, »ihren (der Menschheit) materiellen Austausch mit der Natur rational zu regulieren und der gesellschaftlichen Kontrolle zu unterstellen.« Engels bezeichnete die Menschen als »die wahren Herren der Natur«.

Anfangs wandten wir diesen Herrschaftsglauben nur auf die Natur an. Statt einfach mit anderen Tieren um unsere Nahrung zu konkurrieren, begannen wir, sie zu beherrschen. Dadurch erlangten wir über die bloße Nahrungskonkurrenz hinaus die Fähigkeit, sie vollständig zu zerstören. Dies taten wir mit jeder Spezies, die mit uns im Wettbewerb um Nahrung stand oder unseren Bestrebungen, Nahrung oder Ackerland zu bekommen, irgendwie hinderlich war. Von Wölfen über Insekten bis zu Unkräutern entwickelten wir immer neue und bessere Verfahren, um unsere Konkurrenten auszulöschen.

Von dieser Sichtweise ausgehend ist es kein besonders großer Sprung, diese Vorstellung auf andere Menschen auszudehnen. Die logische Erweiterung der Idee, daß der Mensch das Recht hat, über die gesamte Schöpfung zu herrschen, ist die Überzeugung, daß einige Menschen »rechtmäßigere Herrscher« sind als andere. Und da wir schon entschieden hatten, daß es nicht nur akzeptabel, sondern gut war, Konkurrenten zu zerstören, entwickelten wir immer bessere Verfahren zur Zerstörung anderer Menschen, die ihren höchsten Ausdruck in den modernen Kriegsmaschinen erreicht haben.

Eine andere Weise, auf die unsere Kultur ihre Weltsicht untermauert, zeigt sich in der Struktur unserer Sprache. Als Dorothy Lee[44] in den fünfziger Jahren beim Stamm der Wintu in Nordkalifornien lebte und ihre Sprache erlernte, entdeckte sie fasziniert, daß diese Menschen kaum Ausdrücke hatten, die Besitzverhältnisse oder Zwänge bezeichneten. Statt von »meiner Schwester« zu [172]sprechen, sagten sie »Ich werde geschwestert von« oder »Ich lebe mit einer Schwester«.

Die meisten jüngeren Kulturen sind völlig anders. Man braucht sich beispielsweise nur die verschiedenen Überzeugungen anzusehen, die es weltweit über die gesellschaftlichen Rollen von Männern und Frauen gibt. In einigen Ländern, besonders wenn sie sich zum Islam bekennen, dürfen die Frauen nicht alleine ausgehen, müssen ihren Körper verhüllen, dürfen nicht wählen oder sich um öffentliche Ämter bewerben oder in irgendeiner Weise außerhalb des eigenen Haushalts Macht ausüben, und sie sind im wesentlichen das Eigentum der Männer. Der Mord an Frauen, die ihren Vätern »ungehorsam« waren, ist in muslimischen und hinduistischen Ländern nicht ungewöhnlich, wie sich im August 1997 zeigte, als Marzouk Ahmed Abdel-Rahin seine fünfundzwanzigjährige Tochter Nora zur Strecke brachte, ihr den Kopf abschlug und diesen Kopf dann zu seinem Dorf in der Nähe von Kairo brachte und den versammelten Dorfbewohnern verkündete: »Nun ist die Ehre der Familie wiederhergestellt.« Ihr Verbrechen: Sie war ausgerissen. Am folgenden Tag zündete ein anderer Mann in einem Dorf, vierzig Meilen nördlich von Kairo, seine neunzehnjährige Tochter vor der versammelten Dorfgemeinschaft an, indem er sie mit Benzin übergoß und dann ein Streichholz auf sie warf. »Nora war kein Einzelfall«, berichtete Associated Press am 19. August und bemerkte, in vielen dieser Fälle gehe es darum, daß die Töchter einen Mann heiraten wollten, der nicht genügend Geld habe, um der Familie eine Mitgift zu zahlen, und daß in diesen Kulturen, wie die ägyptische Schriftstellerin Nawal Saadawi es ausdrückt, »Heirat als ein Geschäft betrachtet wird, bei dem die Frauen die Ware sind – sie werden gekauft und verkauft, wie es den Vätern paßt.«

[173]

Wétiko: Gewinn durch die Vernichtung fremden Lebens

Vor zehntausend Jahren war es eine neue und radikale Idee, daß Menschen die Natur oder einander »besitzen« oder »beherrschen« konnten. Selbst heute finden wir unter den noch existierenden »Steinzeitmenschen« und/oder Stammesgesellschaften, die so leben wie vor fünfzigtausend Jahren, wenig Hinweise darauf. Anfang der neunziger Jahre geriet das Volk der Dani in Indonesien in eine Krise, weil seine Kultur lehrte, daß Menschen kein Land besitzen sollten (und auch sonst fast nichts – sie haben während der letzten zwölftausend Jahre als Stammesgesellschaften gelebt.) Weil die Dani nicht bereit waren, Eigentumsansprüche für das Land geltend zu machen, auf dem sie seit Urzeiten lebten, weil sie ein solches Vorgehen für unmoralisch und falsch hielten, kamen Leute von auswärts, zeichneten Eigentumsurkunden für das Land, »auf das niemand Anspruch erhob«, und begannen, den Regenwald abzuholzen, in dem die Dani lebten.

Etwas ähnliches habe ich 1971 erlebt. Ich verbrachte drei Tage mit mehreren hundert amerikanischen Ureinwohnern von den Oneida, Choctaw, Cherokee, Ho-Chunk, Navajo, Poma, Ojibwe, Otoe, Cree, Lac Couste Oneilles, Mescalero-Apachen, Tohono O'odham und Cheyenne Sioux (unter anderen). Immer wieder sprachen die Menschen davon, man müsse »unsere Mutter«, die Erde, achten, um eine Verbindung mit der Natur zu erleben und die Verbindung mit dem Geist, die durch die Verbindung mit der Natur entsteht. Diese Menschen gehören zu den »älteren Kulturen«, auf die ich später in diesem Buch näher eingehen werde, und sie betrachten selbst heute noch die Erde als heiligen Ort und respektieren das Gesetz der Natur, daß man mit seiner Umgebung in Harmonie leben muß und sie nicht beherrschen und zerstören darf.

So gab es nun nach mehr als hunderttausend Jahren, die die Menschen weitgehend in Harmonie mit der Natur gelebt hatten, [174]diese kulturellen Eruptionen: In einigen Teilen der Welt begannen einige Stämme, über die Natur zu herrschen, ihre natürliche Umgebung neu zu gestalten und große Teile der ehemaligen Wälder in Gras- oder Ackerland zu verwandeln, um auf diese Weise mehr Nahrung für die Menschen zu produzieren.

Dieses Vorgehen der neuen jüngeren Kultur verringerte das Nahrungsangebot für andere Tiere und die Zahl der lebenden Arten, weil wir die nicht »eßbaren« Pflanzen (überwiegend Bäume, mit denen auch die damit verbundenen artenreichen Ökosysteme ausgelöscht wurden) durch Monokulturen ersetzten, in denen nur Pflanzen gediehen, die für Menschen eßbar waren oder deren Nutzvieh als Nahrung dienten, doch es erhöhte das Nahrungsangebot für Menschen.

Dieses erhöhte Nahrungsangebot führte dazu, daß sich die Weltbevölkerung in der Zeit zwischen Christi Geburt und dem Jahr 1000 von 250 auf 500 Millionen Menschen verdoppelte – die erste halbe Milliarde Menschen. Wir brauchten also mehr als hunderttausend Jahre, um schließlich etwa im Jahr 1000 die erste halbe Milliarde Menschen zu erreichen. Zu diesem Zeitpunkt waren wir bereits dabei, andere Arten rasch zu zerstören, um auf ihrem Gebiet Farmen und Ackerland einzurichten, die uns mit mehr Nahrung versorgen sollten. Die Erdgeschichte zeigt, daß wir in den 200 000 Jahren unserer Existenz als Menschen von einem Kontinent zum nächsten gezogen sind, und daß unsere Vorfahren dabei die riesigen langhaarigen Mammuts, die Tiger mit den Säbelzähnen, Elefanten, Riesenbären und Faultiere, die wilden Vorfahren der Pferde und Kamele, Vögel ohne Flügel, Tapire, nilpferdähnliche Tiere, eine riesige Echsenart, eine elefantengroße Säugetierart und riesige, am Boden lebende Faultiere ausgelöscht haben. Die Theorie, welche diesen Vorgang erklärt, wird als Pleistozän-Overkill-Hypothese bezeichnet und gilt unter Wissenschaftlern als weitgehend unumstritten.

Die Feststellung, daß wir »selbstverständlich« dazu bestimmt [175]sind, über möglichst alles zu herrschen, hat weitreichende Folgen. Diese »Geschichte darüber, wie die Dinge sind«, hat buchstäblich die Welt verändert, und zwar oft auf brutale Weise.

Sie war die Grundlage jener Philosophie, mit der die Briten ihre imperiale Eroberungspolitik rechtfertigten. Sie war die Basis des »Manifest Destiny«, in dem der amerikanische Kongreß festlegte, es sei unsere göttliche Bestimmung, über den ganzen Kontinent zu herrschen; und so töteten wir jeden, der uns in die Quere kam, was zum Mord an mehreren zehn Millionen amerikanischer Ureinwohner führte.

Aber so haben sich nicht nur die Amerikaner verhalten; dasselbe ist mit den Ureinwohnern überall auf der Welt geschehen. Sklaverei, Apartheid und die ganze Idee des Sozialdarwinismus dienten dazu, das fortgesetzte Leiden zahlloser Menschen zu rechtfertigen.

»Es gibt Herrscher, und es gibt jene, die beherrscht werden«, stellten wir fest. Wir glaubten, das sei ein Naturgesetz. So mußten die Dinge von Anfang an gewesen sein, und folglich sorgten wir lediglich dafür, daß die Dinge so waren, wie sie sein sollten. Wenn wir es nicht taten, würde es jemand anders tun.

Unsere Geschichten werden zu unserer Wirklichkeit. Weil die Geschichten selbstzerstörerisch sind, was ungesund ist, darf man sie, glaube ich, auch als »krank« bezeichnen.

Und es sind solche kranken Überzeugungen, die dazu beigetragen haben, die Welt zu schaffen, in der wir heute leben.

Dr. Jack Forbes, Professor für Native American Studies an der University of California in Davis und Autor des brillanten Buches Kolumbus und andere Kannibalen[45], benutzt den indianischen Ausdruck Wétiko, um diese Sammlung kranker Überzeugungen zu beschreiben. Wétiko bedeutet wörtlich »Kannibale«, und Forbes benutzt den Ausdruck mit Absicht, um die europäischen Kulturstandards zu [176]beschreiben: Wir »essen« andere Menschen, indem wir sie zerstören, ihr Land zerstören und ihre Lebenskraft dadurch verzehren, daß wir sie entweder körperlich oder ökonomisch versklaven. Die Geschichte von Kolumbus und den Taino ist dafür nur ein Beispiel.

Die Grundlagen unserer Kultur

Wir leben in einer Kultur, die folgendes Prinzip beinhaltet: Wenn jemand etwas hat, das wir brauchen, und es uns nicht geben will, und wenn wir die Möglichkeit haben, ihn zu töten, um es zu bekommen, dann spricht nichts dagegen, dies zu tun und dabei die erforderliche Gewalt anzuwenden. In einigen Fällen ist es sogar unsere Pflicht, so zu handeln.

Der Ausdruck »Pflicht« mag vielleicht übertrieben wirken, aber er wurde oft von der amerikanischen Regierung beschworen, wenn es in den ersten Jahrhunderten der Geschichte unseres Landes darum ging, Pioniere und Soldaten zur Tötung amerikanischer Ureinwohner aufzurufen. Hitler beschwor die Pflicht, um seine Soldaten im Zweiten Weltkrieg zu motivieren, besonders wenn es darum ging, das Land anderer Nationen als »Lebensraum« für das deutsche Volk zu erobern. Julius Caesar berief sich auf die Pflicht, als seine Soldaten die Kelten, Druiden und Pikten (unter anderen) abschlachteten. Pol Pot beschwor die Pflicht, als seine Roten Khmer über zwei Millionen ihrer Landsleute umbrachten. Unter der Präsidentschaft von George Washington waren mehr als 80 Prozent des amerikanischen Haushalts für den »Krieg gegen die Indianer« verplant. Und so geht die Liste immer weiter und weiter: für Gott, Vaterland und Familie; für Mama und das Recht, deinen Apfelkuchen aus ihren Äpfeln zu machen.

Der erste »Indianerkrieg« der Vereinigten Staaten war der »Pequot Krieg von 1636« in New England, in dem die Siedler das größte der Pequot-Dörfer umzingelten, es bei Sonnenaufgang anzündeten [177]und dann ihre Pflicht erfüllten: Sie erschossen jeden – Männer, Frauen, Kinder und Alte –, der zu entkommen versuchte. Der Pilger und Siedler William Bradford beschrieb die Szene so: »Es war ein furchtbarer Anblick, sie auf diese Weise im Feuer braten zu sehen, während gleichzeitig das Blut in Strömen floß, und der Gestank war entsetzlich. Doch der Sieg schien ein süßer Lohn, und sie [die Siedler] priesen Gott, der so wunderbar mit ihnen gewesen war …«

Die Narragansetts, bis dahin »Freunde« der Siedler, waren von diesem Beispiel europäischer Kriegsführung so schockiert, daß sie sich weiteren Bündnissen mit den Weißen verweigerten. Captain John Underhill machte die Narragansetts lächerlich, weil sie nicht bereit waren, sich am Völkermord zu beteiligen, und sagte, die Kriege der Narragansetts mit anderen Stämmen hätten »mehr dem Zeitvertreib gedient als der Unterwerfung von Feinden«.

Darin hatte Underhill recht: Die Kriegsführung der Narragansetts wie der meisten Stämme alter Kulturen und nahezu aller amerikanischen Ureinwohner verfolgte nicht das Ziel, den Gegner auszulöschen. Schließlich brauchte man die Nachbarn, um mit ihnen Handel zu treiben, um durch Heirat mit ihnen für einen starken Gen-Pool zu sorgen und die kulturelle Vielfalt zu sichern. Die meisten Stämme hätten das Land der anderen nicht einmal gewollt, denn sie hätten Bedenken gehabt, die heiligen oder von Geistern erfüllten Gebiete anderer Stämme zu verletzen oder zu betreten. Oft genug gehört nicht einmal das Töten der »Feinde« zu den Zielen der »Stammeskriege«: Statt dessen kämpft man meist um einen vorher festgelegten »Sieg« wie beispielsweise das Erobern eines Stabes, das Übertreten einer bestimmten Linie oder die erste Verwundung oder Niederlage eines Gegners.

Die europäische Art der Kriegsführung, die einem Völkermord gleicht, hat eine relativ kurze Geschichte, die nur bis in die Tage von Gilgamesch zurückreicht. Sie wurde von Hitler gegen die nichtarischen Bürger Europas eingesetzt, von Pol Pot gegen die Kambodschaner, von Kolumbus gegen die jetzt ausgerotteten Stämme [178]der Taino und Arawalk auf Hispaniola sowie von den gut bewaffneten englischen, französischen, portugiesischen, belgischen, holländischen und spanischen Invasoren gegen die eingeborenen Völker Amerikas. Sie wurde von den Hutus gegen die Tutsi in Ruanda eingesetzt und von den Tutsi gegen die Hutus in Zaire, als es der Kongo wurde. (Während diese Kämpfe tobten, töteten beide Seiten fast alle der rund dreitausend noch existierenden Pygmäen, die letzte Stammesgesellschaft von Jägern und Sammlern im Osten Zentralafrikas, die damals in den Regenwäldern von Zaire und Ruanda lebten.) Es gibt Berichte darüber in der Bibel (siehe Buch Josua) und in der Geschichte fast aller Zivilisationen, die ihre Wurzeln in den ersten Stadtstaaten des Mittleren Ostens hatten, mit ihnen in Berührung kamen oder von ihnen erobert wurden.

Diese Art der Kriegsführung wird täglich von Farmern und Ranchern weltweit gegen Wölfe, Kojoten, Insekten, Tiere und Bäume des Regenwaldes sowie gegen einheimische Stämme eingesetzt, die im Dschungel und im Regenwald leben.

Das ist unser Lebensstil. Er entspringt unseren grundlegenden kulturellen Vorstellungen.

Folglich sollte es uns nicht überraschen, daß mit der Verdoppelung der Weltbevölkerung in den letzten 37 Jahren Gewalt und Brutalität explodiert sind. Das entspricht unserer Art.

Sogar heute noch beraubt die amerikanische Regierung Dutzende von Stämmen ihres Landes, um deren Rechte an den Bodenschätzen auf Körperschaften des öffentlichen Rechts zu übertragen. Fast überall auf der Welt werden die Ureinwohner auf ähnliche Weise brutal und gnadenlos enteignet.[46]

Aber warum?

Hier sind einige Geschichten unserer Kultur, die beschreiben, »wie die Dinge so wurden, wie sie sind.«

[179]

1. »Die Frauen sind schuld.«

Eine alte Geschichte, die uns von den Männern überliefert wurde, die dazu beigetragen haben, die frühen Grundlagen unserer modernen Kultur zu schaffen, besagt, das sei alles die Schuld der Frauen.

In einer Geschichte heißt es, die erste Frau, Eva, sei dumm und unredlich gewesen, auf eine Schlange hereingefallen, und dafür werde jede Frau nach ihr von Gott bestraft. Von einer anderen ersten Frau, Pandora, erzählt man, sie habe ihre Neugier nicht beherrschen können. Da die Frauen die Ursache all unserer Probleme sind, scheint es durchaus sinnvoll – es ist unsere religiöse Pflicht –, sie anders als Männer zu behandeln, zu bestrafen und zu unterdrücken. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, wurden die Namen von Frauen aus unseren modernen religiösen Texten getilgt; nur die Namen von Männern sind es wert, unsere Abstammung zu dokumentieren.

2. »Der Schöpfer hat uns alle böse geschaffen.«

Eine andere Geschichte besagt, daß wir alle böse oder dumm geboren sind (eine Vorstellung, die es nur in jüngeren Kulturen gibt). Durch Evas »Ursünde« befindet sich jeder Mensch – Mann oder Frau –, der von einer Frau geboren wird, im Zustand der Erbsünde und ist von Natur aus schlecht.

Dies ist eine Geschichte, die für viele Kulturen, die mit christlichen Missionaren in Kontakt kamen, besonders schwer zu verstehen war. Jonathan Edwards schrieb 1822 ein Buch unter dem Titel Memoirs of Rev. David Brainerd: Missionary to the Indians, aus dem Jack Forbes in seinem Werk Kolumbus und andere Kannibalen zitiert. Bei Edwards erklärt Brainerd wörtlich:

»Es ist nahezu unmöglich, [den Indianern] die rationale Überzeugung zu vermitteln, daß sie alle von Natur aus Sünder sind und daß ihre Herzen korrupt und sündig sind … um ihnen zu zeigen, daß sie [180]alle moralisch verdorben und sündig sind, sage ich ihnen, dies könnte so sein, ohne daß sie es [bemerken, weil] sie geistig blind sind; und es gibt keinen Beweis dafür, daß sie nicht sündig sind …«

Wie viele ältere Kulturen betrachteten auch die amerikanischen Ureinwohner die Vorstellung von der Erbsünde mit Befremden. Viele waren genauso konsterniert darüber, daß die Europäer sich ihren Gott voller Haß und Rachsucht vorstellten und meinten, es bereite ihm Vergnügen, die Menschen in Versuchung zu führen und sie dann für ihr Versagen zu strafen.

3. »Der Schöpfer ist ein vergeßlicher Buchhalter.«

Genauso hielten viele amerikanische Ureinwohner es für reichlich seltsam, daß unsere religiösen Führer behaupteten, wenn jemand ein von einem Priester vorgeschriebenes Ritual vollziehe, dann »vergesse« Gott, daß der Betreffende einen Mord, Diebstahl oder eine Vergewaltigung begangen habe. Würde das nicht schlechtes Verhalten begünstigen? fragten sie. Die ganze Vorstellung eines Gottes, dessen hauptsächliche Funktion die eines Buchhalters war, aber eines vergeßlichen (wenn die richtigen Rituale vollzogen oder Worte gesprochen wurden), war ihnen unverständlich.

Aber einige Leute fanden, die Idee, daß jeder Mensch sündig geboren wird, und daß es in unserer Natur liegt, zu lügen, zu betrügen, zu stehlen, auszubeuten und andere zu verletzen, sei eine nützliche Rationalisierung ihres Verhaltens und könne andere Menschen dazu bringen, ihre Weltsicht zu übernehmen.

Und wir haben noch weitere Fluchtwege: Man kann sein Leben lang das Schicksal herausfordern und am Ende Buße tun, sich mit einer großzügigen Spende für die Armen freikaufen oder vor seinem Tod eine bestimmte Abfolge von Worten sagen, und dann hat man garantiert in alle Ewigkeit einen Platz im Paradies.

Aber funktioniert diese Weltsicht wirklich?

[181]

Wohin es führt, wenn wir denken, daß »alle anderen auch schlecht sind«

Für die spirituellen und moralischen Glücksspieler unter uns ist diese Geschichte ein Freibrief, alles zu stehlen, wonach ihnen der Sinn steht.

Denken wir nur an die in den USA erzeugten Nahrungsmittel. Pflanzen ziehen ihre Nährstoffe aus der Erde, und wenn die Erde nicht genügend Zink oder Kalzium enthält, werden diese Stoffe auch den Pflanzen fehlen und genauso den Menschen oder Tieren, die sich von diesen Pflanzen ernähren. Nach dem Reaktorunfall in Tschernobyl stellten die europäischen Länder, über die der Wind die radioaktive Wolke getrieben hatte, fest, daß ihr Boden mit radioaktivem Cäsium verseucht war, und das Gemüse, Obst und Getreide, das auf diesem Boden wächst, wird noch Jahre nach der Ernte den Geigerzähler zum Ausschlagen bringen. Mit anderen Worten: Was in der Erde ist, befindet sich auch in unserer Nahrung.

Denken Sie nun etwa, daß die Düngemittel, mit denen unsere Nahrungspflanzen behandelt werden, rein und sauber sind?

Weit gefehlt.

Früher gab es noch keine Einschränkungen im Hinblick auf die Zusammensetzung des Öls, das auf nicht befestigte Straßen gesprüht wurde, um den Staub am Boden zu halten, oder in den Asphalt für unsere Straßendecken gemischt wurde. Und so ließ sich die Mafia einen cleveren Trick einfallen, über den die »60 Minutes Show« von CBS erstmals berichtete: Unternehmen, bei deren Produktion giftige Abfallstoffe anfallen – Blei, Quecksilber, PCB, Dioxin, flüssige radioaktive Abfälle, die ganze Palette –, wurden von einer »Entsorgungsfirma« angesprochen, die ihnen in Aussicht stellte, ein Vermögen zu sparen, indem sie ihnen die giftigen Abfälle für 200 Dollar statt für 3000 pro Pfund abnahm. Es war ein unglaublich gutes Geschäft für die Umweltverschmutzer, und die Firmen griffen zu, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Die »Entsorgungsunternehmen«, [182]korrekt angemeldet und überwacht, nahmen den Giftmüll und vermischten ihn mit Öl, wodurch die Giftstoffe stark verdünnt wurden … und dann sprühten sie diese Mischung auf die staubigen Feldwege des Staates New York und anderer Staaten an der amerikanischen Ostküste. Sie kippten sie in den Teer, mit dem Straßen asphaltiert wurden. In einigen Fällen streckten sie damit auch Benzin, das sie an Tankstellen verkauften. Die Wahrheit kam ans Licht, als die Mitglieder einiger Familien, die entlang der »staubarmen« Feldwege wohnten, sehr krank wurden, und die landesweite Ausstrahlung im Fernsehen bereitete dem offensichtlichsten Teil der Operation ein Ende.

Das war in den siebziger Jahren. Und wo ist der Giftmüll geblieben?

1997 veranlaßte die Bürgermeisterin einer kleinen Stadt im Staat Washington eine Untersuchung, warum einige Viehherden kränkelten, obwohl sie nur regional erzeugtes Futter fraßen. Das Ergebnis schockierte sie.

In den Vereinigten Staaten gibt es keine Gesetze, die festlegen, daß Dünger keinen Giftmüll und keine radioaktiven Stoffe enthalten darf. So wird beispielsweise eine uranverarbeitende Anlage in Gore, Oklahoma, ihre schwach radioaktiven Abfälle jetzt dadurch los, daß man sie als »Dünger« bezeichnet (sie enthalten einige Nährstoffe, die gut für Pflanzen sind) und auf Wiesen ausbringt. In Moxee City, Washington, nimmt die Bay Zinc Company giftige Abfälle von Stahlwerken an und verkauft sie als Dünger an Farmer aus der Umgebung. Und in Camas, Washington, werden die mit Blei verseuchten Abfälle einer Zellstoff-Fabrik von Farmern auf die Felder ausgebracht. Und das ist nur die oberste Spitze des Eisbergs.

Die Bundesregierung reagierte in zweifacher Hinsicht auf die Entrüstung der Bürgermeisterin. Als erstes wurde unter Bezug auf die einige Jahre zurückligende »Pestizid-Äpfel-Affäre« auf Druck der Pestizid-Lobby in (bisher) 13 Bundesstaaten ein Gesetz erlassen, das die Veröffentlichung von Nachrichten, die dazu führen könnten, [183]daß sich die Leute Sorgen über die Sicherheit ihrer Nahrungsmittel machen, zur kriminellen Handlung erklärt.[47] Dadurch kam nicht einmal die Geschichte über die giftigen Düngemittel in alle Zeitungen. Zweitens, so stellte die Seattle Times fest, fördern die Regierungsbeamten die Praxis des Wiederverkaufs von Giftmüll als Dünger, weil »die Industrie dadurch Geld spart« und die kostenintensiven Sondermülldeponien nicht so schnell voll werden.

Da fragt man sich: Auf welcher Seite steht nun die Regierung? Als Duff Wilson von der Seattle Times wissen wollte, warum die Regierung es zuläßt, daß Giftmüll mit Dünger vermischt auf die Felder im ganzen Land ausgebracht wird, erklärte ihm Rufus Chaney vom US-Landwirtschaftsministerium: »Es ist unverantwortlich, unnötige Einschränkungen zu verordnen, die jede Menge Geld kosten.«

Auf ähnliche Weise hat das amerikanische Energieministerium (ein euphemistischer Name für eine Behörde, welche die Produktion von Atombomben und Sprengköpfen überwacht), wie der Sprecher der Deponie für radioaktiven Müll in Hanford, Washington, erklärte, eine neue Verwendungsmöglichkeit für radioaktive Abfälle entdeckt. »Hier lagern wahrscheinlich die größten Mengen von Strontium 90 in den Vereinigten Staaten«, erläuterte er in einem Artikel, den Science News am 19. Juli 1997 veröffentlichte. »Unser Yttrium [90] ist das reinste. Die Technik, mit der wir es aus dem Strontium 90 gewinnen, steht unter Patentschutz …« Im selben Artikel wurde ausgeführt, daß Yttrium 90, eines der am weitesten verbreiteten Abfallprodukte aus der Kernwaffenherstellung, jetzt in der Nuklearmedizin als neuer Wirkstoff zur Behandlung von Tumoren getestet wird.

Natürlich gibt es ein paar Probleme, wenn man nukleare Abfallstoffe in der Medizin einsetzt. An der Emory University wiesen Forscher darauf hin, daß bei der Arbeit mit dem Isotop Iridium 192 [184]»die Strahlung so durchdringend ist, daß man sich vom Bett entfernen muß …« Gleichwohl hegt die Regierung große Hoffnungen, daß ihre radioaktiven Abfälle aus der Kernwaffenproduktion wiederverwertet werden können, indem man sie Menschen spritzt, die durch den Verzehr von Nahrungsmitteln, welche mit anderen Giftstoffen belastet sind, Krebs bekommen haben.

Wie traurig ist es, daß wir angesichts solcher Situationen schockiert, aber nicht überrascht sind.

Bei sechs Milliarden Menschen auf der Erde, die um knappe Ressourcen konkurrieren, ist die Feststellung: »Jeder tut es, jeder ist ein Sünder, wenn wir es nicht tun, dann eben jemand anders, und immerhin ist es doch legal«, weit verbreitet. Solche Aussagen versteht man als nachträgliche Rechtfertigung für ein Verhalten, mit dem wir unser Überleben sichern wollen. Zur Hölle mit unseren Kindern und ihrer Welt: Nimm dir, was du jetzt bekommen kannst! Entspricht das nicht letztlich unserer Kultur? Von Caesar, der die Kelten ausplünderte, über Pizarro, der die Inkas beraubte, Kolumbus, der die Taino versklavte, bis zu den Mitarbeitern der Tabakindustrie, die Kinder in der Dritten Welt zu Süchtigen machen, entspricht alles derselben Wétiko-Mentalität: Nutze das Leben eines anderen Menschen für deine eigenen Zwecke.

Hervorgegangen aus einer kranken Geisteshaltung, die uns gierig macht, kulturell ansteckend und extrem tödlich ist und von jenen gerechtfertigt wird, die Religion und Kultur verdrehen, um ihre eigene Herrschaft, ihre Eroberungen und ihren Diebstahl moralisch salonfähig zu machen (ganz gleich, um welche Religion, welches Land und welche Kultur es sich handelt): Diese Einstellung ist es, die unsere Erde und ihre Bewohner tötet.

Es ist nicht die Menschheit als solche, die der Erde den Tod bringt. Es sind die Konsequenzen der Geschichten einer bestimmten herrschenden Gruppe von Menschen. Diese Geschichten, die von frühester Kindheit an durch unser Leben geistern, sind die Brille, durch die wir andere Menschen, andere Lebewesen und [185]letztlich die gesamte Schöpfung mit allem, was dazugehört, betrachten, und zusammengenommen sind sie das, was wir als unsere Kultur bezeichnen.

Die Geschichte der Gegenwart:
Wir sind alle voneinander getrennt

Die Tatsachen, daß unser Öl zur Neige geht, daß wir nach Angaben des US Bureau of Mines nur noch für weniger als zwanzig Jahre Mineralien wie Eisen, Zink und Mangan haben werden, und daß unseren Kindern eine ökonomisch katastrophale Zukunft droht, sind den Verantwortlichen für den ökologischen Raubbau und den Nutznießern der Ausbeutung »natürlicher Ressourcen« und eingeborener Völker wohlbekannt. Die kulturellen Geschichten, mit denen dieses Verhalten gerechtfertigt wurde, lassen sich im wesentlichen in zwei Gruppen unterteilen:

Beachten Sie, daß diese Geschichten beide davon ausgehen, daß wir nicht mit anderen verbunden sind: Menschen, die solche Geschichten ausleben, fühlen sich getrennt von anderen (die sie entweder als potentielle Opfer oder als Konkurrenten betrachten), von der Natur (die sie als Quelle für ihren persönlichen Reichtum betrachten) oder vom Leben selbst (das für sie lediglich ein Spiel mit Gewinnern und Verlierern darstellt): Auf der einen Seite stehen diejenigen, die reich sind oder in den Himmel kommen, und auf der anderen Seite die Armen und Verlorenen.

James Watt, der zeitweise während der Reagan-Regierung Innenminister war, ist ein Beispiel für die »Ich habe meinen Teil bekommen«-Geschichte. Er verschaffte sich mit großem Eifer Anteile an Minen und Nutzholzvorkommen, um (kostengünstig) an mehr Mineralien und Nutzholz heranzukommen, weil, wie er sagte, Jesus jederzeit auf die Erde zurückkehren könnte und dann alles erneuert werden würde, wie die Offenbarung nahelegt.

[187]

Ganz ähnlich waren auch Präsident Ronald Reagan, Verteidigungsminister Caspar Weinberger und Jerry Falwell führende Vertreter der Einstellung: »Die Welt geht sowieso zugrunde, also nimm dir, was du jetzt noch kriegen kannst.« Jerry Falwell ging mehrfach auf das Thema der Verzückung ein, beispielsweise in der folgenden Ansprache: »Sie fahren in einem Auto. Vielleicht sitzen Sie selbst am Steuer. Sie sind ein Christ. Zusammen mit Ihnen befinden sich noch mehrere Leute im Wagen, vielleicht auch jemand, der kein Christ ist. Wenn dann die Trompeten erklingen, werden Sie und die anderen wiedergeborenen Gläubigen auf der Stelle im Himmel sein: Sie werden verschwinden und nur ihre Kleider und andere materielle Dinge zurücklassen, die kein ewiges Leben erlangen können. Die Menschen, die nicht durch ihren christlichen Glauben errettet werden, stellen verblüfft fest, daß sich der Wagen ohne Fahrer bewegt und plötzlich irgendwo mit einem Hindernis zusammenstößt.«

Im Februar 1990 besuchte Reagan Atlanta, wo ich damals lebte. In einer halbstündigen Ansprache (für die er über 160 000 Dollar kassierte) an Franchise-Nehmer der Days-Inn-Motel-Kette (die Klienten einer Werbeagentur waren, welche ich gegründet hatte) sagte er: »Wir dürfen nicht vergessen, daß die Schlacht von Armageddon den Prophezeiungen entsprechend irgendwo in Israel beginnen wird.« Im Jahre 1983 erklärte Reagan einem Vertreter der Israel-Lobby: »Wissen Sie, ich beschäftige mich wieder mit den Propheten des Alten Testaments und den Zeichen, welche Armageddon vorhersagen, und inzwischen frage ich mich, ob wir die Generation sind, die diese Ereignisse erleben wird. Ich weiß nicht, ob Ihnen in letzter Zeit irgendwelche Anzeichen dafür aufgefallen sind, aber glauben Sie mir, dort werden eindeutig die Zeiten beschrieben, die wir gerade durchmachen.«

Im August 1984 erklärte Reagan als damaliger Gouverneur von Kalifornien dem Abgeordneten James Mills: »Alles fällt auseinander. Es kann jetzt nicht mehr lange dauern … Hesekiel sagt, daß [188]Feuer und Schwefel auf die Feinde Gottes herabregnen werden. Damit muß gemeint sein, daß sie durch Kernwaffen zerstört werden. Die gibt es jetzt, und es gab sie nie zuvor …«

Der andere Mann, der seinen Finger auf dem Startknopf für die amerikanischen Kernwaffen hatte, Verteidigungsminister Caspar Weinberger, war sogar noch präziser, indem er – wie die Zeitung Globe & Mail in Toronto in einem Artikel berichtete – den Hügel von Megiddo in Nordpalästina, ungefähr 15 Meilen südöstlich von Haifa, als den Ort bezeichnete, wo der große Brand beginnen würde, der den Weltuntergang einläuten sollte.

Diese Geschichten, daß »das Ende der Welt bevorsteht«, sind keineswegs außergewöhnlich, vor allem nicht unter den Christen des amerikanischen Weltreichs. Sogar bei Nicht-Christen sind sie recht weit verbreitet: Als der frühere sowjetische Premierminister Chruschtschow (ein überzeugter Atheist) von amerikanischen Reportern gefragt wurde, ob er es für möglich halte, daß Raumschiffe aus anderen Welten die Erde besucht hätten, sagte er, das sei schlicht unmöglich, einfach deshalb, weil jede Kultur, die in der Lage sei, Raumschiffe zu bauen, gleichzeitig technisch so fortgeschrittene Waffen entwickeln könnte, daß sie sich damit selbst zerstören würde.

Mir geht es hier nicht um die Frage, ob die biblische Prophezeiung einer Schlacht auf dem Feld von Armageddon eintreten wird oder nicht: Ich spreche mich weder dafür noch dagegen aus. (Wenn genug Leute davon überzeugt sind, daß sie eintreten wird, dann könnte das betreffende »Feld« – wie Rupert Sheldrake es wohl ausdrücken würde – so stark werden, daß es tatsächlich dazu kommt.) Aber mit oder ohne Armageddon wird unsere unmittelbare Krise – seit über 4000 Jahren – durch Menschen verursacht, die ihr Leben und ihre Geschäfte so führen, als ob Armageddon vor der Tür stehen würde.

Was wir brauchen, sind neue Geschichten.

[189]

Unsere Vorstellung von »primitiven« Menschen

Wenn wir beispielsweise an die Franzosen denken, dann stellen wir uns Leute vor, die ein relativ glückliches Leben führen, und wir haben dabei ganz bestimmte Bilder vor unserem geistigen Auge – Bilder von Weinbergen vielleicht, von schönen Landschaften oder vom Eiffelturm in Paris. Diese Bilder werden möglicherweise ergänzt durch bestimmte Klänge – die Vorstellung von Menschen, die Französisch sprechen und intelligente Unterhaltungen führen. Dazu kommen wahrscheinlich noch Gefühle (Neugier, Vertrautheit, der Reiz des Neuen) sowie geschmackliche Vorstellungen und Gerüche (beispielsweise französische Speisen und Wein).

Aber wenn wir als Angehörige einer westlichen Kultur versuchen, uns primitive Völker wie die Kayapo vorzustellen, dann fehlen dabei meist sinnliche Eindrücke wie Klang, Geschmack und Geruch. Weil wir so wenig über ihre Kultur wissen, oder aufgrund der Geschichten, die wir unser ganzes Leben lang über das schwere Los primitiver Völker gehört haben, stellen wir uns oft Menschen vor, die kränklich sind, halbnackt mit fleckigen Zähnen durch den Dschungel streifen, klein und unterernährt sind und ein verzweifeltes Leben in einer feindlichen Umgebung führen. Wenn wir uns überhaupt vorstellen, daß sie miteinander reden, dann hören wir nur ein sinnloses Kauderwelsch – ganz gewiß führen solche Leute keine intelligenten, bedeutsamen, wichtigen Unterhaltungen –, und sinnliche Eindrücke von Geschmack und Geruch fehlen uns vollständig.

Ähnlich dürftig sind unsere Vorstellungen von den Menschen, die vor dem Beginn unserer Zivilisation gelebt haben. Wenn wir an »Höhlenmenschen« oder »Steinzeitmenschen« denken, dann stellen wir uns die Figuren aus Zeichentrickfilmen vor, seelenlose Wesen, die nicht ganz menschlich sind und ganz sicher keine Sprache, Kultur, Zivilisation, Küche, Religion, Familie, Gemeinde und auch kein Wirtschaftssystem hatten.

[190]

Unsere Vorstellungen sind deshalb so farblos und verzerrt, weil unsere Kultur diese »anderen Leute« nicht als vollkommen menschlich erkennt. Wir bezeichnen die Zeit vor dem Aufstieg des mesopotamischen Reiches vor 7000 Jahren als »Vorgeschichte«, so als hätte sie keine eigene Geschichte. Sie war nicht real. Sie existierte nur als eine Fußnote zum Leben des Planeten, und wenn sie überhaupt einen Sinn hatte, dann war sie lediglich das Bühnenbild für unseren Auftritt.

Aber die Kayapo und Hunderte anderer eingeborener Völker strafen unsere kulturelle und religiöse Mythologie Lügen.

Vor Tausenden von Jahren, wahrscheinlich lange vor dem Aufstieg der sumerischen »Zivilisation«, war die Kultur der Kayapo über weite Teile Brasiliens verbreitet. Jahrtausendealte Skelette zeigen, daß sie – wie die meisten »primitiven« Völker – über eine bessere Gesundheit und eine höhere Lebensqualität verfügten als wir, mit weniger degenerativen Krankheiten, hochgewachsenen und kräftigen Körpern, und ein hohes Alter erreichten. Sie hatten eine komplizierte Sprache, die bis heute überlebt hat, eine alte, mündlich überlieferte Geschichte, Traditionen und Religionen, und sie bevölkerten Brasilien in Tausenden von Siedlungen, in denen jeweils bis zu 4000 Menschen lebten. Diese Städte waren auf hohen Erdwällen errichtet, welche die Bewohner vor jahreszeitlich bedingten Überschwemmungen schützten und zwischen denen Wasserwege verliefen, die für die Bewässerung der Felder ebenso wie für den Handel benutzt wurden. Sie hatten Familien, heirateten und sorgten für ihre Kinder, praktizierten ihre Religion und kannten keine Kriege. (Zwar gab es zwischen den einzelnen Stämmen Konflikte, aber dabei ging es nie darum, eine andere Gruppe von Menschen auszulöschen oder zu zerstören. Der in unserer Kultur seit 7000 Jahren praktizierte Völkermord war ihnen völlig fremd.)

Seit Hunderttausenden von Jahren versorgten sich die Kayapo und ihresgleichen weltweit auf umweltverträgliche Weise mit [191]Nahrung, Obdach und Kleidung, womit sie ihr eigenes Überleben und ihre Lebensqualität ebenso sicherten wie die Zukunft der nächsten Generationen, soweit sie sich diese Zukunft vorstellen konnten.

Dann kam Pizarro. Innerhalb von hundert Jahren waren über 85 Prozent der südamerikanischen Ureinwohner tot, wobei die meisten an Krankheiten starben, welche die Eroberer aus Europa eingeschleppt hatten (Influenza, Masern, Pocken, Pest etc.). Die überlebenden Kayapo flohen tief in die brasilianischen Regenwälder und bearbeiteten dort ihre Felder weitere 400 Jahre lang mit waldschonenden Methoden.

Dann kamen im frühen zwanzigsten Jahrhundert die Holzfäller und die Rancher. Die Hölzer des Regenwalds, vor allem Mahagoni, erzielen in unserer Kultur wegen ihrer Seltenheit und Schönheit einen hohen Preis. Und wenn die Regenwälder abgeholzt sind, kann man auf dem verwundeten Land gute Viehweiden anlegen.

Die Rancher und Holzfäller heuerten Söldner an, um die Kayapo und andere Stämme aus dem Regenwald auszulöschen, und sie zahlten Prämien, wenn jemand ihnen ein Paar Ohren oder einen Skalp brachte – so wie die amerikanische Regierung im neunzehnten Jahrhundert Prämien für die Ohren und Skalps von Indianern zahlte. Diese Praxis wurde erst kürzlich verboten (obwohl viele Rancher und Holzfäller immer noch danach verfahren, sowohl in Brasilien als auch in vielen anderen Ländern der Welt[49]).

Das Verbot wurde vor allem deshalb ausgesprochen, weil man entdeckt hatte, daß sich die Kayapo auf andere Weise ausbeuten ließen.

Die Einführung von Geld bei den Kayapo hatte noch einen unbeabsichtigten Nebeneffekt. Sie wurden dadurch mit den Vorstellungen [192]der jüngeren Kultur infiziert, wie Menschen leben sollten, was dazu führte, daß einige Stämme ihre traditionellen Formen des Ackerbaus aufgaben und sich an der Brandrodung beteiligten, um ihre Ernten später zu verkaufen. Und so haben sie nun – wie zuvor schon andere Ureinwohner – dem »Fortschritt« nachgegeben, und viele von ihnen arbeiten auf den Plantagen der Multis oder in Fabriken; die Ausgebeuteten sind zu Ausbeutern geworden. Die Kayapo-Kultur zerfällt zusehends, und mit ihr geht auch der Regenwald unter.

Das Wachstum unserer Kultur hat Ähnlichkeiten mit Krebs

Als ich kürzlich mit einem Freund über dieses Thema diskutierte, erwähnte er die Gaia-Theorie, die davon ausgeht, daß unser Planet ein lebender Organismus ist und die Menschen nur Zellen eines riesigen Körpers sind.

Viele Leute – besonders diejenigen, die ihr Geschäft mit fossilen Rohstoffen machen – sind noch einen Schritt weitergegangen und haben behauptet, da die Menschen ein Teil der Natur seien, müsse alles, was wir tun, definitionsgemäß »natürlich« sein. Letztendlich sind wir ein Teil der Natur.

Und diese verdrehte Logik ist die moderne Variante des alten Grundprinzips, auf dem das »Manifest Destiny« beruht.

Betrachten wir die Sache als medizinische Metapher: Die Zellen im Körper werden ständig geboren, sie leben und sterben. Millionen von ihnen mutieren jeden Tag auf verschiedenste Weise, verlieren Bausteine ihrer Nukleinsäuren aus den DNS-Strängen oder gewinnen neue hinzu als Folge kosmischer Strahlung, mit Giften belasteter Nahrungsmittel, durch Nebenprodukte des Stoffwechsels und tausend andere natürliche und unnatürliche Prozesse. Die meisten dieser mutierten Zellen sterben einfach: Ihr neuer DNS-Code [193]ist nicht lebensfähig. Aber gelegentlich verändert eine Zelle ihr Erbgut auf eine Weise, daß der natürliche Fortpflanzungsmechanismus »angeschaltet« wird und nicht mehr ausgeschaltet werden kann. Die Zelle beginnt sich zu teilen – zu vermehren –, immer aufs neue, und sie wächst exponentiell zu einer Gewebemasse, die immer mehr Nährstoffe braucht. Sie lenkt Blutgefäße in ihr Inneres und verzehrt in einer wahren Wachstumsorgie den Raum und die Gewebe der Organe in der Umgebung. Sie übernimmt das Kommando. Das nennt man Krebs.

Man kann Krebs als etwas Natürliches bezeichnen. Zweifellos gibt es einige Arten von Krebs, die sich beispielsweise aus ehemals nützlichen biologischen Prozessen entwickelt haben, und es gibt ganz eindeutig Gene, die einen Menschen mehr oder weniger anfällig für Krebs machen.

Aber die meisten Krebserkrankungen sind keine normalen Vorgänge im natürlichen Ablauf des menschlichen Lebens. Vielmehr werden sie durch etwas verursacht, das den Körper von außen schädigt und seine Funktionen auf eine völlig unnatürliche Weise verändert.

Bezogen auf die Beziehung zwischen dem Menschen und dem Planeten bedeutet diese Metapher folgendes: Über Jahrmillionen hat der Genus Homo und über Hunderttausende von Jahren hat die Spezies Homo sapiens sapiens friedlich mit dem Rest der Welt zusammengelebt. Unsere Gegenwart blieb nicht unbemerkt: Während wir von einem Kontinent zum nächsten zogen, haben wir Dutzende großer auf dem Land lebender Säugetiere ausgerottet, und wir haben die natürliche Landschaft fast überall, wo wir hinkamen, verändert. Aber wir waren nie eine wirkliche Bedrohung für das empfindsame Gewebe des Lebens, für die Gesundheit unseres Planeten.

Unser Handeln war immer lokal begrenzt. Als die Druiden im Jahr 3000 vor Christus London einnahmen, gab es nichts, was ein Mensch dort tun konnte, was beispielsweise das Leben der Menschen [194]in den Anden, auf der anderen Seite des Erdballs, beeinflußt hätte.

Und selbst die lokal begrenzten Auswirkungen unseres Handelns waren im allgemeinen so, daß sie die nähere Umgebung für menschliche Ansiedlungen günstiger gestalteten (Viehzucht, Ackerbau, Hausbau) und keine negativen Auswirkungen auf das Leben im weiteren Umfeld hatten. Die Erde war noch lebendig. Die Wälder waren stark und gesund. Tiere, Pflanzen und Fische wuchsen und lebten im Überfluß.

Männer und Frauen hinterließen keine tiefen Spuren auf der Erde.

Als ich vor ein paar Jahren auf einer Vortragsreise durch England und Schottland fuhr, zeigten unsere Gastgeber meiner Familie und mir die Höhlen in der Nähe von Chiselhurst bei London. Ein großer Teil dieser Höhlen – die während des Zweiten Weltkriegs als Luftschutzbunker dienten – war vor Tausenden von Jahren von den Druiden in das weiche Gestein gegraben worden. Man geht davon aus, daß einige für religiöse Zeremonien benutzt wurden, weil dort ein Altar in die Wand gemeißelt ist und sie über eine so außergewöhnliche Akustik verfügen, daß jeder Klang auf überirdische Weise verstärkt und von den Wänden zurückgeworfen wird.

Auf dem Druidenaltar befindet sich eine Vertiefung etwa in der Größe einer Schüssel, von der aus eine Rille zum Rand des Altars verläuft. Die Briten, die vom Zeitpunkt der Eroberung durch die Römer bis vor wenigen hundert Jahren eine Phase der Folterung, Unterdrückung und Diskriminierung von Frauen erlebten, haben kürzlich über diese Stelle ein Bild gehängt, das mehrere Frauen darstellt, die in einen hölzernen Käfig gesperrt sind, der über der Vertiefung hängt, und darin verbrannt werden. »Menschenopfer!« schrie das Poster. »Ein religiöses Ritual der Druiden!« (Nachdem Julius Caesar im Jahr 54 vor Christus versucht hatte, die britischen Inseln zu erobern, schrieb er, daß die Druiden Menschenopfer darbrachten, indem sie ihre Gefangenen in riesigen Weidenkörben [195]verbrannten. Dieser Bericht könnte zutreffend sein, es könnte sich aber auch um eine Praxis handeln, die von den Römern übernommen wurde, oder Caesar könnte auf diese Weise versucht haben, seine rücksichtslosen Eroberungskriege und die Ermordung aller Völker, die ihm im Weg standen, zu rechtfertigen.)

Niemand weiß genau, wozu die Druiden diese Höhlen benutzten. Aber wir wissen sehr wohl, daß sie von den Römern, den Sachsen und späteren Eroberern, deren Nachfahren heute die Mehrheit der englischen Bevölkerung darstellen, ausgerottet wurden. Unsere Gastgeberin erklärte uns angesichts des Altars, daß das wenige, was wir heute über die Druiden wissen, darauf hinweist, daß sie wahrscheinlich das Leben der Erde als weibliche und gewährende Macht verehrt haben. Ihre kulturellen Spuren lassen erkennen, daß »Mutter Erde« ihnen heilig war und daß Frauen bei ihnen hohes Ansehen genossen, wie es in solchen »primitiven« Kulturen üblich ist. So wurde die Menstruation beispielsweise nicht als abscheulich und unrein betrachtet, wie es in unseren männlich beherrschten Kulturen üblich ist, wo Frauen während der Menstruation als »weniger nützlich« gelten, sondern die Druiden sahen darin wahrscheinlich einen Teil des monatlichen Zyklus der Fruchtbarkeit, des Lebens und der Natur, etwas, das gefeiert und verehrt werden sollte.

Unsere Gastgeberin zeigte auf die Vertiefung im Altar und sagte: »Ich wette, daß die Frauen sich darüberhockten und ihr Menstruationsblut hineinfließen ließen, das dann bei religiösen Zeremonien benutzt wurde oder dazu diente, die Ernte zu segnen. Vielleicht war es das Menstruationsblut der Hohepriesterin, das heiligste Opfer, das sie ihrem Stamm darbringen konnte, und deshalb wurden sie und andere Frauen mit einem Respekt behandelt, den die barbarischen Eroberer für ›Anbetung‹ hielten.«

Das könnte durchaus möglich sein. Riane Eisler[50] und andere Forscher [196]und Anthropologen verweisen darauf, daß es in der Geschichte zahlreiche »primitive« Kulturen und Gesellschaften gab, die das Weibliche verehrten und von Frauen geführt wurden – einige existierten Jahrtausende länger als unsere westliche Zivilisation und lebten während dieser Zeit friedlich mit ihren Nachbarn zusammen, bis sie den Eroberern der jüngeren Kultur zum Opfer fielen.

Um nun zu unserer medizinischen Analogie zwischen den Zellen des menschlichen Körpers und den Menschen als Teil der Erde zurückzukehren: Historisch war der Genus Homo ein Teil der Natur und hat seine Umwelt auf dieselbe Weise beeinflußt, wie alle anderen Lebewesen – von Tigern bis zu Termiten – es zwangsläufig ebenfalls tun.

Der Angriff der jüngeren Kulturen läßt uns wenig Alternativen

Aber dann begann sich vor etwa 7000 Jahren ein Krebsgeschwür zu entwickeln. Man kann es sich als eine ansteckende Art von Zivilisation vorstellen, eine, die bis auf den heutigen Tag ihre Wirkung zeigt, wenn Kinder nach den Geschichten und Konventionen unserer jüngeren Kultur handeln.

Ich erinnere mich beispielsweise an einen Jungen namens Dennis, der mit mir zusammen im sechsten Schuljahr war. Er verbreitete absoluten Terror und hatte großen Spaß daran, jeden blutig zu prügeln, der ihm in die Quere kam. Dennis war der unumstrittene König auf dem Spielplatz, im Park und auf dem Schulweg. Er knöpfte den unglücklichen Mitschülern, die ihm begegneten, das Geld fürs Mittagessen ab und schlug andere zusammen, nur weil er Spaß daran hatte, seine Stärke zu demonstrieren. Er verkörperte in dieser kleinen Subkultur den Herrscher der jüngeren Kultur. Wir wußten, daß er dieses Verhalten von seinem Vater übernommen [197]hatte, der, wie Dennis sagte, ihn mit dem Gürtel schlug, zur Strafe, aber auch, weil es ihm Spaß machte.

Diejenigen von uns, die in der Nähe von Dennis wohnten und auf dem Schulweg an seinem Haus vorbeigehen mußten, hatten drei Möglichkeiten: Wir konnten versuchen, ihm so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen, es zulassen, daß er uns immer wieder zusammenschlug, oder wir konnten uns bewaffnen oder Judo lernen. Da uns die letzte Option im sechsten Schuljahr noch nicht offenstand, entschieden sich die meisten dafür, Dennis so oft wie möglich auszuweichen. Trotzdem hat er mir mehr als ein blaues Auge geschlagen, wobei er jedesmal seine Fähigkeiten auf für mich demütigende Weise vor einem möglichst großen Publikum zur Schau stellte.

Die genannten drei Möglichkeiten sind in etwa auch die Alternativen, die eine gesunde Kultur hat, wenn sie von einer gewalttätigen Herrscherkultur bedroht wird. Die nordamerikanischen Ureinwohner versuchten zunächst, mit den »Besuchern« der jüngeren Kultur aus Europa zu verhandeln und Freundschaft zu schließen. Als dann deutlich wurde, daß diese Besucher Diebe, Mörder und Vergewaltiger waren, die den Ureinwohnern das Land und die Tiere stahlen und ihre Stammesangehörigen töteten, begannen einige, sich zu wehren. Doch dazu mußten sie die Mittel und Methoden der Angreifer übernehmen. Und auf diese Weise wurden sie infiziert mit der geistigen Krankheit der Herrschsucht und Aggression und verwandelten sich in herumziehende Krieger und Menschenjäger.

Wenn von zwei benachbarten Zivilisationen, die jahrelang zusammengelebt und miteinander Handel getrieben haben, eine mit dem Weltbild der jüngeren Kultur infiziert wird, dann kann die andere nur noch fliehen, sterben, sich versklaven lassen oder ebenfalls das Weltbild der jüngeren Kultur übernehmen.

Dies ist einer der Gründe, warum unsere jüngere Kultur so furchtbar ansteckend ist.

[198]

Doch selbst heute noch gibt es einige wenige, die die Flamme der alten Weisheit hochhalten, die älteren Kulturen, deren Erkenntnisse, deren Weltsicht und Geschichte für uns vielleicht die Chance birgt, das nächste Jahrtausend zu überleben.

Die Geschichten verändern

Es gibt Hoffnung. Es gibt immer noch eine Möglichkeit, wie wir die Geschichten verwandeln können, die unsere Kultur selbst erzählt. Diese Hoffnung zeigt sich in einer tiefen Sehnsucht, die fast alle Menschen in allen »modernen« Gesellschaften teilen.

Wir finden diese Sehnsucht nach einer erneuten Verbindung mit der Welt um uns herum in der Zurück-zur-Natur-Bewegung, der Idealisierung des Landlebens, der wachsenden Popularität von Öko-Tourismus, Camping und Wandern, ja sogar im »sportlichen« Bereich bei den Jägern und Anglern. Das Bedürfnis nach dieser Verbindung ist fest in unserem Gehirn verankert als Ergebnis der Millionen Jahre, die wir und unsere Vorfahren in der Natur verbracht haben.

Es gibt ein grundlegendes menschliches Bedürfnis, sich mit unserer ursprünglichen Umwelt zu verbinden, und wir können dieses Bedürfnis nutzen, um die Geschichten zu erzählen, die die Menschen sich selbst über die Welt erzählen.

In der Kultur geht es nicht um das Absolute, das Reale oder das Wahre, sondern um das, was eine Gruppe von Menschen zusammenhält und woran sie gemeinsam glauben. Kultur kann gesund oder vergiftet sein, nährend oder mörderisch. Kultur entsteht aus Geschichten, und wie wir im nächsten Kapitel sehen werden, können diese Geschichten zum Besseren verändert werden. Indem wir die Geschichten unserer Kultur ändern, finden wir vielleicht einen Weg, um einige der Probleme zu lösen, die wir bisher in diesem Buch behandelt haben.

 

 

[199]

Woran wir uns erinnern müssen

Zu plündern, abzuschlachten und zu stehlen, diese Dinge bezeichnen sie fälschlicherweise als Imperium; und wo sie ein wildes Durcheinander anrichten, sprechen sie von Frieden

Tacitus (55–120, römischer Historiker)

Gold ist am besten: Gold ist ein Schatz; und wer darüber verfügt, kann in der Welt alles tun, was er will; er kann sogar Seelen ins Paradies erheben.

Christoph Kolumbus, 1503 in einem Brief
an den König und die Königin von Spanien

Wir haben die Verbindung zu den Erinnerungen unserer frühen Vorfahren verloren. Wir kennen nicht mehr die Geschichten, die vor zweihundert Generationen erzählt wurden, und die meisten unserer Geschichtsbücher tun so, als hätte es diese Zeit gar nicht gegeben: Sie wird als »Vorgeschichte« bezeichnet, und in diesem Vakuum des »vor« haben wir fast die Schlüssel für unser zukünftiges Überleben verloren.

Wie konnten wir vergessen? Haben andere Zivilisationen ähnliche blinde Flecken gehabt? Und wie können wir die Erinnerungen an unsere fernen Vorfahren wiedererlangen?

»Columbus sailed the ocean blue in 1492« (»Kolumbus besegelte den blauen Ozean im Jahr 1492«) heißt es in einem amerikanischen Schulreim. Schulkinder in den Vereinigten Staaten lernen, daß dies die Zeit der Entdeckung Amerikas war, womit gemeint ist, daß damals die Europäer Amerika entdeckten.

Aber Nord- und Südamerika waren schon lange vorher entdeckt worden. Natürlich, da gab es die heute gut dokumentierten Expeditionen [200]von Leif Ericson und anderen Norwegern, und einige Gelehrte gehen davon aus, daß keltische Besucher zwischen 100 vor Christus und etwa 54 vor Christus an der Küste von New England landeten. Das war ungefähr zu der Zeit, als Julius Caesar und die Römer erstmals die britischen Inseln eroberten und damit begannen, die Kelten und ihre Druidenpriester zu ermorden, zu versklaven und zu vertreiben.

Aber selbst diese Landnahmen vor zweitausend Jahren markieren nicht das früheste Datum menschlicher Ansiedlungen in Amerika; dieses liegt mindestens zehntausend Jahre zurück, vielleicht sogar bis zu vierzigtausend Jahre.

Paläoanthropologen gehen derzeit davon aus, daß es drei große Völkerwanderungen über die Bering-See gab, wo vor zehntausend Jahren noch eine Landbrücke bestand. Die früheste dieser Wanderungen spielte sich wahrscheinlich vor 35 000 bis 40 000 Jahren ab und führte dazu, daß die Arktis von Menschen besiedelt wurde, deren Nachfahren sich heute Inuit nennen und von Europäern früher als Eskimos bezeichnet wurden. Mit der zweiten Welle gelangten die Menschen wahrscheinlich weiter nach Süden bis ins heutige Argentinien, was dazu führte, daß Südamerika vor schätzungsweise 25 000 bis 15 000 Jahren besiedelt wurde. (Darüber wird immer noch diskutiert: Einige Experten glauben, daß diese Menschen damals den Pazifik mit Booten überquert haben.) Die dritte Wanderungswelle vor etwa zehntausend Jahren führte zur Besiedlung Nordamerikas.

Als Kolumbus 1492 auf der Insel Hispaniola landete, hielt er sich für den Repräsentanten eines großen Weltreichs (das der europäischen Nationen im allgemeinen und Spaniens im besonderen) und glaubte sich auf dem Weg, ein anderes großes Weltreich (Indien) zu besuchen. Tatsächlich jedoch waren die beiden größten, den Europäern damals bekannten Weltreiche die chinesische Ming-Dynastie und das Osmanische Reich in der Türkei. Sie kontrollierten mehr als die Hälfte der zwischen ihnen liegenden damals [201]bekannten Welt und hatten den Handel zwischen Asien und Europa dermaßen blockiert, daß Kolumbus unter anderem deshalb zu seiner Reise aufbrach, weil er einen neuen Weg nach Indien finden wollte, der weder durch die von den Türken kontrollierten Gewässer noch über die von den Chinesen kontrollierten Landwege führte. Wenn ihm das gelänge, würden die Spanier keine Zölle und Steuern mehr an diese großen Imperien zu entrichten haben, und ihr Handel würde dadurch wesentlich profitabler werden. (Die Vorstellung, daß die Leute damals gemeint hätten, die Erde sei eine flache Scheibe, ist einfach ein Mythos: Jeder Seeman wußte, daß die Erde rund ist, denn schließlich konnte man beobachten, wie die Schiffe am Horizont verschwanden. Das gehörte sowohl unter den Gelehrten als auch unter den Seeleuten zum Allgemeinwissen, und zwar schon seit Hunderten von Jahren.)

Eine andere Spekulation bezieht sich darauf, daß Kolumbus tatsächlich auf der Suche nach Amerika war – genauer gesagt auf der Suche nach Gold und Sklaven, die dort vielleicht zu holen waren –, denn schon vor seiner Abfahrt gab es viele Berichte von anderen, die »das ferne, reiche Land im Westen« entdeckt hatten, einschließlich portugiesischer Expeditionen im Jahre 1460, zahlloser baskischer Unternehmungen zwischen 1375 und 1491 sowie einer Expedition, die 1481 von Bristol in England ausging, die Küste von Neufundland erreichte und 1491 zurückkehrte. Die Kunde ging um, und keine Königin hätte ihre Juwelen versetzen müssen, um Kolumbus auszustatten.[51]

Doch es stellte sich heraus, daß das, was Kolumbus auf Hispaniola entdeckte, wesentlich profitabler war als jeder steuerfreie Handel mit Indien: Er fand Sklaven und Gold. Kolumbus kehrte als märchenhaft reicher Mann zurück.

Das führte in Portugal zu einer Explosion des Gold- und Sklavenfiebers. [202]Innerhalb von dreißig Jahren war Spanien bis 1520 mit zahlreichen Streitkräften an den Stränden von Mexiko gelandet und hatte den Ureinwohnern mehrere zehntausend Pfund Gold geraubt.

Etwa um dieselbe Zeit hörte einer der spanischen Konquistadoren Gerüchte über ein großes Weltreich im Süden, ein Land, wo die Gebäude mit Gold verkleidet und die Menschen sagenhaft reich waren. 1532 führte Francisco Pizarro ein Heer von 260 Söldnern an die Küste des heutigen Peru.[52] Mit 62 Reitern und 198 Infanteriesoldaten ging er an Land und zog hinauf in die Anden zur Inkastadt Cajamarca, wo er um eine Audienz beim Inkaherrscher nachsuchte. Dieser reiste nach Cajamarca zu einem, wie er meinte, friedlichen Treffen mit ausländischen Besuchern, doch Pizarro nahm ihn und seine Begleiter gefangen und hielt sie als Geiseln fest, bis mehrere Wochen später ein Lösegeld von zwei Zimmern Silber und einem Zimmer Gold (nach heutigen Kursen über 60 Millionen Dollar) gezahlt wurden.

Dieses Lösegeld überzeugte Pizarro, daß an den Geschichten, die er über die Inkas gehört hatte, etwas dran sein mußte, und so ließ er den Inkaherrscher und seine Begleiter hinrichten, die Leichen begraben und begab sich auf den langen Marsch nach Cuzco, der auf einem Berggipfel gelegenen Hauptstadt des Inkareiches von Tahuantinsuyu.

[203]

Was er dort fand, war die Hauptstadt des damals größten Weltreichs, eine Nation, die niemand in Europa und Asien kannte, die jedoch mehr Einwohner hatte als das China der Ming oder das Osmanische Reich, und die weit größer als Spanien war.

Das Weltreich der Inka herrschte über das heutige Peru, Argentinien, Chile, Kolumbien, Bolivien und Ecuador – fast das gesamte Südamerika mit Ausnahme der Dschungel und Regenwälder auf dem Gebiet des heutigen Brasilien (das die Portugiesen später für sich in Anspruch nahmen). Die Inkas hatten über 40 000 Kilometer Straßen gebaut, die bei jedem Wetter befahrbar waren und ihnen die Transporte durch ihr weites Reich erleichterten, ein Straßensystem, dem bis zur Entwicklung des Automobils nichts gleichkam. Ihr Reich war in achtzig politische Provinzen unterteilt, und wie die Römer hatten sie den verschiedenen Völkern, über die sie herrschten, eine einheitliche Sprache verordnet, die Runa Simi.

Die Stadt Cuzco war tatsächlich mit Gold überzogen. Es gab riesige Promenaden, funkelnde Springbrunnen, massive Gebäude, in denen Regierung und Verwaltung untergebracht waren, und majestätische Tempel. Und das Gold glänzte überall: Die Bürger trugen Goldschmuck, und die Innen- und Außenwände der Tempel und königlichen Paläste waren ganz mit Gold überzogen. Goldene Statuen und Figuren der verschiedenen Inka-Götter, besonders des goldenen Sonnengottes Inti, füllten die Stadt und ihre Gebäude.

Wie das Römische Reich und die nachfolgenden europäischen Reiche wurde das Reich der Inka von einer elitären Familie beherrscht. Mit weniger als 40 000 Mitgliedern setzte sich diese Familie aus den einzigen wahren »Inkas« im Reich zusammen – jeder andere war Diener oder Sklave oder Dorfbewohner. Die königliche Familie der Inkas trat ungefähr zur selben Zeit hervor wie die königlichen Familien in Europa – zwischen 600 und 1000 nach Christus –, und sie hatte ihre Herrschaft um 1500 ausgedehnt und gefestigt.

Daß es Pizarro möglich gewesen war, sein berühmtes Dekret zu verlesen, das größte Imperium der Welt mit nur 260 Mann zu [204]erobern und auf seinen Schiffen Hunderte von Tonnen Gold nach Spanien zurückzubringen, wurde von den Spaniern als Zeichen göttlicher Vorsehung betrachtet, ihre Version des »Manifest Destiny«.

Der eigentliche Grund für die einfache Eroberung lag jedoch darin, daß zu dem Zeitpunkt, als Pizarro 1532 in Cuzco ankam, schon mehr als 60 Prozent, vielleicht sogar bis zu 90 Prozent der Menschen, die ursprünglich im Land der Inkas gelebt hatten, tot waren.

Als einer der spanischen Konquistadoren 1520 die Pocken nach Mexiko eingeschleppt hatte, führte das zu einer Epidemie in der einheimischen Bevölkerung – die gegen diese europäische Krankheit nicht die geringste Immunität besaß –, welche sich wie in Steppenbrand unter den Ureinwohnern von Mittel- und Südamerika verbreitete. Bis 1524 war nahezu die gesamte Bevölkerung Panamas den Pocken zum Opfer gefallen, und als die Seuche erst einmal die Landenge überwunden hatte, verbreitete sie sich in Südamerika und tötete dort nahezu alle Bewohner.[53]

Wayna Capac, der letzte Inkaherrscher, starb 1525 zusammen mit seinem Sohn und Thronfolger sowie dem größten Teil seiner Familie an den Pocken. Das Machtvakuum und der demographische Kollaps waren so gewaltig, daß Pizarro, als er sieben Jahre später dort ankam, nur noch ein kränkliches Überbleibsel der einst so mächtigen Zivilisation als schwachen Gegner vorfand.

Die Inkas hinterließen so viel Gold, vor allem in ihren kunstvoll gearbeiteten unterirdischen Familiengräbern, daß die spanische Regierung auf den Inka-Ländereien in Südamerika Minen abstecken [205]ließ. 1537 war der Goldrausch voll im Gange; Tausende von Spaniern und der kastilische (spanische) König hatten eine offizielle Schmelzanstalt im Moche-Tal eingerichtet. Deren Aufgabe bestand jedoch nicht darin, das Gold aus dem Erz zu schmelzen (wie es die Inkas fast tausend Jahre lang getan hatten), sondern hier wurden Hunderttausende von goldenen Gegenständen eingeschmolzen, die aus der Plünderung des Mausoleums von Chan Chan und der Sonnenpyramide stammten. Sie schmolzen diese Kunstwerke von unschätzbarem Wert ein, damit die Beute leichter nach Spanien verschifft werden konnte, und die Männer des Königs überwachten den Vorgang, um die ihm zustehenden 20 Prozent Steuern einzutreiben. Bis auf den heutigen Tag ist die Jagd nach Inka-Kunstwerken ein wichtiger (wenn auch illegaler) Industriezweig für die Armen, die auf dem größten Teil des früheren Inka-Landes in Südamerika leben.

»Das große Vergessen«

Der Australier Geoff Page und der Künstler Bevan Hayward (dessen Aboriginal-Name Pooaraar ist) haben unter dem Titel The Great Forgetting ein wunderbares Buch mit Fotos, Gedichten und Geschichten zusammengestellt. Der Buchtitel ist eine Art »geflügeltes Wort«, mit dem die australischen Ureinwohner lange Zeit die traurige Geschichte beschrieben haben, die ihrer Kultur angetan wurde, als sie vor 200 Jahren mit Waffengewalt gezwungen wurden, sich an die auf europäischen Normen basierende Kultur der weißen Australier anzupassen. In neuerer Zeit hat Daniel Quinn diesen Ausdruck in seinen Büchern Ismael und The Story of B verwendet, um das Phänomen zu beschreiben, daß eine zur Assimilation zwingende Kultur von Eroberern dafür sorgt, daß das Wissen der ursprünglichen Kultur zerstört und vergessen wird, von den Eroberern ebenso wie von den Eroberten.

[206]

Der südamerikanische Durchschnittsbürger hat heutzutage, ungeachtet seiner Abstammung, wenig Interesse an der Kultur und dem Leben der Menschen, die diesen Kontinent vor Pizarro bevölkerten, und noch geringer als sein Interesse ist sein Wissen darüber. Die Zeit der Inkas ist vergessen, ein Teil der »Vorgeschichte«, die peruanische Schüler nicht einmal im Geschichtsunterricht lernen, sondern die in das geheimnisvolle Reich der Archäologie und Paläoanthropologie verbannt wird. Die Leute wurden besiegt, die meisten von ihnen starben an den Pocken oder später unter dem Schwert der Eroberer, und ihr Gold und andere Werte wurden geraubt. Und dann wurden sie vergessen.

Aber das war nicht das erste große Vergessen.

Als die Inkas, die das Gemetzel der Spanier überlebt hatten, um 1530 befragt wurden, erklärten sie, die Inkas seien die erste Zivilisation auf dem südamerikanischen Kontinent gewesen. Der Sonnengott Inti, so sagten sie, habe den ersten Inka-Mann und die erste Inka-Frau dort geschaffen, und aus ihnen sei die Nation hervorgegangen. Die Stammbäume waren bekannt, wer der Sohn von wem war, bis zurück zu jenem ersten Mann und der ersten Frau.

Aber obwohl der durchschnittliche Inka des Jahre 1530 daran glaubte, ist dies nicht die wahre Geschichte jener Region. Im nördlichen Hochland von Peru beispielsweise herrschten die Inkas von etwa 800 bis 1500 nach Christus.

Von 400 bis 800 nach Christus wurde dieses Gebiet jedoch von den Marcahuamachua kontrolliert.

Noch weiter zurück bis etwa zum Jahr 10 nach Christus herrschte das Recuay-Imperium über diese Gegend. Deren Vorgänger waren die jeweiligen Reiche der Chavin, Kotosh, Huacaloma und Galgada, deren Herrschaft ungefähr um das Jahr 2000 vor Christus begann. Von 8000 bis 2000 vor Christus lebten die Lauricocha, und von 10 000 bis 8000 vor Christus die Guitarrero in dieser Gegend.

Sie alle waren von den Inkas vergessen worden, so wie die meisten modernen Peruaner die Inkas selbst vergessen haben.

[207]

Obwohl das Reich der Inkas vor 1500 Jahren begann, war ihre Kultur von Herrschaft, Unterdrückung und Völkermord gekennzeichnet. Sie bauten ihr Imperium auf, indem sie die Nachbarländer eroberten und deren Bürger versklavten. Ihr Reich bestand aus einer kleinen herrschenden Elite, etwa ein Prozent der Bevölkerung, die gut die Hälfte, vielleicht sogar bis zu 90 Prozent des nationalen Reichtums kontrollierte. In dieser Hinsicht unterschieden sie sich nicht im geringsten von den Spaniern, die ihr Land eroberten, oder von den heutigen westlichen europäischen und amerikanischen Kulturen. Sie alle waren oder sind jüngere Kulturen.

Andererseits haben einige Angehörige der älteren Kultur das Gemetzel der Inkas überstanden. Heute gibt es noch Nachfahren von ihnen. Der Stamm der Kogi in Kolumbien beispielsweise betrachtet den Boden, die Meere, die Flüsse, die Wälder und den Himmel weiterhin als lebendig und heilig. Sie sahen mit Entsetzen, wie die Inkas vor 1500 Jahren die Menschen und das Land überwältigten und unterwarfen, genauso wie sie heutzutage mit Entsetzen sehen, welche Gewalt die Abkömmlinge der europäischen Kultur dem Planeten antun. Sie wissen, daß es vor ihnen andere Völker gab, daß die Erde eine unendlich lange Geschichte hat und daß der Planet mit oder ohne uns weiterexistieren wird.

Die Schönheit des Erinnerns

Meine Mutter ist von Stammbäumen fasziniert. Sie hat ihre Vorfahren bis zu Präsident James Madison zurückverfolgt und noch weiter bis ins zehnte Jahrhundert zum ursprünglichen Prinzen von Wales (bevor die britische Königsfamilie sich dieses Titels bemächtigte, als sie die Waliser unterwarf). Ich fühle mich mit Norwegen verbunden, dem Land, aus dem die Eltern meines Vaters direkt vor dem Ersten Weltkrieg kamen. Wenn ich die Geschichten lese und die Familienstammbäume betrachte, die meine [208]Mutter und andere Familienmitglieder ausgegraben und zusammengestellt haben, dann bekomme ich ein Gefühl von Zugehörigkeit, ein Gespür für Geschichte, eine Empfindung von Fortbestand und Erdung. Ich frage mich, wie diese Menschen gelebt haben, was sie getan haben, wie ihre Gedanken und Handlungen immer noch durch meine DNA und durch die Welt widerhallen. Ich versuche, so viel wie möglich über ihre Ziele und Ideale herauszufinden, was dazu beiträgt, mein eigenes Wertesystem zu entwickeln, zu bestärken oder in Frage zu stellen.

Dieses Gefühl für die eigene Geschichte ist für Menschen enorm wichtig. Es ist wesentlich für eine gesunde Kultur, weshalb auch der Geschichtsunterricht für unsere Schulkinder ein Pflichtfach ist. Es ist wichtig für das Selbstwertgefühl, und eben deshalb drängen so viele farbige Amerikaner darauf, Afrika und die Geschichte der Sklaverei nicht mit europäischen Augen zu betrachten. Aus diesem Grund hat auch fast jeder religiöse oder politische Führer versucht, den eigenen Platz in der Geschichte entweder neu zu definieren oder festzuschreiben (oder beides).

Und doch ist unsere Sicht der Geschichte zeitlich und räumlich seltsam begrenzt.

In den Kulturen, die aus jüdischen, christlichen oder islamischen Religionen hervorgegangen sind, wird gelehrt, daß der erste hebräische Stamm mit Adam und Eva und ihren Söhnen Kain und Abel begann. Sie kamen vor etwa 5000 Jahren auf die Erde.

Die Schöpfungsgeschichte spricht von anderen Menschen (im Lande Nod), mit deren Töchtern sich die Söhne von Adam und Eva vermählten und Kinder zeugten, aber diese Menschen gehörten zu anderen Stämmen und werden deshalb nur kurz erwähnt.

Die Geschichte wird auf eine Art erzählt, die uns von den Erinnerungen an die anderen Menschen abschneidet, die vor der Geburt der Sammler Adam und Eva, ihres Sohnes Kain, der Ackerbau betrieb, und seines Bruders Abel, der das Vieh hütete, lebten. Sie errichtet einen Erinnerungswall gegen alles, was vorher war.

[209]

Die auf Herrschaft gegründeten jüngeren Kulturen funktionieren am besten, wenn ihre Mitglieder glauben, sie seien einzigartig in der menschlichen Geschichte, direkte Abkömmlinge des ersten Mannes und der ersten Frau und vom Schöpfer des Universums auserwählt, über alle anderen Kulturen zu herrschen (eine Annahme, die implizit in den beiden ersten enthalten ist).

Solche Kulturen kämpfen bis zum letzten Atemzug darum, ihre Annahmen zu bewahren, und sie werden alles tun, »was nötig ist«, um die Angehörigen anderer Kulturen, welche eine Herausforderung für diese Überzeugungen darstellen könnten, entweder zu töten oder ihrer Erinnerungen zu berauben.

Als Pol Pot ein bis zwei Millionen Kambodschaner ermorden ließ – insbesondere jene, die lesen und schreiben konnten –, verfolgte er dabei das Ziel, »reinen Tisch« zu machen, um auf dieser Grundlage eine »neue Gesellschaft« zu errichten. Vor etwa sechs Jahren lernte ich in Indonesien den Leibarzt von Pol Pot kennen, den Rotkreuzarzt Dr. Will Krynen. Er erzählte mir, Pol Pot habe geglaubt, wenn es ihm gelänge, seinem Volk jede Erinnerung an die eigene Geschichte zu nehmen – indem er jeden tötete, der lesen oder schreiben konnte, und auch jeden, der alt genug war, sich an die Vergangenheit zu erinnern[54] –, dann könnte er eine neue Gesellschaft aufbauen, indem die überlebenden Kinder mit einer »neuen Vergangenheit« aufwachsen würden, die er erfunden hatte und die beinhaltete, daß er der Vater ihrer Kultur und Zivilisation war. Aus diesem Grund ordnete er an, das Jahr nach seinem großen Gemetzel an den Kambodschanern als das Jahr »0« zu bezeichnen. Alle Kalender in Kambodscha würden sich von nun an auf dieses Datum beziehen, und in den Geschichtsbüchern, die für die jungen Überlebenden des Gemetzels geschrieben wurden, sollte die Zeit vor dem Jahr 0 als »Vorgeschichte« gelten, eine relativ bedeutungslose Zeit, über die nur sehr vage Informationen existierten.

[210]

Pol Pot hatte die Geschichte sorgfältig studiert: Er wußte, daß andere vor ihm genau das getan hatten, was ihm vorschwebte, und damit Erfolg gehabt hatten.[55] Beinahe hätte er auch Erfolg gehabt, und er hätte seine Pläne wahrscheinlich verwirklichen können, wenn nicht die Vietnamesen in Kambodscha eingegriffen hätten, um das Gemetzel zu beenden.

Ich war verblüfft, als ich zum ersten Mal einen Stamm amerikanischer Ureinwohner besuchte und erfuhr, daß es bis vor zwanzig Jahren offizielle Politik der Vereinigten Staaten gewesen war, amerikanische Ureinwohner, die ihre eigene Religion praktizierten, ins Gefängnis zu stecken. Bestimmte Tänze, Schwitzhüttenzeremonien, bestimmte Gesänge und gewisse Arten von Gebeten waren verboten, und diejenigen, die man bei der Durchführung solcher »heidnischen« Rituale erwischte, wurden gemeinsam mit Mördern und Dieben ins Gefängnis gesperrt.[56] Und es ist immer noch Regierungspolitik, jene amerikanischen Ureinwohner zu Gefängnisstrafen zu verurteilen, zu deren religiösen Praktiken es gehört, bewußtseinsverändernde Pflanzen zu sich zu nehmen, die auf ihrem eigenen Land wild wachsen und schon [211]Jahrtausende, bevor Europäer einen Fuß auf diesen Kontinent setzten, ein wesentlicher Bestandteil ihrer religiösen Praktiken waren.

Auch Anthropologen, welche die Religionen und Kultur der amerikanischen Ureinwohner vor der Ankunft von Kolumbus untersuchen wollen, stoßen dabei auf erhebliche Schwierigkeiten, besonders in Südamerika, wo es ein großes Interesse an den Mayas gibt. Die katholische Kirche erklärte die Ureinwohner zu »Heiden«, und deshalb unternahmen die Spanier gezielte Expeditionen, um sämtliche Kunstgegenstände, Aufzeichnungen, Tempel, Hieroglyphen und dergleichen mehr aufzuspüren und zu zerstören, was den Mayas oder anderen Ureinwohnern erlaubt hätte, sich an die Vergangenheit zu erinnern oder ihre Kultur fortzuführen. Ihre Sprache wurde verboten, ihre Religionen wurden verdammt, und jeder, der sich dabei erwischen ließ, wie er das eine oder andere praktizierte, wurde zum Tode verurteilt. (Auf dieselbe Weise war Caesar bei der Eroberung Europas vorgegangen, als er die zahlreichen dort lebenden Stämme ausrottete.)

In den Vereinigten Staaten hatten die Spanier nicht die Gelegenheit gehabt, so gründlich vorzugehen, wie in Süd- und Mittelamerika, und so existierten noch viele Indianerstämme, als unsere Soldaten und Siedler im 19. Jahrhundert westwärts zogen. Auch wenn es nicht gelang, die amerikanischen Ureinwohner völlig auszurotten, so wurden ihnen doch für Jahrhunderte Gesetze aufgezwungen, die darauf abzielten, ihnen die Erinnerung an ihre eigene Geschichte zu nehmen und sie ihrer Identität zu berauben. Viele dieser Bemühungen wurden von der katholischen Kirche angeführt, die bis heute in zahlreichen Indianerreservaten Schulen unterhält und andere Programme durchführt.[57] Diese Praxis gibt es [212]natürlich nicht nur in Amerika. In Australien beispielsweise hat die Regierung bis in die achtziger Jahre den Aborigines ihre Kinder mit Gewalt genommen und sie bei weißen Pflegeeltern untergebracht, damit sie ihre eigene Kultur vergessen sollten.

Durch die Art und Weise, wie auf Herrschaft ausgerichtete Kulturen die Massen erziehen, weiß der Durchschnittsbürger der modernen Welt wenig oder nichts über diese Dinge. Die weitverbreitete Vorstellung ist die, daß primitive Völker … nun ja … primitiv sind. Selbst dieses Wort, mit dem unsere Vorfahren mehrere hundert Jahre lang die nordamerikanischen Ureinwohner bezeichneten, wurde ganz offen verwendet, um Minderwertigkeit, Hunger, ein ungehobeltes Sozialverhalten, eine kindlich-schlichte Technologie und eine lächerlich naive Religion anzudeuten. Der am besten bekannte amerikanische Ureinwohner in der amerikanischen Kultur des 20. Jahrhunderts ist eine fiktive Figur namens Tonto, der Kumpan des heldenhaften Cowboys The Lone Ranger. »Tonto« bedeutet in der Sprache der Mescalero-Apachen »langsam«.

Erst seit dem Zweiten Weltkrieg, als eine Einheit amerikanischer Ureinwohner auf seiten der Alliierten kämpfen durfte und hohe Auszeichnungen errang, empfinden die Amerikaner Respekt, Schuldgefühle, Einschüchterung und sogar Ehrfurcht, wenn sie amerikanischen Ureinwohnern begegnen, die noch nach den Regeln ihrer alten Kultur leben.

Im Grunde wird Ihnen jeder, der die anthropologische Literatur sorgfältig gelesen oder Stammesgesellschaften besucht hat, erzählen, daß sich die Tiefe der menschlichen Erfahrung bei »primitiven« und »modernen« Menschen nicht unterscheidet. Beide haben identische Bereiche des Ausdrucks und der Emotion, beide haben klar definierte kulturelle Standards und Verhaltensnormen, beide verfügen über Rituale und Religionen, die für ihre jeweiligen Angehörigen eine tiefe Bedeutung haben. Der hauptsächliche Unterschied besteht darin, daß »primitive« Völker im allgemeinen über mehr Freizeit und Muße verfügen, weniger Armut und nahezu [213]keine Kriminalität kennen (ganz gewiß gibt es keine Polizei und keine Gefängnisse bei denen, die nicht die »Art des weißen Mannes« übernommen haben), sich abwechslungsreicher und gesünder ernähren, weniger degenerative Krankheiten, eine bessere psychische Gesundheit und eine Kultur haben, zu deren wichtigsten Werten Kooperation (statt Konkurrenz), gegenseitiger Respekt (statt Herrschaft), umweltverträgliches Wirtschaften (statt Raubbau an der Natur, um die schnelle Mark zu machen) und Gleichheit (zwischen Menschen, zwischen den Geschlechtern sowie zwischen Mensch und Umwelt) statt Machthierarchien gehören.

In seinem Buch Health and the Rise of Civilization[58] (Gesundheit und der Aufstieg der Zivilisation) weist der Anthropologe Mark Nathan Cohen darauf hin, daß, gemessen an 30 000 Jahren aufgrund fossiler Funde gut dokumentierter Menschheitsgeschichte, nur während der letzten ungefähr hundert Jahre die Menschen, die Ackerbau betrieben, eine höhere Lebenserwartung hatten als die Jäger und Sammler.

Die Fakten sind in der Tat verblüffend eindeutig: Vor 30 000 Jahren war der durchschnittliche erwachsene Mann 1,80 m groß und die durchschnittliche erwachsene Frau 1,67 m. In den Ackerbaugemeinschaften, die vor zehntausend Jahren begannen und erst vor etwa zweihundert Jahren endeten, betrug die durchschnittliche Größe des Mannes 1,67 m, und die Frauen waren durchschnittlich nur noch 1,52 m groß.

Vor 30 000 Jahren fehlten dem durchschnittlichen Erwachsenen bei seinem Tod 2,2 Zähne; in den Ackerbaugesellschaften waren es vor 8000 Jahren schon 3,5 Zähne, und zur Zeit der Römer war der Zahnverfall so explodiert, daß dem durchschnittlichen Erwachsenen bei seinem Tod 6,6 Zähne fehlten.

Und das hatte nichts damit zu tun, daß die Menschen länger lebten: Tatsächlich betrug die durchschnittliche Lebensspanne eines [214]Mannes im späten Paläolithikum 33,3 Jahre, was in den Ackerbaugesellschaften erst wieder erreicht wurde, als die durchschnittliche Lebensspanne nicht-weißer Männer um 1900 in den Vereinigten Staaten 32,5 Jahre erreichte. (Seither haben vor allem die Antibiotika in der Ersten Welt zu einem plötzlichen Anstieg der Lebenserwartung geführt, denn Sulfonamide wurden während des Ersten Weltkriegs und das Penizillin wurde während des Zweiten Weltkriegs entwickelt.) Im allgemeinen ernährten sich die Jäger und Sammler gesünder und abwechslungsreicher als die Ackerbauern, sie bekamen mehr angemessene Bewegung und lebten mit weniger Streß in größerer Harmonie mit ihrer Umgebung und ihren Nachbarn.

Wie Jack Forbes bemerkt, ist es mehr als nur eine kleine Ironie, daß die Menschen, die wir als »primitiv« und »unzivilisiert« bezeichnen, einen Lebensstil entwickelt hatten, der so gut funktionierte, daß sie weder Polizei noch Gefängnisse brauchten. Seitdem ich das gelesen habe, habe ich festgestellt, daß es einen sicheren Weg gibt, um zu bestimmen, wie gerecht eine Gesellschaft ihr Vermögen verteilt: Je stärker der Reichtum in den Händen weniger Menschen konzentriert ist, und je mehr Gewalt die Herrschenden in einer Gesellschaft anwenden, desto mehr Gefängnisse gibt es.

Woran wir uns erinnern müssen:
Das Weltbild der »älteren Kultur«

Forbes hebt hervor, daß die amerikanischen Ureinwohner mit wenigen Ausnahmen in ihren kollektiven Mythen andere Vorstellungen hegten. Statt der Geschichte, daß wir »vom Rest der Schöpfung getrennt und dazu geboren sind, über sie zu herrschen«, haben diese Kulturen ein anderes Bild vom Platz des Menschen innerhalb der Schöpfung:

[215]

Ältere Kulturen sind überwiegend auf Kooperation und nicht auf Herrschaft angelegt. Es gibt menschliche Kulturen, die sich nicht an der Zerstörung der Welt beteiligen. Sie machen deutlich, daß Zerstörung und Herrschaft nicht ein unvermeidlicher Teil der menschlichen Natur sind.

Bevor die jüngeren Kulturen vor etwa 7000 Jahren auf den Plan traten, gibt es keine anthropologischen Belege dafür, daß irgendeine andere Kultur sich als getrennt von der Natur und ihr überlegen sah. Wir finden die Überbleibsel dieser älteren Kulturen in Stammesgesellschaften überall auf der Welt, die wie die San, die Kogi, die Ik in Uganda, die Navajo, die Hopi, die Cree und die Ojibwa in Harmonie mit ihrer Umwelt und ihren Nachbarn leben und alles Leben als heilig betrachten. Die San-Buschmänner kann man [216]nicht einmal als »Steinzeitmenschen« bezeichnen, weil sie nie Steinwerkzeuge benutzt, sondern stets alles aus Holz hergestellt haben, und doch haben sie ihren Lebensstil 10 000 Jahre (vielleicht sogar 100 000 Jahre) vor Aristoteles erfolgreich praktiziert. Sie hinterlassen nur wenige Spuren, weil sie solche Meister im Umgang mit Ressourcen sind.

Das ist umweltverträgliches Verhalten, und im Gegensatz zu den Geschichten unserer Kultur war und ist es oft ein glückliches und bequemes Leben.

Als wir vor Jahrtausenden ein ähnliches Leben führten, genossen wir Sicherheit von der Wiege bis zum Grab. Der Stamm sorgte für sich selbst, und wir sorgten füreinander. Wenn einer Nahrung hatte, hatten alle Nahrung; wenn einer ein krankes Kind oder pflegebedürftige Eltern hatte, dann hatte jeder ein krankes Kind oder pflegebedürftige Eltern. Sicherheit war in solchen Gesellschaften der Maßstab des Reichtums. Tauschmittel wie Geld waren überflüssig; die Vorstellung, Nahrung oder andere Dinge zu horten, war undenkbar, weil jeder für jeden verantwortlich war. Unsere frühen Vorfahren lebten genauso wie alle anderen kooperativen Gemeinschaften in der Natur, seien es nun die Gemeinschaften von Wölfen oder Schimpansen oder Präriehunden: Sie gaben aufeinander acht. Unsere Vorfahren – Menschen wie Sie und ich –, Menschen aller Rassen auf allen Kontinenten, lebten auf diese Weise überall auf der Welt, 40 000 oder sogar 200 000 Jahre lang, je nachdem, welchen archäologischen Theorien man folgen will.

Und dann kam es zu Eruptionen innerhalb der traditionellen Kulturen. In einigen Teilen der Welt begannen die Menschen, ihren Lebensstil zu ändern und mit dem Ackerbau zu experimentieren. Das führte zu einer effizienteren Nahrungsmittelproduktion, wodurch die Bevölkerung wuchs und es einigen Leuten möglich wurde, Nahrung zu horten: Das war der Anfang des »Reichtums«. (Heute versuchen wir mit unserem Geld jene Sicherheit »von der Wiege bis zum Grab« zu kaufen, die einst das Geburtsrecht [217]aller unserer Stammesvorfahren war, heute jedoch nur für sehr wenige von uns erreichbar ist.)

Und dann begann eine Untergruppe der Ackerbauern mit einer neuen kulturellen Idee zu experimentieren, der zwangsweisen Bekehrung, um andere auf diese Weise in ihre Kultur einzubeziehen, die es vorher noch nie gegeben hatte. Und ihre Götter sagten ihnen, wenn sie die anderen nicht bekehren könnten, dann sollten sie sie ausrotten. Es gab einige wenige (wahrscheinlich nicht mehr als ein Dutzend) Stämme, welche sich über die Zehntausende anderer erhoben, die diesen Planeten bevölkerten, und dieser winzigen Zahl gelang es, alle anderen, die umweltverträglich, friedlich und naturverbunden lebten, auszurotten und zu vertreiben. Sie verließen den Garten Eden und begannen, auf Herrschaft gegründete Stadtstaaten und später dann Weltreiche zu schaffen.

Die Geburt von Klassenunterschieden und Machtstrukturen

Sie waren die ersten Menschen, die mit Wétiko infiziert waren, dem Ursprung unserer jüngeren Kultur, und deswegen wurden sie effizienter darin, ihre eigene Zahl zu erhöhen.[60] Sie hatten mehr [218]Sonnenlicht unter ihre persönliche Kontrolle gebracht. (Ich sage »infiziert«, weil die jüngere Kultur ansteckend ist: Menschen, die von jüngeren Kulturen angegriffen werden, haben wenig Wahlmöglichkeiten, und jene, die überlebt haben, sind oft selbst zu jüngeren Kulturen geworden.)

Natürlich mußte dafür ein Preis gezahlt werden. Während die San, Kogi, Ik und andere eingeborene Stammesgesellschaften vielleicht weniger als zwei bis vier Stunden täglich mit Nahrungssuche und der Erfüllung lebensnotwendiger Bedürfnisse verbrachten (und bis heute verbringen), hat sich diese Relation in den Gesellschaften der jüngeren Kultur radikal verändert, denn der »Durchschnittsbürger« mußte und muß für sein bloßes Überleben länger und härter arbeiten. Die Angehörigen der herrschenden Elite indessen konnten im Luxus schwelgen und immer weniger arbeiten.

Also mußte für jeden Menschen, der nur ein oder zwei Stunden am Tag arbeitete, ein anderer vier oder acht oder zehn Stunden arbeiten. Ohne eine massive Ausbeutung von Ressourcen oder Diebstahl am Eigentum anderer Menschen müssen für jede Person mit zehnfachem Reichtum zehn andere sich auf ein Zehntel dessen beschränken, was ihnen eigentlich zustehen würde. So wurden die sozialen und ökonomischen Klassen geboren, und die ersten Regierungen wurden gebildet, um die sozio-ökonomische Struktur der Gesellschaft zu definieren, anzuordnen und zu kontrollieren und den Reichen dabei zu helfen, ihren Reichtum zu bewahren und zu vergrößern.

Ob sie es wußten oder nicht, diese Regierungen – damals meist Königreiche – haben die Werte der jüngeren Kultur auf alle Bürger, arm und reich, übertragen. Die Mächtigen jener Zeit haben das Bewußtsein ihrer Untertanen »programmiert«, genauso wie es heute unsere Regierungen, Erziehungsinstitutionen und Massenmedien tun.

[219]

Wie es geschah

Niemand weiß, wie es zum ersten Ausbruch des kulturellen Wahnsinns von Wétiko gekommen ist, aber den Gesetzen der Logik nach ist es wahrscheinlich an Orten geschehen, wo Nahrung hin und wieder im Überfluß vorhanden war. So betrieben beispielsweise bei den amerikanischen Ureinwohnern die Stämme der Tlingit und Waida an der nordwestlichen Pazifikküste in der Gegend um Vancouver Island einen extensiven Handel und hielten Sklaven, lange bevor die Europäer kamen (die selbst ebenfalls Sklaven besaßen). Anthropologen (die von westlichen Vorurteilen beeinflußt sein könnten) gehen davon aus, daß zu jeder beliebigen Zeit bis zu 25 Prozent der lokalen Bevölkerung Sklaven gewesen sein könnten, wobei sieben bis 15 Prozent die Norm waren. Warum?

Einige Anthropologen haben die Theorie entwickelt, daß diese Stämme, weil die Lachse zweimal im Jahr durch ihr Gebiet zogen und kurzfristig für Nahrungsüberfluß sorgten, Methoden entwickelt haben, um die gefangenen Fische haltbar zu machen (Trocknen, Salzen etc.) und auf diese Weise während des ganzen Jahres mehr Nahrung zur Verfügung zu haben, von der sehr viel mehr Menschen leben konnten. Und tatsächlich wuchs die Anzahl der Stammesmitglieder in vielen dieser Gegenden, so daß zu einem Stamm schließlich mehrere hundert Menschen gehörten, während die Stämme der Jäger und Sammler weiter im Landesinneren selten mehr als 50 bis 100 Mitglieder zählten. Eine ähnliche Größenordnung hatten die meisten Stämme offenbar auch in Europa von den Anfängen der menschlichen Besiedlung vor etwa sechzig- bis vierzigtausend Jahren bis zum Auftreten der »Zivilisation« vor fünf- bis zehntausend Jahren, und wir finden immer noch Reste dieser Struktur in Nordschweden bei den Lappen, welche die letzten eingeborenen Jäger- und Sammlergesellschaften in Europa sind.

[220]

Zusammen mit der Möglichkeit, mehr Menschen zu ernähren, entstand durch die Fähigkeit, Nahrungsmittel haltbar zu machen, jedoch ein zweiter, kulturell zerstörerischer Nebeneffekt: Das Horten von Nahrung schuf den ersten Reichtum.

Diejenigen, die am erfolgreichsten Nahrung horteten oder Nahrungsvorräte stahlen, verfügten über den größten Nahrungsreichtum. Wenn die Nahrung vorübergehend knapp wurde, mußten sich die Menschen oder Stämme den Reichen unterordnen, um genügend Nahrung zum Überleben zu bekommen.

Das Horten von Nahrung war vielleicht der erste Schritt, mit dem sich die Menschen von der Natur entfernten.[61] Es schuf die erste Trennung zwischen den Menschen und der natürlichen Welt. Als Begleiterscheinung entwickelte sich eine selbstzerstörerische Arroganz und der Glaube, man könne die Natur beherrschen, woraus schließlich die Idee entstand, man könne andere Menschen unterwerfen oder ausrotten.

Die »Sklaverei« (Verlust der Freiheit) der Zivilisation

Im Jahre 1861 durchquerte Mark Twain einen großen Teil der Vereinigten Staaten mit der Eisenbahn und der Überlandkutsche, und er dokumentierte seine Reise in Roughing It. Das Buch wurde 1871 veröffentlicht. Während einer Fahrt mit der Postkutsche in der Nähe des Großen Salzsees begegnete er einer Gruppe von Schoschone sprechenden amerikanischen Ureinwohnern, die sich Gosuite nannten und von den Weißen oft als »Digger Indians« bezeichnet wurden. Twain hielt sie für »die elendesten menschlichen Wesen, die ich je gesehen habe« und schrieb, »[sie] stellen nichts her, sie haben keine Dörfer, keine Versammlungsorte in ihren [221]streng begrenzten Stammesgemeinschaften – ein Volk, dessen einziges Obdach ein Lumpen ist, der als Schutz gegen den Schnee über einen Busch geworfen wird, und das gleichwohl in einer der felsigsten, kältesten, abstoßendsten Gegenden lebt, die es in unserem Land oder überhaupt auf der Welt geben kann. Die Buschmänner und unsere Goshoots[62] [sic] stammen eindeutig von demselben Gorilla, Känguruh oder derselben Wanderratte ab, ganz gleich, welchem tierischen Vorfahren die Darwinisten sie zuordnen.«

Bis auf den heutigen Tag sehen viele Leute, die sich nicht die Mühe gemacht haben, sich genauer mit den Schoschonen oder anderen Jäger- und Sammlervölkern zu beschäftigen, diese Menschen ganz ähnlich wie Mark Twain. In Büchern und Filmen wird immer wieder unterstellt, ihr Leben müsse ein andauernder verzweifelter Kampf um die tägliche Nahrung gewesen sein, und sogar Menschen vom Format eines Benjamin Franklin haben gesagt, weder ihre Kultur noch ihre Religion verdiene, als solche bezeichnet zu werden.

Doch diese Überzeugungen, die Twain, Franklin und viele moderne Menschen teilen, sind falsch. Wenn das höchste Ziel der gegenwärtigen Zivilisation darin besteht, Freizeit zu haben, frei zu sein von den Zwängen, für Nahrung und Obdach sorgen zu müssen, damit man über die großen Mysterien des Lebens nachdenken kann, dann hatten die Schoschonen den Gipfel des Erfolgs erreicht!

Unsere Kultur lehrt, daß Zivilisationen (Städte/Staaten) als Ergebnis technologischer Innovationen (wie es der Ackerbau war) entstehen und den Menschen mehr Freizeit gewähren. In dieser Freizeit, so lautet die Geschichte, bringen sie Kunst, Literatur und Religion hervor und erkunden den Kosmos. Primitive Kulturen haben das alles nicht, weil ihnen die Zeit dazu fehlt.

Tatsächlich handelt es sich hier jedoch um zwei unserer tödlichsten Mythen.

[222]

Freizeit

Jede empirische Untersuchung historischer oder gegenwärtiger Kulturen kommt zu dem Ergebnis, daß die Leute um so härter arbeiten müssen und ihr Leben um so hektischer ist, je komplexer und hierarchischer eine Kultur aufgebaut ist. Sehen Sie sich nur an, wie viele Stunden pro Woche der durchschnittliche Angestellte in einer mittleren Leitungsposition arbeitet (ungefähr 60) und in wie vielen Familien zwei Erwachsene 40 Stunden pro Woche arbeiten, was einer Gesamtarbeitszeit von 80 Wochenstunden entspricht, um Miete oder Hypotheken zu bezahlen und die Familie zu ernähren.

Freizeit im Sinne von Freiheit genießt in einer städtisch-staatlich organisierten Gesellschaft nur eine sehr kleine Gruppe von Menschen: die wirtschaftliche und politische Führungsschicht. Und weil die herrschende Klasse keine Nahrung produziert, müssen die anderen Nahrungsproduzenten entsprechend mehr Zeit dafür aufwenden.

Die Schoschonen benötigten genauso wie alle anderen Menschen durchschnittlich 2000 Kalorien pro Tag. Aber sie verbrachten durchschnittlich nur zwei Stunden täglich mit der Nahrungssuche, weil sie Nomaden waren, die dem Nahrungsangebot folgend von Ort zu Ort zogen. Wenn mit dem Wechsel der Jahreszeiten die Nahrung an einem Ort knapp wurde, zogen sie einfach in eine andere Gegend. Wenn ein bestimmtes Nahrungsmittel nicht vorhanden war, wußten sie, wo und wie sie ein anderes finden konnten.

Professor Richard Lee von der Toronto University hat festgestellt, daß eine ähnlich strukturierte Stammesgruppe, die !Kung in der afrikanischen Kalahari-Wüste, weniger als 15 Stunden pro Woche (ungefähr zwei Stunden pro Tag) damit verbrachten, Nahrung zu suchen und für andere Lebensnotwendigkeiten zu sorgen. Den Rest der Zeit, so sagt er, spielten sie, erzählten Geschichten und [223]musizierten. John Yellen von der National Science Foundation stellte fest, daß dasselbe für die Hottentotten gilt, eine andere Gruppe von Jägern und Sammlern in Afrika.

Kulturelle Tiefe

Im Gegensatz zu den Eindrücken Mark Twains hatten die Schoschonen eine differenzierte Kultur und Religion, die reich an Bedeutung war. Im allgemeinen litten sie nicht unter Hungersnöten oder Seuchen. Sie lebten zumindest mehrere tausend Jahre lang bequem und glücklich auf ihrem Land, hielten es, so gut das in einer Wüsten- und Bergregion möglich war, sauber und fruchtbar und lebten in Harmonie mit ihren Nachbarn.

Zu der Zeit, als Mark Twain durch ihr Territorium reiste, hatten die Schoschonen – über einen Zeitraum von mehr als tausend Jahren – etwas verwirklicht, das unsere Führer immer wieder als höchstes Menschheitsziel anpreisen: Sie hatten dafür gesorgt, daß es keine Kriege gab. In ihrer Sprache existierte nicht einmal ein Wort für Krieg.

Die Schoschonen lebten als Stammesgesellschaft in einer der verlassensten Gegenden Nordamerikas, und ihre Bevölkerungsdichte schwankte zwischen einer Person auf fünfzig Quadratmeilen und einer Person auf hundert Quadratmeilen. Eine typische Stammeseinheit bestand aus einer einzigen Großfamilie von fünf bis zwanzig Personen, die gemächlich durch ein weites Gebiet zogen. Wenn sie bei seltenen Gelegenheiten von anderen (einschließlich Weißen) angegriffen wurden, liefen sie einfach davon und versteckten sich. Doch solche Situationen waren seltene Ausnahmen, vor allem deshalb, weil die Schoschonen keine Reichtümer angesammelt hatten. Sie hatten keine Verfahren entwickelt, um Nahrung haltbar zu machen und zu horten, sie sammelten keine Mineralien und auch sonst nichts, was sie nicht hätten bei sich tragen [224]können. In dieser Hinsicht waren sie nicht arm: Ihr Leben war bequem, ihre Familienbeziehungen waren bedeutsam, und sie fanden immer reichlich Nahrung. Ein Symbol dafür ist die Tatsache, daß es einem Schoschonen höchstes Ansehen eintrug, wenn er anderen von dem gab, was er hatte. Großzügigkeit war der Weg, auf dem man bei den Schoschonen gesellschaftliches Ansehen erwarb, im Gegensatz zu den Weißen, deren sozialer Status davon abhing, wieviel Nahrungsvorräte und andere Besitztümer sie unter ihrer Kontrolle hatten.

Von den Weißen wurden die Schoschonen als Diggers (Gräber) bezeichnet, weil sie oft im Boden nach Wurzeln und anderer Nahrung gruben. Die Weißen unterstellten, daß es sich dabei um eine Art landwirtschaftlicher Unfähigkeit handelte, aber tatsächlich verfügten die Schoschonen über ausgezeichnete Kenntnisse in bezug auf das Leben in ihrer Umgebung, oberhalb und unterhalb der Erde. Sie benutzten einen heiligen Grabstock, um ihre Nahrung aus dem Boden zu holen, die dann im Rahmen von Ritualen und Zeremonien verarbeitet und transportiert wurde. Wenn ein Stein bewegt werden mußte, benutzten sie dazu eine andere Art von Stock. Wenn die Schoschonen in die Natur blickten, sahen sie eine Landschaft, die reich an sichtbarem und verborgenem Leben war. Dieses Leben war ihnen bekannt, es rief sie, sprach zu ihnen und führte sie auch oft.

Die Kultur der Schoschonen war voller Rituale und Regeln, welche, um ihren Chronisten, den verstorbenen Peter Farb[63], zu zitieren, »genauso komplex waren wie die des Vatikan oder des Hofes von Versailles«. Während ihres ganzen Lebens mußten sie sich der Geister der Natur und der jenseitigen Welten, die sie umgaben, bewußt sein, um zu überwachen, ob ihre Handlungen und ihre Beziehungen zu anderen angemessen und passend waren, mußten sich ihre Verpflichtungen und früheren Interaktionen mit ihrer [225]Familie und anderen Clans vergegenwärtigen und wissen, wo sich die heiligen und profanen Orte befanden, damit sie besucht oder gemieden werden konnten. Besonders ausgefeilte Verhaltensregeln gab es für die Riten des Übergangs einschließlich der Eheschließung, Geburt, Tod und Pubertät.

Im Leben der Schoschonen herrschte weitgehende Gleichheit. Führerschaft hing vor allem davon ab, ob jemand ein guter Ratgeber war. Der beste Jäger führte die Jagd an; wer als Medizinmann oder Medizinfrau über die meisten Kenntnisse und Erfahrungen verfügte, war der Arzt der Gruppe; der beste Nahrungssammler führte bei der Suche nach Pflanzen. Da das Niveau von Wissen und Erfahrung sich im Laufe des Lebens bei den einzelnen Menschen veränderte, wechselten auch die Führungsrollen häufig. Die jeweiligen Führer betrachteten ihre Aufgabe eher als Verpflichtung denn als Gelegenheit, Macht und Reichtum zu erlangen, wie es »zivilisierte« Menschen oft tun. Die Führungsaufgabe war eine schwere Last und wurde deshalb mit Respekt wahrgenommen und oft auf mehrere Personen verteilt. Niemand strebte sie an oder arbeitete darauf hin, sondern sie wurde meist dem kompetentesten Mitglied vom Rest des Stammes aufgebürdet. Der häufige Wechsel der Führerschaft unter den Schoschonen war eine Eigenart, welche die weißen Europäer anfangs besonders verwirrte.

Während ein Farmer in Iowa heute jeden Tag unter Einsatz seiner 2000 Kalorien Lebensenergie zwölf Millionen Kalorien Nahrungsmittel produzieren muß (und das nur tun kann, indem er technische Geräte einsetzt, die mit Öl betrieben werden), brauchte ein Schoschone täglich nur 4000 Kalorien Nahrung zu produzieren. Das ist es, was die Anthropologen als »kulturellen Überhang« bezeichnen: Je mehr Energie eine Gesellschaft darauf verwendet, nicht eßbare »Dinge« – seien es Kathedralen oder Spielzeuge oder Wohnhäuser – zu produzieren, desto mehr Energie müssen diejenigen, die Nahrung produzieren, mit ihrem Einsatz erzeugen. Während der kulturelle Überhang bei uns massiv ist, war [226]er bei den Schoschonen relativ bescheiden: Die zusätzlichen Kalorien, welche die Erwachsenen beschaffen mußten, dienten überwiegend dazu, kleine Kinder und sehr alte Stammesangehörige zu ernähren.

Aus diesem Grund kam es bei den Schoschonen auch selten zu Hungersnöten. Sie hatten keine schwankenden Produktionsstrukturen und keine Vorratshaltung, die umkippen konnte. Wenn das Nahrungsangebot in einem Gebiet knapp wurde, zogen sie einfach weiter.

In all diesen Beziehungen waren die Schoschonen (wie die meisten anderen Völker, die in kleinen Stammeseinheiten leben) bemerkenswert frei von den Lasten jeder Art von Sklaverei. Niemand »arbeitete« für einen anderen, niemand war das »Eigentum« eines anderen, niemand produzierte Nahrung für irgend jemanden, der nicht zur engeren Familie gehörte. Durchschnittlich verbrachten sie zwei bis vier Stunden am Tag mit der Nahrungssuche, und der Rest der Zeit stand ihnen zur freien Verfügung, um sich der Muße hinzugeben oder Zeremonien abzuhalten. (Diese Situation ist typisch für Stammesgesellschaften überall auf der Welt.)

Moderne Sklaven

Im Gegensatz zu den Menschen, die in Stammesgesellschaften leben, gibt es in unserer modernen Gesellschaft nur wenige Leute, die sich auch nur annähernd »frei« fühlen. Wir sind moderne Sklaven, Gefangene der »Sklavenhalter« unserer Kultur. Diese Sklavenhalter benutzen als Ketten Hypotheken, die wir der Bank schulden, Kredite fürs neue Auto, unbezahlte Rechnungen, Grundsteuern fürs Eigenheim und viele andere mehr oder weniger subtile Formen ökonomischer und kultureller Druckmechanismen, um uns den größten Teil unserer Lebenszeit zu rauben und für ihre Zwecke zu verwenden.

[227]

Als Resultat kennt fast jeder in der modernen Gesellschaft irgend jemanden, der Beruhigungsmittel nimmt oder zu viel Alkohol trinkt; Fernsehsucht ist so verbreitet, daß sie zum Zerfall traditioneller sozialer Gruppen und Vereine führt, und unsere Kinder versinken in einem Meer von Schmerz und Verwirrung, was in den letzten dreißig Jahren zu einer Verdoppelung der Selbstmordrate von Teenagern geführt hat.

Sklaven wissen, daß sie Sklaven sind, ganz gleich, mit welchen Worten man ihre Sklaverei beschreibt. Und sie werden immer versuchen, der Sklaverei zu entkommen, sei es durch zunehmend stärkere Drogen, durch zunehmend intensivere Formen der »Unterhaltung« oder durch psychopathisches oder gewalttätiges Verhalten.

Wir müssen anfangen, unseren Kindern und unseren Bürgern beizubringen, wie man nach einer wahrhaftigeren Geschichte der Welt sucht, und wir müssen sie ermutigen, nach der Wahrheit der Gegenwart zu suchen. Nur dann können wir wieder eine Verbindung zu unserer Vergangenheit herstellen und so damit beginnen, eine größere persönliche Identität, kollektive Identität und kollektive Verantwortlichkeit zu schaffen.

Auf der Grundlage dieses neuen Gefühls dafür, wer wir sind und wo wir in der Welt hingehören, werden die Dinge, die wir zu tun haben, um einen Beitrag zur Rettung der Welt zu leisten, erkennbar und machbar; ohne diese Perspektive erscheinen sie uns überwältigend und undurchführbar.

Bei meinen diesbezüglichen Untersuchungen und Überlegungen bin ich zu dem Schluß gekommen, daß wir von den Angehörigen der älteren Kulturen wichtige Lektionen lernen können. Vielleicht sind das tatsächlich die Lektionen, die unsere Welt retten werden …

 

 

[228]

Das Leben der alten Völker

Die Mission der Vereinigten Staaten ist eine der wohlwollenden Assimilation.

U.S.-Präsident William McKinley (1843–1901)

Die San und die Kogi: Die Bedeutung von Gemeinschaft und Kooperation; wir sind ein Teil der Welt und nicht von ihr getrennt

Eine der ältesten Kulturen der Erde ist die der !Kung-Buschmänner in der Wüste Kalahari im nördlichen Teil Südafrikas. Das Ausrufungszeichen in ihrem Namen !Kung steht für einen bestimmten Laut in ihrer Sprache, den es in unserer Sprache nicht gibt: ein Schnalzen, das im Mund erzeugt wird, indem man die Zunge oben gegen den Gaumen preßt, so daß sich dort ein Vakuum bildet, und dann die Zunge ruckartig nach unten schnellen läßt. Es gibt noch drei andere Laute in ihrer Sprache, für die wir keine Buchstaben haben, und bei allen handelt es sich um schnalzende oder klickende Geräusche, die auf ähnliche Weise dadurch erzeugt werden, daß man die Zunge gegen den vorderen oder seitlichen Teil des Gaumens oder der Zähne preßt. Die !Kung-Buschmänner haben eine so einzigartige Kultur hervorgebracht, daß ihre Sprache, so alt sie auch ist, Laute enthält, die in keiner anderen Sprache der Erde zu finden sind.

Als sie während der letzten Jahrzehnte besser bekannt wurden, haben sie Anthropologen und Linguisten gebeten, sie als die San zu bezeichnen, obwohl man sie in den meisten Veröffentlichungen, die vor 1980 erschienen sind, weiterhin die !Kung nennt. (Die [229]San und ihr Leben werden in dem Film Die Götter müssen verrückt sein auf wunderbare Weise portraitiert.)

Die San unterscheiden sich in rassischer Hinsicht von anderen Afrikanern, die den Kontinent während der letzten Jahrtausende erobert haben. Ihre Haut ist mehr gelb als schwarz, und ihre Augen sind leicht geschlitzt, als würden sie von Asiaten abstammen, oder vielleicht sind sie auch selbst frühe Vorfahren der Asiaten. Ihr Haar ist schwarz und kraus wie bei anderen Afrikanern, aber sie sind relativ klein und zierlich gebaut, oft kaum größer als 1,50 Meter bei einem Gewicht von deutlich weniger als 100 Pfund.

Der erste Chronist, der recht gewandt über das Leben der San berichtete, war Laurens van der Post, ein südafrikanischer Forschungsreisender und Schriftsteller. In seinem 1961 erschienenen Buch The Heart of the Hunter[64] (Das Herz des Jägers) berichtet er darüber, wie er einem kleinen !Kung-Stamm von etwa einem Dutzend Erwachsenen und Kindern begegnete, die gerade einen besonders heißen und unwirtlichen Teil der Wüste durchquerten. Van der Post und seine Begleiter begannen, Wild zu jagen, damit die Buschmänner mehr Nahrung mit auf ihre Reise »zu den Blitzen am Horizont« nehmen konnten, wo die jahreszeitlich bedingten Regenfälle einsetzten. Die Forschungsreisenden verbrachten einen ganzen Tag damit, von ihren Landrovern aus zu jagen, und sorgten dafür, daß die Buschmänner für ihren weiteren Weg gut gerüstet waren.

Als der kleine Stamm aufbrach, standen van der Post und seine Leute da und winkten ihnen zum Abschied nach, aber die Buschmänner zogen einfach lächelnd und ohne ein Dankeswort davon.

Einer der Assistenten von van der Post, ein Jäger, der noch nie zuvor Buschmänner getroffen hatte, meinte, sie seien wohl ziemlich undankbar und gleichgültig. Doch Ben, ein anderer Mann aus der Gruppe, der die Kultur der Buschmänner verstand, erläuterte, [230]daß es bei ihnen lediglich ein Ausdruck guten Benehmens und ein ganz normales Verhalten sei, anderen Menschen Nahrung und Wasser zu geben. Wenn umgekehrt die Gruppe der weißen Forschungsreisenden nichts mehr zu essen gehabt hätte, dann hätten die !Kung sofort Nahrung und Wasser mit ihnen geteilt, selbst wenn das ihr eigenes Überleben gefährdet hätte. Und sie hätten dafür ebenfalls keinen Dank erwartet.

Vor den Augen eines anderen Menschen zu essen, der selbst keine Nahrung hat, gilt in der Kultur der San-Buschmänner als unmoralisch und genauso entsetzlich, als würde in unserer Kultur jemand auf einem belebten Gehweg die Hosen herunterlassen und seinen Darm entleeren.

Gleichwohl sagen die San durchaus »danke«. Sie tun es bei jeder Jagd, wenn sie beschließen, einem Tier das Leben zu nehmen. Die San töten kein einziges Tier, das sie als Nahrung brauchen, ohne sich bei ihm zu bedanken, sowohl während der Jagd als auch später, wenn sie einen Tanz für die Seele des Tieres aufführen. Außerdem werden nur Tiere getötet, wenn sie eindeutig als Nahrung benötigt werden.

Diejenigen von uns, die in einer modernen Zivilisation aufgewachsen sind, können sich nur schwer ein Leben und eine Kultur vorstellen, wo solche fundamentalen Dinge einfach selbstverständlich sind. Wenn wir an einer roten Ampel hinter einem anderen Wagen halten, öffnen wir auch nicht die Tür und laufen zu dem Auto, das vor uns steht, um uns dafür zu bedanken, daß der Fahrer so rücksichtsvoll war, die Verkehrsregeln zu befolgen und vor der roten Ampel zu halten – es ist selbstverständlich, daß jeder das tut. Niemand würde Dankbarkeit dafür erwarten. Menschen für etwas zu danken setzt voraus, daß sie sich auch anders hätten verhalten können, aber so gehandelt haben, weil sie nett sein wollten.

Doch stellen Sie sich eine Welt vor, in der es genauso selbstverständlich ist, andere Menschen zu ernähren, wie es selbstverständlich ist, vor einer roten Ampel zu halten, eine Welt, in der jemand, [231]der anderen nichts zu essen gibt, geächtet oder bestraft wird, so wie man einen Strafzettel bekommt, wenn man über eine rote Ampel fährt. Eine Welt, in der es wichtiger ist, für andere zu sorgen als für sich selbst, wo der Grundsatz »so wie du von anderen behandelt werden willst, sollst du auch mit ihnen umgehen«, tatsächlich praktiziert wird – nicht aus einem besonderen Bemühen heraus, sondern als Teil des Alltags, als Normalität, als ein fundamentaler Aspekt der Gesellschaft.

Das ist die Kultur der San: die Art und Weise einer älteren Kultur.

Ein Geschichtenerzähler, der von den Chippewa und Cree abstammt, hat mir berichtet, daß sein Volk davon überzeugt ist, wenn jemand zu Besuch kommt und man nicht Nahrung und Wasser mit den Gästen teilt, so daß sie hungrig oder durstig wieder gehen, und der Schöpfer beschließt, sie »in diesem Moment heimzurufen«, dann kommen sie hungrig oder durstig in der geistigen Welt an. »Die Verantwortung dafür, daß jemand in diesem Zustand dort ankommt, trägst du, denn du warst der letzte Mensch, den diese Person getroffen hat, und du hattest die Gelegenheit, ihr etwas zu essen zu geben. Also sind wir verpflichtet, jedem, der in unser Dorf oder in unser Haus kommt, wenn es nötig ist, Nahrung, Wasser und Obdach zu geben.«

In unserer jüngeren Kultur schätzen wir Produktivität und individuellen Besitz. In der älteren Kultur schätzen die Menschen die Gemeinschaft. Die meisten »modernen« Menschen können sich eine Welt, in der Gemeinschaft wichtiger ist als Besitz, nur schwer oder gar nicht vorstellen, aber das ist die Art und Weise, wie ungefähr ein Prozent der Weltbevölkerung immer noch lebt, und wie alle Ihre und meine Vorfahren vor hunderttausend Jahren gelebt haben.

1997 veröffentlichte eine Gruppe von dreizehn Forschern die Ergebnisse einer Untersuchung, bei der sie den Wert aller »Umweltgüter« auf dem Planeten quantifiziert hatten. Vom Umfang der Krabbenernte in Louisiana bis hin zu dem Preis, den Leute für den [232]Zugang zu einem See, einem Korallenriff oder anderen Naturschönheiten zu zahlen bereit waren, hatten sie alles zusammengestellt und waren zu dem Schluß gekommen, daß die Naturgebiete auf unserem Planeten etwa 300 Billionen Dollar wert waren.

Daß jemand auch nur daran denkt, die Erde mit einem Preisschild zu versehen, ist ein deutliches Zeichen dafür, wie weit es mit uns gekommen ist. Darin zeigt sich eine Geisteshaltung, die besagt, daß die Welt nur für uns da ist und nur in dem Maße von Wert ist, in dem wir sie bereits nutzen oder nutzen können. Aus dieser Perspektive sind »natürliche Ressourcen« nur dann wirklich eine »Ressource«, wenn sie von Menschen verwertet werden können.

Viele Menschen teilen diese Sichtweise. Von denen, die behaupten, der Planet sei ein sich selbst stabilisierendes lebendes System, bis zu jenen, die argumentieren, wir brauchten mehr unberührte Natur, damit die Camper und Rucksacktouristen genügend Wälder hätten, lautet die implizite Botschaft, daß wir Ökosysteme schützen müssen, weil sie für die Menschen von Wert sind, entweder direkt oder in ästhetischer Hinsicht.

Da gibt es jene, die poetisch von der Schönheit der Pazifikküste oder der erstaunlichen Vitalität der Regenwälder am Amazonas schwärmen. Wir müssen diese Gebiete schützen, sagen sie, damit unsere Kinder und Enkel sich auch daran freuen können. Oder sie sagen, wir müssen sie schützen, weil diese Bäume die Lungen des Planeten sind und weil an dieser Küste einzigartige Lebensformen existieren, unter denen wir vielleicht eines Tages ein Mittel finden, das Krebs heilen kann. Wir müssen die Naturgebiete erhalten, weil wir sie vielleicht eines Tages wollen oder brauchen könnten.

Die alten Kogi-Indianer Kolumbiens[65] hingegen blicken auf die Bergkette der südamerikanischen Sierra Madre, der Großen Mutter [233]allen Lebens, und sehen, daß, während die Mutter den Menschen einen Platz gewährt hat, ihre »jüngeren Brüder« unserer jüngeren Kultur nun dabei sind, die Mutter selbst zu zerstören. Unsere Flugzeuge, die am Himmel kreuzen, stechen sie wie zahllose Nadeln; mit unseren Bergbau-Ausrüstungen graben wir uns in ihr Fleisch und zerren ihre Eingeweide heraus; wir bohren uns tief in sie hinein und entziehen ihr über unsere Wasser- und Ölquellen die Flüssigkeit; wir werfen ihr Ruß und Müll und Rauch ins Gesicht und auf den Körper. Die Kogi haben Botschafter ausgesandt, um der modernen Welt mitzuteilen, daß sie entsetzt sind von dem, was sie sehen: Wir sind dabei, die Mutter allen Lebens zu töten.

Selbst wenn sie extrem nobel, altruistisch und um unsere Umwelt besorgt ist, legt unsere jüngere Kultur eine grundlegende Egozentrik an den Tag, denn im Kern geht es ihr darum, daß wir bei einem Verlust unserer natürlichen Umwelt diese nicht mehr länger nutzen, schätzen oder sogar anbeten können.

Auf jeden Fall enthält unsere kulturelle Weltsicht eine implizite Hierarchie im Sinne von »gut – besser – am besten« oder »schlecht – schlechter – am schlechtesten«. Entweder die Natur ist besser oder edler als die Menschheit, oder aber die Menschheit steht über der Natur und hat die edle Verpflichtung, sich diese untertan zu machen und zu beherrschen. Es gibt – wie im Kino – immer die guten und die bösen Jungs.

Aber man kann die Natur auch anders sehen. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, halten ältere Kulturen an der fundamentalen Überzeugung fest, daß wir uns von der Natur nicht unterscheiden, nicht getrennt von ihr sind, nicht verantwortlich für sie sind und weder höher noch tiefer stehen als die natürliche Welt. Wir sind ein Teil von ihr. Was immer wir der Natur antun, tun wir uns selbst an. Was immer wir uns selbst antun, tun wir der Welt an. Die meisten älteren Kulturen haben nicht die Vorstellung einer von uns getrennten »Natur«: Alles ist eins mit uns, und wir sind eins mit allem.

[234]

Die Kayapo: umweltverträgliche[66] Landwirtschaft

Die Kayapo sind ein Volksstamm von Gê-sprechenden Ureinwohnern, die in den nordbrasilianischen Regenwäldern leben. Sie existieren dort seit mindestens 2000 Jahren, und viele Wissenschaftler gehen davon aus, daß sie dieses Gebiet schon seit 8000 bis 10 000 Jahren bewohnen. Ihre Lebensweise hat sich während der ganzen Zeit nicht verändert – bis vor kurzem.

Die Kayapo praktizieren eine interessante Form des Ackerbaus, die auf der Vorstellung basiert, daß man sich aus den Wäldern und von den Feldern nehmen kann, was man braucht, ja, sogar Wald und Feld manipulieren kann, damit sie mehr Nahrung und Heilpflanzen hergeben, dabei das Land jedoch nicht verletzen darf.

Sie beginnen damit, daß sie etwas anlegen, was man als »Rundfelder« bezeichnet. Von einem bestimmten Punkt im Wald ausgehend fällen sie die Bäume in einem Umkreis von etwa drei bis sieben Metern, wobei jeder Baum so fällt, daß seine Krone zum Rand einer kreisförmigen Lichtung weist. Dadurch entsteht ein offener Bereich, der mit den gefällten Bäumen bedeckt ist, die wie die Speichen eines Rades strahlenförmig von der Mitte nach außen zeigen.

Im ersten Jahr pflanzen sie Hülsenfrüchte und Knollen wie Maniok, Kartoffeln und Yams zwischen die gefällten Bäume. Diese Pflanzen stabilisieren den Boden, und viele von ihnen binden Stickstoff und andere Nährstoffe. Am Ende der Wachstumsphase verbrennen die Kayapo die Bäume und streuen die Asche als Dünger über den Boden. Dem Wurzelgemüse schadet das Feuer nicht; die Knollen werden anschließend ausgegraben, gelagert oder gleich gegessen.

Im zweiten Jahr werden Nahrungspflanzen kreisförmig von der Mitte der Lichtung ausgehend bis zum Waldrand gesät. Die Pflanzen, [235]die am meisten Sonnenlicht brauchen wie Süßkartoffeln und Yams, stehen in der Mitte, und dann folgen von innen nach außen die Pflanzen, die mehr Schatten benötigen: Mais, Reis, Maniok, Papaya, Baumwolle, Bohnen und Bananen. Die Pflanzen, die am meisten Schatten brauchen, bilden die äußeren Kreise.

Zwei bis fünf Jahre lang wird das Feld auf diese Weise kultiviert, und jedes Jahr wird ein neues Feld angelegt. Im siebten Jahr schließlich wird das erste Feld nicht weiter bewirtschaftet, so daß auf der immer noch fruchtbaren Erde neue Bäume wachsen können. Viele Feldfrüchte wachsen in diesem Bereich weiterhin wild – vor allem Kartoffeln und Yams – und werden noch jahrelang geerntet, während der Wald sich allmählich wieder ausbreitet.

Während der ersten zehn oder zwanzig Jahre, in denen aus dem ehemaligen Feld wieder Wald wird, wachsen dort Beerensträucher, Heilkräuter und kleine Obstbäume, die ebenfalls das Nahrungsangebot erweitern. Es gibt eine Menge Büsche und Unterholz, wo Kleinwild lebt, das die Kayapo jagen, um ihren Fleischbedarf zu decken. Nach zwanzig Jahren ist das ehemalige Feld wieder ein Teil des Regenwaldes.

Diese umweltverträgliche Landwirtschaft praktizieren die Kayapo seit mindestens zweitausend, vielleicht sogar schon seit zehntausend Jahren. Sie ermöglichte es ihnen, eine riesige Kultur aufzubauen, die sich über weite Gebiete Brasiliens erstreckte, bis die mörderischen spanischen und portugiesischen Eindringlinge kamen, die sich selbst als Eroberer oder Konquistadoren bezeichneten.

Wie anders war die Welt der Kayapo – und die der San –, verglichen mit der unsrigen.

 

 

[236]

Macht versus Kooperation in sozialen Systemen:
Stadt/Staat versus Stamm

Jedes Gewehr, jede Kriegshandlung und jede Rakete ist letztendlich ein Diebstahl an jenen, die hungern und nichts zu essen bekommen, an jenen, die frieren und nichts anzuziehen haben.
Die bewaffnete Welt verschwendet nicht nur Geld. Sie verschwendet den Schweiß ihrer Arbeiter, das Genie ihrer Wissenschaftler, die Hoffnungen ihrer Kinder.

U.S.-Präsident und Fünf-Sterne-General
Dwight D. Eisenhower, 16. April 1953

Kürzlich hörte ich, wie ein selbsternannter Prophet darüber sprach, daß die Welt bald untergehen würde, weil der Gott seiner Sekte auf die Menschen zornig war, besonders auf die Mitglieder einer bestimmten politischen Partei. »Zwei Drittel aller jetzt lebenden Menschen werden sterben!« rief er. »Seuchen, Hunger und Feuer vom Himmel werden sie töten!«

Mein erster Gedanke war, daß der plötzliche Tod von zwei Drittel der Menschheit eine erdgeschichtliche Katastrophe sein würde. Es würde extrem schwierig sein, genügend Platz zu finden, um alle Toten zu begraben, und der Gestank und die Krankheitsrisiken wären unvorstellbar. Die Leichen würden sich an den Straßenrändern stapeln, so wie beispielsweise 1350 in London, als die halbe Stadt der Beulenpest zum Opfer fiel. Die New York Consolidated Metropolitan Statistical Area (CMSA, ein Ausdruck des statistischen Amtes für dichtbesiedelte städtische Gebiete mit erhöhtem Ansteckungsrisiko) würde über 13 Millionen Tote zu bewältigen haben, wodurch die Bevölkerungszahl von 20 Millionen auf sieben [237]Millionen sinken würde. Im Gebiet von Los Angeles würden von 15 Millionen Menschen nur fünf Millionen überleben, in Chicago von acht Millionen nur etwa drei Millionen. Die Bevölkerung von Mexiko würde von 95 Millionen Menschen auf etwas über 30 Millionen sinken; in Italien würden statt 57 Millionen nur noch 19 Millionen leben; Chinas 1,2 Milliarden Menschen würden auf lediglich 400 Millionen reduziert. Die Welt wäre übersät mit toten und sterbenden Menschen, und das Überleben würde zu einem Alptraum werden.

Mein zweiter Gedanke war ein ganz anderer: Ich überlegte, daß, wenn zwei Drittel aller Menschen sterben würden, die Zahl der Überlebenden immer noch höher wäre als die gesamte Weltbevölkerung im Jahre 1930. Selbst wenn statt der von diesem Prediger angenommenen zwei Drittel fünf Sechstel aller Menschen sterben würden, gäbe es auf der Erde immer noch mehr Menschen als im Jahre 1800 – und schon damals war unser Planet relativ dicht bevölkert. Stellen Sie sich vor, daß 23 von 24 heute lebenden Menschen sterben müßten – selbst dann würden auf der Erde immer noch mehr Menschen existieren als zur Zeit von Christi Geburt, und damals war die Welt keineswegs dünn besiedelt.

Zyklen von Aufschwung und Abschwung, Aufstieg und Fall, Überfluß und Mangel, ja sogar Zyklen von Hunger und Seuchen – sie alle sind normal in dicht bevölkerten Städten und Staaten, die auf Wachstum und Konsum basieren. Es hat sie in der Vergangenheit immer wieder gegeben, zunächst lokal begrenzt, dann regional und dann national, wie wir es am Beispiel der ehemaligen großen Weltreiche gesehen haben. Wenn genügend Nationen sie zur gleichen Zeit erleben, könnten sie auch global auftreten.

Solche Zyklen treffen jedoch selten Menschen, die in Stammesgemeinschaften organisiert sind und umweltverträglich auf der Basis lokaler Ressourcen wirtschaften. Der Grund dafür hängt mit der jeweiligen Organisationsform zusammen.

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Stammeskulturen und Stadt- und Staatskulturen

Wir können zwei grundlegende soziale Organisationsformen des menschlichen Zusammenlebens unterscheiden: Städte/Staaten und Stämme. Stammesgemeinschaften hat es während der gesamten hunderttausend Jahre der uns bekannten menschlichen Geschichte gegeben: Die kleinste Stammeseinheit ist die Familie, die größten haben historisch zwischen fünfzig und ein paar hundert Menschen umfaßt. (Einige Gruppen, die in Wirklichkeit nach dem Muster von Städten und Staaten organisiert sind, bezeichnen sich selbst als Stämme wie beispielsweise die heutigen Zulus in Afrika, doch Sie werden bald erkennen, daß es sich dabei eigentlich um Städte und Staaten handelt.)

Historisch gesehen waren Stammesgesellschaften eine sehr erfolgreiche Organisationsform. Von Beginn der Menschheitsgeschichte bis vor 7000 Jahren waren alle Menschen auf unserem Planeten in Stammesgesellschaften organisiert.

Noch bis zum Jahre 1800 war die Hälfte der Erde von Stämmen bevölkert.

Die Struktur einer Stammesgruppe

Hunderttausend Jahre oder länger waren Menschen in Stammesgesellschaften organisiert, und es ging ihnen dabei ziemlich gut: Einige Stämme haben sogar bis heute überlebt. Untersuchungen heutiger Stammesgesellschaften belegen, daß das Leben in diesen Gemeinschaften relativ streßfrei und befriedigend ist, den Menschen mehr Freizeit gewährt als das Leben in Städten und Staaten, und daß es – vielleicht am wichtigsten – auch langfristig umweltverträglich ist.

Stämme werden durch fünf grundlegende Eigenschaften charakterisiert:

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  1. politische Unabhängigkeit
  2. Gleichberechtigung
  3. Deckung des täglichen Bedarfs aus erneuerbaren und lokalen Quellen
  4. Gefühl für die eigene Identität
  5. Respekt vor der Identität anderer Stämme
Politische Unabhängigkeit

Ein Stamm ist eine politisch unabhängige Einheit, der gewöhnlich zwischen einem Dutzend und zweihundert Mitglieder angehören.

Eins der Probleme, die die frühen Siedler im Umgang mit den in Stammesgemeinschaften organisierten amerikanischen Ureinwohnern hatten, hing mit ihren eigenen Geschichten über soziale Strukturen zusammen, denn sie erwarteten eine hierarchische städtische und staatliche Organisation (örtliche Gruppen wie Städte, größere Gruppen wie Staaten und so weiter), die in dieser Form nicht existierten. Wenn die Siedler beispielsweise mit einem örtlichen Stamm von dreißig bis fünfzig Leuten eine Vereinbarung getroffen hatten, dann gingen sie davon aus, daß diese Vereinbarung für alle amerikanischen Ureinwohner galt, die denselben Stammesnamen trugen oder dieselbe Sprache hatten. Aber das war und ist nicht der Fall. Es gab Tausende von Cheyenne- oder Apachen- oder Paiute-Stämmen, und jeder war eine politisch unabhängige Einheit.[67]

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Gleichberechtigung

Bei einem Stamm ist die Rolle des Führers keine autoritäre, sondern eine beratende. (Es gibt Ausnahmen von dieser Regel, aber anthropologische Untersuchungen zeigen, daß diese selten sind.)

Auch das haben die frühen europäischen Eindringlinge nicht verstanden: Im Grunde hielten sie es für ein Zeichen von Rückständigkeit, und so suchten sie stets den »Häuptling« oder Führer eines Stammes, weil sie glaubten, es reiche aus, mit ihm zu verhandeln, und der Rest des Stammes würde sich den Abmachungen fügen. Tatsächlich wird die Stammesführung jedoch von einer Gruppe wahrgenommen, und sogar diese hat eher eine beratende als eine autoritäre Funktion. Die Macht wird wie die materiellen Güter unter den Stammesmitgliedern aufgeteilt.

Wie die Kibbuz-Bewegung in Israel gezeigt hat, funktioniert diese Variante eines Regierungssystems nach Gemeindegruppen im Rahmen kleiner »Stammesgruppen«. Wie die Erfahrungen in den Städten und Staaten der früheren kommunistischen Welt belegen, versagt sie bei größeren städtischen und staatlichen Einheiten. Moderne Menschen, die die Welt aus der Sicht ihrer eigenen Geschichte betrachten, gehen von der Annahme aus, daß es auch in Stämmen Menschen mit hohem Status geben muß, beispielsweise Medizinmänner, Schamanen, Häuptlinge etc. Tatsächlich zeigt jedoch eine sorgfältige Lektüre der Berichte von Menschen, die mit Stämmen Kontakt hatten, bevor diese den negativen Einflüssen der Städte und Staaten ausgesetzt waren, daß die Personen, die solche Titel trugen, als Gleiche unter Gleichen galten und ihre besondere Rolle als Verpflichtung zum Dienst an anderen, nicht jedoch als Gelegenheit zur Herrschaft betrachteten.

Deckung des täglichen Bedarfs aus erneuerbaren und lokalen Quellen

Die Stämme ernähren sich von dem, was in ihrer Gegend wächst. Wenn sich das Nahrungsangebot verändert oder knapp wird, ziehen sie weiter. Einige Stämme ziehen regelmäßig durch ein bestimmtes [241]Gebiet und bleiben einige Monate bis zu einigen Jahren dort, bevor sie in ein anderes ziehen, damit sich der bisherige Standort erholen kann. Andere Stämme bleiben an einem Ort oder leben vom Ackerbau.

Die beiden Schlüsselbegriffe lauten hier »lokal« und »erneuerbar«. Stämme leben in engem Kontakt mit ihrer lokalen Umwelt und entwickeln dadurch gewöhnlich religiöse, soziale und rechtliche Systeme, die die Bedeutung und den Wert der Natur hervorheben. (Weil Stämme mit dem, was ihnen zur Verfügung steht, meist sorgfältig und sparsam umgehen, um lange davon zehren zu können, sind die Gebiete, in denen sie leben, – leider – in der Regel reich an natürlichen Ressourcen und deshalb attraktiv für die Räuber der städtischen und staatlichen Kulturen.)

Gefühl für die eigene Identität

Ein Stammesmitglied wird in seinen Stamm hineingeboren. Der Stamm definiert die Identität der Menschen, die ihm angehören. Stämme missionieren nicht (sie versuchen nicht, andere für ihre Lebensweise zu gewinnen), sie akzeptieren keine »Überläufer« oder »Zugezogenen«, und sie sind überzeugt, daß ihre Lebensweise, ihre Weltsicht und ihre Götter die besten für sie sind. Ein Apache würde beispielsweise genauso wenig daran denken, sich als Cree zu bezeichnen, wie er daran denken würde, sich als Wolf oder Berg zu bezeichnen. So etwas wäre undenkbar. Dieser Ethnozentrismus leistet den Stämmen gute Dienste, indem er ihnen ein langfristiges Überleben als Stammeseinheit garantiert; er hat dazu beigetragen, daß die Stämme Hunderttausende von Jahren erfolgreich existieren konnten. Genauso haben die Unterschiede in den menschlichen Gemeinschaften, die durch so viele verschiedene Stämme gewährleistet wurden, für eine starke menschliche Präsenz überall auf der Welt gesorgt: Artenreiche Ökosysteme sind stark, während Monokulturen empfindlich sind und dazu neigen, unter Belastungen zusammenzubrechen.

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Respekt vor der Identität anderer Stämme

Zwar gibt es auch unter Stämmen gelegentlich Konkurrenz oder Konflikte, aber meist kooperieren sie miteinander, wie man in den Ritualen der Potlach oder Pow-wow sehen kann. Vielleicht betrachtet ein Stamm den anderen mit Geringschätzung wegen seiner sozialen, religiösen oder anderer Praktiken, aber es gibt nur wenige historische Berichte über Völkermord bei Stammesgesellschaften. Vielleicht kämpft man gegen einen anderen Stamm, aber man rottet ihn nicht vollständig aus. Denn letzten Endes sind die anderen Stämme doch nützlich, denn sie stellen andere Dinge her und man kann mit ihnen Tauschhandel treiben. Sie sind genetisch verschieden, also garantieren die Heiraten untereinander (die meist bei zeremoniellen Anlässen oder als Teil der Handelsgeschäfte vollzogen werden) einen starken Genpool. Und, vielleicht am wichtigsten, dadurch daß sie die »anderen« sind, kann der eigene Stamm seine Identität als »wir« bewahren.

Obwohl die Konflikte zwischen Stämmen gelegentlich zu Todesfällen führen können, sterben dabei nur selten viele Menschen, und bei den meisten Stämmen, die Anthropologen im Laufe der Jahre untersucht haben, führen solche Konflikte gewöhnlich überhaupt nicht zum Tod. Die Funktion der Konflikte besteht vielmehr darin, die Grenzen und den einzigartigen Charakter des »Wir« der jeweiligen Stämme zu stärken und zu bewahren. Insofern dienen sie dem Überleben beider Stämme.

Die Struktur einer städtischen und staatlichen Kultur

Vor ungefähr 7000 Jahren entstanden die ersten politisch organisierten Stadtstaaten. Seitdem haben sie systematisch und methodisch fast alle Reste der Stammeskulturen, mit denen sie in Berührung kamen, ausgelöscht. Dieser Prozeß ist mittlerweile nahezu [243]beendet: In unserem Jahrhundert sind mehr Stammesgesellschaften ausgerottet worden als je zuvor. Allein in Brasilien wurden zwischen 1900 und 1950 siebenundachtzig Stämme ausgelöscht, und heute sind nur noch ein bis zwei Prozent der Weltbevölkerung in Stammesgemeinschaften organisiert.

Die Geschichte, die unsere Kultur sich selbst über die Zerstörung der Stämme erzählt, besagt, daß die Primitiven zwangsläufig den Preis des Fortschritts bezahlen müssen. Darwin und Thomas Huxley sind implizit davon ausgegangen, daß das Sterben der Stämme ein natürlicher Prozeß war, der zeigte, daß die soziale Organisation der Städte und Staaten den Stammesgesellschaften automatisch überlegen war. Die Stammesvölker waren »primitiv«, während wir »fortgeschritten« sind, und deshalb führt die natürliche Auslese dazu, daß die Stämme früher oder später verschwinden. Dasselbe ist mit Tausenden von Pflanzen- und Tierarten in der Vergangenheit geschehen: Was nicht überlebensfähig war, wurde ausgelöscht, und die Welt ist dadurch angeblich besser geworden.

Doch nun erkennen wir allmählich die Schwachpunkte der hierarchischen Struktur von Städten und Staaten.

  1. Weil Städte/Staaten hierarchisch organisiert sind, ergibt sich zwangsläufig eine Konzentration der Macht. In einer jüngeren Kultur (und das gilt für 99 Prozent dessen, was uns geblieben ist) führt diese Entwicklung zu einer Konzentration des Reichtums und zur Existenz von Habenichtsen.
  2. Weil wir in diese Art hierarchischer Organisation eingebunden sind, nehmen wir an, daß die gesamte Natur hierarchisch aufgebaut ist und daß wir an der Spitze der Hierarchie stehen. Diese Annahme läßt es vernünftig erscheinen, daß wir den Rest der Welt, der »den Menschen unterlegen ist«, verderben und zerstören.
  3. Das Resultat dieser strukturellen Annahmen besteht darin, daß die Weltbevölkerung längst die Zahl überschritten hat, die noch [244]umweltverträglich wäre, daß wir unsere Atmosphäre geschädigt, unsere Nahrung und unser Wasser verschmutzt und gefährdet haben und daß wir Krankheitserreger produzieren, die für die Menschheit tödlicher sind als alles, was unsere Vorfahren sich auch nur annähernd vorstellen konnten.
  4. Städte und Staaten hatten immer eine Geschichte, die vom Aufstieg über eine (relativ) kurze Periode der Herrschaft zum Untergang führte.

Im Gegensatz zu den Eigenschaften der Stammesgesellschaften zeichnen sich Städte und Staaten aus durch:

  1. politische Herrschaft
  2. Hierarchien: eindeutig autoritäre Strukturen
  3. Handel und Eroberung
  4. Absorption der Identität anderer Kulturen
  5. Völkermord durch Kriege gegen andere
Politische Herrschaft

Während Städte, Staaten, Nationen und Königreiche für sich selbst politische Unabhängigkeit in Anspruch nehmen, gibt es auf der Ebene der einzelnen Bürger und Familien keine Unabhängigkeit. Die lokalen Einheiten der Familien und Gemeinden unterstehen der übergeordneten politischen Einheit von Städten und Staaten. Das schafft eine Geisteshaltung von Herrschaft und Hierarchie, die sich überall im Geschäftsleben, in den Familien, den örtlichen Gemeinschaften und den organisierten Religionen äußert, die fast immer auf eine Weise aus den Städten und Staaten hervorgehen, die deren Zwecken dient.

Für die Menschen des Westens ist das am offensichtlichsten in den alten europäischen Königreichen, wo das Land, die Ernte, die Tiere, die Bäume und sogar die Menschen dem König gehörten – und dieser seine politische Macht, Soldaten, Polizei, Folterkammern [245]und Gefängnisse einsetzte, um seinen Untertanen durch Zwang einen Teil ihres Lebens oder ihrer Produkte abzupressen. (In Europa ist besser bekannt als in Amerika, daß sich dies sogar bis in die intimsten Augenblicke im Leben eines Menschen erstreckte: »Das Recht der ersten Nacht« war in Europa 1600 Jahre lang ein üblicher Tribut, wobei jede Frau, die heiratete, ihre Hochzeitsnacht mit dem König oder dem örtlichen Fürsten verbringen mußte, ihm ihre Jungfräulichkeit darbrachte und erst anschließend das Bett mit ihrem Gatten teilen durfte. Diese Praxis wird im Gilgamesch-Epos erstmals dokumentiert.)

Die modernen Formen der politischen Unterdrückung sind je nach Land mehr oder weniger subtil, aber das Prinzip ist immer dasselbe: Die Bürger sind dazu da, der herrschenden Regierung zu dienen, und müssen dieser Regierung regelmäßig einen Teil ihres Lebens, ihrer Zeit oder ihres Reichtums opfern.

Hierarchische Strukturen

Städte und Staaten sind so organisiert, daß die mächtigsten, aggressivsten oder reichsten Leute in hohe Positionen aufsteigen, während jene, die über wenig Macht oder Reichtum verfügen oder keine Bereitschaft zur Aggressivität zeigen, einen geringen Status und Positionen mit wenig Macht haben. Diese Art von innerer Sozialstruktur ist der Motor, der Städte und Staaten zu permanenter Expansion treibt, denn die mächtigsten und reichsten Individuen sammeln und verbrauchen einen immer größeren Teil der verfügbaren Ressourcen. Dadurch bleibt für die unteren Schichten immer weniger, woraus sich der Zwang zum Wachstum ergibt, um Unruhen oder Aufstände zu vermeiden.

Handel und Eroberung

Wirtschaftlich autarke Städte und Staaten, die mit dem auskommen, was ihnen in ihrem eigenen Gebiet zur Verfügung steht, sind selten, und wenn es sie gibt, dann werden sie leicht zum Ziel für [246]die Expansionswünsche der anderen, die durch Handel oder Eroberungen versuchen, sich immer mehr anzueignen. Solche Bewegungen haben während der letzten paar Generationen die politische Landkarte ungefähr ein Dutzend mal verändert. Wegen ihrer hierarchischen sozialen, politischen und ökonomischen Strukturen müssen Städte und Staaten oft auf äußere Quellen zurückgreifen, um ihr weiteres Wachstum zu gewährleisten. Wenn ihre eigenen Ressourcen erschöpft sind (wie es historisch bei fast allen Städten und Staaten zu beobachten ist), werden sie zu Angreifern und Eroberern und unterwerfen ihre Nachbarn. Dieser Prozeß setzt sich immer weiter fort, während die Entfernung zu den Nachbarn zunehmend größer wird, bis schließlich der gesamte Planet aufgezehrt ist. Zu diesem Zeitpunkt beginnt das System vielleicht zusammenzubrechen – genau wie beim Ponzi-Schema oder bei einem Unternehmen, das sein Startkapital aufgezehrt hat.

Eine Kultur, die nur durch Eroberungen überleben kann, muß zwangsläufig zusammenbrechen, wenn die Grenzen der weltweiten Ressourcen erreicht sind.

Ausbeuterisches Missionieren und »absorbierende« Identität

Wachstum ist das wichtigste Gebot für Städte und Staaten. Wenn das Wachstum zum Stillstand kommt, brechen sie oft politisch, sozial und ökonomisch zusammen oder werden erobert, oder es kommt zum inneren Machtwechsel durch einen Putsch. Weil Wachstum so wichtig ist, sind mehrere Methoden der Expansion entwickelt worden.

Die erste Methode besteht darin, daß andere Menschen und ihre Ressourcen absorbiert werden. Sklaven wurden von Afrika nach Europa und Amerika gebracht; während eine europäische Nation die andere eroberte, brachte sie ihre neuen »Untertanen« unter ihre Herrschaft. Die amerikanischen Ureinwohner wurden erobert, und die europäischen und amerikanischen Städte, Staaten und Nationen eigneten sich deren Ressourcen an. Das resultierte in Bevölkerungswachstum, [247]einer Erhöhung von Produktivität und Konsum und einer wachsenden Zahl von Verbrauchern für das, was die Städte und Staaten produzierten.

Ein zweiter Wachstumspfad ergibt sich durch Assimilation, wenn Menschen ihre Stammesidentität zugunsten einer neuen Identität aufgeben. Missionare überzeugen die Staatsangehörigen[Stammesangehörigen? Anm.d.Tippers], daß ihre Lebensweise schlecht oder sündig ist, und bieten ihnen die Möglichkeit, sich der Kultur und Religion der Städte und Staaten »anzuschließen« (wenn auch nur auf der untersten Stufe der Hierarchie).

Während Stammesgesellschaften niemals missionieren würden (niemals andere Stämme bitten würden, genauso zu werden wie sie), ist dies ein Hauptmerkmal der meisten Städte und Staaten und wurde historisch durch die Drohung mit (und den Vollzug von) Tod, Folter, vollständiger Ausrottung (wie früher bei den Kreuzzügen, der Inquisition, der Eroberung des amerikanischen Westens oder heute bei der Versklavung der einheimischen Völker in Südamerika und Asien) oder ewiger Verdammnis erzwungen.

Krieg mit anderen Städten und Staaten

Weil Städte und Staaten zwangsläufig Wachstum brauchen, um überleben zu können, kommen sie notwendigerweise in Konflikt mit anderen Städten und Staaten (oder Stämmen), die über die benötigten Ressourcen verfügen. Obwohl Städte und Staaten manchmal für eine gewisse Zeit ein dynamisches Gleichgewicht bewahren können und dadurch stabil wirken (wie beispielsweise die Vereinigten Staaten und Kanada), zeigt die Geschichte, daß diese Stabilität insgesamt betrachtet relativ kurzlebig ist. Früher oder später lebt man über seine Verhältnisse und muß auf die Ressourcen anderer zurückgreifen. Das kann auf der finanziellen Ebene im Rahmen des Handels geschehen, wie sich an der Tatsache zeigt, daß über 70 Prozent des gesamten Obstes in amerikanischen Supermärkten aus Ländern der Dritten Welt stammt, oder man [248]setzt Waffen ein, um den eigenen Anspruch (oder den von »Nachbarn« oder »Verbündeten«) auf Land, Menschen und Ressourcen geltend zu machen, wie wir es im Golfkrieg erlebt haben.

Wenn Städte und Staaten erst einmal mit Krieg in Berührung gekommen sind, haben sie nicht mehr viele Möglichkeiten, genauso wie eine Kultur, die mit Wétiko in Berührung gekommen ist. Überleben können sie typischerweise nur dadurch, daß sie genauso werden wie ihre Angreifer: Sie müssen lernen, erfolgreich Krieg zu führen.

Die möglichen Ursprünge von Städten und Staaten

Irgendwann weit zurück in der Vorgeschichte hat ein Stammesoberhaupt das Weltbild der Stämme verletzt oder ist (in den Augen seines Volkes) geisteskrank geworden.

Dieser Stammeshäuptling beschloß, die traditionelle Kooperation mit anderen Stämmen aufzukündigen und ihr Land statt dessen zu erobern und die Menschen zu versklaven. Um seine eigenen Leute für diese Idee zu gewinnen, benutzte er vielleicht einen ähnlichen Anreiz wie Kolumbus, indem er seinen Männern erlaubte, die Frauen der anderen Stämme zu vergewaltigen oder sogar junge Mädchen als Haus- und Sexsklavinnen zu halten. Vielleicht wandte er auch die Methode von Pizarro an – der befahl, daß seine Schiffe bei der Ankunft in Amerika verbrannt werden sollten, damit die Feiglinge nicht desertieren konnten, was ihm die vollständige und absolute Herrschaft über seinen Stamm garantierte.

Vielleicht hatte dieser erste Wétiko-Stammesfürst eine Art Rechtfertigung für sein Verhalten, beispielsweise dadurch, daß ungünstiges Wetter zu Ernteausfällen oder einem Mangel an Wild führte, so daß seine Leute Hunger litten. Oder vielleicht überzeugte er [249]sein Volk davon, daß die Götter ihm diesen schrecklichen Auftrag gegeben hatten. Wie auch immer – er und sein Stamm überfielen einen Nachbarstamm und eroberten dessen Gebiet.

Krieg und Völkermord waren erfunden.

Während er das Land des Nachbarstammes eroberte und die dort lebenden Menschen tötete oder versklavte, entdeckte der Häuptling, daß die Anwendung von Gewalt gegen andere auch bei seinen eigenen Leuten Angst vor ihm aufkommen ließ. Aus dieser Angst heraus gaben sie ihm, was er verlangte, und taten, was er wollte: Sie schlossen sich seiner Killerbande an, gaben ihm einen Teil ihrer Jagdbeute oder Ernte als Tribut oder überließen ihm ihre Kinder als Arbeitskräfte oder Soldaten.

Ein auf Herrschaft und Angst basierendes Führungsprinzip war erfunden.

Indem er sich mit Gewalt von jedem Stammesmitglied einen Tribut an Gütern oder Dienstleistungen sicherte, erhöhte er seine Macht weiter. Nun konnte er seinen Überfluß mit seinen nächsten Angehörigen teilen, die ihm ihrerseits halfen, seine Herrschaft über den Stamm zu festigen und zu erhalten.

Reichtum und der Einsatz von Kapital waren erfunden.

Er sah die Frauen an, die bei den meisten Stämmen einen hohen Status einnehmen, weil man ihrer Fähigkeit, neues Leben hervorzubringen, großen Respekt zollt, und ihm wurde klar, daß sie eine Bedrohung für seinen neuen, auf Herrschaft beruhenden Führungsstil darstellten. Er wies auf ihr Menstruationsblut, das man über Zehntausende von Jahren heilig gehalten und in Fruchtbarkeitszeremonien auf die Felder verteilt hatte, und bezeichnete es als »unrein«.

Er wies auf die Schmerzen, die einige Frauen während der Geburt erlebten, und erklärte, sein Gott habe ihm gesagt, sie seien eine [250]Strafe. Die Frauen seien verflucht und Gehilfinnen niederer oder böser Götter. Sie hatten die Macht, in Männern Verlangen zu wecken, und weil er so genau wußte, wie sehr Macht korrumpieren kann, beschloß er, die Frauen müßten kontrolliert, verborgen und beherrscht werden, sie dürften nicht mehr gleichberechtigt sein, sondern sollten zukünftig als Eigentum der Männer betrachtet werden. Wenn die Ernten schlecht waren, Menschen an Krankheiten starben oder Naturkatastrophen hereinbrachen, dann war das die Schuld der Frauen und ihrer Hexerei.

Sexuelle Herrschaft und die patriarchale Hierarchie waren erfunden.

Seine Leute blickten in den Nachthimmel und auf die Naturgewalten – Blitz, Erdbeben und Feuersbrünste – und kamen zu dem Schluß, es gebe eine Allmacht, die nach eigenem Gutdünken dafür sorge, daß es den Menschen gut oder schlecht ging. Er sagte seinem Volk, die Götter hätten ihn als ihren Sprecher erkoren. Er beschwor heilige Namen und Kräfte, und seine Fähigkeiten als erfolgreicher Krieger wurden als Beweis für den Segen des mächtigsten Gottes betrachtet. Er verbot seinen Leuten, andere Götter außer jenem zu verehren, der durch ihn sprach, und sandte Botschafter aus, um die Menschen, die sich nicht vor dem Gott verneigten, der durch ihn sprach, zu bekehren oder zu töten. Diejenigen, die bereit waren, seinen Worten zu glauben, durften sich dem Stamm anschließen, nachdem sie ihm und seinem Gott Gehorsam geschworen hatten.

Ausbeuterisches und gewaltsames Missionieren waren erfunden.

Wenn man andere Menschen als Herrschaftsobjekte sieht, dauert es nicht mehr lange, bis man auch die Natur als etwas betrachtet, das beherrscht werden muß. Statt den bisher üblichen Praktiken einer umweltverträglichen Landwirtschaft zu folgen, die seinen Stamm über Zehntausende von Jahren am Leben erhalten hatten, beschloß der Häuptling nun ohne Rücksicht auf die Konsequenzen, [251]der Erde so viel Nahrung wie möglich abzuringen. Wenn die Böden ausgelaugt waren, mußte er das Land eines anderen Volkes erobern, und das konnte er jetzt auch, da er über die Mittel des Völkermords und der Sklaverei verfügte. Wenn sich irgendwelche Tiere als Nahrungskonkurrenten für seine Leute erwiesen – Wölfe, die ihre Schafe rissen, kleinere Tiere, die ihre Pflanzen fraßen, oder sogar Insekten –, dann setzte er alles daran, diese »Feinde« zu zerstören.

Die Landwirtschaft der verbrannten Erde war erfunden.

Weltweit ist die Stammesgeschichte voll mit Berichten über Banden, die auf eine dieser Arten geisteskrank wurden, weil sie Hunger hatten oder machtgierig waren und ihre Nachbarn töteten. Einige Stämme wurden größer als üblich und konnten Nahrungsvorräte anlegen, wodurch sich Hierarchien von Reichtum und Macht bildeten. Einige Stämme betrieben die umweltzerstörerische Landwirtschaft der verbrannten Erde und fielen dadurch entweder selbst dem Tod zum Opfer oder mußten in andere Gebiete ziehen. Und viele Stämme glaubten, ihre Götter seien die einzig wahren und alle anderen hätten entweder weniger Macht oder wären falsche Götter. Doch keiner dieser abtrünnigen Stämme erhob sich je, um die ganze bekannte Welt zu erobern.

Das hat damit zu tun, daß noch nie zuvor in der menschlichen Geschichte alle diese Elemente zur gleichen Zeit am gleichen Ort aufgetreten waren. Wäre es so gewesen, dann wären an diesem Punkt die Herrscherzivilisationen auf den Plan getreten. Doch das geschah erst vor etwa 7000 Jahren, als ein einziger Mann der erste Herrscher, der erste Missionar, der erste Landwirt nach dem Prinzip der verbrannten Erde wurde, und weil er all das in sich vereinte, was bei den Stämmen als drei einzelne Formen von Geisteskrankheit galt, wurde er der erste Urheber eines Stadtstaates.

Es gibt in der Geschichte Hinweise darauf, daß dieser Mann König Gilgamesch in den fruchtbaren Gebieten des Mittleren Ostens [252]gewesen sein könnte. Wahrscheinlich aber war Gilgamesch nur ein Abkömmling jenes ersten Mannes, der unsere Kultur erfand; Gilgamesch sorgte lediglich für die Feinabstimmung dieser neuen Synthese sozialer Elemente auf eine Weise, die es ihm ermöglichte, die ganze damals bekannte Welt zu erobern und ihrer Wälder zu berauben und darüber seine eigene Geschichte zu schreiben.

Die Stämme, die Gilgamesch und seinen kulturellen Erben gegenüberstanden, konnten sich nicht wehren. Sein neues Sozialsystem griff über auf die Syrer, die Griechen, die Römer, die Hebräer, die Araber, die Wikinger, die Türken, die Hunnen, die imperialistischen Staaten Europas: Großbritannien, Deutschland, Spanien, Frankreich, Portugal, Belgien, Holland, die »Amerikaner« und »Australier«, die aus Europa kamen, die Inkas, die Bantu, die Zulu, die Chinesen, die Japaner, die Koreaner, die Brahmanen in Indien und andere: Jeder Stamm, der sich ihnen in den Weg stellte, wurde ausgelöscht.

Vielen Stämmen fehlte die zentralistische Machtstruktur, die ihnen eine Kriegsführung ermöglicht hätte. Ihnen fehlte die arbeitsteilige Spezialisierung, die man braucht, um Kriegswaffen herzustellen und ein stehendes Heer zu unterhalten. Ihnen fehlte die Bereitschaft, jedes mit ihnen konkurrierende lebende Wesen in ihrer Umgebung zu töten, um ein Maximum an Nahrung zu erlangen. Ihnen fehlte der Glaube, ihr Gott wolle, daß sie alle anderen töteten, und würde sie dafür mit Glück segnen.

Sie waren völlig unvorbereitet. Und so flohen sie in immer entlegenere und weniger produktive Gebiete, bis es schließlich keinen Ort mehr gab, wohin sie fliehen und wo sie sich verbergen konnten.

Diejenigen, die überlebten, wurden »assimiliert«.

Die Geschichte des Stammes der Toradjas ist ein gutes Beispiel und ziemlich typisch. Die Holländer hatten die Insel Celebes (heute Sulawesi) erobert, und dort lebte im Poso-Distrikt ein Bergvolk, das man als die Toradjas bezeichnete. Sie bauten eine Reissorte an, [253]die wenig Wasser brauchte, und lebten als Stamm von Jägern und Sammlern. Ihr Wirtschaftssystem kannte weder Geld noch andere Tauschmittel, abgesehen von Freundlichkeit und Verpflichtung, und sie brauchten nie zu hungern. Sie waren recht glücklich mit ihrer Lebensweise, die sie schon Jahrtausende, bevor Holland von den Römern erobert wurde, gepflegt hatten, und sie zeigten kein besonderes Interesse daran, Getreide für den Export nach Holland anzubauen oder für die holländischen Eigentümer der Kaffeeplantagen im Tiefland zu arbeiten.

Diese Situation war unerträglich für die Holländer, die feststellten, daß unter solchen Umständen »Entwicklung und Fortschritt ausgeschlossen waren«, und daß, sofern nicht rasch etwas geschah, diese Stammesgesellschaft »zwangsläufig auf derselben Stufe« ihres primitiven Lebensstils bleiben würde.

Also schickte der holländische Gouverneur im Jahre 1892 Missionare, die die Stammeskultur zerstören sollten. Doch die Sache erwies sich als totaler Fehlschlag. Selbst das Angebot, die Kinder der Toradjas in der Missionsschule »kostenlos auszubilden«, reichte nicht aus, den Stamm davon zu überzeugen, daß er seine Religion und seine Lebensweise aufgeben sollte. Sie hatten einfach kein Interesse daran, in den Geschäften der Holländer einzukaufen, Kaffee oder Reis für den Export nach Holland anzubauen oder den Göttern der Holländer zu dienen. Doch ohne die billige Arbeitskraft der Einheimischen konnten die holländischen Betriebe in der Gegend nicht den optimalen Profit erwirtschaften.

Nach dreizehn Jahren eifriger Bemühungen durch die Kirche setzte die holländische Regierung ihren Plan B in die Tat um. Sie ließ ihre Armee einmarschieren, und die Toradjas wurden gezwungen, die Berghöhen ihrer Vorfahren zu verlassen und sich im Tiefland anzusiedeln. Die Männer der Toradjas wurden als Zwangsarbeiter beim Straßenbau eingesetzt (man nannte das »Einberufung«), und dann wurde eine Kopfsteuer auf alle Staatsangehörigen[Stammesangehörigen? Anm.d.Tippers] erhoben. Um die Steuer zahlen zu können, mußten die [254]Toradjas auf den Kaffeeplantagen arbeiten, und im Jahre 1910 waren sie »konvertiert«, schickten ihre Kinder in die Missionsschule, kauften westliche Kleidung und Geräte, rauchten Tabak, tranken Alkohol und nahmen den christlichen Glauben an. Obwohl ihre Sterblichkeitsrate in die Höhe geschnellt war und sie ein gesundes Leben in Muße, wie es ihre Vorfahren seit zehntausend Jahren geführt hatten, gegen Hektik und bittere Armut eingetauscht hatten, waren sie nun, wie die holländische Regierung es ausdrückte, »zivilisiert«.

Dasselbe Szenario hat sich buchstäblich Tausende Male in Asien, Afrika, Australien und natürlich in Nord- und Südamerika abgespielt. In einigen Fällen schicken wohlmeinende Spender sogar Geld, um Programme zur »Rettung der Heiden« in fernen Ländern zu unterstützen; das geschieht mit zunehmender Geschwindigkeit in den Dschungelgebieten von Brasilien und Südostasien, wo »zivilisierte« Interessen die Naturschätze des Dschungels ausbeuten wollen und dafür die Arbeitskraft der einheimischen Völker brauchen.

Die dritte und letzte Möglichkeit der Stammesgesellschaften besteht darin zu kämpfen. Wenn sie nicht fliehen und sich verbergen können und sich der »Assimilation« verweigern, dann müssen sie sich zum Kampf entschließen. Dieser Weg ist besonders zerstörerisch, weil sie dazu erst einmal die Kultur ihrer Feinde übernehmen müssen. Um eine effektive Armee aufzustellen, braucht man eine hierarchische Sozialstruktur, arbeitsteilige Spezialisierung und eine auf Herrschaft basierende Führung. Ressourcen müssen in rasendem Tempo verbraucht werden, was zu einem Verlust an Lebensqualität und oft zu Hunger und Armut führt. An diesem Punkt, noch bevor der erste Schuß fällt, hat die ältere Kultur den Krieg schon verloren: Sie ist zu ihrem eigenen Feind geworden.

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Die Bevölkerung in Stammeskulturen

Wenn wir die Stammesgesellschaften mit den städtischen und staatlichen Kulturen vergleichen, finden wir ein interessantes Muster. Während das Bevölkerungswachstum der Städte und Staaten wie das Wachstum von Krebszellen historisch immer nur durch Hunger und Seuchen kontrolliert wurde und kontrollierbar war, bleibt die Zahl der Stammesangehörigen oft über Jahrtausende stabil. Uns ist beigebracht worden, das sei eine Folge schlechter sanitärer Verhältnisse oder durch Nahrungsmangel, hohe Kindersterblichkeit und eine geringe Lebenserwartung bedingt.

Neuere Forschungsergebnisse zeigen jedoch, daß dies nicht der Fall ist. In der vor-antibiotischen Ära lebten die Stammesangehörigen durchschnittlich länger als die Bewohner von Städten und Staaten, und ihre Kindersterblichkeit war geringer. Außerdem zeigen die Untersuchungen fossiler Funde, daß die Menschen in Stammesgesellschaften verglichen mit den Bewohnern von Städten und Staaten generell weniger unter Karies litten, stärkere Knochen und seltener degenerative Krankheiten hatten. Im Laufe der Jahre haben viele Paläoanthropologen die landwirtschaftliche Revolution und die Entwicklung von Städten und Staaten als »Katastrophe für die öffentliche Gesundheit« bezeichnet.[68]

In seinem Buch The Prehistory of the Mind[69] (Die Vorgeschichte des Geists) stellt Steven Mithen fest, daß die Forschungsergebnisse eindeutig bestätigen, daß »… der Beginn des Ackerbaus eine Welle von Infektionen, eine qualitative Verschlechterung der Ernährung und eine Verringerung der durchschnittlichen Lebenserwartung mit sich brachte«. Aber warum haben die Menschen dann überhaupt Ackerbau-Gemeinschaften entwickelt? Mithen [256]hebt hervor, die Landwirtschaft habe zwar die Lebensqualität verschlechtert, aber auch dafür gesorgt, »daß einzelne Menschen Gelegenheit bekamen, ihre soziale Kontrolle und Macht zu sichern«. Unter Hinweis auf Darwins Theorie der natürlichen Auslese, die davon ausgeht, daß die Evolution häufiger dem Individuum als der Gruppe nützt, erklärt er: »Wir können tatsächlich feststellen, daß der Ackerbau nur eine weitere Strategie ist, durch die einige Individuen Macht erlangen und bewahren.«

Aber wie haben die Stämme ihr Bevölkerungswachstum kontrolliert?

Einer der Gründe, warum moderne Menschen, die Bewohner von Städten und Staaten, bereit sind, die Geschichte der Ausbeuter zu glauben, daß es gut ist, die Stammesvölker zu »retten«, indem man ihre Kultur zerstört, ist die Bevölkerungsfrage. Wie kontrollieren die Stämme ihr Bevölkerungswachstum, wenn nicht durch Kannibalismus, die Tötung Neugeborener, grassierende Krankheiten oder eine hohe Kindersterblichkeit? Unsere Kultur meint, das seien ihre Methoden der Bevölkerungskontrolle, aber diese Annahme ist falsch. Tatsächlich gibt es in modernen Entwicklungsländern wie Mexiko mehr Infektionskrankheiten, eine höhere Kindersterblichkeit, mehr Selbstmorde, Morde, Mangelernährung und Hunger als in jeder Stammesgesellschaft, die je untersucht wurde. Dennoch sind die Bevölkerungszahlen der Stämme Jahrtausende lang meist relativ stabil geblieben. Wie schaffen sie das?

Niemand weiß es.

In seinem Buch Der Weg der Zerstörung. Stammesvölker und die industrielle Zivilisation[70] hebt John Bodley hervor, daß wir die Art und Weise, wie Stämme ihr Bevölkerungswachstum kontrollieren, [257]»nicht ganz verstehen«, daß es sich dabei jedoch eindeutig nicht um irgendeine der oben erwähnten Methoden handelt. Zahlreiche Ausgrabungen in den Gebieten alter Stämme haben bis heute keinen Hinweis auf weitverbreitete Kindestötungen oder auch nur eine höhere Kindersterblichkeit erbracht, als sie heute in den meisten Ländern der modernen Welt üblich ist. Es gibt einfach kein nennenswertes Bevölkerungswachstum, und niemand weiß genau warum.

Eine Theorie besagt, daß die Fruchtbarkeit vom Nahrungsangebot abhängt. Zwar liegen darüber bisher noch keine Untersuchungen an menschlichen Populationen vor, aber wir wissen, daß sowohl wilde als auch in Gefangenschaft lebende Tiere sich stets in dem Ausmaß vermehren, das vom Nahrungsangebot vorgegeben wird, und dann ihre Fortpflanzung einstellen. (Fische, die in Aquarien gehalten werden, stellen sogar ihr Körperwachstum ein, wenn sie die Größe erreicht haben, die zum jeweiligen Aquarium paßt. Niemand weiß, wie sie das machen.) Möglicherweise gibt es auf der biologischen und hormonellen Ebene gewisse Rückkoppelungssysteme, die den Körper darüber informieren, daß es nicht genug Nahrung oder Lebensraum gibt. Wenn das Nahrungsangebot unter die optimale Schwelle sinkt, wird das Hormonsystem veranlaßt, weniger Sperma zu produzieren oder die Beweglichkeit der Spermien zu verringern oder weniger befruchtungsfähige Eizellen zur Verfügung zu stellen oder sogar weniger Hormone und Pheromone freizusetzen, die das sexuelle Verlangen anregen.

Eine andere Theorie hat mit dem Ausmaß an körperlicher Bewegung zu tun. In einer 1997 veröffentlichten Untersuchung[71] wurde festgestellt, daß 57 Prozent der Frauen, die Langläuferinnen waren, unter Amenorrhoe litten, also keine Menstruationsblutung mehr hatten und vorübergehend unfruchtbar waren. Während die moderne [258]Medizin diesen Zustand als eine »Krankheit« von Sportlerinnen betrachtet und versucht, den normalen Zyklus durch Hormonbehandlungen wieder herzustellen, kann eine solche körperliche Reaktion in einer natürlichen Umgebung Teil eines empfindlichen Mechanismus zur Regulierung der Bevölkerungszahl gewesen sein. Wenn in den letzten fünfhundert Jahren mehr als die Hälfte aller Frauen ständig unfruchtbar gewesen wären (abwechselnd, je nach dem Ausmaß an körperlicher Bewegung, wenn sie sich in schlechten Zeiten häufiger an der Nahrungssuche und Jagd beteiligen mußten), dann wäre es vielleicht nicht zu der enormen Bevölkerungsexplosion gekommen, die uns heute Sorgen macht. Ähnlich eine Untersuchung aus dem Jahre 1993[72]: Hier wurde festgestellt, daß die Wahrscheinlichkeit, daß eine Frau an Brustkrebs und Eierstockkrebs erkrankt, sich erhöht, wenn die erste Menstruation früh einsetzt (sportliche Aktivitäten bei jungen Mädchen sorgen für eine spätere Menarche), die Wechseljahre erst spät beginnen und, vielleicht am wichtigsten, die Menstruation regelmäßig stattfindet. Je häufiger eine Frau menstruiert, so scheint es, desto häufiger ist sie den Hormonen ausgesetzt, welche diese Art von Krebs fördern können. Körperlich sehr aktive Frauen haben während ihres Lebens insgesamt weniger Menstruationszyklen und dadurch seltener einen hohen Östrogenspiegel.

Eine dritte Theorie besagt, daß Stammesvölker, auch wenn sie gemessen an unseren Standards technologisch rückständig scheinen, bei Dingen, die ihr Leben direkt betreffen, vielen modernen Menschen oft weit überlegen sind. Stammesvölker haben beispielsweise Penizillin schon Jahrtausende vor seiner »Entdeckung« durch die moderne Wissenschaft zur Zeit des Zweiten Weltkriegs benutzt. Und schon fünftausend Jahre vor der »Entdeckung« des in der Eibe enthaltenen Wirkstoffes Taxol im Jahre 1990 haben sie [259]diesen Baum zur Behandlung von Brustkrebs eingesetzt. Heute weiß man auch, daß viele Pflanzen Bestandteile enthalten, die sich direkt auf den Östrogenspiegel oder andere hormonelle Funktionen bei Männern und Frauen auswirken. Die Früchte des Mönchspfefferbaums (Vitex agnus castus L. – »Keuschlamm«) beispielsweise wurden jahrtausendelang in Europa verwendet und dann in Griechenland von den »heidnischen« Medizinfrauen eingesetzt, um den männlichen Sexualtrieb zu verringern, damit die Fruchtbarkeitsgöttin während des Festes der Thesmophorien nicht beleidigt wurde und für eine gute Ernte sorgte. Der Name der Pflanze stammt von hagnos und castus ab, beides griechische Ausdrücke für Keuschheit. Andere Kräuter wie Rainfarn und Weinraute sind so wirksame Abtreibungsmittel für »den Morgen danach«, daß sie in diesem Sinne in den medizinischen Fachbüchern bis in den Anfang unseres Jahrhunderts beschrieben wurden. Es kann also durchaus sein, daß Menschen, die sich mit Naturheilmitteln gut auskannten (und das gilt für alle Stämme, die je untersucht wurden), ihr Wissen darüber benutzt haben, um ihre Fruchtbarkeit zu kontrollieren.

Zwei andere Möglichkeiten, die das Bevölkerungswachstum einschränken und die man in Stammesgesellschaften häufig beobachten kann, sind das Stillen der Säuglinge und Kleinkinder sowie die Homosexualität.

Für die Frauen der Stämme ist es üblich, ihre Kinder drei bis fünf Jahre lang zu stillen. Während dieser Zeit produziert der Körper Hormone, die das Wiedereinsetzen der Menstruation und Fruchtbarkeit verhindern, wahrscheinlich um den Körper der Frau vor der Doppelbelastung von Stillen und erneuter Schwangerschaft zu bewahren. Die Folge ist eine sehr effektive, aber natürliche Geburtenkontrolle.

Während Kulturen, die eine hohe Geburtenrate fördern – oft, um den Nachwuchs für riesige Armeen zu sichern –, gewöhnlich religiöse oder kulturelle Verbote im Hinblick auf homosexuelles Verhalten [260]entwickeln, fehlen solche Tabus auffallend häufig in Stammesgesellschaften, die nicht dem Zwang unterliegen, immer mehr Kanonenfutter zu produzieren. Wie von Will Roscoe[73] und Walter Williams[74] in ihren Büchern gut dokumentiert wird, wurden Schwule und Lesben und ihre homosexuellen Aktivitäten in vielen älteren Kulturen allgemein akzeptiert und oft sogar gefeiert.

Wenn zehn bis zwanzig Prozent der Bevölkerung Formen der Sexualität praktizieren würden, aus denen kein Nachwuchs hervorgeht, hätte das ebenfalls einen stabilisierenden Einfluß auf die Bevölkerungszahlen.

Eine letzte Theorie hebt hervor, daß Frauen in den meisten Stammeskulturen den Männern gleichberechtigt waren. (Sie hatten vielleicht verschiedene Rollen, aber dabei ging es nicht um Über- oder Unterordnung; im Hinblick auf die persönliche Macht, den sozialen Status und ihren Beitrag zum Gemeinschaftsleben waren sie gleichberechtigt.) Innerhalb solcher Sozialstrukturen haben Frauen mehr Einfluß auf den Fortpflanzungsprozeß, bestimmen mit, wann und wie Geschlechtsverkehr stattfindet, wann und wie Methoden der Geburtenkontrolle angewendet werden und so weiter. Eindeutig sind auch in den USA und in Europa die Geburtenraten in den letzten fünfzig Jahren in dem Maße gesunken, in dem Frauen mehr Macht erlangt haben, während in jenen streng katholischen, muslimischen und hinduistischen Ländern, in denen Frauen einen niedrigen Status haben und über wenig Macht verfügen, die Überbevölkerung explosive Ausmaße angenommen hat. Das betrachten manche Experten als Hinweis darauf, daß die bloße Gesellschaftsstruktur einer Kultur Auswirkungen auf ihre Fähigkeit zur Kontrolle des Bevölkerungswachstums haben kann. Beim Stamm der Dane in Indonesien beispielsweise entscheiden sich die meisten Frauen dafür, nach der Geburt eines Kindes fünf [261]Jahre lang auf jeden Geschlechtsverkehr zu verzichten. Bei diesem Volk, das über eine sehr komplexe soziale Organisation verfügt, welche den Frauen die Kontrolle über ihre Fortpflanzungsfähigkeit überträgt, hat dieses System dazu geführt, daß die Bevölkerungszahlen fünftausend Jahre lang stabil geblieben sind.

Ganz gleich, wie sie es schaffen, die Bevölkerungszahlen der Stämme bleiben auf eine Weise stabil, welche die Verfügbarkeit von Ressourcen auf ihrem jeweiligen Gebiet widerspiegelt. Wie das gesunde Körpergewebe nehmen sie, was sie brauchen, und nicht mehr. Das funktioniert wie durch Zauberei, aber es ist ein Zauber, den man auch bei allen Pflanzen und Tieren in der Natur findet.

Die Menschen in Städten und Staaten verfügen dagegen über ein ständig wachsendes Nahrungsangebot, weil sie ihre Umgebung dauernd ausbeuten und immer neue Länder erobern. Folglich wächst die Bevölkerung hier ohne Grenzen, bis die Zahlen schließlich durch Hunger oder Seuchen dezimiert werden. Das ist immer wieder geschehen, seit der erste Stadtstaat in Mesopotamien eine Hungersnot erlebte, nachdem die Menschen ihre Umwelt durch das Abholzen der Wälder zerstört hatten.

»Aber unsere Nationen sind so stabil …«

Einige Leser weisen jetzt vielleicht als Ausnahme von der Regel auf Länder in Europa hin, die ihre Bevölkerungszahlen stabilisiert haben, wie Norwegen, Deutschland und Italien. Aber auch wenn diese und andere Länder ihr Bevölkerungswachstum (überwiegend durch Geburtenkontrolle) gestoppt haben, führen sie doch kein umweltverträgliches Leben.

Wie alle Städte und Staaten der auf Herrschaft basierenden jüngeren Kultur verbrauchen diese Nationen weit mehr Ressourcen, als sie produzieren. (Denken Sie daran, daß bei der Förderung von Mineralien oder fossilen Brennstoffen, die dann verbraucht und [262]zerstört werden, nichts »produziert« wird.) Auch wenn der Energieverbrauch pro Person in Europa geringer ist als in den Vereinigten Staaten, leben diese Nationen und Staaten nur deshalb in relativem Frieden und Wohlstand, weil sie gespeichertes Sonnenlicht ausbeuten können, das es eines Tages nicht mehr geben wird. Voraussetzung für ihre relative Stabilität und ihren Wohlstand ist außerdem, daß die Regierungen ärmerer Länder weiterhin bereit sind, ihnen zu erlauben, ihre Waren gegen die Arbeitskraft der dort lebenden Menschen einzutauschen und Mineralien und Öl aus dem Boden unter den Füßen der ehemaligen Stammesvölker zu holen.

Obwohl sie im Moment vielleicht stabil wirken, sind alle Regierungen von Städten und Staaten aus sich heraus – aufgrund der kulturellen Geschichten, die ihr Fundament bilden – langfristig instabil. Wie ein Tumor oder ein Ponzi-Schema sind sie abhängig vom Wachstum: Wenn ihr Sozialprodukt sinkt, verfallen sie oft in Anarchie oder greifen ihre Nachbarn an.

Der Grund dafür ist die Zentralisation jener Elemente, auf die es im Leben ankommt: Nahrung, Energie, Wasser, Hygiene und Medizin. Ihre Geschichte besagt, daß Zentralisation gut ist, daß die Reichen und Mächtigen guten Willens sind (zumindest so lange, wie alles funktioniert) und daß es immer irgendein fernes Land geben wird, wo man billige Arbeitskräfte und natürliche Ressourcen bekommen kann.

Einige Länder wie Norwegen sind fast stabil. Das Leben ist gut, es gibt kaum Analphabeten, die Kriminalität ist gering, und Armut kommt selten vor. Aber ohne das Öl aus der Nordsee wäre Norwegen bald verlassen und verarmt.

[263]

Anarchie oder Stammessystem?

Das klingt vielleicht so, als wollte ich das moderne Stadt- und Staatssystem demontieren, aber darum geht es hier nicht. Um ein solches Vorhaben in die Tat umzusetzen, ist die Entwicklung schon viel zu weit fortgeschritten, und die Erfahrungen mit dem Kommunismus zeigen, daß, wenn eine auf Herrschaft basierende Kultur ihr wirtschaftliches oder politisches System ändert, die Leere nur durch eine neue Form von Herrschaft gefüllt wird. Dieses Buch ist kein Aufruf zur Revolution oder Anarchie.

Ich will hier auch nicht behaupten, das Stammesleben sei ein utopisches Ideal.

Zwar genießen viele Stammesvölker ein bequemes Leben mit viel Muße, aber es gibt auch andere, deren Dasein voller Schwierigkeiten, Gewalt und Terror ist. Auch wenn keine Naturgewalt in der Geschichte je das Ausmaß an Brutalität, Folter und Tod erreicht hat, das die Stämme durch die zivilisierten Mitglieder der jüngeren Stadt- und Staatskulturen erleiden mußten (und ganz gewiß hat keine Naturgewalt sie je zuvor ausgelöscht), so bereiten die Launen der Natur doch vielen ein schweres Leben voller Schmerzen.

Ihr Leben ist umweltverträglich, ja – aber es ist nicht zwangsläufig auch bequem.

Ich plädiere hier nicht für ein Entweder-Oder, eine Rückkehr zur Stammesgesellschaft oder eine Zerstörung dessen, was wir als moderne Zivilisation bezeichnen.

Statt dessen müssen wir vielmehr aufwachen und die kalte, klare Realität unserer Lage erkennen, in die wir uns selbst gebracht haben, und wir müssen verstehen, warum die Dinge so sind wie sie sind:

 

 

[265]

Aber was ist mit Darwin
und dem Recht des Stärkeren?

Daß unsere Verfassung dem Kongreß die Entscheidung über Krieg und Frieden überträgt, hat meines Erachtens folgende Gründe: Könige haben ihre Völker immer in Kriege geführt und waren dadurch maßgeblich für die Armut der breiten Massen verantwortlich, wobei sie im allgemeinen, wenn nicht immer, vorgaben, alles geschehe zum Besten des Volkes. Unsere verfassungsgebende Versammlung war der Ansicht, dies sei die drückendste aller königlichen Tyranneien, und deshalb legte sie in der Verfassung fest, daß kein einzelner Mensch über die Macht verfügen sollte, uns dieser Tyrannei auszusetzen.

Abraham Lincoln

Das Treffen [mit dem iranischen Außenminister vor dem Golfkrieg] sicherte uns die Unterstützung des Kongresses für etwas, zu dem der Präsident längst fest entschlossen war. … Ich denke, wir hätten in jedem Fall weitergemacht … sogar wenn wir die Abstimmung verloren hätten. … Ich akzeptiere nicht, daß ich die Zustimmung des Kongresses brauche.

James Baker, ehemaliger amerikanischer Außenminister,
über den Beginn des Golfkriegs

Ein Argument, das alle Leute (besonders, wie ich festgestellt habe, alle Gastgeber von Talkshows) vorbringen, wenn es um die Ideen geht, die in diesem Buch vorgestellt werden, lautet: Wenn die Lebensweise der Stammesgesellschaften so gut war, wieso haben wir sie dann erobert? Bedeutet nicht, »Sieger« zu sein, daß man »überlegen« ist?

Es gibt darauf eine einfache Gegenfrage: »War Hitlers Lebensweise jener der Franzosen und der Polen überlegen?«

Die klassische Geschichte der Eroberung Amerikas durch die Europäer besagt, daß wir entweder riesige »ungenutzte« Areale vorfanden, [266]mit denen die unwissenden Wilden nichts anzufangen wußten, oder daß wir sie »eroberten«, weil wir klüger und zivilisierter waren und deshalb über Technologien wie Gewehre verfügten, die uns den Sieg garantierten.

Tatsächlich ist jedoch keine dieser Sichtweisen zutreffend, wie man in Dutzenden früherer und auch zeitgenössischer historischer Aufzeichnungen nachlesen kann. Es gab mindestens zwei Versuche, die »Gebiete der Wilden« zu erobern oder zu besiedeln, die erfolgreich verhindert wurden, bevor sich die Pilgerväter 1620 niederließen. Selbst mit überlegenen Waffen verfügten die Europäer nicht über die nötigen Fähigkeiten, die es ihnen erlaubt hätten, den Wettbewerb mit den amerikanischen Ureinwohnern erfolgreich zu bestehen. Wie bei den Inkas waren es vielmehr Krankheiten, die es uns ermöglichten, Nordamerika zu besiedeln, eine Tatsache, welche die meisten Schulbücher bei ihrer Darstellung der Geschichte merkwürdigerweise übersehen, obwohl sie in vielen anderen Texten, die nicht vom Staat Texas überprüft werden müssen, gut dokumentiert ist.

Europäer wie der »schwer von Pockennarben gezeichnete« George Washington waren den Pocken jahrhundertelang ausgesetzt, und diejenigen, die den »Schwarzen Tod« überlebt hatten, verfügten genetisch über eine starke Widerstandskraft gegen diese Krankheit. Obwohl Pocken, Windpocken, Grippe, Pest und Hepatitis unter Europäern weit verbreitet waren, führten sie nur relativ selten zum Tod.

Ganz anders war die Situation bei den amerikanischen Ureinwohnern. Wo Europäer auch hinkamen, starben die amerikanischen Ureinwohner zu Hunderttausenden oder gar Millionen. (Nach Schätzungen, die William McNeill[75] zitiert, betrug die Zahl der amerikanischen Ureinwohner zu Beginn der aggressiven Kolonisierung Nordamerikas durch die Europäer etwa 100 Millionen [267]Menschen. Heute dagegen leben nur noch weniger als eine Million reinrassiger Nachfahren dieser Leute.)

In den letzten drei Jahren, bevor die Pilgerväter in Massachusetts landeten, hatten die Ureinwohner häufig Kontakt mit holländischen, französischen und britischen Fischern und Händlern gehabt. Diese hatten eine Seuche – wahrscheinlich die Pocken – unter den Eingeborenen verbreitet, unbeabsichtigt zwar, aber so gründlich, daß im Jahre 1620, als die Pilgerväter landeten, nach Berichten von Robert Cushman, einem britischen Augenzeugen, weniger als fünf Prozent der amerikanischen Ureinwohner überlebt hatten. Ganze Dörfer waren ausgelöscht, der Boden mit Schädeln und Knochen bedeckt, und die wenigen Überlebenden waren in den meisten Fällen westwärts geflohen, wo sie die Seuche weiter verbreiteten.

Der damalige Gouverneur der Massachusetts Bay Colony, John Winthrop, bezeichnete die Tatsache, daß 90 bis 95 Prozent der Ureinwohner von New England durch Krankheit dahingerafft worden waren, als ein »wunderbares« Zeichen Gottes. 1634 schrieb er in einem Brief an einen Freund in England: »Was die Eingeborenen in dieser Gegend anbetrifft, so hat Gott sie derart heimgesucht, daß der größte Teil von ihnen in einem Gebiet von 300 Quadratmeilen von den Pocken dahingerafft wurde, die immer noch unter ihnen grassieren. Nachdem Gott auf diese Weise unseren Anspruch auf diesen Ort bestätigte, haben sich die weniger als 50 verbliebenen [Eingeborenen] unter unseren Schutz gestellt …«

Als die Europäer westwärts zogen und die Konflikte zwischen ihnen und den Ureinwohnern im folgenden Jahrzehnt erneut aufflammten, schrieb der puritanische Geistliche Increase Mather: »Gott beendete die Kontroverse damit, daß er den Indianern die Pocken schickte. Ganze Städte wurden ausgelöscht, und an manchen Orten überlebte nicht eine einzige Seele.« Schließlich verfolgten Seuchen die amerikanischen Ureinwohner von Florida bis [268]Maine, von Massachusetts bis Kalifornien und »bereiteten den Weg« für die Kolonisierung Amerikas durch die Europäer. Der Pilgervater William Bradford, Autor des Buches On Plymouth Plantation, schrieb 1632 über ein Indianerdorf: »… denn es gefiel Gott, diesen Indianern eine tödliche Krankheit zu schicken, an der über 950 der 1000 Einwohner starben, und viele Leichen lagen verwesend am Boden, weil sie nicht begraben werden konnten.«

Wie Charles Darwin 1839 schrieb: »Wohin die Europäer ihren Fuß setzen, scheint der Tod die Ureinwohner zu verfolgen.«

Gleichwohl ist die Darwinsche Sicht vom »Überleben des Stärkeren« (wobei man die Seuchen passenderweise übersehen hat) zum Mittelpunkt der Geschichten geworden, die wir uns darüber erzählen, wie die Welt funktioniert. Doch die Tatsache, daß wir in der jüngsten Vergangenheit überlebt haben, sagt nichts darüber aus, ob wir auch in einer beispiellosen Zukunft überleben werden.

Um uns das klarzumachen, brauchen wir nur an die Tausende von Arten zu denken, die lange Zeit überlebt haben, bevor sie in diesem Jahrhundert ausgerottet wurden. Um die Zukunft vorherzusagen, reicht es nicht, sich auf die Vergangenheit zu verlassen – wir müssen einen Blick in die Zukunft werfen.

Bei Stammesgesellschaften ist Kooperation der höchste Wert. Sie war alltägliche Praxis im Stammesleben. Sie wurde auch den Europäern angeboten, als die ersten von ihnen landeten, und die Stämme halfen ihnen, Getreide anzupflanzen und die ersten Winter zu überstehen.

Die Irokesen zeigten sich kooperativ gegenüber James Madison, als sie ihm erlaubten, an ihren Versammlungen teilzunehmen, wo er von dem tausend Jahre alten großen verbindlichen Gesetz der Irokesen-Konföderation erfuhr, das schon vor Kolumbus existiert hatte und das die Nation der Irokesen bis heute befolgt. Madison griff ihre Idee eines Regierungssystems mit eingebauten Kontrollmechanismen, einer Trennung von Judikative und Exekutive und gewählten Volksvertretern auf und diskutierte sie mit Benjamin [269]Franklin und Thomas Jefferson. Die drei brachten diese Ideen in die Verfassung der Vereinigten Staaten ein. Franklin, Jefferson und James Madison schrieben ausführlich darüber und luden 42 Mitglieder der Irokesen-Konföderation ein, 1754 am Albany Plan of Union teilzunehmen, wo der erste Versuch einer repräsentativen Demokratie erörtert wurde. Franklin sagte später in einer Rede vor dem Albany Congress: »Es wäre eine seltsame Sache … wenn sechs Nationen unwissender Wilder fähig sein sollten, eine solche Union zu bilden und sie so zu führen, daß sie Jahrhunderte überdauert und unauflösbar wirkt, aber zehn oder zwölf englische Kolonien dazu nicht in der Lage wären.«

Die frühen Siedler waren jedoch der Meinung, sie wüßten besser als die Irokesen, wie man eine Regierung bildet. Zwar folgten sie der Idee einer Legislative mit zwei Kammern, eines höchsten Gerichtshofes und klar definierter Machtgrenzen für die Zentralregierung, wie es bei den Irokesen schon seit Jahrtausenden üblich war, aber die Siedler hatten immer noch eine Vorliebe für die Monarchie: George Washington, der sich erfolglos dafür einsetzte, er, der Präsident, solle als »Seine Hoheit« angeredet werden, gehörte zu denen, die darauf drängten, unser Regierungssystem um einen »starken Mann«, einen Ersatzkönig zu erweitern.

Und fast alle Siedler waren sich einig, daß das System der Irokesen, wo die (meist männlichen) Abgeordneten ausschließlich von den Frauen der Stämme gewählt wurden (die auch die alleinige Macht hatten, die Männer ihrer Ämter zu entheben), ein Fehler war. Die Siedler änderten das Verfahren dahingehend, daß nur Männer eine solche Entscheidung treffen durften.

Außerdem beschlossen sie, die bis heute fortbestehende Regel der Irokesen zu ignorieren, daß die gewählten Repräsentanten alle Entscheidungen von »Bedeutung« (Kriegspläne, Veränderung nationaler Grenzen, Veränderung der Beziehungen zu anderen Stämmen etc.) der örtlichen Wählerschaft zur Diskussion und Entscheidung vorlegen mußten. Statt dessen schufen sie das System, [270]das wir jetzt haben, wo solche Entscheidungen täglich ohne Rücksprache mit der Wählerschaft getroffen werden.

Im Gegensatz zu den Stammesgesellschaften gilt als höchster Wert bei uns nicht Kooperation, sondern Macht: Macht von Göttern über Menschen. Macht einer Gruppe von Männern über eine andere Gruppe. Macht von Männern über Frauen. Macht über Eigentum (wem gehört was, und wer darf es nicht haben). Macht von Menschen über die Natur. Macht.

Und so ist es kaum überraschend, daß eine Kultur, in der Macht über allem steht, eine andere Kultur auslöschen konnte, deren höchster Wert Kooperation war. Aber bedeutet das automatisch, daß die Kultur der Macht die bessere ist? Oder daß sie auf Dauer überleben wird? Oder auch nur, daß sie ebenso wie die kooperativen Kulturen hunderttausend Jahre überleben wird?

Vielleicht haben die Neodarwinisten recht, daß jene Zivilisationen, die überleben, die überlegenen sind. Aber der Kampf ums Überleben ist eine Saga, deren Ende noch offen ist, und die menschliche Geschichte ist ein Experiment, dessen bisherige Ergebnisse belegen, daß die auf Macht basierenden Kulturen sich immer selbst zerstört haben.

Denken Sie daran, daß nach Zehntausenden von Jahren relativ friedlicher Koexistenz sich eine kleine Gruppe Mesopotamier plötzlich erhob und beschloß, Macht und Herrschaft über alle Menschen und Dinge auszuüben. Sie gewannen ihre Kriege und wuchsen an Zahl und glaubten, ihre Expansionskraft beweise ihre Überlegenheit, die Richtigkeit ihrer Ansichten und die Segnungen ihrer Zivilisation.

Aber dann folgten Zusammenbruch und Untergang.

Aus der Asche ihrer Begräbnisfeuer, nachdem Hunger und Seuchen und die von ihnen hinterlassenen Verwüstungen allmählich in Vergessenheit gerieten, wagte eine andere Gruppe einen neuen Versuch, und eine weitere Zivilisation entstand. Auch sie ging unter. Und es folgten wieder und wieder andere: die Mesopotamier, [271]die Griechen, die Römer, die Hunnen, die Osmanen, die Inkas, die Azteken.

Wird die heutige Inkarnation des kulturellen, politischen und ökonomischen Systems, das im wesentlichen auf Macht beruht, ebenfalls untergehen? Werden die Stammesgesellschaften die einzigen Überlebenden sein?

Ist es möglich, daß den Sanftmütigen tatsächlich die Erde gehören wird?

Wenn die Zeichen, die wir um uns herum sehen, richtig sind, dann mag es wohl sein, daß die Neodarwinisten recht haben – aber sie bezeichnen die falsche Kultur als die »überlegene«, zumindest im Hinblick auf die Fähigkeit, langfristig zu überleben.

 

 

[273]

Teil III
Was können wir dagegen tun?

Früher wußte die gesamte Menschheit, wie man im Einklang mit der Natur und umweltverträglich lebt, und einige Menschen wissen das auch heute noch. Aber in jüngster Vergangenheit, nach mehr als fünftausend Generationen der Kooperation, hat sich das Herrschaftsprinzip eingeschlichen, sich wie eine Grippeepidemie weltweit ausgebreitet und den ganzen Planeten innerhalb von zweihundert Generationen infiziert.

Moderne Gesellschaften sind ernsthaft davon überzeugt, daß die Ausrichtung auf Konsum und geschickte, für uns vorteilhafte Manipulationen der »Maschine Natur« zu einem besseren Leben führen. Trotz überwältigender Beweise des Gegenteils werden diese beiden Dogmen immer noch als Heilsweg angepriesen.

So verkündete beispielsweise im Oktober 1997 die amerikanische Holzindustrie gemeinsam mit Newt Gingrich, daß die Freigabe weiterer Waldgebiete aus Staatsbesitz (besonders in Alaska) zur kommerziellen Rodung »ein Beitrag zur Verringerung der Kohlenstoff-Emissionen sei«, weil die Bäume zu Papier und Häusern verarbeitet und dadurch den Kohlenstoff »stabilisieren« würden. Offensichtlich hatten sie nicht einmal über den Tellerrand der Jahreswende hinausgedacht: Papier und Häuser atmen kein Kohlendioxid ein und keinen Sauerstoff aus, schaffen keinen neuen Mutterboden, verhindern keine Erosion und stabilisieren nicht den Wasserkreislauf. Auf dem Altar kurzfristiger Profitgier verehren wir den Konsum als falschen Gott, plündern die Welt, setzen die Zukunft unserer Kinder aufs Spiel, und sogar hochgebildete Menschen begreifen nicht, wie oder warum das geschieht.

[274]

Aber selbst angesichts der enormen und rasch anwachsenden Schäden, die wir dem Planeten und sogar unserer eigenen Art (unter anderem durch Umweltverschmutzung) zufügen, gibt es die Möglichkeit des Wandels. Der David eines neuen Lebensstils steht dem Goliath der Politiker und Konzerne gegenüber, und der kleine Stein der alten Geschichten könnte die jüngere Kultur durchaus an der Stirn treffen und dann auf eine Weise, die eine neue Welt entstehen läßt, globale Kreise ziehen.

In diesem Buch ist viel darüber geschrieben worden, wie schlecht die Dinge stehen, wie katastrophal sie sich entwickeln könnten (obwohl dieses Buch im Vergleich zu einigen anderen noch optimistisch ist), und warum wir an diesen Punkt in der Geschichte der Welt und der menschlichen Rasse gekommen sind. Ich habe diese Fragen ausführlich behandelt, weil es dabei wirklich um eine Geschichte geht, die fünf- bis zehntausend Jahre umfaßt. Wenn wir auf eine bessere Zukunft hinarbeiten wollen, brauchen wir ein klares und greifbares Bild der Vergangenheit.

Doch nun wollen wir uns der Zukunft zuwenden. Die Antworten sind in vieler Hinsicht sehr einfach und direkt – wenn wir erst einmal die Lügen und Verzerrungen der Vergangenheit durchschaut haben und es schaffen, den ständigen Trommelwirbel einer der Herrschaft und Ausbeutung geweihten Kultur zu ignorieren. Mit offenen Augen und Ohren und einem sicheren Instinkt für das, was funktioniert und warum, können wir uns nun in eine Welt begeben, die durchaus – zumindest an vielen Orten – ein Platz der Hoffnung und des Glücks für unsere Kinder sein kann.

Es gibt bestimmte Dinge, die getan werden können – die Sie persönlich tun können –, die wir alle tun können. Bei den meisten handelt es sich um einfache Kleinigkeiten, die damit zu tun haben, wie wir denken und sehen und hören und fühlen. Einige Maßnahmen sind umfangreicher und dynamischer.

Alles beginnt mit einem Menschen, der versteht, wie die Dinge sind, wie sie so wurden und daß es Alternativen gibt. Eben jetzt [275]sind Sie dieser Mensch, und später können Sie Ihr Verständnis an andere weitergeben, und diese wieder an andere und so fort …

In Teil III dieses Buches geht es um die Hoffnung auf eine warme, positive Zukunft. Sie werden Werkzeuge und Techniken kennenlernen, wie Sie Ihre Welt innerlich und äußerlich verändern können. Die Themen sind folgendermaßen gegliedert:

Wie wir uns selbst verändern können

Wie wir unsere Technologien verändern

[276]

Wie wir unser Denken und die Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse verändern können

Wir können viele dieser Lektionen einfach dadurch lernen, daß wir wieder Zugang zum Wissen unserer Vorfahren finden

Wir können eine bessere Zukunft schaffen, indem wir funktionierende Gemeinschaften entwickeln

Jeder von uns stammt von Menschen ab, die in kleinen Gruppen lebten, füreinander sorgten und ihre Bedürfnisse auf umweltverträgliche Weise befriedigten. Wir haben viel zu lernen – oder besser gesagt, es gibt viel, woran wir uns erinnern müssen.

 

 

[277]

Die neue Wissenschaft

Jesus sprach: »Ich bin das Licht, das über allem steht. Ich bin das All. Das All ist aus mir hervorgegangen und zu mir zurückgekehrt. Spalte Holz, und ich bin da. Hebe einen Stein auf, und du wirst mich finden.«

Evangelium des Thomas, Vers 77[76]

Unser Leben ist in hohem Maße ein Produkt der Wissenschaft. Die Vorstellung, man könnte sich dem vollständig verweigern, einfach alles hinter sich lassen und zu einer Art Stammesleben zurückkehren, wie es vor Hunderten und Tausenden von Jahren praktiziert wurde, ist eine Illusion. Das ist nicht möglich und wäre wahrscheinlich nicht einmal wünschenswert. Immerhin haben uns die modernen Technologien einige – viele – Vorteile zu bieten.

Was wir jedoch tun müssen, ist, die Wissenschaft aus der richtigen Perspektive zu betrachten.

Wie müssen wir die Welt oder sogar das ganze Universum sehen?

Unsere jüngere Kultur folgt der reduktionistischen, atomistischen Perspektive von Aristoteles, Newton, Descartes und anderen, die davon ausgehen, daß die Welt einfach eine Maschine ist. Sie besteht zwar aus einer Vielzahl ineinandergreifender Teile, aber sie ist trotzdem keine[eine? Anm.d.Tippers] Maschine. Jeder Teil, so heißt es, kann letztlich auf seine einzelnen Elemente reduziert werden, und wenn sie beschädigt sind, kann man sie reparieren.

Als mein Auto letzte Woche bei einem Unfall beschädigt wurde, [278]haben wir es in die Werkstatt gebracht, um einige Teile ersetzen zu lassen. Es wurde auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt, und wenn ich es heute aus der Werkstatt abhole, erwarte ich, daß es wieder genauso funktioniert wie vorher. Vielleicht läuft es sogar besser, weil die Mechaniker auch eine Inspektion gemacht und alles wieder richtig eingestellt haben.

Aber kann man diese Vorstellung wirklich auf natürliche Abläufe übertragen?

Wenn wir uns in der Welt umsehen, dann finden wir nicht Maschinen, sondern Lebewesen. Bäume, Blumen, Insekten, Vögel, Säugetiere, Menschen. Wie viele Studenten der modernen Medizin habe auch ich einmal geglaubt, wir alle seien maschinenartig und würden wie ein Auto nach der Reparatur wieder richtig funktionieren.

Als ich 14 war, habe ich während des Sommersemesters an der Michigan State University Biochemie studiert. Mein Laborpartner und ich entschieden uns für ein ehrgeiziges Projekt: Wir wollten eine Zelle abtöten und wieder zum Leben erwecken.

Wir wählten eine Wasserpflanze, deren Zellen so groß waren, daß man den Zellkern erkennen konnte, und entfernten das Kernmaterial aus mehreren Zellen. Dann injizierten wir in den Zellkern einer lebenden Zelle einen Wirkstoff, der die DNS der Zelle in freie Nukleinsäuren aufspalten konnte. Anschließend injizierten wir einen zweiten Wirkstoff, der die Wirkung des ersten neutralisierte, und versuchten dann, in denselben Zellkern die DNS zu injizieren, die wir zuvor aus anderen Zellen entnommen hatten.

Unser Experiment war insofern erfolgreich, als es uns zeigte, daß man eine tote Zelle nicht wieder lebendig machen kann.

Ungeachtet der Schöpfung des Dr. Frankenstein gibt es einen bedeutsamen Unterschied zwischen Maschinen und Lebewesen.

Beide sind so komplex, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile. Ein Haufen von Einzelteilen und ein fertig montiertes Auto sind ziemlich verschieden, auch wenn es sich um dieselben [279]Teile handelt. Der Unterschied besteht in der Organisation der Teile, dem System oder der Struktur, zu der sie angeordnet sind.

Ganz ähnlich verfügen auch Lebewesen über eine Struktur, die ihre Einzigartigkeit ausmacht. Beispielsweise wird eine in ihre Teile zerlegte Kuh nicht muhen oder sich bewegen. Doch bevor sie zerlegt wurde, gab es diese einzigartige Struktur, die das betreffende Lebewesen zur Kuh machte. Der Unterschied zwischen einem Lebewesen und einer Maschine ist demnach nicht strukturell bedingt.

Der Unterschied besteht darin, daß man eine Maschine anhalten, auseinandernehmen und wieder zusammensetzen kann, und danach ist es wieder dieselbe Maschine. Das gilt nicht für eine Pflanze oder ein Tier. Wenn der Lebensvorgang einmal gestoppt wurde, kann man ihn nicht wieder in Gang setzen.

Zweifellos gibt es Leute, die nun argumentieren werden, daß wir einfach noch nicht herausgefunden haben, wie man das Leben wieder in Gang setzt. So beruht beispielsweise die Kryogenik-Bewegung[77] auf der simplen Annahme, daß wir eines Tages wissen werden, wie man den Lebensvorgang wieder reaktiviert. Aber das ist reiner Glaube; es gibt keine wissenschaftlichen Hinweise, daß die Sache wirklich funktionieren könnte.

Alle bisherigen Erkenntnisse zeigen deutlich, daß es einen fundamentalen Unterschied zwischen einem lebenden Menschen und einem Leichnam gibt, und dieser Unterschied läßt sich in keiner Weise vergleichen mit einem fahrenden Auto und einem Auto, das am Straßenrand geparkt ist. Das hängt damit zusammen, daß eine Maschine nach einem bestimmten System oder einer Matrix konstruiert ist. Eine Pflanze oder ein Tier ist dagegen auf eine sehr geheimnisvolle Weise organisiert, die wir vielleicht nie ganz verstehen werden, und wenn ein solches Lebewesen stirbt, dann hat es mehr »verloren« als nur seine Organisation.

[280]

Viele Wissenschaftler ignorieren jedoch lieber die Tatsache, daß wir nicht verstehen, wie Lebewesen organisiert sind. Die moderne Medizin versucht, den Körper und Geist des Menschen auf seinen Maschinenstatus zu reduzieren, und stellt dabei immer wieder fest, daß die vermeintliche Maschine wesentlich komplexer ist als ursprünglich angenommen. Das unzureichend verstandene Zusammenspiel zwischen Körper und Geist ist dabei nur ein Beispiel, das die Ärzte seit Hippokrates verwirrt hat.

So haben wir also diesen Unterschied zwischen Maschinen und Lebewesen: Erstere kann man auseinandernehmen und wieder zusammensetzen, während letztere von einer unbekannten Essenz in Schwingung versetzt werden, die wir als »Leben« bezeichnen und die bei dem Versuch, das Lebewesen in seine Einzelteile zu zerlegen, für immer verschwindet.

Das bringt uns zurück zu der Frage, wie wir die Welt und das Universum, in das sie eingebettet ist, betrachten sollten. Wenn wir uns die natürliche Welt um uns herum ansehen, sehen wir dann Maschinen? Sind die Bäume und Pflanzen unbelebte Strukturen von Mineralien und Energie? Sind die Tiere reine Ansammlungen von Organen und Teilen? Sind die empfindlichen Lebenssysteme der Ozeane, des Landes und der Atmosphäre Maschinen, die man anhalten und dann wieder neu starten kann, indem man einfach die erforderlichen Chemikalien und Aminosäuren hineinkippt?

Das Weltbild des ersten Menschen

Das Leben auf dem Lande bringt einem manche interessante Erkenntnis. Letztes Jahr traf ich eine indianische Medizinfrau. Sie sagte, wenn sie in den Wald oder über die Felder gehe, dann sehe sie nicht nur Bäume und Pflanzen und Tiere, sondern sie sehe deren Geister und höre und fühle ihr Bewußtsein. Die Bäume erzählten ihr über ihr Leben, ihre Schmerzen und Freuden, die Pflanzen [281]erzählten ihr, welche von ihnen die Menschen heilen und welche ihnen schaden können. Die Tiere gaben ihr Anweisungen, wie man in Harmonie mit dem Land lebt, und das Land selbst sprach zu ihr mit einer erkennbar weiblichen Stimme.

»Und auf diese Weise haben die Ureinwohner die Lebewesen in diesem Land seit Ewigkeiten gesehen«, sagte sie. »Ihr Weißen wart blind, als ihr hier angekommen seid, und ihr seid immer noch blind.«

Zunächst interpretierte ich ihre Worte im Sinne der atomistischen Sicht der »weißen Europäer«. Sie übertrug menschliche Eigenschaften auf Nichtmenschliches, projizierte ihre eigenen Gedanken und Wünsche auf andere Lebewesen. Sie hörte sie nicht wirklich, sondern sprach nur in Metaphern, obwohl sie fest behauptet hatte, sie meine es wörtlich. Sie interpretierte Naturphänomene falsch, indem sie beispielsweise dachte, ein Baum nicke oder deute auf etwas hin, wenn sich die Zweige einfach im Wind bewegten, oder sie interpretierte das normale Revierverhalten eines Vogels als den Versuch persönlicher Kommunikation.

Aber dann erkannte ich, daß ich genau das tat, was ich ihr unterstellt hatte: Ich projizierte meine eigene Sicht der Dinge auf ihre Aussagen. Wenn die westliche Wissenschaft alte Völker untersucht und mit dieser Art von Analyse beginnt, dann ist jedes einzelne Stück davon genausosehr eine Projektion, ein Dogma, das Spiegelbild eines Glaubenssystems, wie wir es umgekehrt im Hinblick auf die andere Seite behaupten.

Also ging ich hinaus in die Wälder um unser Haus in Vermont.

»Tragt ihr bewußtes Leben in euch?« fragte ich leise und sah auf die Ahornbäume und die Fichten. Sie wiegten sich sanft im Wind, in der Ferne begann ein Vogel zu singen, und ich konnte den frischen Duft der feuchten Erde riechen.

Ich fragte mich, ob der gesamte Wald mir vielleicht antworten würde: »Wir sind lebendig«, aber statt dessen übermittelte mir jede einzelne Lebensform, die ich betrachtete, das starke Gefühl individueller [282]Lebendigkeit. Jeder Baum, der Vogel und das Streifenhörnchen, die Erde unter meinen Füßen, in der es von Mikroorganismen nur so wimmelte, sie alle schienen mir ihre individuelle Lebendigkeit zu versichern. Wie die einzelnen Musiker in einem Symphonieorchester spielten sie zusammen, um einen wunderbaren Klang hervorzubringen.

Ich hob meine Hände mit den Handflächen nach außen und stellte mir vor, wie mein Leben mit dem des Waldes um mich herum verschmolz, und als ich das Leben der Erde berührte, erfüllte mich ein Prickeln.

Das ist eine andere Art von Wissenschaft – die Wissenschaft der ersten Menschen, die das Leben auf dem Planeten erblickten. Als Jack Forbes, der als erster über Wétiko schrieb, mir sagte: »Die Ureinwohner glauben nicht unbedingt, daß nur Menschen reden können«, spürte ich einen direkten Kontakt mit einem alten Wissen, etwas, das bei unserem Versuch, die ganze Welt in unsere Vorstellung von einer Maschine zu pressen, verlorengegangen ist und nun im Verborgenen liegt. So wie unsere jüngere Kultur sich zeitweise nicht vorstellen konnte, daß die Erde eine Kugel ist, weil das nicht mit unserer Wirklichkeit übereinstimmte, so haben wir auch viel von dem alten, wertvollen Wissen abgelehnt, weil es nicht in unser kartesianisches Weltbild paßte.

Versuchen Sie es selbst. Legen Sie das Buch aus der Hand, gehen Sie hinaus in die Natur und versuchen Sie, mit den Pflanzen und Tieren zu sprechen und sie zu spüren. Finden Sie in Ihrem eigenen Inneren den Ort, an dem Sie die Gegenwart des Lebens wahrnehmen können und von dem aus Sie die Hand nach anderen Lebensformen, nach dem gesamten Leben, ausstrecken können. Von diesem Ort aus, an dem Sie alles Leben als heilig erkennen, können Sie dann anfangen, darüber nachzudenken, was Sie tun können, um eine lebenswerte und umweltverträgliche Zukunft zu schaffen.

[283]

Die Physik entdeckt das Bewußtsein

Die Physiker betonen gerne, daß die Physik die erste Disziplin dessen war, was wir als moderne Wissenschaft bezeichnen. Als in der Medizin immer noch Vorstellungen von Geistern, die in Körper eindringen, vorherrschten und die Astronomie noch nicht von der Astrologie unterschieden wurde, schuf Aristoteles die Grundlagen der modernen Physik, als er begann, nach der letzten Natur der Dinge zu fragen. Die Dinge bestanden aus kleineren Dingen, die wiederum aus kleineren Dingen bestanden – bis man schließlich zum kleinsten Ding gelangte, von dem Aristoteles annahm, es sei das Atom.

Die Physik hatte immer eine Leitfunktion für die anderen Wissenschaften, weil jede andere Wissenschaft sich mit einem Aspekt der »Wirklichkeit« beschäftigt, während die Physik das behandelt, was diese Wirklichkeit – in ihrem tiefsten Kern – ist. Chemie ist ohne Physik nicht zu verstehen; Biologie ist ohne Chemie nicht denkbar; Medizin oder Genetik oder Agrarwissenschaften sind ohne Biologie unvorstellbar. Jede Wissenschaft baut letztlich auf den Grundlagen der Physik auf.

Und ganz ähnlich ist auch der Kern des wissenschaftlichen Weltbildes und der wissenschaftlichen Methodologie aus dem Studium der Physik hervorgegangen. Die Physik – die Untersuchung des innersten Kerns der Wirklichkeit – hat immer alle anderen Wissenschaften geleitet.

Das ist bis heute so geblieben. Heute, so scheint es, sind die anderen Wissenschaften entweder mit hängender Zunge dabei, die Physik einzuholen, oder sie zittern vor den Konsequenzen der jüngsten physikalischen Entdeckungen. Die gute Nachricht für uns lautet heute: Die Entdeckungen der Physik zeigen, daß wir weit stärker mit dem Rest des Universums verbunden sind, als unsere Kultur uns glauben machen wollte.

Die Wissenschaft hat in einem sehr realen Sinne erst kürzlich [284]den Stand der Erkenntnisse erreicht, welche die älteren Kulturen unseren Vorfahren seit jeher vermittelt haben.

Denken Sie beispielsweise an ein simples Elektron. Nach der Entdeckung der Elektronen haben wir zunächst angenommen, sie seien winzig kleine Teilchen, die um den Atomkern kreisen, der seinerseits aus Protonen und Neutronen besteht. Die Umlaufbahnen der Elektronen um den Atomkern schienen schichtweise angeordnet zu sein, und das am häufigsten verwendete Modell war das Sonnensystem, in dem die Elektronen wie Planeten um den der Sonne entsprechenden Zellkern[Atomkern? Anm.d.Tippers] kreisen.

Den Beweis dafür fand man, als deForest und andere herausfanden, wie man einen Draht (eine »Kathode«) erhitzt, um eine Wolke von Elektronen zu erzeugen, und dann eine positive elektrische Ladung benutzt, um daraus einen Strahl zu erzeugen und diesen in eine bestimmte Richtung zu lenken. Das flimmernde Bild auf dem Schirm Ihres Fernsehgerätes wird durch einen Strom von Elektronenteilchen erzeugt, welche auf Phosphoratome an der Innenseite des Bildschirms treffen und diese zum Glühen bringen. Das ist eine Kathodenstrahlröhre.

Aber dann versuchten Wissenschaftler eines Tages, einen Strom von Elektronenteilchen gegen eine Metallwand mit zwei Schlitzen zu lenken, die vor einer mit Phosphor überzogenen Glasscheibe stand. Was sich dabei ereignete, schockierte sie und stellte die Welt der Physik auf den Kopf.

Wenn die Elektronen Teilchen waren, dann hätte der Strahl durch die beiden Schlitze dringen müssen, und die Elektronen hätten wie rasch fliegende Sandkörner auf der Phosphorschicht zwei schlitzartige leuchtende Stellen erzeugen müssen. Doch statt dessen verwandelten sich die Elektronen von Teilchen in Wellen, strömten durch die Schlitze wie Licht oder Schall und erzeugten ein Muster aus kleinen, sich überlappenden Wellen, als ob man zwei Kieselsteine in einen Teich geworfen hätte.

»Das ist unmöglich!« rief die wissenschaftliche Welt – bis die Untersuchung [285]Dutzende Male auf Dutzende unterschiedliche Weisen wiederholt worden war.

Das Erstaunen wuchs, als verschiedene Folgeexperimente zeigten, daß die Elektronen »wählen« konnten, ob sie sich wie eine Welle oder wie ein Teilchen verhalten wollten – es sei denn, sie wurden beobachtet: In diesem Fall verhielten sie sich wie Teilchen.

Ohne Beobachter existieren Elektronen (und wie wir inzwischen wissen, auch alles andere) nur als mathematische Möglichkeit, als Potential, ähnlich wie eine Filmrolle im Kino auch nur eine »potentielle Film-Realität« darstellt. Nur wenn jemand zuschaut – wenn es einen lebenden Beobachter gibt –, klettern die Elektronen aus ihrer Filmdose und zeigen sich auf der Leinwand unserer Wirklichkeit als Teilchen.

In gewisser Weise ist das wie in der Geschichte von König Midas, der sich wünschte, alles, was er berührte, solle sich in Gold verwandeln. Ganz ähnlich, so glauben viele Physiker nun, verwandelt sich alles, was wir ansehen, in die von uns wahrgenommene Wirklichkeit (auch wenn unsere »Wirklichkeit«, anders als bei Midas, sich wieder in Wahrscheinlichkeiten auflöst, wenn wir nicht hinsehen). In einem der besten Bücher, das für Laien über dieses Thema geschrieben wurde, Das holographische Universum[78], zitiert der Autor Michael Talbot den Physiker Nick Herbert, der gesagt hat, diese neue Erkenntnis habe ihn dazu gebracht zu denken, alles hinter ihm sei »eine extrem vieldeutige und unaufhörlich fließende Quantensuppe«, die, wenn er sich herumdreht und hinschaut, scheinbar nahtlos zur materiellen Realität werde.

Aber woher kommt diese »Suppe«, und woraus besteht sie?

Bei einem weiteren Experiment fanden die Wissenschaftler heraus, daß, wenn sie ein subatomares Teilchen in zwei Stücke spalteten, diese beiden Hälften in entgegengesetzte Richtungen in den Raum hinausflogen, wobei jede wie ein Baseball rotierte. Als die [286]Physiker jedoch eine der beiden Elektronenhälften durch einen Schlitz schickten, der die Richtung des Spin, der Drehung um die eigene Achse, veränderte, stellten sie fest, daß die andere Hälfte – die sich zu diesem Zeitpunkt Meilen entfernt befand – unverzüglich ebenfalls ihre Drehrichtung änderte, damit die Bewegung wieder mit ihrem modifizierten Gegenstück übereinstimmte. Das Experiment war sorgfältig und geschickt so angelegt worden, daß keine Kommunikation zwischen den beiden Teilchen stattfinden konnte.

Auch diesmal waren die Wissenschaftler wieder entgeistert. Das zweite Teilchen hatte seine Drehrichtung nicht mit einer gewissen Verzögerung geändert, die ausgereicht hätte, um die Information über das veränderte Verhalten des Gegenstücks mit Lichtgeschwindigkeit zu übertragen, sondern die Veränderung war unverzüglich eingetreten – schneller als mit Lichtgeschwindigkeit.

Die Schlußfolgerungen waren schwindelerregend. Wenn Sie beispielsweise mit jemandem sprechen wollten, der sich auf einem fünf Millionen Lichtjahre entfernten Stern befindet, und für die Kommunikation einen Lichtstrahl benutzen wollten, dann würden zwischen dem Zeitpunkt, an dem Sie Ihr Signal senden, und dem Zeitpunkt, an dem die andere Person es empfängt, fünf Millionen Jahre vergehen. Eine solche Kommunikation scheint im Rahmen einer normalen menschlichen Lebensspanne kaum praktikabel. Selbst wenn ein Stern nur fünfzig Lichtjahre entfernt wäre (ungefähr die geringste Entfernung, die es gibt), wäre das Verfahren außerordentlich mühsam.

Wenn es aber einen Stern irgendwo dazwischen gäbe, der Teilchen mit einem Spin aussenden würde (wie es die meisten Sterne und besonders Neutronen-Sterne tun), dann wäre eine unverzügliche Kommunikation möglich – als ob man innerhalb der Stadt telefonieren würde (im Grunde sogar schneller, weil das Telefon immer noch Elektronen verwenden muß, die sich etwas unterhalb der Lichtgeschwindigkeit bewegen). Theoretisch müssen wir nur [287]einen Strom von Teilchen, die aus Partikelhälften aus dem Inneren des Sterns bestehen, modulieren (ihren Spin verändern), und die Person auf der anderen Seite eines unvorstellbar riesigen Raumes könnte die Veränderungen der jeweiligen Gegenstücke unverzüglich wahrnehmen.

Zunächst erschien das alles natürlich vollkommen unmöglich. Eins von Einsteins Grundprinzipien – der Gregorianische Gesang der Physik – besagt, daß sich nichts schneller bewegen kann als mit Lichtgeschwindigkeit. Eine mit Lichtgeschwindigkeit ausgesandte Botschaft zu einem fünf Millionen Lichtjahre entfernten Stern ist fünf Millionen Jahre unterwegs. 1935 veröffentlichte Albert Einstein zusammen mit zwei Kollegen einen Artikel, in dem hervorgehoben wurde, es gebe zwar Beweise dafür, daß irgend etwas sich offensichtlich schneller als das Licht bewege, aber mathematisch sei das dennoch ausgeschlossen. Es sei ein Paradoxon. Und so wurde (und wird) es als das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradox (EPR) bezeichnet.

Der dänische Physiker Niels Bohr wandte jedoch ein, Einstein, Podolsky und Rosen würden einen fundamentalen Fehler bei ihren Annahmen über die untersuchten Teilchen machen. Sie nähmen an, so sagte Bohr, daß die Elektronenhälften Dinge seien, daß sie voneinander getrennt seien und jeweils unabhängig voneinander existieren würden. Was wäre, so fragte Bohr, wenn zwei Teilchen – auch wenn sie Millionen von Meilen voneinander entfernt seien – Bestandteile derselben größeren Einheit wären, zwei Komponenten eines gespaltenen Teilchens, die sich selbst nicht als getrennt empfinden würden. Und was wäre, da sie ja beide Teil eines Ganzen seien, wenn eine Kraft, die auf das eine einwirke, folglich im selben Augenblick genauso auf das andere einwirken würde?

Als wiederholte Experimente die Beweise dafür lieferten, daß Bohr wahrscheinlich recht hatte, wurden seine Interpretation der Einsteinschen Berechnungen und seine Kommentare dazu als die [288]Kopenhagener Interpretation bekannt, und die von ihm beschriebenen Phänomene bezeichnete man als nicht-lokale Phänomene oder Nicht-Lokalität. Sie gelten heute für viele Experten als fundamentales Prinzip der Quantenphysik – obwohl daraus folgt, daß Raum und Zeit völlig anders sind, als wir ursprünglich angenommen haben. Sie sind mehr eine Vorstellung in einer Art von universellem Geist als eine materielle Realität in einer irgendwie gearteten universellen Realität.

In neuerer Zeit hat Rupert Sheldrake[79] dargestellt, wie sich Verhaltensweisen von Tieren oft auf merkwürdige Weise überregional ausbreiten. Als in den dreißiger Jahren in England eine bestimmte Anzahl von Vögeln gelernt hatte, die Metallfolienverschlüsse von Milchflaschen zu öffnen, taten das plötzlich die Vögel überall in Europa. Die Geschwindigkeit, mit der sich dieses Verhalten ausbreitete, schloß jede Möglichkeit aus, daß die Vögel so weite Strecken zurückgelegt haben könnten, um es im direkten Kontakt voneinander zu lernen, und der Ärmelkanal bildete eine weitere Barriere, da es sich hier nicht um Zugvögel, sondern um Meisen handelte.

Bewußtsein, so lautet die Schlußfolgerung aus der neuen Physik, bringt das Universum hervor, und Bewußtsein ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden. Eine mögliche Interpretation ist die, daß das Universum aus Bewußtsein besteht … und aus nichts anderem.

Dieses Phänomen der unverzüglichen Übermittlung von Informationen aus weiter Ferne, das Sheldrake als morphische Resonanz bezeichnet, legt den Schluß nahe, daß Menschen sich auf ähnliche Weise verhalten könnten wie die subatomaren Partikel von Einstein und Bohr. Wenn genug Menschen etwas Neues gelernt haben, gibt es plötzlich eine Art Quantensprung, eine Resonanz im menschlichen morphischen Feld, und jeder verfügt nun [289]über die neue Information. Es gibt zahllose Beispiele dafür, von der Geschwindigkeit, mit der Witze sich im Land verbreiten, bis zu der Art und Weise, wie sich Kulturen ohne einen erkennbaren Plan entwickeln.

Wir verändern täglich unsere Welt

Vor dreißig Jahren verbrachte ich ein paar Tage mit einem abtrünnigen Sufi-Lehrer in San Francisco. Er beschrieb seine Vorstellung von Reinkarnation, die mir als interessante metaphorische Analogie dazu erscheint, wie morphische Resonanz und Nicht-Lokalität dazu führen, daß wir alle ständig die Welt verändern.

Wenn wir sterben, so sagte er, löst sich unser Bewußtsein auf und wird ein Bestandteil dessen, was er als »kosmische Suppe« bezeichnete. All unsere Gedanken, Träume, Ängste, Erfahrungen und was sonst noch zu unserem individuellen Bewußtsein gehört, fließen in den Suppentopf und bilden ein »riesiges kosmisches Gulasch, in dem sich jeder mit jedem vermischt«. Wenn dann ein neues Baby geboren wird, greift der »kosmische Koch« nach seiner Schöpfkelle, taucht sie in den kosmischen Suppentopf und holt genug Suppe heraus, um damit den Körper und die Seele eines Menschen zu füllen. Diese Suppe wird dann in das neue Menschenkind gegossen.

Es war eine interessante Vorstellung, über deren Gültigkeit ich jedoch keine feste Meinung habe. Was mir aber besonders gefällt, ist der Sinn, den er daraus abgeleitet hat. »Weil wir alle aus derselben Suppe hervorgegangen sind«, sagte er, »sind wir alle verpflichtet, die Suppe glücklicher, leichter und wohlschmeckender zu machen. Alles, was wir denken und tun, wird schließlich ein Teil der Suppe sein und auf diese Weise in einen unserer Nachfahren gegossen werden.« Insofern sind alle unsere Handlungen, Gedanken und Worte wichtig – sogar die scheinbar bedeutungslosesten.

[290]

Wenn wir uns jedoch die Arbeiten von Einstein, Bohr und Sheldrake ansehen, dann stellt sich die Frage: Warum sollen wir warten, bis wir sterben, um dieser Suppe etwas hinzuzufügen?

Von der Physik über die Psychologie bis zum gesunden Menschenverstand finden wir überall Belege dafür, daß unser Handeln hier und heute, dieser Augenblick, in dem Sie dieses Buch lesen, alles und jeden Teil der Schöpfung beeinflußt.

Praktizieren Sie kleine Akte anonymer Barmherzigkeit

Wo sollen wir also beginnen?

In der Bergpredigt hob Jesus hervor, daß wir unsere »guten Werke« tun sollten, ohne daß andere Menschen davon erfahren. Das ist gar nicht so einfach: Sie müssen ständig nach entsprechenden Gelegenheiten Ausschau halten.

Viele Leute fühlen sich angesichts der enormen Probleme, denen die Welt gegenübersteht, deprimiert, überwältigt und apathisch. Oft geben sie dann auf.

Aber es liegt eine große spirituelle Kraft in kleinen Akten der Barmherzigkeit. Ihr Echo reicht weiter, als die meisten Leute meinen, und es sorgt dafür, daß die Luft von einer »morphischen Resonanz« erfüllt wird – auf eine Weise, die kulturell ansteckend wirkt –, und so geschehen die Millionen kleiner Schritte, die weltweit unternommen werden müssen, um unseren Planeten und die Menschheit zu retten.

Wir haben das immer wieder festgestellt durch die Art und Weise, wie Modeerscheinungen um sich greifen, Witze um die Welt gehen und ein bestimmtes Bewußtsein sich ausbreitet. Auf einer gewissen Ebene sind wir alle miteinander verbunden. Wenn Sie das Leben eines anderen Geschöpfes retten – und sei es nur ein Wurm oder ein Unkraut –, dann erfüllen sie[Sie? Anm.d.Tipp.] die Luft mit der Schwingung [291]dieses Aktes der Lebensrettung. Kleine Taten der Barmherzigkeit gehören zu den am stärksten transformierenden Handlungen, die ein Mensch vollbringen kann, und wahrscheinlich haben Jesus und die anderen Lehrer und Propheten vor ihm deshalb immer wieder so großen Wert darauf gelegt.

Ein indianischer Geschichtenerzähler und Lehrer vom Stamm der Cree erzählte mir: »Meine Tradition lehrt, daß wir jeden Morgen, wenn die Sonne aufgeht, von unserem Schöpfer vier Aufgaben für den Tag gestellt bekommen. Als erstes muß ich heute mindestens eine Sache von Bedeutung lernen. Zweitens muß ich einen anderen Menschen mindestens eine Sache von Bedeutung lehren. Drittens muß ich etwas für einen anderen Menschen tun, und zwar am besten so, daß dieser andere es nicht einmal bemerkt. Und viertens muß ich alle Lebewesen mit Respekt behandeln. Dadurch werden diese Dinge in der Welt verbreitet.«

In den meisten der Salem-Kinderdörfer (Gemeinschaften für mißbrauchte Kinder überall in der Welt, die erstmals von Gottfried Müller 1957 eingerichtet wurden) gibt es Pferdeställe mit Reitpferden. Ich hatte schon seit Jahren gewußt, daß es in Stadtsteinach, dem deutschen Salem-Hauptquartier, Pferde gab: Ich hatte sie beim Dressurreiten beobachtet, hatte sie gefüttert, war jeden Abend nach dem Essen im Salem-Gästehaus mit meinem Mentor Gottfried Müller zu den Ställen gegangen und hatte ihnen Äpfel gebracht. Aber ich hatte zunächst nicht gewußt, wo diese Pferde hergekommen waren.

Ich erfuhr ihre Geschichte erst später, weil Herr Müller nicht gerne über seine »guten Taten« spricht. Er hatte an einem Bahnhof gestanden und beobachtet, wie ein Zug einfuhr, der Pferde aus der Tschechoslowakei für eine deutsche Wurstfabrik brachte. Als er die Pferde sah, erkundigte er sich, ob es möglich wäre, einige von ihnen zu »retten«. Die Wurstfirma erklärte sich bereit, ihm einige Pferde zu verkaufen, und das waren die ersten Pferde von Salem.

Ich hatte mich oft gefragt, wieso die Pferde in den Salem-Dörfern [292]offensichtlich eine so große Anziehungskraft auf die Kinder wie auf die Besucher ausübten. Nun glaube ich, daß es vielleicht damit zusammenhängt, wie Gottfried Müller ihr Leben in aller Stille rettete.

Im Oktober 1997 saß ich in Stadtsteinach mit Herrn Müller beim Frühstück. Als standhafter »unabhängiger Christ« (er ist nicht bereit, einer organisierten Religionsgemeinschaft beizutreten), der christliche und jüdische Metaphern schätzt, sagte er: »Ich weiß, daß auf der Waage von Gut und Böse die Seite von Schmerz, Qual und Übel ein starkes Übergewicht hat. Die Geschichte von Hiob berichtet darüber, wie viele verschiedene Kräfte das Böse hat, um Kriege anzuzetteln, Schmerzen auszulösen, Menschen leiden zu lassen oder sogar scheinbare Wunder hervorzubringen. Aber eine Fähigkeit hat der Satan nicht. Sie ist uns allein vorbehalten. Und weil er diese Fähigkeit nicht hat, bedeutet sie, selbst wenn wir sie nur im Kleinen anwenden, ein großes Gewicht auf der Waagschale für das Gute in der Welt.«

»Und welche Fähigkeit ist das?« fragte ich.

»Barmherzigkeit«, sagte er. Gemeint sind damit kleine Akte des Mitgefühls. »Und wie Jesus in der Bergpredigt über die Witwe, die einen Pfennig spendete, erklärte, sind es oft die kleinsten und geheimsten Handlungen, die den lautesten Donner in der spirituellen Welt hervorbringen.«

Unser Handeln, unsere Worte und sogar unsere Gedanken haben mächtige Auswirkungen auf die spirituelle und die reale Welt, ganz gleich, ob andere davon wissen oder nicht. Wir alle sind wie kleine Transformatoren, die das in die Welt ausstrahlen, was sie im Augenblick sind. Deshalb sind Klöster und Meditationszentren und die Salem-Gemeinschaften überall in der Welt so wichtig: Sie sind spirituelle Leuchtfeuer, und sie strahlen ihr spirituelles Licht hinaus in die Nicht-Lokalität, in das morphische Feld der realen Welt.

So überwältigend die Probleme der Welt auch scheinen mögen, Sie bewirken tatsächlich etwas, sogar wenn niemand je erfährt, was [293]Sie getan haben. So konnte beispielsweise durch wissenschaftlich kontrollierte Doppelblindversuche in Experimenten an der Harvard University nachgewiesen werden, daß Gebete die Heilung beschleunigen, selbst wenn die Betenden und die Menschen, für deren Heilung sie beten, sich überhaupt nicht kennen, sich nie getroffen haben und in unterschiedlichen Teilen der Welt leben.

Und, einen Schritt über das Gebet hinaus, denken Sie daran, wie kraftvoll Sie dabei helfen könnten, die Welt zu transformieren, wenn Sie sich direkt mit der Quelle verbinden würden, aus der das gesamte Feld der Realität hervorgeht …

Verbinden Sie sich wieder direkt mit G-tt

Die meisten großen Weltreligionen haben ihren Ursprung in Stammesgemeinschaften, und diese Stämme hatten ihr eigenes morphisches Feld. Juden sprechen immer noch von den alten »zwölf Stämmen«, und Jesus sagte vieles, was in völligem Widerspruch zu den Städten und Staaten des damaligen Römerreiches stand, aber durchaus sinnvoll war, wenn man sich vorstellt, daß die Menschen dieser Zeit entscheiden mußten, ob sie nach Art der Stämme oder in Städten und Staaten leben wollten. Noch sinnvoller erscheinen seine Aussagen, wenn man sie durch die Brille der Quantenphysik betrachtet. Auch im Hinduismus und Buddhismus lassen sich leicht ähnliche Wurzeln und Lehren finden.

Aber die Sekten, die aus all diesen Religionen hervorgegangen sind, wurden von den hierarchischen Machtstrukturen der Städte und Staaten und ihrer auf Herrschaft ausgerichteten Geisteshaltung verseucht und durchdrungen. Ihre wesentlichen und ursprünglichen Wahrheiten sind verlorengegangen.

Gottfried Müller sagte einmal zu mir: »Wir brauchen ein neues Christentum, weil wir so viele Kirchen verloren haben. Sie lehren nicht mehr die Worte Jesu, sondern interpretieren sie nur noch.«

[294]

Aber wie Ihnen jeder Mystiker und jeder Mensch, der eine echte religiöse Erfahrung gemacht hat, sagen kann, gibt es in unseren religiösen Traditionen einen wahren Kern voller Kraft und Schönheit und Liebe: einen Punkt der Nicht-Lokalität, den die Buddhisten als »jenseits von jenseits« bezeichnen. Er ist in der Vergangenheit zahllose Male berührt worden, und einige von denen, die ihn erreichten, haben uns Aufzeichnungen darüber hinterlassen. Unser Bewußtsein ist Teil eines größeren Bewußtseins – oder es kann sich damit verbinden –, das alles Leben und die gesamte Schöpfung durchdringt.

Diese Intelligenz bringt nicht nur die gesamte Schöpfung hervor: Ich glaube, sie ist die gesamte Schöpfung.

Als solche steht sie jenseits aller Namen, jenseits kleinlicher Erwägungen von Ritualen und Dogmen, jenseits aller Vorlieben. Sie ist. »Ich bin der ich bin«, sagte sie zu Moses. »Sei still und erkenne mich.«

Millionen von Menschen haben die Hierarchie durchbrochen und diesen namenlosen G-tt direkt berührt, direkt die Intelligenz des Universums erfahren, die Kraft der Liebe gespürt und anschließend die Welt mit neuen Augen gesehen.

Die frühen Christen nahmen wörtlich, was Jesus sagte, höchstwahrscheinlich, weil sie den G-tt, den er beschrieb, direkt erlebt hatten. »Ihr seid die Söhne G-ttes.« »Was ich getan habe, werdet ihr auch tun.« »Das Königreich des Himmels ist in euch.« »Sorgt euch nicht um den morgigen Tag.« »Vergebt, was vergangen ist.« »Betet im Geheimen statt in der Öffentlichkeit.« »Niemand soll von euren guten Taten wissen.« »Sammelt keine Reichtümer, und wenn ihr es getan habt, dann verschenkt euer Hab und Gut.« »Hortet keine Nahrung in Scheunen.« »Gebt jedem, der euch bittet.«

In der Legende heißt es, daß fast alle ursprünglichen Jünger Jesu entsetzliche Tode gestorben sind – in siedendes Öl geworfen, kopfüber gekreuzigt, die Haut vom Körper gezogen, den Löwen zum [295]Fraß vorgeworfen –, weil sie seine Lebensweise der älteren Stammeskulturen übernommen hatten. Sie waren Feinde der damaligen Regierungen, unter anderem deshalb, weil sie sich weigerten, an ausbeuterischen Systemen teilzunehmen: Sie teilten ihren Besitz mit anderen, hatten wenig Geld oder andere Tauschmittel und bemühten sich verzweifelt darum, die auf Herrschaft basierende Welt, die damals vom römischen Stadtstaat regiert wurde, zu verändern. Sie erlagen nie der Geisteskrankheit der Herrscher, und nie griffen sie zu Schwertern und Speeren, um gegen die heidnischen Feinde aus Rom zu kämpfen. Auch versuchten sie nie, um jeden Preis in der wirtschaftlichen und politischen Hierarchie der sie umgebenden Kultur aufzusteigen. Jesus geißelte klar die hierarchische, herrschaftsbezogene Mentalität der Über- und Unterordnung, als er sagte: »Aber laßt euch von niemandem Rabbi [Priester] nennen«, und »Nennt keinen Mann auf Erden euren ›Vater‹«, und »Auch sollt ihr euch nicht als Meister anreden lassen«, und »Wer groß sein will unter euch, der sei euer Diener. Wer sich erhöht, soll erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, soll erhöht werden«.

 

So erkennen wir jetzt, daß die Wissenschaft etwas beweist, dessen Existenz sie bisher glaubte, widerlegen zu können: die Lebendigkeit des Universums und die Verbundenheit aller Dinge. Indem wir uns von den Störungen und Ablenkungen unserer von Konzernen beherrschten Kultur zurückziehen und uns auf das Göttliche in unserem eigenen Inneren und in der Natur einstellen, können wir die Kraft und den Sinn und die tiefe Bedeutung des Lebens erkennen. Von dieser Position ausgehend, aus dieser neuen Perspektive sehen wir, daß die auf Herrschaft gegründete Lebensform des Wétiko Ausdruck einer Geisteskrankheit ist, und wenn genügend Leute das herausgefunden haben, werden wir uns von dem zerstörerischen Weg, auf dem sich die Menschheit jetzt befindet, abwenden.

[296]

Aber wie viele Menschen müssen erst zu dieser Erkenntnis kommen?

In einem Flugblatt, das ich kürzlich von einer Organisation erhielt, die sich einfach »Nur Liebe setzt sich durch« nennt, heißt es, daß 80 000 ausreichen. Die Organisation schlägt vor, daß die Menschen auf jedes negative Ereignis – persönlich oder weltweit – so reagieren sollten, daß sie sich innerlich immer wieder sagen: »Nur Liebe setzt sich durch«. Als ich Victor Grey, der die Bücher Web Without A Weaver und The Laser of Intent geschrieben hat und Mitglied der Organisation ist, fragte, wie man auf diese Zahl gekommen sei, schrieb er mir: »Die Physiker sagen uns, daß nach den Gesetzen der Wellenmechanik die Intensität (jeder Art) von Wellen, die phasengleich schwingen, das Quadrat aus der Summe der Wellen ist. Mit anderen Worten: Zwei phasengleiche Wellen sind viermal so stark wie eine Welle, zehn Wellen sind hundertmal so stark etc. Da Gedanken eine Form von Energie sind und jede Energie als Welle in Erscheinung tritt, gehen wir davon aus, daß 80 000 Menschen, die alle dasselbe denken, unsere gemeinsame Wirklichkeit mit einer Kraft beeinflussen können, welche der jener 6,4 Milliarden (80 000 mal 80 000) entspricht, die um die Jahrtausendwende unseren Planeten bevölkern werden und zufällige, chaotische Gedanken ausstrahlen. Deshalb werden 80 000 Menschen, die alle ausschließlich an die Liebe glauben, genug sein, um die planetare Wirklichkeit zu verändern.«

Könnte das stimmen? Untersuchungen, die von Anhängern der Transzendentalen Meditation durchgeführt wurden, haben wiederholt gezeigt, daß die Kriminalitätsrate in einer Stadt plötzlich fiel, wenn dort ein bestimmter Prozentsatz von Meditierenden erreicht war. (Sieben Prozent ist die am häufigsten genannte Zahl, aber manche Gruppen behaupten sogar, ein Prozent sei ausreichend.)

Unabhängig von konkreten Zahlen gibt es jedenfalls einen synergistischen Effekt bei menschlichen Interaktionen. Je mehr Menschen [297]etwas Bestimmtes denken oder bestimmte Überzeugungen vertreten, desto mehr Leuten wird es leichtfallen, sich dieser Meinung anzuschließen. Je mehr Akte der Barmherzigkeit geübt werden, desto mehr Leute werden geneigt sein, sich barmherzig zu verhalten. Je mehr Menschen umkehren und nach Frieden und Göttlichkeit suchen, desto mehr Frieden und Göttlichkeit wird man finden können.

 

 

[298]

Wir brauchen neue Weltbilder,
um die Welt zu verändern

Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehret und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen. Wer nun sich selbst erniedrigt wie dies Kind, der ist der Größte im Himmelreich.

Jesus, zitiert nach Matthäus 18

Es gibt Menschen, die sprechen von Methankristallen auf dem Grund des Ozeans, von kalter Fusion oder von der Wasserstofftechnologie als Lösung für die Energieprobleme der Zukunft. »Wenn das Öl zur Neige geht, dann müssen wir uns eben nach einer anderen Energiequelle umsehen«, sagen sie.

Und damit haben sie vielleicht sogar recht – aber selbst wenn: Diese »Lösungen« können das Unvermeidliche bestenfalls hinauszögern, und schlimmstenfalls führen sie zu einer Katastrophe, denn sie basieren immer noch auf derselben Geschichte, dem Mythos, das Ziel der Menschheit bestehe darin, die Erde zu beherrschen und zu erobern, Konsum sei ein hoher und positiver Wert und Bevölkerungswachstum sei notwendig und gut.

Selbst wenn uns unbegrenzte Mengen an Energie zur Verfügung stünden, so gäbe es doch eine Grenze für die Zahl der Menschen, welche die Erde ohne Schwierigkeiten ernähren kann, und das massenhafte Artensterben und die Umweltvergiftung zeigen uns, daß diese Grenze schon erreicht ist. Selbst wenn wir auf den Mars [299]oder auf den Mond auswandern könnten: Solange unsere Kultur auf den Ideen von Konsum, Herrschaft und unbegrenztem Bevölkerungswachstum basiert, werden wir früher oder später gegen jene Mauer rennen, an der alle jüngeren Kulturen in der Geschichte gescheitert sind.

Was wir brauchen, sind völlig neue Lebensweisen, und wenn wir sie nicht freiwillig annehmen, dann werden wir oder unsere Kinder schließlich dazu gezwungen sein, und das wahrscheinlich unter großen Schmerzen und Schwierigkeiten.

Um den notwendigen Umschwung herbeizuführen, brauchen wir neue Geschichten, sowohl auf der individuellen als auch auf der gesellschaftlichen Ebene.

 

Die Kultur, in die wir hineingeboren wurden, die Rolle, die wir innerhalb dieser Kultur spielen, unsere Stellung innerhalb der eigenen Familie, unsere Rasse, unser Geschlecht, unser sozialer Status und unsere finanziellen Verhältnisse: All diese Dinge haben Einfluß auf die Geschichten, die wir uns selbst erzählen und die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit definieren und beschreiben.

Weil jene Geschichten aus dem Denken hervorgehen, sind sie vollkommen individuell und unterscheiden sich geringfügig von Mensch zu Mensch. Und sie sind so mächtige und starke Vermittler unserer Lebenserfahrung, daß sie uns glücklich oder traurig, stark oder schwach, krank oder gesund machen können. Sie verändern unsere Hirnströme und unsere Nervenfunktionen von einem Moment zum nächsten.

Stellen Sie sich beispielsweise zwei Personen vor, die auf dem Jahrmarkt eine Fahrt mit der Achterbahn machen wollen:

Bill schaut auf die Achterbahn und sagt sich, daß ihm die Fahrt Spaß machen wird. Seine innere Geschichte ist die, daß das Auf und Ab spannend sein wird, daß das Tempo und der Fahrtwind ihn beleben werden und daß er die ganze Sache genießen wird. Aufgrund dieser inneren Einstellung wird Bills Gehirn während der [300]Fahrt mit der Achterbahn Endorphine und andere Botenstoffe ausschütten, die ihm das Gefühl von Vergnügen und Freude vermitteln. Sein gesamtes Nervensystem reagiert in einer positiven und gesunden Weise auf die Fahrt, und danach fühlt er sich belebt, glücklich und entspannt – so als hätte er ein »Runner's High«, das typische Hochgefühl eines Langstreckenläufers. Der Gesamteffekt sieht so aus, daß sein Immunsystem positiv beeinflußt wird und daß er nach der Fahrt körperlich und geistig gesünder ist als vorher.

Sam sagt sich dagegen, daß eine Fahrt in den Wagen, die über die Achterbahn abwärts schießen und sich dann in eine scharfe Kurve legen, gefährlich ist. In diesen Dingern sind schon Menschen gestorben, denkt er und erinnert sich an die Geschichten, die er im Laufe der Jahre darüber gelesen hat, wie Wagen entgleist sind oder wie jemand durch den Streß einen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt bekommen hat. Wenn Sam nun einsteigt, sorgt sein Gehirn dafür, daß seine endokrinen Drüsen Cortisol, Adrenalin und viele andere Hormone ausschütten, die dem Körper Streß, Kampf und Flucht signalisieren. Nach der Fahrt hat er viele wichtige Nährstoffe verbraucht, um mit dem Streß fertigzuwerden, sein Verdauungssystem ist beeinträchtigt, sein Blutdruck ist in schwindelnder Höhe, sein Herz rast, und die körperliche und nervliche Belastung kann sogar zu einem dauerhaften Schaden führen.

Welch ein Unterschied zwischen den Geschichten, die Bill und Sam sich jeweils selbst über dieselbe Fahrt mit der Achterbahn erzählt haben!

Im größeren Zusammenhang unseres Lebens begleiten und beeinflussen uns die kulturellen Geschichten über das, was wirklich und was unwirklich ist, von unserer Geburt an, und sie werden nur selten hinterfragt.

So haben beispielsweise Europäer jahrhundertelang in Nordamerika gelebt, bevor eine größere Zahl von Menschen ernsthaft die kulturelle Geschichte in Frage gestellt hat, daß es gut und richtig [301]sei, Sklaven zu besitzen. Schließlich wird Sklaverei in der Bibel nicht verurteilt, und die Praxis der Sklavenhaltung geht zumindest bis auf Gilgamesch zurück, diese alte Über-Kultur, welche die älteste und einflußreichste unserer modernen kulturellen Geschichten darstellt.

Weil die übergeordnete Kultur der »kolonialen amerikanischen Normalität« Afrikaner als »Untermenschen«[80] definierte und Leute wie Jefferson, Washington und Madison in diese kulturelle Geschichte hineingeboren wurden, haben nur wenige sie je in Frage gestellt. Die Verhältnisse waren eben so, das war die Alltagswirklichkeit.

Das herrschende Weltbild kann verändert werden und wird verändert: Dann ändert sich auch die Wirklichkeit

Noch vor zwei Generationen galt Rassentrennung im größten Teil der amerikanischen Gesellschaft als normal und vernünftig. Die Geschichte, welche die weiße Bevölkerung sich in den fünfziger, vierziger und dreißiger Jahren (und davor) erzählte, war die, daß Schwarze im Vergleich zu Weißen minderwertig seien und daß deshalb eine Trennung erforderlich sei. Viele Weiße sagten sich, diese Rassentrennung sei eine Wohltat für die Schwarzen, es sei den Schwarzen lieber so, und außerdem entspreche es den Naturgesetzen und den Lehren der Bibel.

Die Geschichte von den »minderwertigen« Schwarzen wurde in den USA zum ersten Mal ernsthaft in Frage gestellt, als in den fünfziger Jahren die Bürgerrechtsbewegung aufkam und Menschen wie Rosa Parks und Martin Luther King jr. das weiße Establishment [302]derart herausforderten, daß ein Festhalten an dieser Geschichte immer schwieriger wurde. Als genügend Leute die neue Geschichte glaubten, kam es zu einem kulturellen Wandel, und die Geschichten von der Gleichheit und Gleichberechtigung schwarzer und weißer Menschen übernahmen die Vorherrschaft.

Natürlich gibt es bei jedem kulturellen Wandel stets die ewig Gestrigen, die an den alten Geschichten festhalten. In Deutschland gibt es immer noch Leute, die glauben, Hitler habe recht gehabt. Und es gibt immer noch weiße Amerikaner (und sogar einige schwarze), die sich für eine Rassentrennung einsetzen. Aber weil es sich hier um Minderheiten handelt, bezeichnet man Menschen, die solche Geschichten in den Mittelpunkt ihres Lebens stellen, als Mitglieder von Subkulturen, und sie werden oft als Rassisten gebrandmarkt. 1935 hatten sie noch als »gute Amerikaner« gegolten, deren Einstellung von gesellschaftlich anerkannten Persönlichkeiten wie Charles Lindbergh (der Hitler öffentlich bewunderte) und Henry Ford (der eine offen antisemitische Zeitung herausgab) geteilt wurde.

Worauf es ankommt, ist die Tatsache, daß unsere gesamte Wahrnehmung der Realität, der metaphorische Boden, auf dem wir stehen, unsere innere Sicherheit und unsere Lebenspläne aus solchen Geschichten zusammengesetzt sind, die sich im Laufe der Zeit ändern können und sich auch tatsächlich wandeln.

Wenn ein kultureller Umschwung einsetzt, dann gelten die Repräsentanten der neuen Geschichten zunächst als komische Käuze, Spinner oder Verrückte. Auch Hitler wurde anfangs ausgelacht. Die Gouverneure der Südstaaten setzten in den sechziger Jahren Wasserwerfer und Polizeihunde gegen Schwarze ein, die für ihre Bürgerrechte demonstrierten. Die ersten Christen wurden von den Römern den Löwen zum Fraß vorgeworfen. Vor dem Unabhängigkeitskrieg wurden Washington und Jefferson in der britischen Presse und von weiten Teilen der amerikanischen Bevölkerung als Außenseiter und Störenfriede bezeichnet.

[303]

Doch die Geschichten verändern sich, wenn eine bestimmte kritische Masse erreicht wird. C. G. Jung hat spekuliert, daß dieser Vorgang mit dem kollektiven Unbewußten zusammenhängt; Rupert Sheldrake[81] bezeichnet den Prozeß als »morphische Resonanz«. In seinem Buch Virus of the Mind[82] nennt Richard Brodie diese neuen kulturellen Geschichten Memes und erklärt, wenn sie ausreichend »infektiös« seien, dann würden die neuen Memes allmählich eine ganze Kultur anstecken und Teil des gemeinsamen Weltbildes dieser Kultur werden. In der Folge würde sich die Kultur selbst gemeinsam mit den Menschen verändern.

Untersuchen wir also noch einige weitere der neuen und doch alten Geschichten …

 

 

[304]

Das Heilige berühren

Dann sah ich, daß die Mauer nie dagewesen war, daß das »Unerhörte« genau das ist, was sich hier ereignet, nicht irgend etwas irgendwo anders, daß das »Opfer« hier und jetzt stattfindet, immer und überall – »hingegeben« als das, was Gott Sich Selbst in meinem Inneren von Sich Selbst schenkt.

Dag Hammarskjöld (1905–1961)
Generalsekretär der Vereinten Nationen von 1953–1961
Eintragung in sein persönliches Tagebuch, 1954

Ich erinnere mich noch an den Sommer, als ich fünf Jahre alt war. Meine Eltern hatten vor kurzem eine Hängematte gekauft und sie im Garten aufgehängt. Darin lag ich nun an einem klaren, sonnigen Nachmittag. Der Himmel leuchtete tiefblau mit zarten, dünnen Wolken, und ich roch das frischgemähte Gras. Ich spürte, wie sich die Seile der Hängematte durch mein T-Shirt gegen meinen Rücken drückten und sich unterhalb meiner Shorts gegen meine nackten Beine preßten, und ich hörte das melodische Singen der Vögel in den Bäumen, die den Garten umgaben. Einer der Vögel wiederholte immer aufs neue einen Ruf, der aus drei Tönen bestand, während die anderen dazwischen zirpten.

Ich starrte in den Himmel und bemerkte dabei die kleinen Flecken in meinem Gesichtsfeld, die hüpften, wenn ich meine Augen bewegte, und langsam zur Ruhe kamen, wenn ich auf einen bestimmten Teil einer Wolke blickte. Es ging ein leichter Wind, und ich hörte, wie er durch die Blätter des alten Ahornbaumes rauschte, der ungefähr zehn Meter von mir entfernt stand. Die Hängematte schaukelte ganz sachte, eine sanfte, beruhigende Bewegung, bei der sich der Himmel leicht von einer Seite zur anderen neigte.

[305]

Ich atmete tief ein und stellte fest, daß der Himmel dabei scheinbar heller wurde; ich roch den Duft der blühenden Rosen, der Stockmalven und der anderen Blumen am Rande des Gartens, der sich mit dem frischgewaschenen Duft des Kissenbezugs auf dem Kissen unter meinem Kopf vermischte. Ich hatte meine Finger über dem Bauch verschränkt und spürte die Wärme der Sonne auf meinen nackten Armen und Beinen und im Gesicht.

Als ich meinen Kopf nach links wandte, sah ich, daß etwa drei Meter neben mir rosafarbene, weiße und gelbe Stockmalven blühten, die über anderthalb Meter hoch standen. Die dicken weißen Staubgefäße brachen aus wachsartigen bunten Blütenblättern hervor, und Bienen und Hummeln trudelten gemächlich von Blüte zu Blüte, um Pollen zu sammeln. Ihr Summen klang, als wollten sie ihre Freude darüber ausdrücken, daß sie Pollen fanden.

Während ich die pinkfarbenen Blüten betrachtete, die zu den Staubgefäßen hin immer blasser und schließlich ganz weiß wurden, bemerkte ich, wie sich der Gesang der Vögel mit der Drehung meines Kopfes verändert hatte, spürte nun die volle Wärme des Sonnenlichts auf meiner rechten Gesichtshälfte und wurde von einem Gefühl des absoluten Jetzt überwältigt. Ich erkannte, daß die Blumen lebten, daß die Bienen, die Bäume und die Vögel lebten und daß ich selbst lebte. Die Luft war kristallklar, und ich bemerkte den leeren Raum zwischen mir und den Blumen, die Entfernung zwischen mir und dem Gras, dem Nachbarhaus und dem Baum. Sogar der leere Raum vibrierte vor Leben.

»Wow«, sagte ich leise, hörte dann den Klang meiner eigenen Stimme, und das war ein weiteres Wunder, das mich aufs neue völlig erstaunte.

Es war ein ganz normaler Augenblick, doch er war erfüllt von spiritueller Energie.

In ihren einfachsten und kompliziertesten Formen ist dies eine Art der Meditation, die zu den mächtigsten gehört, ein Berühren der Gegenwart des Lebens selbst.

[306]

Einstein hat geschrieben, daß Vergangenheit und Gegenwart nur geistige Vorstellungen sind, die keine endgültige Realität haben. Alles, was existiert und geschieht, existiert und ereignet sich nur in einem immerwährenden Jetzt, und dieses Jetzt ist die einzige Zeit, die es gibt.

Einstein hat auch gesagt, daß er nur selten die Dinge intellektuell durchdacht, sondern die wichtigsten Erkenntnisse meist in einer blitzartigen Einsicht gewonnen hat, in Momente intuitiven Wissens. Sowohl in seiner Vorstellung von der Zeit als auch in der Beschreibung, wie er neue Erkenntnisse gewann, hat er eine Form der Meditation dargestellt.

Ein Blick in die Vergangenheit

Wenn Sie auf Ihr Leben zurückblicken, auf die Jahre, die Sie auf diesem Planeten verbracht haben, Jahr für Jahr und Jahrzehnt für Jahrzehnt, dann werden Sie wahrscheinlich feststellen, daß diese Zeit ein weites, graues Meer der Erinnerung bildet, das einige kristallklare Augenblicke mit lebhaften Bildern aus der Vergangenheit enthält.

Solche Bilder scheinen oft die Folge einer Überempfindlichkeit zu sein: Warum erinnere ich mich mein Leben lang an diesen Nachmittag in der Hängematte? Oder daran, wie ich 1973 in New York City die Straße entlanggegangen bin, oder mit 16 Jahren an einem Teich gesessen habe, im siebten Schuljahr im Klassenzimmer saß und bei Miss Hemmer Biologieunterricht hatte?

Was ist so besonders daran? Warum sind diese Erinnerungen sehr viel lebhafter und klarer als die »wirklich wichtigen« Dinge, die Dinge, an die ich mich erinnern wollte, wie man beispielsweise quadratische Gleichungen berechnet, oder wie der Reporter heißt, mit dem ich mich in einer Stunde treffe, oder wie ich zu dem Ort finde, wo ich eine Rede halten muß?

[307]

Manchmal ist es vollkommen vernünftig, bestimmte Ereignisse in unserer Erinnerung festzuhalten: Wer würde schon seine Hochzeit vergessen, die Geburt seiner Kinder oder den ersten Schultag?

Aber die vernünftigen Erinnerungen und jene, die auf einer Art Überempfindlichkeit zu beruhen scheinen, haben etwas gemeinsam, und diese Gemeinsamkeit ist der Kern des meditativen Zustandes: das, was ich als Gegenwart bezeichne.

Wenn Sie sich irgendeine dieser Erinnerungen noch einmal genau ansehen, dann werden Sie feststellen, daß die Gemeinsamkeit darin besteht, daß diese bestimmte Erinnerung in einem Augenblick in ihr[Ihr, A.d.T.] Gehirn eingeprägt wurde, in dem sie[Sie] keine inneren Selbstgespräche geführt haben. Sie haben an nichts gedacht, sich über nichts Sorgen gemacht, sich nichts vorgestellt, nichts verglichen oder beurteilt: Sie waren einfach da. Sie hatten alle Geschichten beiseite gelegt und waren eins mit ihrem[Ihrem] Erleben.

Als ich in der Hängematte lag, die Sonne auf meiner Haut spürte, die Vögel und den Wind hörte und das Leben in den Blumen sah, war ich so erschüttert über die Vitalität und Realität und Lebendigkeit des Ganzen, daß ich für einen Moment aufhörte zu denken und die Situation einfach wahrnahm. Ich war da, in diesem Augenblick.

Dieses Gefühl der Gegenwart ist der Kern jeder meditativen und mystischen Erfahrung. Es ist die Zeit, in der wir nicht denken, sondern leben und wahrnehmen.

Ankunft in der Gegenwart

Verschiedene Menschen erreichen diesen Zustand auf verschiedenen Wegen, aber alle Methoden haben die Wirkung, daß sie den Denkapparat ausschalten, was unserem wahren Bewußtsein erlaubt, aufzuwachen, sich umzublicken und die Welt zu sehen, zu hören, zu fühlen, zu schmecken und zu riechen.

[308]

Der heilige Johannes vom Kreuz beispielsweise ist auf einem besonders schweren Weg zu dieser Erfahrung gelangt.

1542 in Fontiveros in Kastilien geboren, war er der Sohn eines armen Webers, der gezwungen worden war, vom Judentum zum römischen Katholizismus überzutreten. Sein Vater starb, als Juan noch sehr jung war, und das Kind half seiner Mutter beim Betteln und bei der Arbeit am Webstuhl. Als er etwa 21 Jahre alt war, trat er in den katholischen Karmeliterorden ein und nannte sich von nun an Juan de Santo Matías.

Kurz darauf lernte er die spanische Mystikerin Teresa von Avila[83] kennen, die versuchte, den Karmeliterorden zu reformieren und ihn weg von dem Pomp und Glanz und von der Macht der Kirche hin zu den Gelübden der Armut und Barmherzigkeit zu führen. Sie war damals in ihren fünfziger Jahren und gewann die Unterstützung des jungen Mannes für ihre Reformationsbestrebungen.

Weil er Teresa unterstützte, wurde Juan von der Kirche gefangengenommen und verbrachte ein Jahr in einer Zelle, die aus einem umgebauten Kleiderschrank bestand. Er war die meiste Zeit ohne Tageslicht und konnte nicht aufrecht stehen. Sechs Monate lang durfte er sich weder waschen noch die Kleider wechseln, obwohl er voller Läuse und Flöhe war, und während der ersten sechs Monate seiner Gefangenschaft wurde er den »zirkulären Disziplinarmaßnahmen« der Kirche unterzogen.

Täglich holte man ihn aus seinem Kleiderschrank und zog ihm das Hemd aus. Dann wurden Brotkanten, eine Tasse Wasser und gelegentlich eine Sardine vor ihn auf den Boden gelegt, und während er niederkniete, um zu essen, ging eine Gruppe von Mönchen im Kreis um ihn herum und peitschte seinen Rücken mit Lederbändern und Holzstöcken. Sie zogen ihm so oft die Haut vom Rücken und von den Schultern und brachen ihm bisweilen auch [309]die Schulter und die Rippen, daß er für den Rest seines Lebens ein Krüppel war.

Nach sechs Monaten wurde er nur noch einmal pro Woche ausgepeitscht, weil er sonst durch den Blutverlust gestorben wäre. Ein neuer Gefängniswärter erbarmte sich seiner, gab ihm Papier und eine Feder und erlaubte ihm, die Schranktür so weit zu öffnen, daß genügend Licht zum Schreiben in die Kammer fiel. Während dieser Zeit verfaßte er einige seiner grundlegenden und einsichtsvollsten Werke wie Geistlicher Gesang, Die dunkle Nacht und Die Quelle.

Lesen Sie den folgenden Vers aus seinem Gedicht Glosa a lo divino[84] (Ins Geistliche übertragene Glosa), in dem er beschreibt, wie er selbst in seinen Momenten tiefster Finsternis von einer göttlichen Macht berührt (»gestützt«) wurde:

Beistandslos und mit Beistand,
ohne Licht und im Finstern lebend,
bin ich dran, mich gänzlich zu verzehren.
Meine Seele ist losgelöst
von jedem geschaffenen Ding,
und über sich selbst erhoben,
und in einem köstlichen Leben,
allein auf ihren Gott gestützt.
Deshalb wird man schon sagen,
was ich am meisten schätze,
daß meine Seele sich nun sieht
beistandslos und mit Beistand.

Johannes nutzte Entsagung und Schmerz als Werkzeuge, um seinen denkenden Verstand auszuschalten. An diesem stillen Ort – über den er ausführlich in Die dunkle Nacht schrieb – lernte er die [310]Liebe, das Licht und die Gegenwart G-ttes kennen. Das war seine Form der Meditation.

Wenn wir verstehen, daß dies – das Auffinden eines stillen Ortes, wo das Denken endet und das Bewußtsein beginnt – das wichtigste Ziel der Meditation darstellt, dann ist es einfacher, die verschiedenen Formen der Meditation zu verstehen und zu praktizieren.

Nahezu jede spirituelle Tradition auf Erden hat eine Art von meditativer Praxis entwickelt, und sie alle verfolgen dieselbe Absicht. Weil jede Praxis ihre Wurzeln in der Kultur und den Annahmen und Traditionen einer bestimmten Zeit und eines bestimmten Ortes auf der Welt hat, hat auch jede ihre eigene Essenz und Energie.

Zwar erklären Ihnen viele Bücher und Lehrer, daß es bei der Meditation darum geht, Ihren Blutdruck zu senken, Ihre überreizten Nerven zu beruhigen oder Ihre Gesundheit zu verbessern, aber all das sind lediglich Nebenwirkungen. Viele Untersuchungen bestätigen, daß sie tatsächlich stattfinden, und die Meditation kann ein mächtiges Werkzeug der körperlichen oder emotionalen Heilung sein: Doch das ist nicht der Punkt, auf den es dabei wirklich ankommt.

Die wahre Kraft der Meditation – und der wahre Gund für die Meditation – liegt darin, zu diesem gegenwärtigen Augenblick zu erwachen. Und von da aus – vom Berühren der Kraft des Lebens im Hier und Jetzt – können wir die Fähigkeit erlangen, uns selbst und andere auf eine Weise zu verwandeln, welche die Welt transformieren kann und wird.

Diese scheinbar sehr persönliche Arbeit gehört im Grunde zu den wichtigsten Aktivitäten, die wir unternehmen können, um die Welt zu retten, weil wir in dem Maße, wie wir uns in der Gegenwart verankern, die persönliche Macht gewinnen, Veränderungen hervorzubringen. Zugleich erlangen wir eine spirituelle Stärke, die wir ausstrahlen – die solide und reale Spiritualität, welche die Stammesvölker seit Jahrtausenden kennen und nutzen.

[311]

Es ist ein erstaunlicher Gedanke, daß wir die Welt verändern können, indem wir uns selbst verändern, indem wir lernen, anders zu denken, zu leben und jeden Augenblick wahrzunehmen, aber das war die Kernbotschaft nahezu aller Religionen in der Geschichte, von den ältesten und ursprünglichsten bis zu den modernsten und neuesten. Wir können die Welt verändern und retten, indem wir uns selbst verändern. Und dieser Prozeß beginnt damit, daß wir zur Kraft des Lebens im gegenwärtigen Augenblick erwachen und darin die Gegenwart unseres Schöpfers und aller Schöpfung finden.

 

 

[312]

Lernen Sie, Gewahrsam zu schaffen

Millionen von Menschen sind wach genug, um körperlich zu arbeiten. Aber nur einer in einer Million ist wach genug, um seinen Verstand wirksam einzusetzen, und nur einer unter hundert Millionen ist wach genug, um ein poetisches oder göttliches Leben zu führen.
Wach zu sein heißt, lebendig zu sein.
Ich bin noch nie einem Menschen begegnet, der vollkommen wach war. Wie hätte ich ihm ins Gesicht sehen können?

Henry David Thoreau, Walden

Die meisten von uns gehen durchs tägliche Leben, fahren die Straße entlang, sitzen im Büro oder gehen im Haus herum, ohne eine Verbindung zur natürlichen Welt zu haben. Wir denken an die Vergangenheit oder an die Zukunft, machen uns Sorgen über irgendwelche Probleme oder Aufgaben, bereiten uns darauf vor, den Herausforderungen und Pflichten des Tages nachzukommen oder ihnen zu entgehen. In einem gewissen Sinne sind wir nicht lebendig: Die Erfahrung, lebendig zu sein, ist kein normaler Bestandteil unseres täglichen Lebens.

Viele Menschen in modernen Gesellschaften erfahren die Wirklichkeit des Lebens und der Lebendigkeit am intensivsten, wenn sie sich draußen in der freien Natur aufhalten. Je außergewöhnlicher und beeindruckender der Anblick der Natur ist (Wasserfälle, Berge, Schluchten, Zedernwälder, das Meer), desto stärker empfinden viele Menschen die spirituelle Wirklichkeit.

Aber das ist eine seltene Erfahrung, die wir nur gelegentlich machen. Wäre es nicht großartig, wenn wir dieses Gefühl von Wunder und Ehrfurcht und Verbundenheit jederzeit empfinden könnten?

[313]

Die Kogi-Indianer in der kolumbianischen Sierra Madre haben eine Technik entwickelt, mit deren Hilfe das möglich ist. Das ist zwar nicht die Methode, die ich hier empfehlen will (ein paar Seiten weiter beschreibe ich Ihnen einen weniger drastischen Weg), aber wir sehen daran, welche kulturelle Bedeutung es hat, wenn es in einer Gesellschaft Mitglieder gibt, die ihre spirituelle Arbeit als real und wesentlich empfinden, statt sich selbst nur als Interpreten eines offenbarten Gesetzes zu empfinden oder als Statthalter, die Macht über eine Gemeinde haben. Dies ist die Geschichte, wie ein Stamm gelernt hat, stets wenigstens einen Menschen in der eigenen Mitte zu haben, der die ihn umgebenden Zeichen des Göttlichen immer lebhaft wahrnimmt.

Die Priester der Kogi erfahren durch Weissagung, wann eine »Hohe Seele« – ein Mensch, dem es bestimmt ist, selbst Priester zu sein – innerhalb des Stammes geboren werden soll. Kurz nach der Geburt bringen sie dieses Kind in eine abgelegene Höhle, wo es von seiner Mutter alle paar Stunden gefüttert und versorgt wird. Es sieht gerade genug Tageslicht, daß sich seine Augen entwickeln können, und seine Ohren vernehmen nur die Geräusche im Inneren der Höhle. Wenn das Kind heranwächst, übernimmt eine Gruppe von Kogi-Priestern, die als die Mamas[85] bezeichnet werden, die weitere Versorgung, und sie fangen an, dem kleinen Jungen zu beschreiben, was er sehen, hören und fühlen wird, wenn er schließlich zum ersten Mal aus der Höhle heraustritt und der Welt dort draußen gegenübersteht.

Sie erzählen ihm Geschichten über die Große Mutter, die in ihrem Glauben als die Schöpferin der Neun Welten gilt, und von ihnen erfährt er, daß diese spezielle Welt, in der wir leben, ungeheuer groß und schön und vielfältig ist. Der Junge, der nur das Dämmerlicht im Inneren der Höhle und gelegentlichen Kerzenschein [314]kennt, kann sich nur vorstellen, wie es »dort draußen« sein mag. Er fragt sich, wie ein Baum oder ein Berg wohl aussieht, wie Moos auf Felsen wachsen kann, und wie es sich wohl anfühlt, wenn die Sonne der Großen Mutter seinen Körper wärmt.

Wenn der Junge in die Pubertät kommt, wird er im Rahmen eines großen Rituals aus der Höhle herausgeführt und darf zum ersten Mal die Welt sehen.

Welch ein Schock! Dieses Staunen! Er sieht ein Blatt in allen Einzelheiten – wie konnte die Große Mutter so etwas schaffen? Er sieht die Berge in der Ferne – wie kann es sein, daß etwas so groß ist? Und dann die Bäume und die Blumen und die Tiere und die Vögel: Er blickt sich um, lauscht auf die Geräusche der Welt, fühlt zum ersten Mal im Leben die Sonne auf seiner Haut, und das Gefühl von Ehrfurcht und Entzücken und Dankbarkeit ist so gewaltig, daß der Junge meist erschüttert und voller Ehrfurcht vor der majestätischen Schöpfung der Großen Mutter auf die Knie fällt.

Für den Rest seines Lebens wird er jedesmal, wenn er die Augen öffnet, aufs neue sehen, wie kunstvoll die Schöpferin die Welt gestaltet hat, und er wird dabei stets von Freude, Ehrfurcht und Respekt vor ihrer Gestaltungskraft überwältigt sein.

Weil er die Welt auf so einzigartige Weise sieht, spielt er innerhalb seines Stammes eine entscheidende Rolle.

Er ist derjenige, der den Stamm immer wieder an das Göttliche erinnert, er verkörpert die Verbindung zur spirituellen Welt, und er ist das Gewissen des Stammes, falls irgend jemand auf die Idee kommen sollte, etwas tun zu wollen, was der wunderbaren Schöpfung der Großen Mutter Schaden zufügen könnte.

Viele moderne Menschen kommen dieser Empfindung am nächsten, wenn sie in die Weite des nächtlichen Sternenhimmels schauen, aber dieser Anblick gehört heute längst nicht mehr zu den alltäglichen Erfahrungen der meisten Leute.

Erinnern Sie sich daran, wie Sie als Kind an einem warmen oder auch kühlen Abend draußen gestanden, allein und voller Ehrfurcht [315]in die Tiefe des Universums geschaut und dort Tausende und Abertausende funkelnder Lichtpunkte gesehen haben? Jeder einzelne ist eine Sonne, so wie unsere, und hat vielleicht Planeten, die ihn umkreisen. Ihre Entfernungen sind für uns unvorstellbar, und weit hinter dem am schwächsten schimmernden entferntesten Stern können wir erkennen, daß es noch Milliarden und Abermilliarden weiterer gibt.

Denken Sie einen Moment an diese Zeit zurück, sehen Sie, was Sie damals sahen, fühlen Sie, was Sie damals fühlten und hören Sie, was Sie damals hörten.

Und wenn nun die Erinnerungsbilder zu einem Ende kommen, blicken Sie von diesem Buch auf und sehen Sie sich dort um, wo Sie jetzt sind.

Es gibt ein Geheimnis, das fast nur Physiker und Astronomen kennen: Sie haben damals das Licht eines toten Sterns gesehen (und sehen es auch heute, wenn Sie in den Nachthimmel schauen).

Als unser Universum entstand, war der gesamte Raum von subatomaren Teilchen erfüllt. Als Folge der Schwerkraft und im Laufe von Jahrmillionen sind diese Teilchen zu Wasserstoffatomen geronnen, welche den Raum mit Gas füllten. Damals war Wasserstoff das einzig existierende Element.

Die Schwerkraft zog Wolken von Wasserstoff zueinander hin, ließ sie in sich zusammenfallen und durch den Druck sehr heiß werden. Diese Hitze »entzündete« die Wolken mit dem Feuer der Kernfusion, und so sind die Sterne entstanden.

Tief im Herzen eines dieser frühen Sterne führte die Kernfusion dazu, daß zwei Wasserstoffatome sich zu einem Heliumatom verbanden, wodurch das zweite Element entstand, während die Kernreaktion gleichzeitig riesige Mengen von Hitze und Licht freisetzte. Der dabei entstehende Druck war riesig, doch der Prozeß hörte an dieser Stelle nicht auf. Heliumatome verbrannten und fusionierten zu größeren, schwereren Atomen, und jedes Element, das [316]wir vom Periodensystem kennen, kam so zustande und erfüllte das Innere des Sterns – Eisen, Kohlenstoff, Gold, Bor, Sauerstoff, Neon, Argon, Stickstoff, Kalzium, Kalium und Dutzende anderer.

Während sich dieser Prozeß fortsetzte, wurde das Innere des Sterns durch die neuen Elemente schwer und begann abzukühlen, wodurch sich die Farbe des Sterns ins Rote veränderte und sein Äußeres sich auszudehnen begann. Das war der erste Schritt in den Tod jenes weit entfernten Sterns, dessen Überbleibsel aus dem feurigen Kern Sie in Ihren Händen halten in Form dieses Buches.

Während der nächsten paar hundert Millionen Jahre dehnte sich der Stern weiter aus bis zu einem kritischen Punkt, wo er sich nicht länger zusammenhalten konnte, und explodierte, wobei die Materie aus seinem Inneren über Milliarden von Meilen durch den Raum geschleudert wurde und fast alles zerstörte, was sich in der Nähe befand. Dieser Vorgang, den man als Supernova bezeichnet, signalisiert den Tod eines Sterns.

Und nicht nur das. Der Stern mußte sterben, damit er uns erreichen konnte.

Nachdem der Stern explodiert war, wurde ein Teil der Materie, die in den Raum hinausgeschleudert worden war, durch die Schwerkraft zusammengezogen, wodurch sich riesige Materieklumpen bildeten. Die größeren dieser Klumpen wurden zu dem, was wir als Planeten bezeichnen, und begannen, sich langsam abzukühlen (unsere Erde brauchte dazu offenbar ungefähr vier Milliarden Jahre). Bei ihrem Flug durch den Raum wurden die meisten Planeten von der Schwerkraft anderer, noch lebender und brennender Sterne angezogen und begannen, diese zu umkreisen. Von ihrer neuen Sonne empfingen sie Wärme, welche den Prozeß der Photosynthese in Gang setzte und zu dem Leben führte, das wir um uns herum sehen, wobei die Elemente, die durch den Tod eines weit entfernten Sterns geschaffen wurden, sich in pflanzliche und tierische Materie verwandelten.

Erinnern Sie sich an das ehrfürchtige Staunen, mit dem Sie vor [317]so langer Zeit in den nächtlichen Sternenhimmel geblickt haben? Erinnern Sie sich, wie ehrfurchtgebietend und fern diese Sterne Ihnen erschienen und für wie unmöglich Sie es hielten, einen von ihnen aus der Nähe zu sehen oder ihn materiell zu berühren?

Wenn Sie sich nun in Ihrem Zimmer umsehen, wird Ihnen klar, daß alles, was Sie sehen, aus der Materie besteht, die im Herzen eines Sterns entstanden ist, beim Tod dieses Sterns in den schwarzen, leeren Raum hinausgeschleudert wurde und zu dem geworden ist, was wir als den Planeten Erde und alles, was sich darauf und darin befindet, bezeichnen.

Nicht nur die Materie um Sie herum besteht aus Sternenstoff, sondern auch Sie selbst. Es gibt keine einzige Zelle in Ihrem Körper, die nicht aus der Materie besteht, die zunächst im Herzen und dann durch den Tod eines fernen und nun ausgelöschten Sterns gebildet wurde.

Wie der junge Kogi-Priester, der jedesmal, wenn er in die Welt blickt, die Hand der göttlichen Schöpferin sieht – einer Kraft und Macht, die unser aller Vorstellungsvermögen übersteigt –, können auch Sie die Hand Gottes erkennen, einfach indem Sie sich umsehen, indem Sie die Seiten dieses Buches berühren (das ebenfalls aus Sternenstoff gemacht ist), indem Sie die Geräusche in Ihrem Zimmer wahrnehmen (welche durch die Schwingungen von Sternenstoff entstehen, wobei die Schallwellen durch den Sternenstoff der Luft zum Sternenstoff Ihres Trommelfells geleitet werden).

Wenn Sie diese Übung im Verlauf dieses Tages oder Abends noch ein paarmal wiederholen und dann morgen aufs neue praktizieren, werden Sie feststellen, daß sich Ihre Sicht der Dinge, Ihre Perspektive, verändert.

Das ist ein weiterer Schritt, um Ihre Augen zu öffnen. Andere werden folgen.

 

 

[318]

Lektionen eines Mönchs

Sie haben den Ausdruck »Zivilisation« verwendet, der eine Sammlung von Abstraktionen, Symbolen und Konventionen meint. Die Erfahrung spielt dabei meist eine untergeordnete Rolle. Emotionen werden nicht direkt wahrgenommen; Ideen werden realer als die wirklichen Dinge.

Jack Vance, The Gray Prince

Der beste Weg, die Welt zu erneuern, besteht darin, daß man bei sich selbst und der eigenen inneren Welt anfängt.

Daran wurde ich erinnert, als ich an einem völlig unerwarteten Ort eine völlig unerwartete Begegnung mit einer seltenen Seele hatte, die zu einem geschätzten Freund wurde.

1985 war ich Hauptreferent auf einer dreitägigen Konferenz, die von American Express und der holländischen Fluglinie KLM für Leute aus der Reisebranche veranstaltet wurde. Sie fand in einem wunderschönen Hotel in der Innenstadt von Amsterdam statt, und nach einer meiner stundenlangen Präsentationen über Kommunikationsfähigkeiten waren einige hundert Teilnehmer und verschiedene der Referenten vom holländischen Fremdenverkehrsverein zu einem Galadinner eingeladen worden.

Als ich den großen Ballsaal betrat, in dem zwei- oder dreihundert Leute an runden Tischen saßen, sah ich an einem entfernten Tisch einen orientalisch aussehenden Mann, neben dem noch ein Platz frei war. Er winkte mich herbei, sprang auf und stellte sich als Doktor George Than vor.

George war ungefähr dreißig Zentimeter kleiner als ich und etwa 30 Jahre älter, obwohl ich eher angenommen hätte, daß er in den [319]Vierzigern statt in den Sechzigern war. George erzählte mir, er stamme ursprünglich aus Burma, und er hatte das breite Gesicht und die dunkle Haut der meisten Burmesen. Er sprach und gestikulierte elegant und ausdrucksvoll wie jemand von königlicher Abstammung oder mit einer diplomatischen Ausbildung. Sein schwarzes Haar mit einigen grauen Strähnen war seitlich gescheitelt, und bei seinem warmen Lächeln schien sich jeder Muskel in seinem Gesicht zu bewegen.

Ich mochte ihn auf den ersten Blick, aber es war mehr als nur das. Ich hatte bei ihm ein etwas seltsames Gefühl, das ich nur selten empfinde, wenn ich jemanden kennenlerne. Ich hatte das Gefühl, daß er geerdet war. Er wirkte so präsent, so in sich ruhend und vermittelte so sehr den Eindruck von »Ich bin hier, und es ist jetzt«, daß meine Erinnerung an ihn dadurch zu einem leuchtenden, lebhaften Bild wird, während der Rest des Raumes eher im Halbdunkel und ein wenig abseits zu liegen scheint.

Abgesehen davon, daß ich ihn sofort mochte, war ich mir sicher, daß ich ihn von irgendwoher kannte. Ich war so überzeugt davon, daß ich sagte: »Wo haben wir uns schon einmal gesehen, George?«

Er lachte, blickte mir direkt in die Augen und meinte ganz sachlich: »Vielleicht waren wir als Mönche zusammen, vor langer, langer Zeit.«

Wir verbrachten während der restlichen Konferenz viel Zeit miteinander, redeten und streiften gemeinsam durch Amsterdam. Georges Frau Nancy betrieb ein Reisebüro, und so hatte er sie zu dieser Konferenz begleitet. Er selbst war Urologe und praktizierte in Salinas, Kalifornien. Gleich nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er seinen medizinischen Doktorgrad erworben und war als Arzt in den Vereinigten Staaten zugelassen worden. Kurz darauf hatte sein Schwager, der bis vor kurzem Präsident von Burma war, ihn in den Auswärtigen Dienst seines Landes berufen.

»Eines Tages wachte ich in London auf«, erzählte mir George, »und mir war klar, daß ich eigentlich kein Diplomat sein wollte. [320]Ich wollte Medizin praktizieren. Also ging ich zu meinem Schwager und bat ihn um die Entlassung. Aber er wollte mich nicht gehen lassen: Er sagte, falls ich das Land verlassen sollte, würde er mich zur Persona non grata erklären und mich aus Burma verbannen, weil ich zu viele Staatsgeheimnisse kannte. Also begab ich mich nach Thailand und ging in ein Kloster.«

George ging ins Kloster Wat Sri Chong in Lampong, Thailand, und begann, Satipatthana (von sati = Achtsamkeit und patthana = Grundlagen) zu lernen. Sein Lehrer war ein Mann namens Uwaing, der sich nach Bodaw Uwaing, einer legendären Gestalt des Thai-Buddhismus, nannte.

Die Begegnung mit George war für mich eine wichtige Mahnung, daß wir wach und auf den gegenwärtigen Augenblick konzentriert sein müssen. Er praktizierte täglich die Meditation, die er im Kloster gelernt hatte, sowie zusätzlich T'ai Chi, eine Art von Bewegungsmeditation.

Ein paar Jahre später, zwei Wochen, bevor George 65 Jahre alt wurde, rief ich ihn an und fragte ihn nach seinen Plänen für seinen Geburtstag. »Ich habe keine«, sagte er, »aber ich würde gerne irgendwohin gehen und meditieren. Kommst du mit?«

Ich flog nach San Francisco, holte George an seinem Geburtstag ab, und gemeinsam fuhren wir durch Zedern- und Eukalyptuswälder zum Mont Tamalpais nördlich von San Francisco zu einer Stelle, von der aus man über den Pazifischen Ozean sehen kann. Dort saßen wir und praktizierten seine Satipatthana- und Vipassana-Meditationen, während die Sonne erst karmesinrot und dann feuerrot wurde und im Meer versank. Es war ein wunderbarer Tag.

Im Januar 1997 rief George mich an; es war das erste Gespräch nach zwei oder drei Jahren. »Ich habe Leber- und Gallenblasenkrebs«, sagte er, »inoperabel. Aber ich bin jetzt 74 Jahre alt, und vielleicht wächst der Tumor ja nur langsam.«

Die Nachricht schockierte mich, und ich buchte sofort einen Flug nach San Francisco.

[321]

George hatte einen »guten Tag«, wie Nancy meinte. Er konnte das Bett verlassen und herumgehen. Ja, er hüpfte sogar fast, so aufgeregt war er, daß ich nach Salinas gekommen war, um ihn zu besuchen. »Es ist so gut, daß du gekommen bist«, sagte er mehrfach.

Da sein Zustand ernst war, waren auch seine erwachsenen Kinder und Verwandten aus London gekommen, und so begaben wir uns zum Mittagessen in ein japanisches Restaurant.

Während ich dort am Tisch saß, grünen Tee trank und Miso-Suppe schlürfte, fragte ich George, wie er jetzt den größten Teil seiner Zeit verbringe.

»Ich verbringe mehr und mehr Zeit in der Leere«, sagte er lächelnd.

»In der Leere?«

»Normalerweise richte ich bei der Meditation meine Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Augenblick, auf die bewußte Wahrnehmung. Kennst du diesen Ort?«

»Hier und jetzt«, erwiderte ich.

»Genau«, sagte er. »In dem Moment, wo ein Gedanke aufkommt« – er schnippte mit den Fingern – »paff, ist es vorbei, und du bist aus der Gegenwart in den Gedanken gerutscht. Also praktiziere ich gewöhnlich Satipatthana, die bewußte Achtsamkeit. Einfach da sein, die Dinge nicht beurteilen, nicht über sie nachdenken, sondern einfach hier sein.«

»Wie hast du das ursprünglich gelernt?« fragte ich.

»In Wat Sri Chong hatte ich eine kleine Höhle, in der ich jeden Nachmittag saß. Mein Lehrer hatte mich angewiesen, einfach da zu sein, dort zu sitzen und meine Atemzüge zu zählen. Er hatte mir aber gesagt, ich solle nie weiter als bis vier zählen, weil die meisten Leute ihre Aufmerksamkeit nicht vier Atemzüge lang auf etwas konzentrieren können. Also zähle ich vier Atemzüge und beginne dann wieder bei eins.«

Ich berichtete ihm, daß, als ich anfing, Zazen zu lernen, die Sitzmeditation des Zen, mein Roshi (Lehrer) mir gesagt hatte, ich solle [322]zehn Atemzüge zählen. Das veranlaßte George zu einem Riesengelächter.

»Wenn du volle zehn Atemzüge bei deinem Atem bleiben kannst, dann stehst du kurz vor der Erleuchtung. Ich würde einem Anfänger nie eine so lange Zeit empfehlen.«

»Und was ist passiert, als du dort gesessen und einfach deine Atemzüge gezählt hast?«

»Nun, zunächst tauchten natürlich alle möglichen Gedanken auf. Immer und immer wieder. Gedanken an dies und das, an die Höhle und das Kloster, mein Heimatland und seine Regierung, was es zum Mittagessen geben würde, alles mögliche. Dann dachte ich an meinen Atem und an meinen Körper.« Er lächelte. »Das ist besonders schwer zu vermeiden.«

»Und dann?«

»Schließlich, nachdem das ein paar Wochen so gegangen war, setzte ich mich eines Tages nach dem Mittagessen hin, und als um sechs Uhr der Gong zum Abendessen rief, hatte ich das Gefühl, als seien nur ein paar Minuten vergangen. Die Zeit verging so schnell, weil ich einfach im Hier und Jetzt war.«

»Glaubst du, daß die Zeit mit einer anderen Geschwindigkeit vergeht, wenn Menschen auf diese Weise meditieren?« fragte ich.

George zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Bei mir ist das jedenfalls so. Vielleicht gibt es ja auch in Wirklichkeit gar keine Zeit; vielleicht ist die Zeit nur ein Konstrukt unseres Gehirns, etwas, das wir uns einbilden, um dieses von jenem unterscheiden zu können. Aber wenn man so sitzt und ganz in der Gegenwart lebt, dann gibt es keine Zeit. Nur das Jetzt.«

»Und das hast du jahrelang getan?« fragte ich.

Er wies mit einem Eßstäbchen auf mich. »Ich tue es immer noch, viele Male am Tag. Aber ich habe seit damals mehr und mehr gelernt, dieses Gefühl des Jetzt in meinen Alltag zu integrieren, in meine Arbeit als Arzt, in alles, was ich tue. Das ist die eigentliche Bedeutung von Satipatthana, mit bewußter Achtsamkeit zu leben. [323]Der Teil, bei dem man sitzt, ist nur Meditation, die oft Vipassana genannt wird, aber der wirklich mächtige Teil ist Satipatthana oder Leben in bewußter Achtsamkeit. Ob du nun ißt, die Straße entlang gehst, eine Operation durchführst oder mit deinen Angehörigen sprichst. Du mußt dich immer selbst beobachten. Und dann beobachtest du dich dabei, wie du dich selbst beobachtest. Und allmählich kommst du jenem Ort immer näher.«

»Und was ist mit der Leere, in der du nun soviel Zeit verbringst?«

»Oft, wenn ich mit geschlossenen Augen meditiere«, sagte er, »gleite ich in die Leere. Das ist nicht etwa ein nicht existierender Ort, sondern es ist der All-Ort, aus dem das Universum hervorgegangen ist. Und wenn ich da hineingleite, werde ich eins mit dem Universum. Das ist eine ganz außergewöhnliche Erfahrung, und während ich nun dem Ende meines Lebens näher komme, stelle ich fest, daß ich immer mehr dort hingezogen werde.«

»Wie machst du das? Wie könnte ein Anfänger dort hingelangen?«

George zuckte mit den Schultern, steckte sich ein Stück Tofu in den Mund und kaute einen Moment bedächtig darauf herum, als sei dieser Akt des Kauens das Wichtigste, was er je getan hätte. Dann antwortete er: »Ich würde vorschlagen, daß es jeder auf seine Weise versucht. Wenn jemand ein besonders ausgeprägtes Tastempfinden hat, sollte er einen Rosenkranz oder eine Mala benutzen. Wenn jemand besonders sensibel auf Klänge reagiert, sollte er ein Mantra benutzen, beispielsweise Om oder Amen oder den Namen eines Heiligen, dem er sich besonders verbunden fühlt. Wenn jemand vorwiegend visuell veranlagt ist, dann sollte er einen Heiligen visualisieren oder sich Christus vorstellen, wenn er ein Christ ist, oder einen Lehrer, der nicht mehr auf dieser Erde weilt.«

»Wie wäre es mit einer Kerze?« fragte ich, weil ich daran dachte, was mein alter Mentor Hamid Bey im Koptentempel in Kairo gelernt hatte.

Er nickte. »Das würde bei einem visuell veranlagten Menschen [324]funktionieren. Oder auch ein Mandala. Am wichtigsten ist es, daß sich jeder etwas aussucht, das bei ihm funktioniert, etwas, das ihm gefällt und womit er sich wohl fühlt. Diese Leute, die behaupten, daß nur ein Weg zum Ziel führt, und daß jeder diesem speziellen Weg folgen muß, ignorieren einfach, daß die Menschen unterschiedlich sind. Es gibt viele Wege und viele Methoden.«

»Und was macht man mit den Klängen, den Perlen oder Bildern, die man sich vorstellt?«

»Man bleibt dabei«, erwiderte er. »Einige Lehrer sagen, daß man aufrecht sitzen muß, mit gerader Wirbelsäule und all das. Aber ich kann das jetzt nicht mehr, weil meine Leber zu weh tut, wenn ich eine von diesen Haltungen einnehme, und ein alter Mann wie ich hat vielleicht Arthritis oder andere körperliche Beschwerden, die ihm zu schaffen machen, wenn er versucht, aufrecht zu sitzen.« Er versuchte, seinen Körper in eine der vorgeschriebenen Haltungen zu bringen, und zuckte zusammen. »Diese Dinge sind nicht so wichtig. Ich lege mich jetzt immer im Bett auf den Rücken und arbeite mit dem Rosenkranz, den mir mein Lehrer vor fast fünfzig Jahren gegeben hat, bevor er starb. Damit gelange ich an einen Ort der Aufrichtigkeit, der Konzentration, der inneren Sammlung.«

»Unterscheidet sich das von der bewußten Achtsamkeit, von Satipatthana? Es scheint das genaue Gegenteil zu sein, eine Art von Nicht-Sammlung.«

»Nein«, sagte George. »Erst muß man lernen, sich zu sammeln, sich zu konzentrieren. Das kann man mit Hilfe des Rosenkranzes, eines Klanges oder einer Visualisierung. Und dann, wenn man Satipatthana praktiziert, nutzt man diese Kraft der inneren Sammlung, um sich auf den gegenwärtigen Augenblick zu konzentrieren. Zunächst muß man also lernen, sich innerlich zu sammeln.«

»Und die Leere?«

»Nun«, sagte er mit einem schwachen Lächeln, »wenn ich mich früher konzentriert habe, bin ich einfach völlig darin aufgegangen, die Perlen oder den Klang oder die Vision wahrzunehmen. [325]Aber jetzt stelle ich oft fest, daß ich sozusagen darüber hinaus gehe. Ich bin dann jenseits der Wahrnehmung – und sogar jenseits des Jenseits. Und wenn ich an diesen Ort gelange, dann befinde ich mich in der Leere. Ich weiß nicht, wie ich es weiter beschreiben könnte, außer daß es ganz wunderbar und sehr machtvoll ist. Dann nehme ich diese Erfahrung mit zurück in meinen Alltag, und das gibt mir Kraft.«

Der beste Weg, die Welt zu erneuern, besteht darin, daß Sie mit sich selbst und Ihrer inneren Welt beginnen. Ich bitte Sie dringend, mit den von George beschriebenen Meditationsformen zu experimentieren.

Die meisten Leute glauben beispielsweise, daß sie »die Welt wahrnehmen«. Wir sehen, was wir sehen, hören, was wir hören, fühlen, was wir fühlen, schmecken und riechen, was es zu schmecken und zu riechen gibt. Aber in Wirklichkeit können nur sehr wenige Menschen mit ihren Sinnen die Wirklichkeit wahrnehmen.

Statt dessen beginnen wir sofort, von allem, was wir mit unseren Sinnen aufnehmen, Begriffe zu bilden, indem wir alles in unserem eigenen Kopf mit uns selbst diskutieren, so wie ich es im Abschnitt »Wie und warum wir Geschichten konstruieren« beschrieben habe. Dieser innere Dialog, bei dem es primär darum geht, zu beurteilen, zu bewerten, zu vergleichen und zu assoziieren, entfernt uns einen Schritt von der sinnlichen Wirklichkeit, die uns umgibt. Und doch denken wir, das sei die Realität. Wir merken nicht einmal, daß alles schon einen Schritt weiter ist, bevor es in unsere Gedanken gelangt.

Wenn Ihnen das zu abstrakt oder belehrend vorkommt, dann versuchen Sie es doch einmal mit diesem einfachen Experiment, das dem gleicht, zu dem ich Sie einige Kapitel zuvor aufgefordert habe, damit Sie den Lärm in Ihrem Kopf hören können.

Nachdem Sie diesen Absatz gelesen haben, legen Sie das Buch für einen Moment beiseite und blicken Sie sich um. Lauschen Sie den Geräuschen, die Sie hören können, nehmen Sie die Empfindungen [326]auf Ihrer Haut und in Ihrem Körper wahr, und dann sehen Sie, was Sie sehen. Und versuchen Sie, das alles nicht mit sich selbst in Ihrem Kopf zu diskutieren. Wenn Sie den Zustand »keine Worte im Kopf« auch nur drei Sekunden lang aufrechterhalten und dabei vollkommen »hier« sein können, eins mit den sinnlichen Wahrnehmungen der Welt um Sie herum, dann sind Sie besser als die meisten Meditationsanfänger. Wenn Sie länger als ein oder zwei Minuten in diesem Zustand der reinen sinnlichen Wahrnehmung bleiben können, dann haben Sie den Geisteszustand erreicht, über den der inzwischen verstorbene, zeitgenössische christliche Mönch Thomas Merton oft gelehrt und geschrieben hat.

Was also geschieht, ist, daß wir ständig hin und her flattern zwischen der sinnlichen Wahrnehmung der Welt und der inneren Erörterung dieser Sinneswahrnehmungen mit uns selbst. Dieses Debattieren zieht uns weg von der realen Welt, von der Erfahrung des Lebens und versetzt uns in unser individuelles Bewußtsein, wo wir denken, beurteilen und vergleichen.

In diesem denkenden Bereich unseres Bewußtseins verbringen wir den größten Teil unseres Lebens. Und die Art, wie wir auf die Welt um uns herum reagieren – die Art der inneren Konversation mit uns selbst –, basiert auf den Geschichten, die wir uns selbst über die »Realität« erzählen. Wenn wir jedoch dieses Geplapper, die Bewertungen und Beurteilungen abstellen, dann können wir die Geschichten fallenlassen und einen Augenblick der Wirklichkeit erfahren, einen Augenblick des heiligen Jetzt.

Finden Sie Ihren Weg – mit Hilfe von Klängen, sensorischen Wahrnehmungen oder Visualisierungen – und lernen Sie, das »Jetzt« zu erfahren. Sitzen Sie still da, hören und sehen und fühlen Sie einfach – lassen Sie das innere Geplapper verstummen – zehn oder zwanzig Minuten am Tag. Da Sie und ich und alle anderen Lebewesen miteinander verbunden sind, werden Ihre Meditationen sich positiv auf Sie selbst und Ihre Realität auswirken und positive Wellen der Veränderung durch die Welt senden …

 

 

[327]

Den Frauen wieder die Macht übertragen

Wir haben jetzt die Geschichte der Frauen vom Paradies bis zum neunzehnten Jahrhundert verfolgt und dabei während dieser ganzen Zeit nichts als das Klirren ihrer Fesseln gehört.

Lady Jane Wilde (1821–1896)

Ein Freund, der Psychiater mit einer Ausbildung in Neurochemie ist, hat mir einmal scherzhaft gesagt: »Die gefährlichste Droge der Welt ist Testosteron.«[86]

Die Geschichte scheint zu bestätigen, daß er recht hat.

Ausführliche Untersuchungen »prähistorischer« Kulturen, wie sie von Riane Eisler und anderen durchgeführt wurden, sind zu dem Ergebnis gekommen, daß die Frauen in nahezu allen älteren Kulturen den Männern gleichberechtigt waren und in einigen Fällen sogar die alleinige Verantwortung trugen. Eine Theorie führt als Grund dafür an, daß allein Frauen neues Leben in die Welt bringen können, und es ist durchaus möglich, daß die Menschen die Grundlagen der Genetik erst zu verstehen begonnen haben, als sie ihre Existenz als Jäger und Sammler aufgaben und zu Hirten und Bauern wurden. Die Frauen spielten die Hauptrolle, weil sie das Leben selbst kontrollierten, indem sie es in ihrem Körper heranwachsen ließen.

Als aber schließlich in der Anfangszeit des Hirtendaseins allen klar war, daß die Männer dabei eine wichtige Funktion hatten, rissen einige Männer die Macht an sich, sorgten dafür, daß nicht [328]mehr weibliche, sondern männliche Götter verehrt wurden, und übernahmen die Kontrolle über die Fruchtbarkeit der Frauen ebenso, wie sie die Fruchtbarkeit der Felder oder einer Schafherde kontrollierten. Die Männer übernahmen die Macht.

Zur gleichen Zeit begann das testosterongesteuerte Verhalten die Anfänge unserer jüngeren Kultur zu beherrschen: Aggression, Wettbewerb, Herrschaft, Krieg.

Als die europäischen Missionare den Kindern der australischen Ureinwohner, die als Jäger und Sammler lebten, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts das Fußballspielen beibrachten, spielten die Kinder so lange, bis beide Seiten gleich viele Tore geschossen hatten. Dann war das Spiel nach ihrem Verständnis zu Ende, und das machte die britischen Missionare fassungslos. Sie brauchten über ein Jahr, um die Kinder der Aborigines zu überzeugen, daß es Gewinner und Verlierer geben sollte. Die Kinder lebten in einer matrilinearen Gesellschaft, in der Kooperation den höchsten Wert darstellte; die Engländer dagegen kamen aus einer patriarchalen Gesellschaft, die auf dem Herrschaftsprinzip basierte.

Die Irokesen hatten diesen grundlegenden Zusammenhang schon vor mehr als tausend Jahren herausgefunden: In den meisten Fällen oblag die Entscheidung allein den Frauen des Stammes. Infolgedessen wurden Entscheidungen, welche die Beziehungen zu anderen Stämmen betrafen, meist unter dem Aspekt »Was ist am besten für unsere Kinder?« getroffen, ohne daß es dabei einen Sieger geben mußte oder daß Stolz, Macht oder Eroberung eine Rolle spielten.

Ähnliches gilt in bezug auf das Problem der Überbevölkerung: In fast jeder Nation der Welt, in der Frauen von Männern beherrscht, wie Vieh oder Sachen behandelt, ausgebeutet und kontrolliert werden, explodieren die Bevölkerungszahlen. In diesen Ländern treffen die Männer die Entscheidungen, und einer der männlichen Werte lautet, »viele Söhne zu haben und die größte Armee aufstellen zu können« (und natürlich heißt ein anderer weitverbreiteter [329]Wert, »jederzeit und mit jeder beliebigen Frau Sex haben zu können«).

In Nationen jedoch, in denen die Frauen relativ gleichberechtigt sind und im gleichen Maße wie Männer Zugang zur Macht haben, sind die Geburtenraten sehr viel niedriger und das Bevölkerungswachstum tendiert oft gegen Null, wie es in vielen nordeuropäischen Ländern der Fall ist. Diese Gleichung geht in fast jedem Land der Welt auf: Männerherrschaft ist identisch mit Bevölkerungsexplosion; die relative Gleichberechtigung der Frauen entspricht umweltverträglichen Bevölkerungszahlen.

Insofern könnte man sagen, daß die Frauenrechtsbewegung in Wirklichkeit eine Menschenrechtsbewegung ist.

Also besteht eine weitere Lösung für unsere Probleme darin, den Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen wieder mehr Macht zu übertragen, also in sozialen, familiären, religiösen, militärischen und geschäftlichen Angelegenheiten.

 

 

[330]

Das Geheimnis des »Genug«

Denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie ich's finde.

Paulus, Brief an die Philipper, 4, 11

Zunächst die Wahrheit: Wenn man nackt ist, friert und Hunger hat, und jemand gibt einem Obdach, Kleidung und Nahrung, dann geht es einem besser. Das Lebensnotwendige zu haben, bedeutet eine qualitative Veränderung im Leben, und man könnte sogar behaupten, daß man sich dadurch »glücklich« fühlt. Wir fühlen uns dann behaglich und sicher. Unser inneres Befinden – unser Geisteszustand und das emotionale Gefühl von Wohlbefinden – hat sich durch diese äußeren Veränderungen der materiellen Umstände verbessert, ein Ergebnis der Tatsache, daß man bestimmte Dinge angesammelt hat.

Wir wollen diesen Zustand als den »Punkt des Genug« bezeichnen. Er repräsentiert den Punkt der Sicherheit, wo das eigene Leben und die materielle Existenz nicht gefährdet sind.

 

Nun die Lüge oder der Mythos: Wenn eine bestimmte Menge an materiellem Besitz uns glücklich macht, dann wird die doppelte Menge uns doppelt so glücklich machen, die zehnfache Menge wird uns zehnmal so glücklich machen, und so geht es ohne Ende weiter.

Wenn diese Logik stimmen würde, dann müßten die Superreichen wie Prinz Charles oder Donald Trump oder König Fahd in einem Zustand permanenter Glückseligkeit leben. »Gier ist gut«, das so oft wiederholte Mantra der Reagan-Ära, drückte den religiösen und moralischen Aspekt dieses Mythos aus. Mehr ist besser. Wer mit den meisten Spielsachen stirbt, ist der Sieger.

[331]

Viele Amerikaner haben während der großen Weltwirtschaftskrise erkannt, daß »mehr ist besser« ein Mythos ist. Die Großmutter meiner Frau, die jetzt schon über neunzig ist und immer noch genügsam, aber behaglich lebt, besaß damals mit ihrer Familie einen Bauernhof und konnte fast alle materiellen Bedürfnisse der Familie befriedigen, indem sie selbst die nötigen Nahrungsmittel anbaute, mit Holz heizte und die Kleidung selbst herstellte. Recycling war keine Modeerscheinung und diente auch nicht dem Umweltschutz, sondern es war überlebensnotwendig und bequem. Heute, auf ihre alten Tage, hat unsere Großmutter durch Investmentanlagen und den Verkauf der Farm genug Geld, um sich ein ziemlich extravagantes Leben leisten zu können, aber sie bestellt weiterhin jedes Jahr zwei Kleider aus dem Sears-Katalog, sammelt Regenwasser, um ihre wunderschönen langen Haare zu waschen, schreibt Gedichte und hat Spaß daran, ihre eigenen Mahlzeiten aus Resten zu kochen. Sie hat den Mythos als das erkannt, was er war, und hat sich bis heute nicht davon beeindrucken lassen.

Einige Leute haben in der Weltwirtschaftskrise natürlich so schwere Narben davongetragen, daß sie in die entgegengesetzte Richtung gingen und sich diesem Mythos vollständig hingaben. Legendär sind beispielsweise die Exzesse von Howard Hughes – ebenso wie die schmerzliche Realität, daß sein nahezu grenzenloser Reichtum ihn doch nie glücklich machte.

Auf ähnliche Weise ist der Mythos zur Kernüberzeugung in den USA, im größten Teil Europas und in den meisten Entwicklungsländern geworden. Die Werbung fordert Kinder und Erwachsene auf, Dinge zu kaufen, die sie nicht brauchen, und verspricht Glückseligkeit. Oft ist die Werbebotschaft »Kauf dies, und du wirst glücklicher sein« so aufdringlich, daß sie auf einen Menschen, der für den Mythos sensibilisiert ist, bestürzend wirkt. Vergiß den »Punkt des Genug«, sagen diese Anbieter: Dieses Produkt oder diese Dienstleistung ist das einzige, was dir letztlich die Erfüllung bringt.

[332]

Was Reichtum bedeutet

Doch wir alle – sowohl diejenigen, die meinen, »genug« sei eine anspruchslose Ebene von Behaglichkeit, als auch die anderen, die sich nach großem Reichtum sehnen – sind Spiegelbilder unserer Kultur. So wie wir nicht über die Luft nachdenken, die wir atmen, so vergessen wir auch leicht, daß wir Mitglieder einer einzigartigen Kultur sind, die von ihren eigenen Annahmen ausgeht. Diese jüngere Kultur basiert auf einer einfachen Ökonomie: Wir produzieren Waren oder Dienstleistungen, die für andere von Wert sind, und dann tauschen wir sie gegen das ein, was die anderen produzieren und was wir brauchen oder haben wollen. Geld ist lediglich aufgekommen, um den Tauschhandel zu vereinfachen, aber das ist die fundamentale Gleichung. Die Vorstellung von Reichtum als Maßstab für den Besitz von Waren oder Geld ist ein untrennbarer Bestandteil dieser Kulturen, und insofern könnte man sagen, daß all diese verschiedenen Kulturen in der ganzen Welt eigentlich nur Variationen eines einzigen Themas darstellen, verschiedene Muster, die aus demselben Faden gewoben sind.

Der Reichtum der Sicherheit

Obwohl sie inzwischen nur noch ein Prozent der Weltbevölkerung ausmachen – eine Folge des fünftausend Jahre andauernden Völkermordes, den unsere weltweit herrschende jüngere Kultur verübt hat –, leben immer noch Menschen auf der Erde, die den älteren Kulturen angehören. Außerdem gibt es auch noch Menschen, die ihrer den älteren Kulturen entsprechenden Lebensweise erst vor kurzem beraubt wurden – so wie viele der amerikanischen Ureinwohner – und sich sehr wohl an diesen Lebensstil erinnern, auch wenn sie ihn selbst nicht mehr praktizieren.

In diesen älteren Kulturen ist die Vorstellung »mehr ist besser« [333]unbekannt. Die Aussage »Gier ist gut« ist für sie die Haltung eines Geisteskranken. Für sie ist es beispielsweise obszön zu essen, wenn jemand anders in der Nähe Hunger hat.

Diese Werte und Verhaltensnormen unterscheiden sich erheblich von denen, die wir heutzutage in unserer Welt sehen. Aber warum?

Der Grund ist einfach: Sicherheit ist ihr Reichtum, nicht Güter oder Dienstleistungen.

In älteren Kulturen besteht das Ziel der ganzen Gemeinschaft darin, daß jedes einzelne Mitglied den »Punkt des Genug« erreicht. Wenn dieser Zustand erreicht und gesichert ist, sind die Leute frei, ihren persönlichen Interessen und Vergnügungen nachzugehen. Der Schamane kann sich dann in Trance versetzen, der Töpfer noch mehr elegante Töpfe formen, der Geschichtenerzähler denkt sich neue Geschichten aus, und die Eltern spielen mit ihren Kindern und bringen ihnen bei, wie man erfolgreich lebt.

Aber sind sie nicht bitterarm?

Weil die Menschen in den älteren Kulturen gewöhnlich zusammenarbeiten, um so viel Nahrung, Obdach, Kleidung und Behaglichkeit zu schaffen, daß der »Punkt des Genug« erreicht wird, und ihre Aufmerksamkeit dann anderen, interessanteren Dingen zuwenden (etwa »Spaß haben« oder Spiritualität), halten sie uns Mitglieder der jüngeren Kulturen für arm.

Ich erinnere mich daran, wie ich ein paar Tage mit einem indianischen Heiler verbracht habe, von dem ich ein besonderes Ritual der amerikanischen Ureinwohner lernte, das ich geheimzuhalten versprochen habe. Er lebte in einem Wohnwagen in der Wüste, in einem Reservat, wo es nichts außer Büschen, Kakteen und Staub gab. Seinem Auto, einem Chevy aus den siebziger Jahren, fehlten mehrere Karosserieteile, und er bekam als Bezahlung für seine Heilungszeremonien [334]von den Einheimischen Nahrung, Benzin, Kleidung und so ziemlich alles, was er sonst noch brauchte. Seine Einnahmen an Bargeld betrugen wahrscheinlich weniger als 500 Dollar im Jahr, und der Geldwert seiner sonstigen Einkünfte belief sich wahrscheinlich auf weniger als 5000 Dollar. Nach allen Maßstäben der westlichen Kultur war dieser Mann so arm, wie man in Amerika nur sein kann – es reichte gerade zum Überleben. Und das galt genauso für die anderen 200 oder 300 Familien, die im Umkreis von zwanzig Meilen lebten und zum selben Stamm gehörten: Sie alle waren »arm«.

Und doch hatte der Heiler Dinge, die den meisten meiner Bekannten, die in Atlanta in ihren 200 000-Dollar-Vorstadthäusern lebten, völlig fehlten.

Wenn er krank wurde, dann sorgte jemand für ihn. Wenn er Nahrung oder Kleidung brauchte, dann bekam er sie. Wenn er Probleme hatte, dann war jemand bei ihm. Wenn sein einziges Kind etwas brauchte, dann materialisierte sich das stets irgendwie aus der örtlichen Gemeinschaft. Er wußte, daß ihn im Alter jemand aufnehmen würde. Wenn er sein Heim verlor, dann würden andere ihm helfen, ein neues zu bauen oder zu finden. Was ihm auch immer zustieß, es war so, als würde es der gesamten Gemeinschaft zustoßen.

Als wir einander näher kennenlernten und ich auch andere Bewohner seiner kleinen »Stadt« traf, entdeckte ich, daß seine Reichtümer an Sicherheit und Unterstützung von seinen Nachbarn nicht nur ihm als dem Heiler der Gemeinschaft vorbehalten waren. Jeder Bewohner der »Stadt« kam in ihren Genuß, von den Jungs, die als Schreiner Gelegenheitsarbeiten in der 112 Meilen entfernten Stadt der Weißen verrichteten, bis zu den Trunkenbolden der Gemeinschaft. Jeder hatte diese Sicherheit von der Wiege bis zum Grab, das Maximum dessen, wofür die Stammesmitglieder sorgen konnten.

[335]

Unsere Armut

Nach der Rückkehr von meiner ersten Reise nach New Mexico traf ich mich zum Abendessen mit einem Freund, der als erfolgreicher Anwalt für eine große Kanzlei in Atlanta arbeitete.

»Was passiert, wenn du deinen Job verlierst?« fragte ich ihn.

Er zuckte mit den Schultern. »Ich würde wahrscheinlich einen anderen finden.«

»Und wenn die Situation auf dem Arbeitsmarkt schlecht wäre? Wenn es beispielsweise eine Rezession oder eine große Wirtschaftskrise gäbe? Oder wenn du deinen Job verlieren würdest, weil du einen wichtigen Fall in den Sand gesetzt hättest?«

Er blickte sorgenvoll auf seinen Teller mit Spaghetti und starrte auf die verworrenen Nudelfäden, als könne er seine Zukunft darin sehen. »Ich weiß nicht«, sagte er leise. »Als erstes würde ich wahrscheinlich mein Haus verlieren. Die Hypothekenzahlungen, Versicherungen und Steuern belaufen sich auf mehr als zweitausend Dollar im Monat. Und das Auto kostet noch einmal fünfhundert.«

»Und wenn du krank würdest?« fragte ich weiter. »Wenn du ernsthaft krank würdest?«

Er blickte von seinem Teller auf. »Du meinst ohne die Krankenversicherung von meinem Arbeitgeber?«

»Ja.«

»Ich würde sterben«, sagte er. »Ich habe einen Kollegen, der verbringt die meiste Zeit damit, Versicherungsgesellschaften vor Gericht zu vertreten, die alles daran setzen, für die Versicherten im Krankheitsfall nicht zahlen zu müssen. Sie forsten dann die Versicherungsanträge durch, um zu sehen, ob der Versicherte irgend etwas nicht angegeben hat, beispielsweise eine Vorerkrankung oder die Tatsache, daß er von einer anderen Versicherungsgesellschaft einmal abgelehnt worden ist. Wenn sie so etwas in den Unterlagen finden, dann wird der Versicherte rausgeworfen. Ich weiß von mehreren Fällen, in denen Leute gestorben sind, die durchaus [336]noch heute leben könnten, wenn sie das Geld für die medizinische Behandlung gehabt hätten.«

»Und wenn du alt wirst?«

»Dann bekomme ich meine Betriebsrente.«

»Und wenn die Firma dich um deine Einlagen betrügen würde, oder wenn alles in Aktien angelegt wäre, und es käme zu einem Börsenkrach?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich müßte auf der Straße leben oder bei meinen Kindern in der Garage, vorausgesetzt, sie könnten es sich leisten, mich aufzunehmen. Ich wäre jedenfalls übel dran.«

Mehr noch als seine Worte verrieten sein Tonfall und seine Augen, wie groß seine Unsicherheit war. Wenn sein Arbeitgeber in Schwierigkeiten geriet, war auch seine Existenz gefährdet. Er hing – so wie auch ich damals – am seidenen Faden von Schulden und Arbeitseinkommen und der Hoffnung, daß die Regierung es irgendwie schaffen würde, das finanzielle Kartenhaus des Landes vor dem Einsturz zu bewahren, wie schon so oft während der letzten Jahrhunderte.

»Wenn du einen Wunsch frei hättest«, fragte ich ihn, »was würdest du dir wünschen?«

»Das ist einfach«, antwortete er lächelnd. »Mehr Zeit. Der Tag hat nicht genug Stunden, und ich fühle mich wie in einer permanenten Tretmühle. Ich habe nie genug Zeit für meine Kinder, meine Frau, unsere Familie und die Freunde oder auch nur, um ein gutes Buch zu lesen. Drei Abende in der Woche bringe ich mir Arbeit mit nach Hause, und ich weiß jetzt schon, wenn ich eines Tages als Partner in die Kanzlei aufgenommen werde, dann muß ich das an fünf oder vielleicht sogar an sieben Abenden in der Woche tun. Ich habe einfach zuwenig Zeit.«

Inmitten seines Reichtums an materiellem Besitz – ein schönes Haus mit eleganten Teppichen und Möbeln, ein neuer Mercedes, edle Anzüge – litt mein Freund unter einer Armut, die typisch für die jüngeren Kulturen ist: einem Mangel an Spiritualität, an Zeit, [337]an Sicherheit und Unterstützung. Sein Leben hatte kein sicheres Fundament und schien, abgesehen von dem Ziel, die nächste Einkommensstufe und die damit verbundenen Annehmlichkeiten zu erreichen, nur wenig Sinn zu haben.

Wie mein indianischer Mentor über mich sagte: »Junge, du meinst zwar, du wärst reich, aber in Wirklichkeit bist du unvorstellbar arm.«

Wir müssen also als Kultur wieder herausfinden, wo der »Punkt des Genug« liegt, sowohl materiell als auch spirituell. Wenn wir diesen Punkt finden, werden wir unendlich viel reicher sein.

 

 

[338]

Respekt vor anderen Kulturen und Gemeinschaften

Siehe, dir gefällt Weisheit, die im Verborgenen liegt, und im Geheimen tust du mir Weisheit kund.

Psalm 51, 8

Im Zusammenhang mit den vielen »Regenbogen«-Bewegungen in den Vereinigten Staaten und anderswo, die alle Menschen als »Teil unserer Familie« bezeichnen, mögen die folgenden Ausführungen ketzerisch klingen, aber das ist keineswegs beabsichtigt:

Im Stammesleben gelten kulturelle und rassische Unterschiede als absolut vernünftig und natürlich.

Es gibt viele Stimmen, von den Führern der Black Muslims bis zu zahllosen Stämmen amerikanischer Ureinwohner, die erklären: »Wir wollen uns gar nicht in eure Kultur integrieren – wir wollen unsere eigene einzigartige Kultur.« Die am weitesten verbreitete Reaktion auf solche Stimmen besteht darin, sie als rassistisch oder elitär zu bezeichnen.

Aber ist es in irgendeiner Weise weniger rassistisch oder elitär, wenn eine kulturelle Gruppe zu anderen sagt: »Gebt eure alte Lebensweise auf, eure althergebrachten oder modernen Traditionen, eure einzigartige Sprache und Religion, und schließt euch unserer Gesellschaft an«? In vieler Hinsicht ist der Ruf nach »Integration« in modernen Gesellschaften nichts weiter als eine freundliche Maske, welche sich die herrschende jüngere Kultur der Städte und Staaten vor das verzerrte Gesicht hält, nachdem sie so viele Jahre so hart daran gearbeitet hat, die eingeborenen Völker und ihre Traditionen in aller Welt zu zerstören. Es ist eine Art zwangsweiser kultureller Bekehrung.

Viele Menschen sind sich dessen überhaupt nicht bewußt, weil [339]es ein Teil der heute herrschenden Geschichte ist – so sind die Dinge eben, und etwas anderes kennen wir nicht. Aber achten Sie darauf, diese Haltung enthält die unausgesprochene Botschaft: »Wir geben euch gerne die Möglichkeit, euch in unsere Kultur zu integrieren, weil sie soviel besser ist als eure.«

Während kulturelle Vielfalt bei den herkömmlichen Städten und Staaten kein Thema ist, war sie für das Überleben der Stämme stets wesentlich.

Jedes System wird durch den Verlust der Vielfalt verletzlicher. Wälder, die aus nur einer einzigen Baumart bestehen, werden leicht ein Opfer von Schädlingen. Monokulturen auf den Feldern reagieren überempfindlich auf Temperatur- und Feuchtigkeitsveränderungen. Stromnetze, die nur aus einer einzigen Quelle gespeist werden, sind besonders anfällig für Störungen oder brechen zusammen, wenn das Kraftwerk ausfällt oder ein Unfall geschieht.

Ganz ähnlich ist die Situation auch in menschlichen Gesellschaften: Wir müssen uns klarmachen, daß Stammesgesellschaften eine wichtige Rolle im menschlichen Ökosystem spielen. Sie sind nicht nur dazu da, den »zivilisierten« Einwohnern der Städte und Staaten zu zeigen, welche Dschungelpflanzen vielleicht Krebs heilen können: Ihr Fortbestand ist notwendig, um die kulturelle und genetische Vielfalt der Menschheit zu bewahren.

Stammesgesellschaften haben kaum eine Möglichkeit, sich gegen das räuberische Verhalten der Städte und Staaten und ihrer Wilderer zu wehren. Sie werden weltweit gnadenlos ausgerottet, und jene, auf die heute keine Kopfgelder mehr ausgesetzt und keine organisierten Jagden mehr veranstaltet werden, müssen wie Viehherden in Reservaten leben, wo sie westliche Nahrung, Kleidung und »Arbeitsmöglichkeiten« erhalten. Viele verlieren ihr ursprüngliches Wissen, ihre Fertigkeiten und ihre Spiritualität im Austausch gegen die modernen Glaubensbekenntnisse des Konsumdenkens, des Fernsehens und der organisierten Religionen.

»Leben und leben lassen« ist ein Grundsatz, der in Stammesgesellschaften [340]gilt, nicht jedoch in Städten und Staaten. Verschieden Stämme haben unterschiedliche Werte und Lebensweisen, wobei einige völlig anders sind als unsere eigenen. Sie sehen anders aus, verhalten sich anders und sprechen sogar anders. Sie praktizieren andere Religionen, essen andere Nahrung, bauen andere Behausungen und Schlafplätze und tragen andere Kleidung.

Aus ihrer Sicht ist das eine gute Sache.

Aber aus der Sicht der Städte und Staaten ist die fortgesetzte regulierende Einflußnahme der US-Regierung auf die religiöse Praxis der amerikanischen Ureinwohner[87] ebenfalls eine gute Sache. Amerikanische Ureinwohner, die sich am »amerikanischen« Wertesystem orientieren und von den Waren abhängig sind, welche die Konzerne herstellen, denken an das Geld, das wir ihnen für ihr Land und seine Bodenschätze anbieten können. Sie sind leicht zu manipulieren und auszubeuten. Laß sie ein Kasino bauen, sagen die Ausbeuter der amerikanischen Ureinwohner, und sie werden unsere Werte übernehmen, sich in unsere Kultur einfügen und uns nicht mehr belästigen.

Diese Situation verspricht nichts Gutes für das Überleben der Stammesgesellschaften. Die Geschichte des Bureau of Indian Affairs (BIA) zeigt deutlich, daß diese Institution den Stämmen nicht hilft, ihre Identität und Kultur zu bewahren, sondern vielmehr darauf hinarbeitet, sie in unsere Kultur zu integrieren, damit wir sie als Arbeiter ausbeuten oder ihres Eigentums berauben können. Selbst die scheinbar positiven BIA-Programme wie indianische Schulen sind letztlich ein Beitrag zur kulturellen Zerstörung.

Eine Kernidee der Stammesgesellschaften ist der Respekt vor anderen [341]Stämmen. Das bedeutet nicht, daß man sie mögen oder sich ihnen gegenüber unbedingt freundlich verhalten muß. Aber man respektiert ihre Einzigartigkeit, ihre Traditionen und ihr Recht auf ihre jeweilige Lebensweise. Und man versucht nicht, sie zur eigenen Lebensweise zu bekehren.

Wenn wir erkennen, daß es falsch ist, anderen unsere Produkte, unsere Lebensweise oder sonst etwas aufzuzwingen, einfach weil es von Mangel an Respekt vor ihrer Lebensweise zeugt, dann kann diese für jüngere Kulturen typische Herrschaft des Menschen über andere Menschen beendet werden.

Oscar Wilde hat einmal erklärt: »Solange man Krieg als etwas Unerhörtes betrachtet, wird er immer seine Faszination haben. Erst wenn man ihn als vulgär ansieht, wird er nicht mehr populär sein.« Ähnlich gilt: Wenn wir feststellen, daß die Art des ökonomischen und kulturellen Imperialismus, den unsere Kultur im Namen des »freien Handels« und der »Modernisierung« betreibt, vulgär ist und die Gesundheit der menschlichen Gemeinschaft zerstört, werden wir vielleicht fähig sein, die fortgesetzte Ausbeutung und Zerstörung der Ressourcen und der Menschen in der Dritten Welt zu beenden.

Die Grenze müßte schon dort gezogen werden, wo man nur daran denkt, irgend jemandem irgend etwas aufzuzwingen. Andere Menschen haben das Recht auf ihr Land und ihren eigenen Lebensstil, ganz gleich wie bizarr oder abwegig er uns erscheinen mag. Und daraus folgt natürlich auch, daß wir das Recht auf unseren Lebensstil haben, so seltsam er den anderen erscheinen mag. Wenn jedoch der eine oder andere Lebensstil auf Herrschaft und Eroberung basiert oder mit gewaltsamen Bekehrungsversuchen einhergeht, dann ist das eine Grenzverletzung.

[342]

Respekt vor dem Sabbat für das Land und vor den Erlaßjahren

Der Begriff »umweltverträgliches Wachstum« wird zur Zeit sehr gerne benutzt, von Umweltgruppen ebenso wie von Konzernvertretern. Wachstum ist so lange möglich, wie es etwas gibt, in das man hineinwachsen kann, und Ressourcen vorhanden sind, die dieses Wachstum antreiben. Aber was geschieht, wenn wir an die Grenzen des Wachstumsrahmens stoßen? Wie kann Wachstum dann noch möglich sein?

In seinem Buch Wirtschaft jenseits von Wachstum untersucht der Weltbankökonom Herman Daly diese Frage eingehend. Er erläutert, daß »umweltverträgliches Wachstum« keine Option mehr ist, wenn Nationen oder die Weltbevölkerung als Ganzes an einen Punkt gelangt sind, wo der größte Teil des Raumes, in den man hineinwachsen kann, ausgefüllt ist, und wenn die Energiereserven oder andere natürliche Ressourcen knapp werden – an diesem Punkt wird umweltverträgliches Leben entscheidend.

Während die meisten Zivilisationen von Städten und Staaten in der Geschichte sich schließlich selbst zerstört haben, gibt es zumindest eine, von der wir wissen, daß sie ein System des Ausgleichs entwickelt hat, das dazu beitragen konnte, einige der dem Stadt- und Staatsmodell innewohnenden strukturellen Probleme zu überwinden. Während niemand mehr die Götter der Sumerer, Griechen oder Römer verehrt – ihre Zivilisationen sind untergegangen –, wird der Gott der Hebräer immer noch auf die eine oder andere Weise von den Angehörigen dreier großer Weltreligionen verehrt. Und es waren die Hebräer, die alten Juden, die in ihr gesellschaftliches Wertesystem bestimmte Formen des Ausgleichs eingebaut hatten.

Bei den Juden waren das der Sabbat und die Erlaßjahre. Die meisten Leute kennen den Sabbat – den Tag der Ruhe. Aber im Alten Testament umfaßte dieser Begriff sehr viel mehr. In jedem siebten [343]Jahr gebührte auch dem Land eine Ruhepause, und es durfte nichts angebaut werden. (Diese Praxis und andere Teile des Ausgleichsystems werden von manchen Leuten in Israel heute noch befolgt.) Auf diese Weise bekam der Boden eine Pause und konnte seine Fruchtbarkeit wiedererlangen, so daß vor Tausenden von Jahren die Grundlagen für eine »umweltverträgliche« Landwirtschaft hergestellt wurden.

Ein weiteres strukturelles Problem von Städten und Staaten ist die Ansammlung von Reichtum in den politisch und ökonomisch herrschenden Klassen. Daly geht davon aus, daß, wenn das Verhältnis zwischen den reichsten und den ärmsten Mitgliedern einer Gesellschaft irgendwo zwischen 10:1 und 20:1 liegt, diese Gesellschaft instabil wird. Das Verhältnis von 10:1 gilt beispielsweise in der amerikanischen Armee und im Verwaltungsdienst: Der höchstbezahlte General verdient ungefähr zehn mal so viel wie ein kleiner Verwaltungsangestellter. In den Universitäten sieht es ähnlich aus, auch wenn das Verhältnis zwischen dem Universitätspräsidenten und dem am schlechtesten bezahlten Pförtner hier oft an 20:1 herankommt. Nach den amerikanischen Erfahrungen mit den Räuberbaronen, die vor und nach der Jahrhundertwende unvorstellbare Reichtümer (und die damit einhergehende politische Macht) angehäuft hatten, wurde unser Steuersystem so gestaltet, daß derart große Einkommensdifferenzen gar nicht mehr aufkommen sollten. Während der längsten Zeit dieses Jahrhunderts lagen die höchsten Steuersätze in den Vereinigten Staaten um 90 Prozent. Das hat in vieler Hinsicht sozial stabilisierend gewirkt, aber diese Stabilität ist in der Reagan-Ära zusammengebrochen, denn seither sind die Reichen sehr viel reicher und die Armen sehr viel ärmer geworden.

Die alten Hebräyer verfügten jedoch über ein System, mit dem sie in regelmäßigen Abständen die soziale Stabilität wiederherstellen konnten, ohne dabei auf eine Besteuerung zurückgreifen zu müssen (die oft nur zu einer grenzenlosen Aufblähung des Regierungsapparates [344]führt). Dieses System bestand aus sogenannten Erlaßjahren, die jeweils nach einem Zyklus von sieben mal sieben Jahren in Kraft traten. Alle fünfzig Jahre wurden sämtliche Schulden erlassen, Sklaven erhielten ihre Freiheit zurück, und das Verhältnis zwischen Arm und Reich wurde ausgeglichen. Was in den vorangegangenen 49 Jahren angesammelt worden war, wurde in der Gemeinschaft verteilt, und das Ergebnis war die einzig stabile Stadt- und Staatsstruktur, die gleich nach den Zeiten von Gilgamesch entstanden ist und bis heute überlebt hat.

Es gab auch noch andere levitische Systeme, die einen Hauch von Stammesverhältnissen in den Stadt- und Staatsstrukturen der jüdischen Nation bewahrten: Der König konnte keine extremen Reichtümer ansammeln, die Gemeinschaft sorgte für die Witwen und Waisen, und Einnahmen konnte man nur aus Arbeit, aber nicht aus Kapital erzielen – es war ungesetzlich, Zinsen zu erheben.

Auch wenn es unwahrscheinlich ist, daß irgendwelche dieser Regelungen in absehbarer Zeit in unserer Welt oder in unserem Land eingeführt werden, so sind dies doch faszinierende Denkanstöße für Leute, die sich für neue Formen des Gemeinschaftslebens interessieren. Sie haben den Test der Zeit bestanden und können sich auch als nützliche Ansätze erweisen, falls unsere Gesellschaft eines Tages so weit zusammenbrechen sollte, daß grundlegende strukturelle Neuordnungen erforderlich werden.

Der Reichtum alter Kulturen

In Stammesgesellschaften ist der Begriff des Reichtums – soweit wir wissen – nahezu unbekannt. Gestern abend war ich bei einer Veranstaltung, auf der Geoffrey O'Connors neuer Dokumentarfilm Amazon Journal vorgeführt wurde, und ich hatte Gelegenheit, in einer Buchhandlung in Santa Monica mit ihm zu sprechen. In dieser Dokumentation zeigt O'Connor, wie zahllose brasilianische [345]Regierungsvertreter, Goldgräber und andere ihre Invasion in die Regenwälder der Kayapo-Indianer am Amazonas mit der Aussage rechtfertigen, die Indianer seien »primitiv« und »arm«. Das ist eine Denkweise, die im Grunde ausdrücken will, daß wir den Leuten helfen, wenn wir ihnen ihr Gold und ihr Holz abnehmen und ihnen im Austausch dafür Nahrung, Gewehre, Fernseher und andere Dinge geben, die sie brauchen, um »modern« zu werden.

Weil unsere Gesellschaft auf der Ansammlung von Gütern basiert (und von Geld, welches die Fähigkeit zum Kauf von Gütern repräsentiert), kommen wir beim Anblick der an materiellen Gütern armen Kayapo leicht auf die Idee, sie seien arme Menschen.

Doch ihre Stammes-Ökonomie hatte – zumindest vor der Ankunft des weißen Mannes – eine andere Grundlage als unser Wirtschaftssystem. Reich war bei ihnen nicht derjenige, der die meisten Dinge besaß oder die Grundlagen des Überlebens wie Nahrungsmittel unter seiner Kontrolle hatte, sondern Reichtum bezog sich auf die Fähigkeit des gesamten Stammes, sich als Ganzes zu erhalten und dafür zu sorgen, daß jedes Stammesmitglied individuell die Gelegenheit hatte, täglich die heilige Gegenwart des Schöpfers durch die Schöpfung selbst zu erfahren. Jedes einzelne Stammesmitglied hatte die Aufgabe, jedes andere Mitglied zu unterstützen. Statt Reichtum an materiellen Dingen zu produzieren, schafft der Stamm für seine Mitglieder den Reichtum der Sicherheit und Geborgenheit und ein Umfeld, in dem es möglich ist, mit dem Heiligen in Berührung zu kommen.

Auf den ersten Blick sind Sicherheit und Geborgenheit für den amerikanischen oder westeuropäischen Mittelklasse-Durchschnittsbürger vielleicht keine große Sache, aber jene Hälfte der Weltbevölkerung, die mit einem Gegenwert von weniger als zwei Dollar täglich zu überleben versucht, versteht sehr wohl, was das bedeutet. Und sogar Mittelklasse-Amerikaner verstehen es zumindest in ihrem Unterbewußtsein: Wir sehnen uns nach Sicherheit und Geborgenheit. Denn wie Abraham Maslow, der Begründer der humanistischen [346]Psychologie, in den fünfziger Jahren hervorhob, sind Sicherheit und Geborgenheit fundamentale menschliche Bedürfnisse. Sobald sie befriedigt sind, werden die Leute automatisch danach streben, die höchsten menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen, welche darin bestehen, das Heilige zu erfahren; Maslow hat das Selbstverwirklichung genannt. Maslow hat jedoch auch festgestellt, daß die meisten Menschen in unserer modernen Welt sich ständig so unsicher fühlen, daß sie niemals zur Selbstverwirklichung finden (oder auch nur danach streben können).

Das hängt damit zusammen, daß wir in unserer jüngeren Kultur Sicherheit und Geborgenheit mit der Ansammlung von Reichtum in Form von materiellen Dingen und Geld gleichsetzen. Doch selbst wenn jemand in diesem Sinne reich ist, bedeutet das nicht zwangsläufig, daß er sich sicher fühlt; im Grunde ist der unsichere Reiche fast schon ein Klischee. Und viele Angehörige der Mittelklasse gehen jeden Abend mit der unterschwelligen Angst ins Bett, daß ihr Arbeitgeber sie am nächsten Tag entlassen könnte, daß die Wirtschaft vielleicht zusammenbricht oder ein Familienmitglied so krank werden könnte, daß sie darüber erst ihre Ersparnisse verlieren und am Ende ihr Haus und ihren gesamten Lebensstil aufgeben müssen. Bei dem Versuch, sich Sicherheit zu verschaffen oder ihren Ängsten zu entkommen, opfern sie ihre Sehnsucht nach Selbstverwirklichung und werden statt dessen zu Workaholics, Fernsehsüchtigen oder religiösen Fanatikern.

Aber für ein Mitglied der Kayapo (bevor sie Kontakt mit Weißen hatten) oder einer anderen Stammesgesellschaft, die noch nicht der jüngeren Kultur zum Opfer gefallen ist, gibt es den Begriff der Unsicherheit überhaupt nicht. Das Stammesleben gewährleistet Sicherheit von der Wiege bis zum Grab. Das ist der innerste Daseinsgrund des Stammes. Es ist einfach selbstverständlich, daß jedes Mitglied so sicher und geborgen ist wie der ganze Stamm und daß der Stamm täglich dafür arbeitet, daß alle seine Mitglieder sich sicher und geborgen fühlen können: junge und alte Menschen, [347]schwache und starke, gesunde und kranke. Das ist die ursprüngliche Ware, der wesentliche »Reichtum« der Menschen in älteren Kulturen: Sicherheit und Geborgenheit während des gesamten Lebens.

Aber Sicherheit, Geborgenheit und das Umfeld, das sie für den täglichen Kontakt mit dem Heiligen schaffen, sind unsichtbar. Wenn die Eroberer der jüngeren Kulturen den Stammesvölkern der älteren Kulturen begegnen, dann sehen sie unterschiedslos nur den Mangel an materiellen Gütern und unterstellen deshalb, daß diese Menschen »arm« oder »primitiv« sind oder »noch in der Steinzeit leben«. Tatsächlich jedoch sind die meisten älteren Kulturen im Hinblick auf das, was wirklich wichtig ist, um spirituell, mental, emotional und sogar körperlich gesunde Menschen hervorzubringen, wesentlich reicher, als die Bürger der jüngeren Kulturen es sich überhaupt vorstellen können.[88]

Dies ist also ein weiterer Weg, eine Gemeinschaft aufzubauen, die sich selbst erhält und funktioniert: Die Hauptaufgabe der Gemeinschaft muß darin bestehen, Sicherheit und Geborgenheit für alle ihre Mitglieder zu gewährleisten und ein Umfeld zu schaffen, in dem jeder täglich mit dem Heiligen in Berührung kommen kann.

Genau so, wie es die Stammeskulturen mehr als hunderttausend Jahre lang getan haben …

 

 

[348]

Dem Krieg gegen das Leben abschwören

In der Kunst des Lebens ist der Mensch wenig erfindungsreich, aber in bezug auf den Tod übertrifft er die Natur selbst und bringt mit Hilfe von Chemie und Maschinen die schwersten Seuchen, Pest und Hungersnot hervor.

George Bernard Shaw (1856–1950)

Unsere auf Herrschaft basierende Kultur ist in vieler Hinsicht ein Todeskult. Unsere Führer und Meinungsmacher scheinen den Krieg zu lieben. Sie benutzen diesen Ausdruck, um Aktionen zu beschreiben, die wir für gut halten, beispielsweise »Krieg gegen die Armut«, »Kampf gegen das Analphabetentum« oder »Krieg gegen Drogen«. Ironischerweise hat uns der Krieg gegen die Insekten in den letzten vierzig Jahren faktisch eine Zunahme der durch Insekten verursachten Ernteverluste beschert. Unser mit Antibiotika geführter Krieg gegen Bakterien hat uns neue und enorm ansteckende Arten von leicht übertragbaren, weitverbreiteten und mittlerweile tödlichen Krankheitserregern beschert. Und selbstverständlich haben die Kriege unter den Menschen zahllosen Generationen seit den Anfängen unserer kriegerischen Zivilisationen vor siebentausend Jahren unbeschreiblich viele Tote und entsetzliche Zerstörungen gebracht.

Meines Erachtens hatte Oscar Wilde absolut recht: Krieg ist vulgär. Die ständige Glorifizierung des Tötens durch Nationalismus, Medien und die herrschende Kultur im allgemeinen garantiert uns für die Zukunft nur noch mehr Schmerzen und menschliches Leiden. Der Mythos des Kriegshelden ist im Osten wie im Westen untrennbar mit der industriellen Kultur verbunden. Dieser Mythos [349]hat dafür gesorgt, daß Hitler die Unterstützung der deutschen Bevölkerung für den Einmarsch in die Nachbarstaaten gewinnen konnte. Er hat den japanischen Ministerpräsidenten Tojo Hideki in die Lage versetzt, dasselbe bei seinem Krieg gegen China zu tun. Dieser kulturelle Mythos hat sichergestellt, daß die »Pioniere«, die »den Westen erobert haben«, von den Amerikanern (und anderen Nationen) in einem romantischen Licht gesehen werden.

Gegen den Krieg kann man nicht kämpfen: Man kann nur erkennen, wie vulgär er ist, und sich – wie die Schoschonen vor zehntausend Jahren – dafür entscheiden, ihm den Rücken zu kehren.

Irgendwann im Laufe ihrer Entwicklung kam unsere Kultur auf die Idee, alles auf diesem Planeten existiere nur für uns. Ungeachtet der Tatsache, daß im Wald viele andere Lebewesen, von Säugetieren über Echsen bis zu Vögeln und Insekten leben mögen: Weil die Welt für uns geschaffen wurde, können wir diesen Wald roden und die Erde in Ackerland zum Anbau von Nahrung für die Menschen verwandeln.

Diese Einstellung und der Kriegsmythos sind untrennbar miteinander verbunden: Wenn Lebewesen irgendeiner anderen, nicht-menschlichen Art mit unserer jüngeren Kultur um Nahrung oder den Raum zum Anbau von Nahrung konkurrieren, dann löschen wir sie aus.

Auf der anderen Seite der menschlichen Kultur stehen Leute, die davon ausgehen, daß andere Lebensformen dasselbe Anrecht auf die Erde haben wie wir Menschen. Die Kulturen dieser Völker entsprechen gewöhnlich den zuvor erwähnten kooperativen Stammesgesellschaften, und so, wie sie mit anderen Menschen kooperieren, arbeiten sie auch mit der Natur zusammen. Zwar dürfen sie mit anderen Lebensformen um Nahrung konkurrieren (und tun das auch), aber sie zerstören ihre Konkurrenten nicht. Wie Daniel Quinn es in Ismael[89] so elegant ausdrückt, ist diese Vorstellung, daß [350]»du konkurrieren, aber deine Konkurrenten nicht zerstören darfst«, eins der grundlegenden Naturgesetze. Von wenigen Ausnahmen abgesehen konkurrieren Tiere und Pflanzen miteinander um Nahrung und Sonnenenergie, aber sie haben es nicht darauf abgesehen, andere Arten im Rahmen dieses Wettbewerbs auszulöschen.

Diese Idee des Wettbewerbs – als Alternative zu Krieg und Völkermord – ist etwas, das wir dringend in unsere kulturellen Vorstellungen einbeziehen müssen. Diese Entwicklung beginnt mit einer kritischen Masse von Menschen, welche die Bedeutung dieser Idee erkennen und verstehen und mit anderen darüber sprechen. Während wir erkennen und miteinander reden und verändern, beginnen wir, die Menschheit und die Welt zu verändern.

Wir können damit im Kleinen beginnen – beispielsweise indem wir unseren Garten ökologisch bewirtschaften und dabei mit Insekten und dem Unkraut um unsere Nahrung konkurrieren, ohne diese anderen Lebensformen auszurotten. In größeren Zusammenhängen können wir dasselbe Prinzip auf der ökonomischen Ebene praktizieren, indem wir möglichst bei Geschäften am Ort kaufen und so zum Aufbau einer lokalen Gemeinschaft beitragen.

Ich war bei einer Rede, die Bill McKibben am Milbrook College in Vermont hielt. Er hat den Studienanfängern dort erklärt, wie er sich für das Überleben kleiner Fachgeschäfte einsetzt: Wenn ein Geschäft mehrere Filialen hat, dann kauft er dort nicht ein.

Welch eine elegante Form des Verzichts auf den ökonomischen »Konkurrenzkampf«, der so viele kleine Familienunternehmen und regionale Wirtschaftszweige überall in der Welt zerstört hat! Soweit mir das möglich ist, folge ich seinem Beispiel, und ich empfehle Ihnen, ebenfalls darüber nachzudenken.

Und auf der höchsten Ebene können wir mit dazu beitragen, kooperative Wirtschaftsunternehmen und Gemeinden zu schaffen, die nach diesem Prinzip arbeiten, den Regierenden diese Vorstellungen näherzubringen und die Idee durch Wort und Schrift zu verbreiten.

 

 

[351]

Sehen Sie in das Gesicht G-ttes

Wenn wir alles ausgeschöpft haben, was Wirtschaft, Politik, Geselligkeit und so weiter uns bieten können – und wenn wir dann festgestellt haben, daß nichts davon uns letztlich befriedigt oder von Dauer ist – was bleibt? Die Natur bleibt.

Walt Whitman (1819–1892)

Eine der obersten Regeln im Stammesleben lautet, daß die Menschen von ihrer Umwelt abhängig sind. Als die Städte und Staaten geschaffen wurden, half uns die von Menschen gestaltete Umwelt der Häuser und Straßen, unsere heilige Verbindung mit der Erde und allen lebenden Geschöpfen zu vergessen. Wir hatten die Vorstellung, unser Lebensunterhalt komme aus der künstlichen Umgebung der Stadt, und so verlagerten wir unsere Gottesdienste aus der Kathedrale der Natur in Gebäude, die von Menschenhand errichtet worden waren. Schließlich wurde unser Mangel an spiritueller Verbindung zur Natur so eklatant, daß die jüngeren Kulturen zu der Ansicht gelangten, die natürliche Welt sei böse oder »heidnisch«. Jahrhundertelang wurden Menschen, die das Göttliche draußen in der Natur verehrten, von Juden, Christen, Moslems, Hindus und anderen Vertretern jüngerer Kulturen und ihrer Religionen erbarmungslos gejagt und getötet.

Die Folgen der Umweltzerstörung veranlassen uns, der so lange vernachlässigten und als Feind unterdrückten Natur ins Gesicht zu sehen. Es wird Zeit, daß wir anderen Lebensformen das gleiche Lebensrecht auf diesem Planeten zuerkennen. Sie sind in der Geschichte der Erde unsere älteren Schwestern und Brüder; sie sind unauflöslich mit uns verbunden und unsere Lebensquelle.

[352]

Mein Mentor Gottfried Müller fragte mich einmal: »Thomas, willst du wissen, wie man G-tt in die Augen sieht?«

»Natürlich«, antwortete ich.

»Dann schau in die Augen irgendeines anderen Lebewesens«, sagte er. »Dort in den Augen einer Katze oder eines Hundes, einer Fliege oder eines Fisches, eines Freundes oder eines Feindes siehst du in die Augen G-ttes.«

Bei einer anderen Gelegenheit erzählte er mir: »Mein Lehrer Abram Poljak sagte oft, wenn du einen Grashalm segnest, dann wird dich das gesamte Gras segnen, wenn du einen Baum segnest, dann werden dich alle Bäume segnen. Aber sie zu segnen bedeutet auch, ihnen zu danken, sie zu respektieren und zu lieben; es reicht nicht, nur zu sagen: ›Sei gesegnet.‹«

Nicht nur die Menschheit hat das angeborene Recht auf ihre einzigartige Existenz, gewährt von dem Naturgesetz, daß Vielfalt alles Leben stärkt: Dieses Recht gilt genauso für jedes andere Lebewesen auf Erden. Wenn Holzfäller beispielsweise die Bäume als heilige Lebewesen betrachten würden, dann wären umfangreiche Rodungen und die Zerstörung nicht erneuerbarer alter Wälder nicht etwa eine »unangenehme Notwendigkeit«, sondern eine blasphemische Obszönität.

Während der ersten 194 000 der 200 000 Jahre währenden Menschheitsgeschichte haben die Menschen die Welt und ihre lebendigen Geschöpfe als heilige Wesen betrachtet, die beseelt waren oder einen Geist hatten. Jemand, der dieser Welt ständig Schaden zufügte, galt als geisteskrank und wurde aus dem Stamm ausgeschlossen. Die Stammesmitglieder erkannten, daß dieser Mensch die Welt seiner Kindeskinder zerstörte, und so etwas war völlig undenkbar und verrückt.

Die alten Völker hatten verstanden: Wenn du deine Mutter (Erde) trittst, dann tritt sie zurück. Sie legt sich nicht auf den Rücken und ergibt sich in ihren Tod.

Hält die Welt menschliches Leben für wichtiger als einen Baum [353]oder einen Fuchs? Sind dem Wald Menschen »lieber« als Rehwild? Gedeiht der Ozean als Folge unserer Gegenwart? Ist der Planet gesünder geworden, weil wir ihn in den letzten siebentausend Jahren seit dem Aufkommen der Städte und Staaten bewohnt haben?

Nur die Arroganz der auf Herrschaft basierenden jüngeren Kultur der Städte und Staaten konnte die Idee hervorbringen, daß alles auf diesem Planeten und in der Geschichte dieses Universums sich nur um die eigene Lebenszeit dreht und nicht darüber hinausreicht. Hier begegnet uns aufs neue die Doktrin des »Manifest Destiny«: Weil wir stehlen, töten und erobern konnten, stand irgendein Gott auf unserer Seite und hatte in der Tat schon vorher beschlossen, daß es so sein sollte. Wir müssen uns statt dessen wieder mit der Vorstellung unserer fernen Vorfahren vertraut machen, daß alles Leben heilig ist.

Sie können über diese Vorstellung mit anderen Menschen sprechen. Erzählen Sie ihnen davon: Sagen Sie einem Freund oder einer Freundin, wenn er oder sie in die Augen eines anderen Lebewesens schaue, dann schaue er/sie in die Augen des Schöpfers. Welch eine erstaunliche – und mächtige – Vorstellung. Die andere Person kann durch diese Erfahrung verändert werden und dann wieder selbst mit anderen Menschen darüber sprechen. Und so beginnen wir, die Welt zu verändern.

Für manche Leute reicht es nicht aus, das Göttliche oder die Möglichkeit der Gegenwart G-ttes im täglichen Leben zu sehen: Sie müssen es verstehen. Ich weiß – aus meiner persönlichen Erfahrung –, daß ein intellektuell orientierter Mensch in dem Moment verwandelt ist, wo er versteht, daß das Weltbild der älteren Kulturen wissenschaftlich mehr Gültigkeit besitzt als unseres. Diese Verwandlung beginnt, wenn wir verstehen, »wie die Dinge funktionieren«. Aus diesem Verständnis heraus wird unsere Vorstellung, daß die gesamte Schöpfung ein Teil von uns ist und wir ein Teil der Schöpfung sind – und daß deshalb alles heilig ist und einen Wert hat –, zur Gewißheit werden.

 

 

[354]

Technologie anders nutzen

Wir können unsere DNS nicht betrügen. Wir können die Photosynthese nicht umgehen. Wir können nicht sagen: »Das Phytoplankton interessiert mich einen Dreck.« All diese winzigen Mechanismen bilden die Voraussetzungen für das Leben auf unserem Planeten. Zu sagen, daß wir uns nichts daraus machen, bedeutet buchstäblich, daß »wir den Tod wählen«.

Barbara Ward (1914–1981), Who Speaks for Earth?

In den ersten Kapiteln dieses Buches habe ich dargestellt, wie unser Lebensstil und die gesamte weltweite moderne Zivilisation nur möglich ist, weil wir sehr rasch eine 300 Millionen Jahre alte, nicht erneuerbare Ressource verbrauchen: gespeichertes Sonnenlicht, vor allem in Form von Öl, aber auch als Kohle und Gas. Ich habe auch Zahlen zitiert, die nahelegen, daß diese Vorräte – bei gleichbleibendem Verbrauch – noch während der Lebenszeit unserer Kinder zur Neige gehen werden.

Doch die Art und Weise, wie das wahrscheinlich geschehen wird, ist nicht so simpel. Wir werden nicht etwa eines Tages aufwachen und uns in einer Welt mit leeren Tanksäulen und am Boden stehenden Flugzeugen wiederfinden.

Vielmehr wird es so sein, daß der Ölpreis bei zunehmender Verknappung steigt. Dieser Ölpreisanstieg wird sich auf die Preise aller Produkte auswirken, die aus Öl hergestellt werden – von Kunststoffen über die verschiedensten Gegenstände des täglichen Gebrauchs bis zur Nahrung, die wir essen, und die mit Hilfe von dieselbetriebenen Landmaschinen hergestellt und mit dieselbetriebenen Lastwagen und Zügen transportiert wird. Das wird genauso [355]wie während der Ölkrise in den siebziger Jahren, als die Ölpreise vorübergehend in die Höhe schossen, zu einer Wirtschaftskrise führen, die Schere zwischen Arm und Reich noch weiter auseinanderklaffen lassen und das Sozialgefüge in allen Ländern der Welt belasten. Es ist keineswegs unwahrscheinlich, daß wir dabei Zustände wie während der großen Weltwirtschaftskrise erleben werden, und wenn man bedenkt, daß auf der Welt heute dreimal so viele Menschen wie in den dreißiger Jahren leben, dann könnte die Situation sogar weitaus schlimmer als damals werden. Einige Zukunftsforscher prognostizieren »Öl-Kriege« und globale Konflikte um das Eigentum an Energiequellen.

Ganz gleich, wie die Entwicklung bei einer Ölverknappung im einzelnen verlaufen mag, so viel steht fest: Die Menschen werden gezwungen sein, ihren Ölverbrauch zu reduzieren. Aus diesem Grund ist die Vorhersage, daß wir in vierzig Jahren kein Öl mehr haben werden, unrealistisch. Statt dessen werden in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten, wenn die Ölquellen weltweit auszutrocknen beginnen oder die Ölförderländer beschließen, ihre letzten Reserven zu horten, steigende Ölpreise die Verbraucher und die Nationen zu einem sparsameren Umgang mit dem Öl zwingen.

Das Öl nutzen, um kein Öl mehr zu verbrauchen

Solange wir dazu noch Gelegenheit haben, sollten wir deshalb die vorhandenen Energiequellen einsetzen, um erneuerbare Alternativen zu entwickeln. Gegenwärtig setzen Wirtschaft und Politik auf das Öl. Aber wir verwenden es im Sinne eines »Einwegartikels« – wir verbrennen es, und das wars. Der Energieträger ist verschwunden und kann keinen weiteren Nutzen stiften.

Das ist genau die Art von Fehler, die Dwight D. Eisenhower meinte, als er sagte, der Bau von Kriegswaffen sei Diebstahl an unseren [356]Kindern: Er bezog sich darauf, daß Militärausgaben ebenfalls für »Einwegartikel« verwendet werden. Wenn die Regierung Steuergelder einsetzt, um eine Gewehrkugel (oder einen Panzer oder eine Rakete) herzustellen, dann führt diese Ausgabe zu einer kurzfristigen Anregung der Wirtschaft.

Irgend jemand wird eingestellt, um die Kugel herzustellen, irgend jemand anders hat das Blei gefördert und geschmolzen und so weiter. Es kommt zu einem kurzfristigen Wirtschaftsaufschwung, weil Arbeitsplätze geschaffen und Material gefördert, veredelt und von der Industrie verarbeitet wird. Wir haben diese kurzfristigen ökonomischen Effekte von Militärausgaben während des Zweiten Weltkriegs beobachtet, während des Korea-Kriegs, des Vietnamkriegs und in der Zeit, als die Reagan-Regierung Milliarden und Abermilliarden in den »Krieg der Sterne« investierte.

Das Problem dabei ist jedoch folgendes: Wenn das Geld einmal ausgegeben und die betreffende Arbeit beendet ist, laufen wir vor eine Wand. Das einzige, wozu man militärische Ausrüstungen benutzen kann (ökonomisch, nicht politisch), ist ihre eigene Zerstörung. Wenn eine Kugel abgefeuert ist, dann ist sie weg. Das Pulver, das dabei verbrannt wurde, und das Blei, das nun im Körper eines Menschen steckt, kann nicht mehr produktiv genutzt werden. Wenn ein Panzer oder ein Bomber oder eine Rakete eingesetzt worden sind, produzieren sie keinen gesamtwirtschaftlichen Zusatzgewinn. (Natürlich gibt es ökonomische Sekundäreffekte, wenn die Arbeiter, die die Bombe gebaut haben, ihren Lohn ausgeben, aber diese sind geringfügig im Vergleich zu jenen Effekten, die entstehen würden, wenn die Bombe selbst »produktiv« wäre.)

Würde man jedoch dasselbe Geld und dieselben Ressourcen einsetzen, um einen Lastwagen für den zivilen Gebrauch herzustellen, dann nähme dieser Lastwagen während der Jahre, in denen er benutzt werden kann, am Wirtschaftsleben teil, würde den Handel fördern und jeden Tag einen wertvollen ökonomischen Beitrag leisten.

[357]

Der Bau eines Bombers bedeutet, Geld für einen »Einwegartikel« auszugeben, so als würde man dieses Geld in einem Loch vergraben. Der Bau eines zivilen Flugzeugs schafft dagegen ein Wirtschaftsgut, das mehrere Jahrzehnte lang Arbeitsplätze und Transportmöglichkeiten für Tausende von Menschen gewährt.

Besonders wichtig sind solche Produkte, die beim Gebrauch gegenwärtiges Sonnenlicht einfangen und in eine Energieart verwandeln können, durch die sich fossile Brennstoffe ersetzen lassen. Solche Produkte haben ein dauerhaft nützliches und produktives Leben, und sie können zugleich unseren künftigen Verbrauch an fossilen Brennstoffen reduzieren.

So gesehen könnte man sagen, daß wir damit Kapital auf unser Energiekonto einzahlen, statt ihm einfach Energie zu entziehen. Solarkollektoren, Windenergiesysteme, Wasserkraftwerke und Systeme zur Produktion und Speicherung von Wasserstoff: All das sind Möglichkeiten, wie wir unseren gegenwärtigen Ölverbrauch mehr als Investition in die Zukunft nutzen können.

Wenn wir als Gesellschaft beginnen, unsere Reserven an fossilen Brennstoffen klug einzusetzen, um unseren zukünftigen Bedarf an fossilen Brennstoffen zur Produktion von Wärme und Elektrizität zu reduzieren, dann können die Folgen der Ölverknappung abgemildert werden. Gleichzeitig würden wir unseren Ölverbrauch in dem Maße verringern, wie diese alternativen Energiesysteme ans Netz gehen.

Letztlich muß sich diese Entwicklung landesweit und weltweit vollziehen, doch sie beginnt schon jetzt im Kleinen, wenn einzelne Familien oder ländliche Gemeinschaften überall in der Welt diesen Weg einschlagen.

Hier in Vermont ist Elektrizität ziemlich billig; die Kilowattstunde kostet ungefähr neun Cent – das heißt, für diesen Preis kann man im Haus zehn Glühbirnen mit einer Leistung von jeweils 100 Watt eine Stunde brennen lassen. Aber so kann es nicht mehr lange weitergehen.

[358]

Energieversorgung abseits der großen Netze

Es gibt in den Vereinigten Staaten einen wachsenden Trend hin zu eigenen Generatoren. Den Anfang machten vor einigen Jahrzehnten vor allem Menschen, die in ziemlich abgelegenen Gegenden lebten, wo es gar nicht möglich oder zu teuer war, sich mit Strom aus dem lokalen Netz zu versorgen. In den letzten zwanzig Jahren sind nun effiziente und preiswerte Wind-, Wasser- und Solargeneratoren auf den Markt gekommen, die sich auch für Individualhaushalte eignen, und von dieser Möglichkeit machen nun immer mehr Leute Gebrauch, die ihre Unabhängigkeit zu schätzen wissen, sich über Zuverlässigkeit oder die Kosten der zukünftigen Elektrizitätsversorgung Gedanken machen oder Bedenken im Hinblick auf die ökologischen Auswirkungen der großen Elektrizitätskonzerne haben.

Für die meisten Menschen der industrialisierten Welt, die in Vorstädten oder ländlichen Gegenden leben, ist es technologisch jetzt möglich, sich zu Hause mit Strom aus eigenen Generatoren zu versorgen. Die japanische Firma Sanyo stellt Solargeneratoren in Form von Dachabdeckungen und Fensterscheiben her, und in vielen Teilen der Welt können auf dem Dach oder im Garten angebrachte Windgeneratoren das Haus mit Strom versorgen. Die Kosten für Solarstrom sind von über dreißig Dollar pro Kilowattstunde im Jahre 1975 auf weniger als 30 Cent pro Kilowattstunde im Jahre 1996 gefallen, eine Preissenkung um das Hundertfache, wobei man annimmt, daß der heutige Preis in den nächsten fünf Jahren noch einmal um das Zehnfache sinken wird. Auch Batterien zum Speichern der Energie und Konverter werden immer billiger, und Wasserstoffzellen (die gegenwärtig nur von Astronauten benutzt werden) sind eine vielversprechende Entwicklung zur Energiespeicherung, da Wasserstoff leicht erzeugt werden kann, indem man elektrischen Strom durch Wasser leitet.

Zur Not könnten auch viele Haushalte ihre eigene Nahrung anbauen. [359]Viertausend Quadratmeter gutes Ackerland reichen aus, um 45 000 Pfund Tomaten oder etwa 36 000 Pfund Kartoffeln pro Jahr zu erzeugen. In vielen Teilen der Welt (besonders in den Kleinstädten vieler europäischer Nationen) ist es Mode, in einer Ecke des Gartens Gemüse anzubauen, welches dann oft einen beachtlichen Teil des Nahrungsbedarfs der Familie deckt. Viele Amerikaner können sich noch daran erinnern, daß das während der Weltwirtschaftskrise und bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs auch hierzulande üblich war (diese Gemüsegärten wurden als »Gärten des Sieges« bezeichnet).

Inzwischen sind auch verschiedene Wasseraufbereitungssysteme entwickelt worden, die über handbetriebene Umkehrosmosefilter verfügen und fast überall eingesetzt werden können, um Regenwasser und Grundwasser zu entgiften.

Die Idee, sich »vom Netz abzukoppeln«, ist vor allem in ländlichen Gegenden und bei Menschen beliebt, die eine negative Einstellung zur Regierung haben. Insofern wird dieser Lebensstil bisher nur von einer kleinen Minderheit praktiziert. Doch könnte die dezentrale Versorgung mit Energie, Nahrung und Wasser durchaus eine Schlüsselrolle dabei spielen, wie wir die kommende Zeit der Ölverknappung überstehen, ohne im Chaos zu versinken.

Die Aussichten sind vielversprechend, denn 1990 hat eine Untersuchung der amerikanischen Regierung ergeben, daß erneuerbare Energiequellen (Sonne, Wind, Wasser, Biomasse) mehr als 70 Prozent des nationalen Energiebedarfs decken könnten. Allein in Kalifornien produzieren jetzt schon über 15 000 Windgeneratoren genug Elektrizität, um theoretisch die Stadt San Francisco mit Licht zu versorgen.

Die Regierung subventioniert jedoch überwiegend die großen Stromerzeuger, die Energie aus Öl und Kohle gewinnen; sie erhalten genügend öffentliche Mittel, um die Gesetzgebung zu beeinflussen. Aus Sorge darüber, daß zukünftige Generationen von schwindenden Ölvorräten abhängig sein könnten, hat Jimmy Carter [360]Subventionen für kleine Energieerzeuger eingeführt, die einem neuen Industriezweig zum Durchbruch verhalfen, dann jedoch unter dem Druck der großen Ölkonzerne als eine der ersten Amtshandlungen von Ronald Reagan wieder abgeschafft wurden, so daß die junge Solarindustrie eines plötzlichen Todes starb. Mittlerweile sind kleine Restbestände jener Industrie unter großen Mühen wieder zum Leben erwacht, und es gibt immer mehr Leute, die im kleinen Rahmen mit Solar-, Wind- oder Wasserkraft experimentieren.

Auch wenn die großangelegte Zentralisierung ökonomisch zweckmäßig erscheint, ist sie es letzten Endes nicht. Zentralisierte, hierarchische Strukturen sind durch ihren Aufbau immer weniger stabil als kleine, dezentrale Basisorganisationen. Von monolithischen Systemen profitieren vor allem diejenigen, die sie kontrollieren, aber den Konsumenten bieten sie letzten Endes nichts als fortdauernde Abhängigkeit.

In einer Geschichte, die daran erinnert, wie amerikanische Konzerne heutzutage den Ländern der Dritten Welt ihre Ressourcen wegnehmen, um sie ihnen dann als fertig verarbeitete Waren wieder zu verkaufen (und dabei die Landwirtschaft unter ihre Kontrolle bringen, indem sie den bäuerlichen Familienbetrieben ihre Existenzgrundlage entziehen), benutzte Mahatma Gandhi das Bild eines einfachen Spinnrades, eines handgearbeiteten Werkzeugs, mit dessen Hilfe man aus Wolle oder Baumwolle Fäden herstellen kann, als Symbol seiner nationalen Bewegung gegen die Briten. Damals hatten die Briten angeordnet, daß alle Tuchmanufakturen in Indien ihre Arbeit einstellen mußten, während sie billige indische Baumwolle nach England verschifften, wo britische Arbeiter daraus Kleidungsstücke herstellten. Auf diese Weise wurden Arbeitsplätze für die englischen Bürger geschaffen – eine populäre Maßnahme in den ländlichen Regionen Englands, hochprofitabel für die Eigentümer der betreffenden Fabriken und politisch vorteilhaft für die britische Regierung –, aber es verschärfte die Armut in Indien, wo die Bevölkerung nun gezwungen war, hohe Preise [361]für die aus England importierte Kleidung zu zahlen, die man noch wenige Jahre zuvor selbst kostengünstig hergestellt hatte.

Gandhi hielt eine Rückkehr zu kleinen, lokalen Wirtschaftseinheiten für besser als zentralisierte Strukturen und schlug vor, daß die Familien oder im äußersten Fall die Dörfer ihre eigene Baumwolle anbauen, verspinnen und zu Kleidungsstücken für sich selbst verarbeiten sollten. Er ging seinerseits mit gutem Beispiel voran und stellte seine eigenen schlichten Kleidungsstücke in Handarbeit her, und schon bald war das Symbol des Spinnrades ein mächtiges Emblem des Wandels in ganz Indien und zugleich das inoffizielle Logo seiner Unabhängigkeitsbewegung.

Gandhi wußte nur zu gut, daß Menschen freier und unabhängiger sind, wenn sie ihre eigene Nahrung anbauen und sich selbst mit Wärme und Licht versorgen können. Und noch wichtiger ist, daß sie in der Regel effizienter mit diesen Ressourcen umgehen, weil sie so vertraut damit und ihren Quellen so nah sind. Wenn sie ihr eigenes Licht sehen, ihre eigene Nahrung essen und ihre eigene Wärme spüren, dann kennen sie meist sehr genau die Bedeutung dieser lebenswichtigen Grundlagen ihrer Existenz, und eben dieses Wissen fehlt vielen Leuten, die »am Netz« leben. Aus diesem Wissen heraus geht man sparsamer mit den Ressourcen um, die man mit soviel Mühe und Sorgfalt aus seiner eigenen, direkten Umgebung gewonnen hat.

Energie sparen

Als wir im Mai 1997 nach Vermont zogen, entdeckten wir schon bald einen der einzigartigen Aspekte des Landlebens an einem Berghang: Stromausfälle.

In unserem ersten Monat hier waren wir drei Tage ohne Strom. Die Einheimischen sagten uns, normalerweise sei es nicht so schlimm – das Wetter war ungewöhnlich schlecht gewesen –, aber [362]ungeachtet dessen lernten wir schnell, wie man ein Notaggregat benutzt, das Haus mit Kerzen und Öllampen beleuchtet und welchen Wert batteriebetriebene Radios und Computer haben.

Ich habe bei dieser Gelegenheit gelernt, wie verschwenderisch ich eigentlich mit Elektrizität umgehe – und wie relativ einfach es ist, Energie zu sparen. Und wenn wir Energie sparen, brauchen wir weniger Energie zu erzeugen. Dadurch wird es noch einfacher, sich vom Netz unabhängig zu machen.

Denken Sie beispielsweise an die Raumbeleuchtung: Erst seit etwa hundert Jahren haben wir die Vorstellung, daß der gesamte Raum beleuchtet sein muß, wenn man sich darin aufhält. Vorher gab es immer nur eine »Teilbeleuchtung«: eine Leselampe, in der Walfett oder Pflanzenöl verbrannt wurde, oder Kerzen aus Bienenwachs, um die man herumsaß und sich unterhielt. Auf diese Weise wurde nur sehr wenig Energie verbraucht – höchstens die Menge, die einer Glühbirne von zehn oder 20 Watt entspricht.

Viele Leute stellen auch fest, daß es sehr befriedigend ist, effizient mit Energie umzugehen. Man kann mit dem Rad statt mit dem Auto fahren; man kann Verpackungen aufheben und wiederverwenden, Essensreste auf den Kompost geben, gebrauchte Kleidung kaufen oder alte Stücke reparieren; je besser man ein Haus isoliert, desto weniger Brennstoff braucht man, und wenn man sein Auto gut pflegt, läuft es auch nach 200 000 Meilen noch hervorragend.

Ein genügsames Leben vermittelt einem das Gefühl von Fähigkeit und Unabhängigkeit. In den letzten Jahren haben sogar Verbraucher- und Frauenmagazine Sparsamkeit als modernen Lebensstil angepriesen. Gleichwohl haben viele Menschen eine nörgelnde Stimme im Hinterkopf, vielleicht ein Echo der Reagan-Jahre, daß freiwilliger Verzicht auf Konsum, Wachstum, Wettbewerb, materielle Güter und Herrschaft irgendwie das Eingeständnis des eigenen Versagens bedeutet. Könnte das zutreffen? Im Gegenteil, es ist ein Akt der Selbsterhaltung und kennzeichnet ein höchst erfolgreiches Verhalten.

 

 

[363]

Schalten Sie den Fernseher ab

Wenn wir etwas schnüffeln oder schlucken könnten, das für fünf oder sechs Stunden am Tag unsere individuelle Einsamkeit aufheben, uns mit unseren Mitmenschen in glühender Zuneigung verbinden und dafür sorgen würde, daß uns das Leben in all seinen Aspekten nicht nur lebenswert erscheint, sondern von göttlicher Schönheit und Bedeutung, und wenn diese himmlische, weltverändernde Droge uns am nächsten Morgen mit einem klaren Kopf aufwachen ließe und unsere Gesundheit nicht zerstören würde, dann, so scheint mir, wären all unsere Probleme (und nicht nur das eine kleine Problem, ein neues Vergnügen zu entdecken) vollständig gelöst, und die Erde würde ein Paradies werden.

Aldoux Huxley (1894–1963)

Irgend etwas hat die soziale Entwicklung unserer Gesellschaft ins Stocken gebracht und dazu geführt, daß die meisten Leute – in fast allen modernen Zivilisationen – in einem jugendlich unreifen Bewußtseinszustand verharren. Das scheint eine Hauptursache dafür zu sein, warum die Menschen von heute fähig sind, ihre Umwelt im Interesse kurzfristiger Gewinne zu ruinieren, obwohl die meisten wissen, daß sie ihre eigene und die Zukunft ihrer Kinder zerstören. Es ist eine Frage der inneren Verbindung zum Leben und der Reife.

Durch mein Zusammensein mit amerikanischen Ureinwohnern und Stammesvölkern in anderen Teilen der Welt habe ich Menschen kennengelernt, die ein Leben führen, das täglich und ständig sinnvoll ist. Das war eine außerordentliche Erkenntnis, ein echter Schock für mich, denn ich war in einer Kultur aufgewachsen, die mir von frühester Kindheit an erzählt hatte, unsere Lebensweise sei die beste, die freieste und die glücklichste.

[364]

Meine Kontakte mit Menschen aus anderen Kulturen haben mich davon überzeugt, daß unsere spirituelle Bindungslosigkeit anfing, als unsere jüngere Kultur die Verbindung zur Natur verloren hat. (Eine Metapher dafür ist die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden.) Als wir beschlossen, die Menschheit vom Rest der Schöpfung abzuspalten, schufen wir ein tiefes und grundlegendes Schisma. Als wir beschlossen, die Welt existiere nur für uns, von uns getrennt, und es sei unsere heilige Pflicht, sie zu beherrschen und zu unterwerfen, verloren wir die Verbindung zu genau der Kraft und dem Geist, denen wir unser Leben verdanken.

Und so sehen wir heute Menschen, die den Kontakt zu ihrer Spiritualität verloren haben, die in Kisten leben und in Kisten umherfahren, vielleicht einmal im Jahr »in die Natur« hinausgehen, um eine Andeutung dessen zu erleben, was einst die tägliche Erfahrung der Menschen war. Diese Leute versuchen zu fliehen. Sie sitzen in ihren Wohnungen und Häusern in den Städten und Vorstädten und fühlen sich elend, ohne zu wissen warum, sie empfinden Ängste und Schmerzen, die nicht durch Medikamente, Drogen, Fernsehen oder ärztliche Behandlung gelindert werden können, weil sie an einer Krankheit der Seele und nicht des Geistes leiden: Sie haben die Verbindung verloren.

Diese Bindungslosigkeit hat dazu geführt, daß die in unserer Welt herrschende Kultur in ihrer Entwicklung steckengeblieben ist, stärker beschäftigt mit »ich« und »jetzt« als damit, Verwalter der Zukunft zu sein, wogegen die Menschen der älteren Kultur im Leben von Tag zu Tag den eigentlichen Sinn ihres Daseins erkannten.

Wenn die Menschen heranwachsen, durchlaufen sie viele Entwicklungsstadien. Ein neugeborenes Baby ist völlig auf sich selbst bezogen und nimmt nichts außer seiner eigenen unmittelbaren Erfahrung wahr. Ab einem bestimmten Alter wird es sich zunehmend seiner Umgebung bewußt und erkennt die Rolle, die es darin spielt. Irgendwann wird dem Baby klar, daß etwas auch dann [365]existieren kann, wenn es nicht zu sehen ist, beispielsweise ein Spielzeug unter der Decke oder die Mutter, die sich im Nebenzimmer befindet. Ab einem bestimmten Alter können Kinder für sich selbst sorgen und sind nicht mehr davon abhängig, daß andere (ihre Eltern) alles für sie tun. Tennager werden sich der sozialen Strukturen unter Gleichaltrigen bewußt, können als Babysitter Verantwortung übernehmen und so weiter.

Teil dieser Entwicklung zu mehr Reife ist die Änderung der Perspektive von einer »Ich«-Orientierung zu einem »Wir«-Gefühl – einer Verantwortung für andere.

Das war in älteren Kulturen nie ein Problem: Sämtliche Traditionen stärkten immer wieder die Beziehungen des Menschen zu seiner Umgebung und die gegenseitige Verantwortung zwischen dem einzelnen und der Gemeinschaft.

Aber in unserer jüngeren Kultur gibt es hier zwei Probleme. Erstens ziehen wir bei der Entscheidung, für wen wir uns verantwortlich fühlen, oft einen sehr engen Kreis um uns, indem wir sagen: »Ich bin nur verantwortlich für die Menschen, mit denen ich eine enge, direkte Beziehung habe. Alle anderen sind auf sich selbst gestellt.« Oft schließt diese Sicht die überraschend kindliche Überzeugung ein, daß irgend jemand anders (die »unsichtbaren Eltern«) für alles Sonstige zu sorgen hat: »Irgendwo ist irgend jemand für den Planeten verantwortlich – nicht ich.« Mit zunehmender Reife sollten wir in eine effektivere Weltsicht hineinwachsen. Aber es sieht so aus, als würde das in den jüngeren Kulturen meist nicht funktionieren.[90]

Das zweite Problem ist sogar noch gravierender: Unsere jüngere Kultur bleibt zunehmend in einem unreifen Entwicklungsstadium stecken, in dem man behauptet: »Ich bin der Mittelpunkt des Universums, nur ich bin wichtig.« In dieser Lebensphase verschwendet [366]das Kind nicht den geringsten Gedanken an die Zukunft, sondern jeder Wunsch muß sofort erfüllt werden.

Warum erweckt unsere Kultur den Eindruck, als würde sie sich zunehmend zurückentwickeln – zunehmend unreifer werden?

Die fundamentalste »unreife« kulturelle Vorstellung – »Du bist der wichtigste Mensch auf der Welt« – wird uns täglich vom Fernsehen, dem hauptsächlichen Sprachrohr unserer Kultur, zugerufen. Die permanente Verstärkung dieser unreifen Botschaft sorgt dafür, daß unsere Kultur unreif bleibt, erzieht unsere Kinder zur Unreife und verhindert, daß wir selbst reifer werden.

Der Grund für die Hartnäckigkeit und Intensität dieser Botschaften ist einfach: Wenn Menschen sich wie Kinder benehmen und darauf bestehen, daß jedes Bedürfnis sofort befriedigt wird, dann sind sie die idealen Konsumenten.

Nur wenn wir die Botschaften abschalten, können wir allmählich reifer werden – und das geschieht in unserer Kultur nur selten.

Die Dinge, die unsere Augen und Ohren gefangennehmen, sind die Dinge, die uns bewegen. Das ist keine Überraschung, und um das zu erkennen, muß man kein mit allen Wassern gewaschener Werbefachmann sein. Aber in dem Maße, wie die Werbung immer geschickter und effektiver wurde, erreichte sie ihr Ziel immer besser. »Seht nur, was ihr alles haben könnt«, lautet die Botschaft, die sie den Menschen vermittelt, »seht nur, wie euer Leben besser und angenehmer sein kann«.

Und so wurde die Konsumideologie geboren – die Vorstellung, daß man sein Leben dadurch verbessern kann, daß man bestimmte Dinge kauft –, und das Fernsehen hat diese Haltung so verstärkt, daß sie zu einem kulturverzehrenden Monster wurde. Für die Konzerne und die Absatzförderung in einer »ich-zentrierten« Welt funktioniert dieses System großartig, aber es lenkt die Menschen völlig von der reiferen Haltung ab, bei der es darum geht, das Leben für uns alle zu verbessern.

In vielerlei Hinsicht ist die Konsumideologie zur alles beherrschenden [367]Religion der modernen jüngeren Kultur geworden. Sie hat sogar die Kirchen schon weitgehend erfaßt, indem sie ihre heiligen Feste in Konsumorgien verwandelt hat, und heutzutage suchen weitaus mehr Menschen ihr Glück im Kauf neuer »Dinge« als in der Teilnahme an den Ritualen irgendeiner anderen organisierten Religion.

Ich habe zwar nichts gegen die Teilnahme an den modernen Formen des Handels, aber was ich immer und immer wieder beobachte, ist eine qualitative Veränderung bei Erwachsenen wie auch bei Kindern, wenn sie das Fernsehgerät aus ihrem Heim verbannen. Es wird ruhiger im Haus, die Menschen finden eher zu ihrer Mitte, zu ihren Wurzeln, und die wirkliche Welt wird wahrgenommen.

Schalten Sie den Fernseher ab, und setzen Sie sich statt dessen täglich zehn oder fünfzehn Minuten ruhig hin. Nehmen Sie sich außerdem ein paar Minuten Zeit, um nach draußen zu gehen. Ihr Leben wird sich zum besseren verändern, und damit leisten Sie einen Beitrag zur Heilung unseres Planeten.

 

 

[368]

Der moderne Stamm: die Zweckgemeinschaft

Die Gemeinschaft stagniert ohne die Impulse des Individuums. Die Impulse sterben ab ohne die Sympathie der Gemeinschaft.

William James

Der Ausdruck »Stammessystem« hat in der gegenwärtig weltweit vorherrschenden Kultur oft einen negativen Beigeschmack. Die Bücher, die in den letzten hundert Jahren erschienen sind – einschließlich anthropologischer Texte – und die Western, die von den dreißiger bis zu den sechziger Jahren in Hollywood gedreht worden sind, kennzeichnen das Stammesleben generell als etwas, das für »primitive« Menschen typisch ist. Solche Definitionen stammen aus der Weltsicht der herrschenden jüngeren Kultur unserer Städte und Staaten, die alle sozialen Systeme unter dem Gesichtspunkt autoritärer Hierarchien betrachtet.

Umweltverträglich lebende Stammesgesellschaften haben in der Vergangenheit jedoch nie Menschen ausgerottet, die anders lebten. Auch haben sie nicht versucht, sie zu ihrem eigenen Lebensstil zu »bekehren«, sondern vielmehr erkannt, daß verschiedene Menschen auch verschiedene Abstammungen, Lebensstile, Religionen und Lebensweisen haben. In der Welt der Stämme können Gruppen von Menschen nahe beieinander leben, miteinander Handel treiben und kooperieren oder sogar Konflikte austragen und dabei doch ihre einzigartige Identität bewahren. Wir brauchen heute eine Lebensweise, die menschliche Unterschiede auf genau diese Art zur Kenntnis nimmt.

Damit sie Stämme bleiben, einigen sich Stämme darüber, auf ein Verhalten zu verzichten, bei dem die eine Gruppe die andere ausbeutet, versklavt, erobert oder tötet. Sie erkennen, daß ein solches [369]Verhalten in einen Teufelskreis der Gewalt führt, dem man letzten Endes selbst zum Opfer fällt. Stämme verhalten sich im allgemeinen so, als seien sie alle ein Teil dieser Welt und dieses Lebens, und eben deshalb haben sie sich historisch darauf geeinigt, ihre jeweils einzigartige Identität zu bewahren, welche ihrerseits die menschliche Vielfalt fördert.

Stämme und Gemeinschaften

Die kleinste Stammeseinheit ist die Familie. Viele Stämme, die in Gegenden wie der Kalahari-Wüste leben, bestehen überhaupt nur aus einer einzigen Großfamilie, zu der etwa ein Dutzend Menschen gehören. In der westlichen Gesellschaft gibt es einige Familien, deren Organisation irgendwie an einen Stamm erinnert: Die Kennedys sind in Amerika ein wohlbekanntes Beispiel, auch wenn bei ihnen vielleicht manches im argen liegt. Aber zumindest haben sie ein gewisses »Wir-Gefühl«. Die eigene Familie als Stamm zu betrachten fördert die Identität, die Stärke, die Zähigkeit und das so entscheidende Gefühl der Zusammengehörigkeit.

Doch heutzutage haben sich viele Menschen dafür entschieden, die Familienkultur (in der es wichtig ist, zusammen zu sein und Gemeinsamkeit zu erfahren) der »Konsumkultur« zu opfern. Bei verheirateten Paaren sind beide Partner erwerbstätig, damit sie sich ein größeres Haus und ein neueres Auto leisten können, obwohl ein kleineres Haus und ein bescheideneres Auto den Eltern Gelegenheit geben würden, mehr Zeit miteinander und mit den Kindern zu Hause zu verbringen. Sie opfern wichtige Rituale der familiären Bindung, die bis in die Stammeszeiten zurückreichen wie beispielsweise gemeinsame Mahlzeiten oder ausgiebige Familiengespräche, um statt dessen ein paar Stunden vor dem Fernseher zu verbringen, wo Sendungen ausgestrahlt werden, die von Konzernen finanziert und produziert werden.

[370]

Doch inzwischen entscheiden sich immer mehr Menschen dafür, einfacher zu leben, weniger Zeit für die von unserer Herrschaftskultur bestimmte Geschäftswelt (und ihren hauptsächlichen Förderer, das Fernsehen) aufzuwenden und die dadurch gewonnene Energie statt dessen der eigenen Familie zu widmen – in einem sehr realen Sinne ihrem eigenen Stamm.

Es ist durchaus möglich, sich aus der Hektik des vom Fernsehen, vom Konsum und von den Massenmedien gespeisten »Mehr, mehr, mehr« zurückzuziehen und das eigene Bewußtsein und Verhalten zu ändern. Ein Weg besteht darin, sämtliche Familienmitglieder auf eine direktere Weise in die täglichen Lebensnotwendigkeiten einzubeziehen. Dadurch kann jeder sehen und fühlen, was die eigenen Mühen beispielsweise mit der Nahrung, die alle essen, und mit der Wärme, die alle im Haus genießen, zu tun haben.

Es gibt unter bewußten Menschen einen zunehmenden Trend, irgendwo hinzuziehen, wo man um das Haus herum genug Land hat, um einen Teil der eigenen Nahrung anzubauen, und wo genügend Bäume stehen, um das Haus mit stets nachwachsendem Holz heizen zu können. Man kann sich in der näheren Umgebung eine Trinkwasserquelle suchen, einen eigenen Stromgenerator in Betrieb nehmen, einen Keller anlegen und Nahrungsvorräte für den Winter einlagern. Menschen, die behutsamer mit der Erde umgehen wollen, entscheiden sich jetzt immer öfter, als eine Art Familienstamm zu leben.

Zweckgemeinschaften

Der nächste Schritt führt von den Familienstämmen zu solchen, die ein gemeinsames Interesse haben.

Sie setzen sich aus Menschen zusammen, die in einem bestimmten Gebiet leben, ihre Nahrung teilen, sich gemeinsam mit Energie versorgen und zusammenarbeiten, um Lebensräume zu schaffen. [371]Beispiele für solche »sekundären« Stämme finden wir im Leben der amerikanischen Ureinwohner und auch in den Geschichten der Europäer, die sich im amerikanischen Westen angesiedelt haben. Sie haben Gemeinschaften gebildet, die das Überleben aller Mitglieder gewährleisten sollten, und deshalb ein gewisses Maß an Sicherheit und Stabilität erlangt.

Abgesehen von der Überlebensfrage geht es bei einer Gemeinschaft um zwei wichtige Aspekte: Sicherheit und menschliche Beziehungen. Das waren die Grundlagen der Gemeinschaft, seit die ersten Urmenschen Feuerstellen[91] gebaut und sich darum versammelt haben, weil sie hofften, daß die magische Wärme sie vor bösen Geistern schützen und Tiger und Bären abhalten würde.

Vor Jahren hat Sigmund Freud darauf hingewiesen, daß jede Ansammlung von Menschen, sei es ein Unternehmen, eine Gemeinde oder sogar eine Nation, sich letzten Endes zu einer familienähnlichen Struktur entwickeln würde. Es tauchen Vaterfiguren auf, Geschwisterrivalitäten werden erkennbar, und die Menschen finden innerhalb der Gemeinschaft Nischen und Rollen für sich selbst, die oft denen entsprechen, welche sie in ihrer eigenen Familie hatten: der böse Junge, das süße Kind, der kleine Professor, die Fürsorgliche, der Anstifter etc. Freud zeigte überdies, daß, wenn die Inhaber der Elternrollen in ihrer Funktion versagen (wie es in Hitler-Deutschland geschah), die gesamte Familie (in diesem Fall die deutsche Nation) ebenfalls ihre Funktion nicht mehr korrekt erfüllt.[92]

[372]

Wenn man sich klarmacht, daß sich diese familienähnlichen Verhältnisse in allen Gemeinschaften, unabhängig von ihrer Größe, entwickeln, dann besteht ein erster wichtiger Schritt beim Aufbau einer Gemeinschaft darin, eine fürsorgliche, sichere und funktionale Gemeinschaftsstruktur zu schaffen.

Mit dieser Struktur haben die Menschen seit über hunderttausend Jahren experimentiert. Was sich dabei als höchst funktional, stabil und umweltverträglich herausgestellt hat, ist eine dezentrale, gleichberechtigte, demokratische Gemeinschaft in Form von kleinen Stammeseinheiten, wie es sie bei den Schoschonen und anderen Ureinwohnern überall auf der Welt gibt.

Durch die sorgfältige Auswahl von Führern, die schon bewiesen haben, daß sie für andere sorgen können – indem sie nicht dauernd für sich selbst die Trommeln schlagen oder irgendwelche neurotischen Pläne verfolgen, sondern fähig sind, immer wieder zu geben, ohne viel zurückzubekommen –, haben die Stammesgemeinschaften traditionell sowohl das »Elternmodell« für die Gemeinschaft bereitgestellt als auch dafür gesorgt, daß die Menschen sich sicher genug fühlen, um sich ohne Zögern oder Furcht ganz und gar auf die Gemeinschaft einlassen zu können.

Diese Älteren oder Führungspersönlichkeiten sind der Kern der Gemeinschaft und verkörpern das gesamte Wissen des Stammes. Sie führen die Gruppe in bestimmten Bereichen, weil sie in den betreffenden Fragen über besondere Kenntnisse oder Erfahrungen verfügen. Indem wir unsere Älteren verlieren (oft an Pflegeheime) und besonders, indem wir den Kontakt zu ihnen durch viele Stunden vor dem von Konzernen und ihrer Werbung bestimmten Fernseher ersetzen, haben wir einen unglaublichen Schatz an Weisheit und Kenntnissen verloren. Wenn wir in unseren neu gestalteten Gemeinschaften die Weisheit der Erfahrung wieder zu schätzen lernen, können wir uns dieses Wissen wieder zugänglich machen.

Die »Führerschaft« der Stammesälteren ist kein Synonym für Macht wie in den hierarchischen jüngeren Kulturen: Sie entspricht [373]eher dem, was wir als »Verantwortlichkeit« bezeichnen. Ohne solche eindrucksvollen und sorgsamen Führer würden menschliche Gemeinschaften zwangsläufig zerfallen. Wenn die Elternfiguren fehlen, sich abseits halten, nicht ansprechbar sind, allzu streng und kritisch sind oder ihre Macht mißbrauchen, dann kränkelt die Gemeinschaft oft wie ein Baum, der von innen her verfault, und bricht am Ende zusammen.

Wenn die Mitglieder das Gefühl haben, daß die Gemeinschaft eine Farce ist, daß sie einem Zweck dient, der nicht ihren Bedürfnissen entspricht (beispielsweise, ihnen etwas zu verkaufen, sie zu kontrollieren oder irgendwie auszubeuten), dann bricht ebenfalls alles auseinander, denn niemand ist mehr motiviert, die Straßen sauberzuhalten und die Häuser zu streichen, oder die Leute benehmen sich in anderer Hinsicht destruktiv. Das traurige Ergebnis sehen wir in unseren Großstädten, aber genauso in vielen kleinen Städten und Kommunen, vor allem dort, wo das traditionelle Gemeinschaftsleben dadurch ersetzt wird, daß die Menschen stundenlang in ihren Wohnungen vor dem Fernseher sitzen.

Aber die Bedeutung kleiner Gemeinschaften nimmt überall in der Welt zu. Und auch die Zahl derer, die nicht mehr »am Netz hängen«, wächst, und diese Menschen haben vielleicht noch einen größeren Einfluß, weil sie Unabhängigkeit und das Prinzip der Selbstversorgung verkörpern. Allein durch ihre Existenz strahlen sie diese Ideen in den Äther hinaus, in das kollektive Unbewußte, in das, was Rupert Sheldrake als morphisches Feld bezeichnet. Sie werden unabhängig von der Macht der Konzerne und von politischen Interessen, die unsere auf Herrschaft basierende jüngere Kultur regieren, definieren und widerspiegeln. Und sie leben fernab der großen Städte, welche am deutlichsten die spirituelle Bindungslosigkeit unserer Stadt- und Staatskultur verkörpern.

Manche Leute lehnen kleine, »stammesähnliche« Gemeinschaften ab, weil sie ihrer Meinung nach manchmal wie ein Kult oder eine Sekte zelebriert werden. Kulte sind Seelen-Diebe, sie üben eine [374]geistige Kontrolle aus, die individuelle Initiativen im Keim erstickt und nicht nur die Handlungen, sondern auch die Gedanken der Mitglieder zu überwachen versucht. Ich teile absolut die Meinung, daß solche Gruppen lediglich eine andere Form der Herrschaft darstellen, die wir unbedingt vermeiden müssen. Eine einfache Faustregel lautet, sich von jeder Person oder Gruppe fernzuhalten, die behauptet, sie allein habe den Weg zur Göttlichkeit, Erlösung und Erleuchtung, zum Glück, zur Freiheit oder zur Erkenntnis gepachtet. Das ist Kennzeichen eines Kultes oder einer sektenähnlichen Gruppierung, was besonders dann deutlich wird, wenn eine einzelne Person oder ein Führer in der Organisation oder Gemeinschaft vorgibt, er oder sie sei das »Tor zum Göttlichen«.

Aber wenn man sich vor solchen Gruppen hütet, verfügen kleine, unabhängige Selbstversorger-Gemeinschaften über die größten Fähigkeiten, die normalen Konjunkturzyklen in unserer Wirtschaft und Gesellschaft zu überleben, und noch besser sind ihre Chancen, größere Katastrophen zu überstehen, die vielleicht auf uns zukommen, wenn die Ölvorräte zur Neige gehen. Ländliche Gemeinschaften von den Mormonen in Utah bis zu den Amish in Pennsylvania (ganz gleich, was man von ihren religiösen Vorstellungen halten mag) haben die Weltwirtschaftskrise, die Kriege und die Launen des Wetters und der Wirtschaft ziemlich gut überstanden, weil sie alles miteinander teilen und zusammenhalten.

Holen Sie sich Unterstützung und Informationen von der wachsenden Community-Bewegung

Viele Leute erfinden heute das Gemeinschaftsleben neu. Sie sind Teil einer Bewegung, die seit den achtziger Jahren dramatisch wächst. Sie kaufen gemeinsam mit ein paar anderen Familien ein Stück Land und bilden eine kleine Stammesgemeinschaft. Einige geben ihrer Gemeinschaft sogar einen Stammesnamen und definieren [375]ihren Zweck und ihre Absichten sowie die Unterschiede zu und die Gemeinsamkeiten mit anderen Stämmen.[93]

Es ist nicht überraschend, daß viele Angehörige dieser Bewegung ihre Erfahrungen bereitwillig weitergeben. Das kann anderen, die gerade den Schritt in ein solches Gemeinschaftsleben wagen wollen, eine große Hilfe sein. Aus Büchern, von Mentoren und in Kursen, die jetzt überall in der Welt von Gemeinschaften angeboten werden, kann man lernen, wie die Pioniere und die Ureinwohner ihre Nahrung im Wald und auf den Feldern gefunden haben.

Aktuelle Bücher wie Famine and Survival in America (Hungersnöte und Überleben in Amerika) von Howard Ruff und die rasche Vermehrung von Leuten, die vom »Millennium-Fieber« erfaßt sind und behaupten, zur Jahrtausendwende stehe uns das Ende der Welt bevor, sorgen ebenfalls dafür, daß wir uns bewußter mit solchen Fragen auseinandersetzen, obwohl ihr Tonfall oft so schrill ist, daß er die Menschen eher abschreckt. Jedenfalls werden solche Veröffentlichungen gewöhnlich nicht vom Durchschnittsbürger gelesen: Viele – die meisten – Leute sind so damit beschäftigt, ihren gegenwärtigen Lebensstandard zu genießen, daß sie sich eine andere Lebensweise gar nicht vorstellen können. Sie lieben ihre Städte und verschwenden nicht den geringsten Gedanken daran, wie sehr sie davon abhängig sind, daß Lastwagen die Nahrung in die Supermärkte bringen. Sie betrachten ihre Nachbarn als Quelle der Anregung und Unterhaltung, nicht als potentielle Konkurrenten um knappe Ressourcen, die sie sein würden, wenn es in den Supermärkten nichts mehr zu kaufen gäbe und die Städte sich in makabere Dschungel aus futuristischen Filmen verwandeln würden. Ihre Sicht der Welt ist für die gegenwärtigen Bedingungen korrekt, zumindest in den reichen Städten des Westens, und sie wird es zweifellos auch noch eine Zeitlang bleiben. Schließlich gab es in [376]der Vergangenheit immer wieder Leute, die behaupteten, das Ende der Welt stehe vor der Tür, ohne daß ihre düsteren Prophezeiungen je eingetreten wären.

Auf der anderen Seite prüfen viele Menschen jetzt erneut die Möglichkeiten eines unabhängigen Lebens in kleinen, stammesähnlichen Gemeinschaften, und dabei geht es ihnen nicht nur darum, sich auf schlechte Zeiten vorzubereiten, sondern sie wollen hier und heute die Vorteile dieser Lebensform genießen. Sie bilden kleine Kooperativen und ziehen aufs Land oder organisieren solche Gruppen sogar in der Stadt, wenn sie dort über genügend Grund und Boden verfügen, um ihre Nahrung selbst anbauen zu können. Diese Community-Bewegung wächst weltweit so schnell, daß man schon entsprechende Bücher, Magazine und Leitfäden bekommen kann.[94]

Es ist populär, die »utopischen Gemeinschaften« zu verspotten, vor allem in ökologischen Fachbüchern, aber solche sozialen Einheiten können auf Erfolge zurückblicken – und sie haben schwere Zeiten besonders gut überstanden. Von den frühen amerikanischen Kleinstädten über Kommunen, die von Vermont bis nach Kalifornien und nach Bali verstreut sind, von den israelischen Kibbuzim bis zu den Stämmen der Ureinwohner überall auf der Welt funktionieren stammesähnlich organisierte Gemeinschaften tatsächlich.

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Ein Besuch bei einer »Zweckgemeinschaft«

Eine moderne Version des Stammeslebens bezeichnet man heute als Zweckgemeinschaft. Oft sind sie als kleine Kooperativen organisiert, wo das Land allen gemeinsam gehört, aber die einzelnen Familien ihre eigenen Häuser und auch »Anteile« an der größeren Kommune besitzen. Wenn jemand austreten und wegziehen will, verkauft er seine Anteile und Gebäude wieder an die Gemeinschaft; wenn jemand Mitglied werden will, muß der Antrag von der gesamten Kooperative geprüft und gebilligt werden. Das Communities Directory enthält ein ausführliches Verzeichnis solcher Gemeinschaften in der ganzen Welt, aber auch zahlreiche Kapitel darüber, wie man seine eigene Gemeinschaft aufbauen kann.

Als Louise und ich im Sommer 1997 dieses Buch lasen, stellten wir fest, daß es eine solche Gemeinschaft ganz in unserer Nähe gibt. Sie wurde vor mehreren Jahrzehnten von Leuten gegründet, die sich nach einer neuen Lebensweise sehnten und sie erfolgreich entwickelten. Wir nahmen Kontakt mit ihnen auf, vereinbarten einen Besuchstermin und fuhren am ersten Maiwochenende hin, um uns einen persönlichen Eindruck zu verschaffen.

 

Quarry Hill ist die älteste Zweckgemeinschaft in Vermont, vor fünfzig Jahren als Zuflucht für Schriftsteller und Künstler gegründet von Irving und Barbara Fiske, deren gemeinsames Ziel eine gewaltfreie Kindererziehung war. Die sechziger Jahre brachten Veränderungen, ebenso wie Irvings Faszination für die Schriften von William Blake und anderen Philosophen und Mystikern, und heute gibt es dort 26 Häuser auf über 80 Hektar Land in einer atemberaubend schönen Berggegend. Die Gemeinschaft betreibt außerdem eine Privatschule, in der die gemeinsamen Erziehungsvorstellungen praktiziert werden. Louise und ich verbrachten den ganzen Tag in Quarry Hill, sahen uns das Land und die Häuser an, lernten die Leute kennen und hörten ihren Geschichten zu.

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»Zu den Dingen, die mir hier am besten gefallen, gehört das Gefühl von Sicherheit«, sagte Judy Geller, die seit zwanzig Jahren in der Kommune lebt und die dortige Schule leitet. »Die Leute hier akzeptieren dich, so wie du bist. Du kannst unbesorgt du selbst sein.«

Quarry Hill ist zwar die älteste Zweckgemeinschaft in Vermont, aber keineswegs die einzige. Es gibt in diesem Staat noch ungefähr ein Dutzend anderer, und landesweit werden über 500 im Communities Directory aufgeführt, wobei die Herausgeber betonen, daß mehrere hundert weiterer Gemeinschaften darum gebeten hätten, ihre Adresse nicht in das Verzeichnis aufzunehmen (wahrscheinlich weil sie keine freien Plätze mehr haben), so daß man davon ausgehen kann, daß es in Nordamerika mindestens tausend solcher Gemeinschaften gibt.

Ihre Strukturen sind keineswegs identisch, und in den meisten Fällen handelt es sich nicht um Kommunen, bei denen das persönliche Eigentum mehr oder weniger zugunsten von Gemeinschaftseigentum aufgegeben wird. Die Basis aller Gemeinschaften bildet eine Gruppe von Leuten, die sich entschieden haben, zu einem bestimmten Zweck zusammenzuleben. Dabei kann es sich um politische Aktivitäten, Umweltschutzmaßnahmen, spirituelle Ziele oder gemeinsames Musizieren handeln, aber auch um den Betrieb von Gesundheits-, Seminar- oder Konferenzzentren.

Es gibt den Mythos, die gegenwärtige Zweckgemeinschaft sei ein Überbleibsel des Hippie-Lebensstils der sechziger Jahre, oder diese Gemeinschaften seien mit dem Aufkommen der »Reagonomics« und der Yuppies allesamt ausgestorben. Aber das ist wirklich nur ein Mythos. Zweckgemeinschaften existieren schon so lange wie die Menschheit, und nach meinen Erfahrungen erinnern sie in ihrer gegenwärtigen Form in keiner Weise an die alten Hippie-Kommunen.

Jedes Wohnviertel oder auch jedes Mehrfamilienhaus in einer kleinen oder größeren Stadt ist eine Gemeinschaft. Die Leute haben sich, meist aufgrund von Lebensqualität, Status, ökonomischer [379]Notwendigkeit, wegen der Nähe zur Familie oder aus Bequemlichkeit entschieden, hier zu leben. Aber in diesen Gemeinschaften gibt es keine Struktur, die festlegt, wer dort wohnen darf: Wer das nötige Geld hat, kann sich ein Haus kaufen oder eine Wohnung mieten.

In einer Zweckgemeinschaft dagegen geht es nicht nur um einen Platz zum Leben, sondern das gemeinsame Ziel wirkt meist als erster Filter, der dafür sorgt, daß sich nur Leute mit ähnlichen Vorstellungen um die Mitgliedschaft bewerben. Während man heutzutage in einem Wohnviertel oder einer Stadtwohnung jahrelang leben kann, ohne sich je mit seinen Nachbarn zu einem gemeinsamen Essen zu treffen, ist eine derartige Isolation in einer gut funktionierenden Zweckgemeinschaft fast unvorstellbar.

Die Schattenseite des Verfahrens, mit dem Gemeinschaften neue Mitglieder auswählen, liegt darin, daß die Gruppe zu homogen werden kann. Selbst wenn man davon ausgeht, daß Dinge wie Rassismus in solchen Gemeinschaften kein Problem darstellen, herrscht doch die Tendenz vor, sich unbeabsichtigt eher für Gleichheit als für Vielfalt zu entscheiden. Mehrere Bewohner von Quarry Hill haben im Gespräch mit mir jedenfalls betont, wie wichtig ihnen die Vielfalt ist, und daß sie mit zu den Elementen gehört, die ihre Gemeinschaft stark machen. In Quarry Hill leben Schwarze und Weiße, Amerikaner, Deutsche und sogar ein Neuseeländer, Menschen aller Altersgruppen von einem Jahr bis zu 80 Jahren. Wenn man eine Gemeinschaft aufbauen will, ist es wahrscheinlich wichtig, diesen Aspekt zu bedenken.

Zweckgemeinschaften entwickeln sich gewöhnlich aus einer der vier folgenden Wurzeln:

Genetik

Das ist die Basis der traditionellen Stammesgemeinschaft – jeder ist Mitglied einer Großfamilie. Dies ist die hauptsächliche Art von Gemeinschaft, wie man sie bei den eingeborenen Völkern überall in [380]der Welt findet, und das buchstäblich seit Millionen von Jahren. Während diese Art von Gemeinschaft unter den Ureinwohnern recht verbreitet ist (es gibt beispielsweise mehr als 400 verschiedene Stämme von Ureinwohnern in Nordamerika), findet man sie innerhalb der bunt zusammengewürfelten Zweckgemeinschaften eher selten. Das kann sich jedoch auf natürliche Weise im Laufe der Zeit verändern: Die Oneida-Gemeinschaft im Staat New York wurde 1848 gegründet, und hier leben (unter anderen) nun die Urenkel und Ur-Urenkel der Menschen, die sich damals zusammengeschlossen haben. Auch in Quarry Hill wohnen heute schon die Kinder und Enkel der ehemaligen Gründer und ersten Mitglieder.

Zu den Vorzügen einer genetischen Gemeinschaft gehört ein Gefühl von Kontinuität und Verbundenheit mit den eigenen Vorfahren. Das führt zu Respekt vor den Älteren und den Kindern: Die Älteren verkörpern das Wissen der Vergangenheit, und die Kinder sind die Zukunft. Ich war als Referent auf einer Konferenz, die die University of Oklahoma für amerikanische Ureinwohner veranstaltet hat (ich war einer von nur fünf oder sechs Weißen unter mehr als vierhundert indianischen Teilnehmern und Referenten), und während der Eröffnungszeremonie wurden die Älteren gebeten, nach vorn zu kommen und der Versammlung ihren Segen zu geben. Vierundvierzig grauhaarige Männer und Frauen traten vor, und einer von ihnen leitete das Gebet in seiner Muttersprache. Dann wurde der Mann, der die meisten Älteren zu diesem Treffen gebracht hatte, dafür geehrt, daß er ihre Anwesenheit ermöglicht hatte.

Alle Teilnehmer und Referenten, die sich während dieser Konferenz vorstellten, nannten zusätzlich zu ihrem Namen auch den Stamm, dem sie angehörten (und gewöhnlich auch ihren »indianischen Namen« in ihrer Muttersprache). Diese Identitäten sind für amerikanische Ureinwohner real und solide und bedeutsam. Ein Kiowa würde genausowenig daran denken, ein Navajo oder ein [381]Cree zu werden, wie ein Bär in der Wildnis daran denken würde, sich wie ein Biber zu benehmen. So wie sich die Tiere an ihre natürliche Umgebung anpassen und unterschiedliche Lebensweisen entwickeln, so haben auch viele der amerikanischen Ureinwohner bestimmte Vorstellungen von ihrer Identität und ihren Lebenszielen, und sie wissen tief in ihrem Inneren, daß die »Unterschiede zwischen den Menschen« ihr Gutes haben.

Im modernen Amerika wird diese Vorstellung gerne als »rassistisch« bezeichnet. Als Malcolm X über Menschen afrikanischer Abstammung sprach, die ihr eigenes Identitätsgefühl, ihre eigenen Rituale und ihre eigene Kultur pflegen statt einfach zu versuchen, ein Teil der »weißen Kultur« zu werden, wurde er von vielen Leuten, Schwarzen und Weißen, als Rassist gebrandmarkt. Die Bezeichnung »Rassist« wird weitgehend definiert durch die Überzeugung weißer Separatisten, daß die Rassen getrennt leben und sich nicht vermischen sollten. Der Grund, warum der Ausdruck für uns negativ besetzt ist und warum diese Form der Rassentrennung im modernen Amerika oft so katastrophale Folgen hat, liegt in unserer Herrschaftskultur, in den kulturellen Rahmenbedingungen, unter denen die Rassentrennung praktiziert wird.

In den älteren Kulturen der amerikanischen Ureinwohner (kooperative Kulturen) sind Stammesunterschiede und genetische Unterschiede völlig akzeptabel (ja sogar erwünscht), und jeder darf und soll seine eigene Identität bewahren, weil diese Unterschiede nichts mit Überordnung, Unterordnung oder Macht zu tun haben, sondern die Vielfalt fördern. Im Gegensatz dazu resultiert der Rassismus unserer modernen Gegenwartsgesellschaft aus der Geisteshaltung der jüngeren Kultur, daß »die einen oben und die anderen unten stehen«, und das bedeutet für Menschen, die über genetisch begründete Stammesgesellschaften sprechen wollen, ein sehr reales ethisches und kulturelles Dilemma. Die Stammesstrukturen der amerikanischen Ureinwohner (die von einigen Vertretern weißer Kulturen als »rassistisch« bezeichnet werden) funktionieren für die [382]Ureinwohner selbst meist gut, weil diese sich im Hinblick auf die Unterschiede zwischen Stämmen, Rassen und Abstammungen an den Vorstellungen der älteren Kulturen orientieren. Für sie geht es dabei um unterschiedliche Fähigkeiten, etwas Neues in eine größere Kultur einzubringen, und die Idee, daß Menschen verschiedene Traditionen, religiöse Praktiken und Lebensweisen haben, ist nicht nur akzeptabel, sondern eine gute Sache.

Unsere jüngere Kultur ist eine, die alles aufsaugt, sich alles einverleibt, was ihr begegnet (wie Malcolm X festgestellt hat), und alles und jeden nicht nur für sich selbst, sondern vor allem für ihre Herrschenden benutzt. Deshalb heißt es in einer ihrer wichtigsten Geschichten, »das, was anders ist als wir, ist schlecht« – ganz gleich, wie hübsch unsere Kultur diese Geschichten in Ausdrücken wie »der große Schmelztiegel« oder »Regenbogenkultur« einzukleiden versucht. Tatsache ist, daß Amerika (und viel vom Rest der Welt) nun wieder neue Stammesstrukturen entwickelt, und ein großer Teil dieses Prozesses vollzieht sich entlang rassischer Trennungslinien und mit tragischen Konsequenzen.

Der Grund für diese schlecht funktionierende, fragmentarische und oft mit Gewalt verbundene Wiedereinführung von Stammesstrukturen liegt darin, daß unsere jüngere Kultur die Stämme, aus denen die Schwarzen, die Weißen und die Latinos (unter anderen) hervorgegangen sind, vor langer Zeit zerstört hat, so daß es für diese Menschen keinen Anknüpfungspunkt mehr gibt, von dem aus sie konstruktive und bedeutsame Stammesrituale und Zeremonien wiederbeleben könnten. Das Ergebnis sieht man am deutlichsten bei den Banden (Stämmen) in den Innenstädten, aber es zeigt sich auch in unserer gesamten Gesellschaft.

Daß die Menschen ein Bedürfnis nach diesem Gefühl von Stammesidentität haben, sieht man an vielen Beispielen, wozu meines Erachtens auch die New-Age-Bewegung gehört, die sich fast ausschließlich aus Weißen zusammensetzt, die ihre Stammesverbindungen vor Jahrtausenden verloren haben, als die Römer, die Osmanen, [383]die Hunnen und andere mehrfach durch Europa zogen und die Stammesvölker ausrotteten oder assimilierten.

Im Paganismus, Wicca-Kult, Animismus und in Dutzenden anderer kleiner Ableger begegnen uns Versuche (von edel bis lächerlich), die Rituale der Druiden, Kelten, Nordmänner und anderer alter Stämme wiederzubeleben und sie den heutigen, aber nun ihrer Stammeswurzeln beraubten Nachfahren dieser Stämme nahezubringen. Das Problem dabei: Die Zerstörung dieser Stämme war so vollständig (ich habe schon erwähnt, wie Caesar beispielsweise die Kelten und die Druiden ausgerottet hat und wie die Stammesvölker überall in Europa und anderswo über tausend Jahre hinweg zwangsweise zum Christentum bekehrt wurden), daß nur noch wenig für einen Neubeginn übriggeblieben ist. Heute lebt niemand mehr, der sich an die Sprache der Kelten erinnert, an ihre Traditionen und ihre Lebensweise, ihre Schöpfungsgeschichte, ihre heiligen Zeremonien und Rituale. Die Verbindung ist vollständig abgerissen, bis zu dem Punkt, an dem die römischen Eroberer ihre heiligen Orte ausfindig gemacht und zerstört haben.

Ein heißes Thema auf der erwähnten Konferenz der amerikanischen Ureinwohner war die Frage, was die Ureinwohner tun sollten, wenn sie von Weißen um Antworten auf spirituelle Fragen gebeten würden. Ich habe an einem Workshop teilgenommen, wo diese Frage sehr kontrovers diskutiert wurde: Die eine Seite sagte, die Indianer hätten »der Welt gegenüber eine Verpflichtung«, ihr Wissen über die Organisation und Funktionsweise von Stammesgesellschaften sowie über Spiritualität, welche die Erde respektiert, weiterzugeben. Die andere Seite vertrat dagegen die Ansicht, diese »mörderischen Anglos« hätten schon einmal »ihr Bestes getan, uns alle umzubringen«, und die amerikanischen Ureinwohner sollten sich von »diesen geisteskranken Weißen« so weit wie möglich fernhalten und sie »sich gegenseitig umbringen lassen, so wie sie es mit uns versucht haben«.

Einer der Befürworter der Position, die amerikanischen Ureinwohner [384]sollten den Weißen beibringen, wie man Stammesgesellschaften organisiert, sagte: »Unter den Weißen haben nur die Juden noch ein Gefühl von Stammeszugehörigkeit. Sie haben immer noch ihre Stammesrituale, ihre heiligen Stätten und Sakralgegenstände, und sie haben immer noch ein Gespür für Blutsverwandtschaft. Der Rest hat die eigene Stammesidentität verloren und beneidet die Juden um das, was sie sich bewahrt haben, was auch der Grund dafür ist, daß es unter den Weißen und Schwarzen soviel Antisemitismus gibt.« Das ist ein interessanter, wenn auch übermäßig vereinfachter Gedanke: Die Menschen brauchen Stammesrituale und ein Gefühl der Verbundenheit mit ihren genetischen Stammeswurzeln. Jene Stämme, die eher der älteren, auf Kooperation basierenden Kultur angehören als der jüngeren hierarchischen, auf Herrschaft basierenden (es gibt beispielsweise keinen jüdischen Papst), haben bessere Überlebenschancen (sogar angesichts der Verfolgung), ohne daß sie dabei Zuflucht zur Gewalt nehmen oder Abweichlern mit ewiger Verdammnis drohen müßten.

Gleichwohl ist der Schaden entstanden. Ich weiß nicht mehr, wie meine norwegischen, walisischen und keltischen Vorfahren 20 000 Jahre lang als Stämme gelebt haben, und auch die Menschen, die heute in den ehemaligen Stammesgebieten leben, wissen es nicht mehr. Wenn wir also heute eine Gemeinschaft gründen wollten und in einer Anzeige nach »Norwegern und Kelten« suchen würden, wäre das im besten Fall sinnlos und im schlimmsten Fall rassistisch. Die meisten Mitglieder unserer jüngeren Kultur, die versuchen wollen, nach der Art älterer Kultur zu leben, müssen einen der anderen traditionellen Wege beschreiten, die zur Entwicklung von Gemeinschaften führen.

Charismatische Führung und gemeinsame Visionen

Historisch hat dieser Aspekt zur Gründung der meisten nicht auf Blutsverwandtschaft beruhenden Zweckgemeinschaften geführt: Irgend jemand hat eine Idee, die andere für gut halten, und die [385]Gründerpersönlichkeit hat zugleich mit dieser Idee das Charisma und die Führungseigenschaften, die andere motivieren, sich ihm anzuschließen. In mancher Hinsicht gleichen die Anfänge einer Gemeinschaft den frühen Stadien einer Religion; und in der Tat sind viele moderne Religionen so entstanden, daß sich eine Gemeinde um einen starken Führer gebildet hat (oder um die Erinnerung an eine starke Führungspersönlichkeit und einen ebenfalls starken »Nachfolger«). Obwohl es einige Religionen geben mag, die nicht auf diese Weise entstanden sind, fällt mir keine ein: Von den »Weltreligionen« wie Judentum, Islam, Buddhismus, Christentum und so weiter bis zu den Gemeinschaften, die daraus hervorgegangen sind wie etwa Mormonen, Methodisten und Sufis, haben alle, die mir in den Sinn kommen, auf diese Weise angefangen. Und genauso, wie viele Religionen wieder verschwunden sind, besonders die extremeren Ableger der großen Religionen, haben sich auch viele Gemeinschaften wieder aufgelöst. Die Gründe sind gewöhnlich dieselben: Der Führer hat aufgegeben, ist weggezogen oder gestorben.

Es scheint, daß jene Gemeinschaften, denen der Übergang von einer starken Führungspersönlichkeit zu einer starken Gemeinschaft gelingt, diejenigen sind, in denen der Führer es zugelassen hat, daß die Macht innerhalb der Gemeinschaft delegiert wurde, und zugleich das Vermächtnis einer Vision hinterlassen hat, welche die Menschen bereitwillig und begeistert mit in die Zukunft nehmen.

Im Hinblick auf diesen Zusammenhang und die Fragen von Macht und Kontrolle, die damit verbunden sind, schrieb Don Calhoun, der Ehemann der Quarry-Hill-Mitbegründerin Barbara Fiske und Philosoph der Gemeinschaft, in seinem Buch Spirituality and Community[95] die folgenden Worte, die er und Barbara bei unserem Besuch in Quarry Hill zitierten:

[386]

»Wie alle intimen Beziehungen müssen auch Gemeinschaften einen Weg finden, sowohl persönliche Nähe als auch Individualität zu gewähren. Eine Gefahr liegt darin, daß Individualisten, die sich auf der Flucht vor sozialen Repressionen von freiwilligen Gemeinschaften angezogen fühlen, so darauf fixiert sind, »ihren eigenen Weg zu gehen«, daß die ganze Gemeinschaft in Anarchie versinkt. Auf der anderen Seite besteht die Gefahr, daß die Gemeinschaft so darauf besteht, alles und jeden dem gemeinsamen Ziel unterzuordnen, daß darüber jede persönliche Individualität verlorengeht.«

Die Lösung, die Don und andere im Laufe der Jahre entwickelt haben, besteht in einer gemeinsamen Vision, die besagt, daß das Individuum sowohl größer als auch kleiner ist als die Gemeinschaft, und daß jeder daran arbeitet, dem anderen in einem ökologischen Gleichgewicht zu dienen, das individuelles Wachstum fördert und gleichzeitig das Gemeinschaftsgefühl festigt, welches ein so wesentliches und ursprüngliches menschliches Bedürfnis ist. Don schrieb dazu:

»Wie kann man die von mir beschriebenen Hindernisse nun überwinden und eine spirituelle Gemeinschaft entwickeln? Ich glaube, das ist innerhalb von Gemeinschaften nur durch eine transzendente Vision möglich, die jedem Mitglied das Gefühl vermittelt, daß jeder ein Teil jedes anderen ist – ganz gleich, ob man viel oder wenig besitzt, mehr oder weniger Initiative zeigt, Mann oder Frau ist, Hetero oder Homo, Schwarz oder Weiß, Jude oder Christ, Kind, Teenager, Erwachsener oder älterer Mitbürger – und daß über dieses Einssein hinaus alle zusammen ein untrennbarer Teil vom Rest des belebten und unbelebten Universums sind. Diese Vision ist nichts, worauf irgendeine Elite ein Monopol anmelden könnte, sondern darin drückt sich die Erkenntnis aus, daß, wie die Quaker es nennen, »Gott in jedem Menschen wohnt«. Nur so kann eine Gemeinschaft zur Gemeinschaft werden, und die Mitglieder erkennen, daß sie sich selbst retten, indem sie ihre Kraft dafür einsetzen, den Rest des Universums zu retten.«

[387]

Das bedeutet nicht zwangsläufig, daß eine Gemeinschaft spirituell oder religiös ausgerichtet sein muß, um Erfolg zu haben. Tatsächlich sind nur 35 Prozent der im Communities Directory aufgeführten Gemeinschaften offen religiös oder spirituell orientiert. Genausowenig bedeutet es, daß unbedingt ein hierarchisches Führungsprinzip erforderlich ist: Nur neun Prozent bezeichnen ihre eigene Struktur als hierarchisch oder autoritär, während die Mehrheit demokratische Strukturen angibt. Aber das Wesen einer gesunden Gemeinschaft besteht darin, daß sie für die ihr angehörenden Individuen und Familien sorgt, und das bezeichnet für sich genommen schon eine wichtige Form von Spiritualität.

Eine Lebensaufgabe oder ein Lebenswerk

Auf den ersten Blick mag es so aussehen, als sei das nichts anderes als eine starke gemeinsame Vision, aber in Wirklichkeit geht man hier noch einen Schritt weiter. Die erfolgreichsten Gemeinschaften, die ich im Laufe der Jahre kennengelernt habe, waren jene, die eine gemeinsame Vision in Handlung umgesetzt haben.

Das reicht von der Lebensaufgabe, zur Erleuchtung zu finden, wie sie in Meditationszentren praktiziert wird, bis zur Mission eines christlichen Lebensstils, dem sich die christlichen Gemeinschaften verschrieben haben (die am schnellsten von allen wachsen). Dazu gehören auch Gemeinschaften, die sich einer spezifischen Aufgabe verpflichtet fühlen, beispielsweise der Fürsorge für mißbrauchte Kinder (darum ging es in dem Salem-Kinderdorf, einer Gemeinschaft, die Louise und ich 1978 gegründet haben). Ich habe jedenfalls immer wieder festgestellt, daß Arbeit für eine Gemeinschaft wichtig ist.

Arbeit schweißt die Gemeinschaft zusammen, einfach durch die vereinten Anstrengungen, den simplen Akt des Handelns als Ausdruck der gemeinsamen Vision. Sie ist die tägliche Erinnerung, der tägliche Schritt hin auf das (gewöhnlich in einem einzigen Menschenleben nicht erreichbare) Ziel der gemeinsamen Vision.

[388]

Dazu gibt es auch Parallelen im individuellen Leben. Menschen, denen in ihrer Arbeit das Gefühl einer Mission oder einer sinnvollen Lebensaufgabe fehlt, treiben oft stumpfsinnig und orientierungslos dahin. Sie fliehen in Drogen, Fernsehsucht oder Alkohol, werden sexbesessen oder spielsüchtig. Sie fühlen sich verloren und haben keine Freude mehr am Leben. Und wenn sie am Ende auf die Vergangenheit zurückblicken, empfinden sie ein tiefes, leeres Bedauern.

Im Gegensatz dazu sind Menschen, die sich einer Lebensaufgabe verpflichtet fühlen, glücklicher, motivierter, produktiver, und sie bleiben wahrscheinlich gesünder – körperlich, emotional, psychologisch und spirituell. Die Bedeutung dieser Verbindung zwischen der täglichen Arbeit und dem Gefühl einer Lebensaufgabe ist in Dutzenden – vielleicht sogar Hunderten – von psychologischen Studien und industriellen Arbeitsplatzanalysen der letzten fünfzig Jahre immer wieder belegt worden. Darin zeigt sich auch einer der Kardinalpunkte für die Gründung und den dauerhaften Erfolg von Gemeinschaften.

Gemeinsame Sorgen ums Überleben

Wie in diesem Buch und vielen anderen dargestellt, stehen die Welt und ihre Bewohner ernsten Problemen gegenüber. Das hat es natürlich auch früher schon gegeben. Fast seit den Anfängen der Menschheit – und ganz gewiß in schwierigen Zeiten – haben sich die Menschen zu Gemeinschaften zusammengeschlossen, um ihr eigenes Überleben und das ihrer Familien zu sichern.

Die Geschichte der Zweckgemeinschaften in den Vereinigten Staaten belegt das: Der Aufbau solcher Gemeinschaften wurde besonders aktiv während der Weltwirtschaftskrise betrieben, während der Depression, die dem Bürgerkrieg folgte, sowie während der sechziger Jahre, als viele junge Menschen glaubten, ihre Regierung sei verrückt geworden, weil sie 50 000 von ihnen nach Vietnam in den Tod schickte. Es sieht so aus, als würden wir jetzt eine neue [389]Welle der Gemeinschaftsgründungen erleben, wahrscheinlich als Folge der wachsenden Sorge, daß die Situation schwierig werden könnte, und der Vorstellung, daß man diese Schwierigkeiten gemeinsam besser bewältigt als allein.

Solche Gemeinschaften schießen zwar während schlechter Zeiten oft wie Pilze aus dem Boden, aber sie sind häufig auch die ersten, die wieder zerfallen. Wenn die Krise vorbei ist, ist ihre gemeinsame Mission beendet, und sie kommen ins Trudeln und brechen schließlich auseinander. Wenn sie trotzdem überleben, werden daraus oft kleine Städte, und das Gemeinschaftsgefühl geht allmählich verloren. Louise und ich haben eine der bekannteren »Kommunen« besucht, die in den sechziger Jahren aufkamen, und dabei festgestellt, daß das Land und die Geschäfte kürzlich privatisiert worden sind (Gemeinschaftseigentum war ursprünglich eins ihrer wichtigsten Markenzeichen). Einige Mitglieder halten sich inzwischen auch nicht mehr an das früher für alle verbindliche Gebot der vegetarischen Ernährung, und viele Leute verbringen jetzt die meiste Zeit zu Hause vor dem Fernseher (was früher verboten war). Louise und ich besuchten das Freilicht-Amphitheater, einst berühmt für seine Gottesdienste am Sonntagmorgen, und wir stellten fest, daß außer uns an diesem Tag niemand da war: Fast alle Gemeinschaftsaktivitäten, sofern sie nicht mit der Gemeindeverwaltung und der alljährlichen Gemeinschaftsparty zu tun hatten, waren aufgegeben worden. In dieser Hinsicht hatte sich die einst blühende Kommune ihrem Wesen nach in ein Wohnviertel für alternde Hippies verwandelt. Sobald die gemeinsame Vision auseinanderzubrechen begonnen hatte (als Folge einer Führungskrise), waren die individuellen Interessen stärker gewesen als das Gefühl, einer gemeinsamen Mission verpflichtet zu sein, und aus der Kommune war eine kleine Stadt geworden. In dieser Hinsicht könnte man sagen, daß sie »erfolgreich« sind, denn sie bilden jetzt eine »Überlebensgemeinschaft«. Doch wir hatten den Eindruck, daß diese nun sehr zerbrechlich ist, weil sie [390]ihren Führer und das Gefühl einer gemeinsamen Mission verloren hat.

Das ist die Gefahr, wenn man einfach in eine Gemeinschaft hineinspringt, ohne sich vorher Gedanken über die eigenen Lebensziele und den Sinn und Zweck der eigenen Existenz gemacht zu haben. Dieselbe Gefahr besteht für Menschen, die eine Gemeinschaft gründen, wenn sie als Gruppe diesen Prozeß nicht bewältigen. Wenn das höchste Ziel der Mitglieder einer Gemeinschaft darin besteht, ein Dach über dem Kopf zu haben, dann könnten sie genausogut in irgendeiner Vorstadt leben. Andererseits kann eine Gemeinschaft die Welt verändern, wenn die Mitglieder eine starke gemeinsame Vision haben, ein Gruppenziel, nach dem sich das alltägliche Leben und die Arbeit der Gemeinschaft richtet, und wenn innerhalb der Gruppe gemeinsame Normen und Werte herrschen.

 

Bedenken Sie, wie sich Ihre Lebensqualität verändern würde, wenn Sie und ein Dutzend anderer, ähnlich gesinnter Familien sich zusammenschließen und Ihr Geld zusammenlegen würden, um damit so viel Land zu erwerben, daß es ausreichen würde, um Ihre eigene Nahrung anzubauen und die Häuser mit Holz oder Sonnenenergie zu heizen.

Stellen Sie sich nun vor, wie Sie gemeinsam mit den anderen täglich daran arbeiten, eine selbstgewählte Aufgabe zu erfüllen. Dabei kann es sich um eine Kleinigkeit handeln, etwa ein gemeinsames Morgengebet, das Kraft ausstrahlt und den Planeten verändert, oder auch um eine umfangreiche Arbeit wie beispielsweise die Veröffentlichung von Ratgebern und Handbüchern, die anderen helfen, ihren Weg zu finden, oder der Betrieb eines Ausbildungszentrums, das Kurse anbietet, in denen es um Heilung oder Überleben geht, oder irgendeine von Hunderten anderer wichtiger Aufgaben.

Man muß dazu natürlich nicht unbedingt auf dem Land leben. Der Trend zu Haus- und Wohngemeinschaften ist in Europa mittlerweile [391]weit verbreitet, und er wird auch in den USA stärker. In Großstädten wie Berlin und New York kaufen oder mieten Menschen gemeinsam ganze Häuserblocks, um dort in räumlicher Nähe miteinander zu leben, und oft legen sie auch Dachgärten oder Parks an. In kleineren oder mittleren Städten ist das noch einfacher, wie der Erfolg der Ten Stones Community in der Nähe von Burlington, Vermont, zeigt.

Das größte Hindernis für jedes Gemeinschaftsleben ist der Würgegriff der hierarchischen Unternehmensstrukturen und der entsprechenden Arbeitsbedingungen, denen die Leute dort ausgesetzt sind. Sie rauben den Menschen die Lebensenergie durch Bestrebungen, die nur sehr wenig mit Überleben oder gar Lebensfreude zu tun haben, und wenn die Leute dann nach der Arbeit heimkommen, sind sie nur noch fähig, sich ein paar Stunden vom Fernseher berieseln zu lassen, bevor sie ins Bett fallen.

Eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche, dauerhafte Gemeinschaft besteht darin, daß eine Gruppe von Menschen in gegenseitiger Abhängigkeit für ihr Überleben und ihren Lebensunterhalt sorgt. Vielleicht leben und arbeiten sie zusammen (wie die Schausteller auf einem Volksfest, bei dem ich im Alter von 13 Jahren zwei Wochen mitgearbeitet habe, oder in der Gemeinschaft für mißbrauchte Kinder, die Louise und ich 1978 in New Hampshire gegründet haben); oder sie arbeiten zusammen, wohnen und leben aber völlig getrennt voneinander (wie bei vielen kleinen Unternehmen oder speziell in Kooperativen); oder sie arbeiten auf eine Weise, daß sie sich gegenseitig mit Waren und Dienstleistungen versorgen (wie es in den kleinen amerikanischen Städten vor hundert und mehr Jahren üblich war).

Es reicht nicht aus, nur nahe beieinander zu wohnen; wenn es nur darum geht, ist aus »der Gemeinschaft, dem Stamm oder der Kleinstadt« eine »Untereinheit« geworden, egal wie »gleichgesinnt« die betreffenden Menschen sein mögen. Wie schon gesagt, Gemeinschaftsleben kann man nicht nur auf dem Land praktizieren; [392]es ist auch ohne weiteres möglich, wenn man nicht einmal einen festen Wohnsitz hat (wie bei den Roma und Sinti überall auf der Welt), in der Diaspora oder im eigenen Land (wie bei den Juden), oder in einer Stadt oder Vorstadt, wo jeder für seinen individuellen Lebensraum sorgt (wie bei den Kooperativen oder nicht-hierarchisch strukturierten Unternehmen, die ihren Mitgliedern/Eigentümern einen Lebensunterhalt sichern).

Damit die Gemeinschaft funktioniert, muß man nicht einmal auf demselben Kontinent leben. Ich unterhalte beispielsweise mehrere Foren im Internet, die mir und meinen Mitarbeitern ein Einkommen sichern und für Zehntausende von Menschen aus aller Welt einen Treffpunkt und eine Gemeinschaft darstellen. Der »Ort«, an dem diese Gemeinschaften zusammenkommen, ist absolut virtuell: Das ADD Forum und das New Age Living Forum beispielsweise existieren nur als elektronische Impulse im Internet, aber wir haben Mitglieder auf sechs Kontinenten. Wir sind sehr vertraut miteinander, teilen unsere Freuden und Mißerfolge, trauern um Mitglieder, die wir durch Unglück oder Krankheit verloren haben, und feiern mit denen, die im Leben erfolgreich sind. Mehrere Paare, die sich »im Internet« kennengelernt haben, sind inzwischen verheiratet, und als einer unserer besten Freunde und Online-Gefährten, J.B. Whitwell, kürzlich an Lungenkrebs starb, löste das in unserer Cyber-Welt Wogen der Trauer aus.

Der Schlüssel zur Gemeinschaft ist also gegenseitige Abhängigkeit – ökonomisch, im Hinblick auf gemeinsame Lebensbedürfnisse oder auf emotionale Unterstützung und Freundschaft –, nicht räumliche Nähe. Wenn räumliche Nähe hinzukommt, dann ergibt sich eine Konstellation, die an traditionelle Stämme erinnert, aber was einen Stamm wirklich zum Stamm macht, ist nicht die rassische Identität oder der gemeinsame Lebensraum, sondern die gegenseitige Abhängigkeit der Mitglieder voneinander.

Das ist an jedem Ort und auf jede erdenkliche Weise möglich.

Viele Leute unternehmen heute schon diese Schritte. Ich sehe [393]darin eine der größten Hoffnungen für das Überleben und die Erleuchtung der Menschheit, während wir schwierigen Zeiten des Mangels entgegengehen. Wenn sie entsprechend strukturiert sind, können solche Gemeinschaften lebenswichtige soziale und spirituelle Bedürfnisse erfüllen und zugleich die materielle Existenz (Nahrung, Obdach und manchmal auch Arbeitsplätze) ihrer Mitglieder sichern.

 

 

[394]

Das Alltagsleben und Rituale neu erfinden

Eine Kultur, die keinen Geschichtenerzähler mehr hat, wird bald keine Kultur mehr sein.

Ari Ma'ayan, amerikanischer Ureinwohner vom
Stamm der Muskogee Creek und spiritueller Lehrer

Eins der wichtigsten »Geheimnisse« der alten Völker aus älteren Kulturen, das wir heute verloren haben, ist das Wissen, wie man ein Ritual oder eine Zeremonie durchführt. Eigentlich ist es nicht ganz richtig zu sagen, daß wir dieses Wissen »verloren« haben: Vielmehr haben wir unsere Rituale verändert, uns von Dingen abgewendet, die uns an die Heiligkeit allen Lebens erinnern, und feiern statt dessen den Konsum, als sei er selbst eine Art Religion. Als Kultur haben wir das Heilige sowohl aus unserem täglichen Leben als auch aus unseren »Feiertagen« verbannt, die wir jetzt nur noch als Freizeit betrachten.

Kein Wunder, würde Thoreau schreiben, denn: »Die meisten Menschen führen ein Leben der stillen Verzweiflung.« Die meisten Menschen tun das wirklich, vor allem weil unsere Kultur das Leben selbst, dieses außerordentliche Geschenk, diese wunderbare Gelegenheit, die Welt zu erfahren, aller Ehrfurcht und aller Wunder beraubt hat. Die Konzerne sind sogar noch einen Schritt weitergegangen: Sie haben in die meisten der über 20 000 Werbespots, die ein durchschnittlicher Amerikaner jährlich sieht, die Botschaft eingebaut, daß »der Sinn des Lebens« darin besteht zu konsumieren – mehr, besser, neuer, schneller, eindrucksvoller. Insofern könnte man sagen, daß wir unseren Alltag nicht nur des Heiligen beraubt haben, sondern wir haben ihn profanisiert: Die meisten Menschen legen nun täglich ihre Hoffnungen, Ängste und Träume vor den [395]Altar des »allmächtigen Herrschers« Konsum.[96] Sie hoffen auf ein besseres Auto, fürchten den Verlust ihres Arbeitsplatzes und träumen von einem größeren und eindrucksvolleren Haus.

Rituale verschwinden nicht, sondern ändern sich nur

Unser Leben ist tatsächlich von Ritualen erfüllt, ob wir es merken oder nicht: Wir trinken morgens unseren Kaffee, werfen einen Blick ins Frühstücksfernsehen, lesen die Zeitung, fahren zur Arbeit, machen Mittagspause, sehen unsere Lieblingssendung im Fernsehen, gehen abends zu Bett. Für die meisten Leute sind das »unbewußte« Rituale. Wir vollziehen sie, ohne darüber nachzudenken, ohne zu merken, daß sie einen so großen Teil unseres Lebens in Anspruch nehmen – daß sie selbst unser Leben geworden sind.

Die alten Völker und die Menschen, die heute noch in Stammesgesellschaften leben, benutzen diese normalen Alltagsrituale als Erinnerungshilfen, um sich immer wieder die außerordentliche spirituelle Kraft des Lebens zu verdeutlichen. Einen winzigen Rest davon finden wir noch in unserem rituellen Dankgebet vor dem Essen, aber auch das ist in der modernen Gesellschaft selten geworden. Als wir eine besondere Zeremonie vorbereiteten, erzählte mir ein älterer Apache, daß wir beim Holzsammeln im Wald jeden einzelnen Ast fragen müssen, ob er Teil des Feuers werden möchte, in dem die Steine für die Schwitzhütte erhitzt werden. Wir müssen auf ihre Antwort lauschen und sie ernst nehmen. Die Äste, die »nein« sagen, müssen wir liegenlassen. Und das gilt nicht nur beim Sammeln von Feuerholz für eine Schwitzhüttenzeremonie: [396]Alles, was wir im Laufe des Tages tun, sagte er, sei eine Gelegenheit zur Kommunikation mit dem Großen Geist, welcher in der gesamten Schöpfung gegenwärtig sei und durch sie zu uns spreche.

Wir haben soviel auf dem Altar des Konsums verloren, indem wir glauben, der Weg zum Glück führe über immer mehr Konsumgüter. Erst vor zwei Wochen war ich an der Nordostküste zu einem Vortrag und einer Signierstunde in einem Buchladen von Barnes & Noble. Ich sprach über Aufmerksamkeitsstörungen (ein Thema, mit dem ich mich in sechs meiner Bücher beschäftigt habe) und erläuterte meine Vorschläge und Ideen, wie Eltern und Kinder mit Aufmerksamkeitsstörungen und anderen »Lernschwierigkeiten« umgehen können. Als ich nach meinem Vortrag an einem kleinen Tisch saß und Bücher signierte, kam ein Paar von Anfang Vierzig auf mich zu. Sie erklärten, sie seien direkt von einem Treffen mit einem Klienten in der Firma des Ehemannes in den Buchladen gekommen. Dann sagte die Frau überwiegend zu mir, aber auch zu einem Dutzend anderer Eltern, die um den Tisch herumstanden, etwas, das in meiner Brust einen scharfen Schmerz auslöste:

»Sie wissen, daß die meisten Leute ein Ferienhaus und ein Boot haben und jedes Jahr eine Kreuzfahrt unternehmen?« Ich nickte, ohne zu wissen, worauf sie hinauswollte. In ihrer Stimme klangen Ärger und eine schmerzliche Bitterkeit mit, so wie bei einem Menschen, der das Gefühl hat, vom Leben unfair behandelt zu werden. »Nun ja, Billy ist unser Boot, unsere Kreuzfahrt und unser Sommerhaus«, sagte sie. »Er hat eine Aufmerksamkeitsstörung und kam deshalb in der Schule nicht zurecht. Also haben wir ihn ins Internat geschickt, wo er ausgerissen ist und dann von der Polizei aufgegriffen wurde. In der Untersuchungshaft hatte er eine Auseinandersetzung mit einem Wärter, von dem er behauptete, er habe versucht, ihn zu vergewaltigen, und nun ist er wegen Körperverletzung verurteilt worden. Dabei ist er erst 16 und schon ein jugendlicher Straftäter. Wir haben einem Anwalt dreitausend Dollar gezahlt, damit das Gericht die Strafe zur Bewährung aussetzt, und [397]jetzt befindet er sich in einem psychiatrischen Kinderkrankenhaus. Das alles kostet uns – abzüglich dessen, was die Versicherung übernimmt – mehr als ein Boot oder ein Sommerhaus, und ich sehe noch kein Ende, bis er 18 ist und auf eigenen Füßen steht. Aber bis dahin könnten wir pleite sein.«

Ihre Stimme war voller Wut und Schmerz, und ich sah diese Gefühle auch in den Augen ihres Mannes, als er zustimmend nickte. Ihr Kind, so glaubten die Eheleute, hatte sie der Segnungen beraubt, die ihre Gesellschaft ihnen versprochen hatte. Ihr Sohn hatte sie um ihre Chancen gebracht, glücklich zu sein. Er hatte sie um ihre Lebensziele betrogen, auf die sie so viele Jahre lang so hart hingearbeitet hatten.

Nach ihren Vorstellungen bestanden die heiligsten und bedeutsamsten Rituale des Lebens darin, ihre Freizeit im Ferienhaus zu verbringen, mit dem Boot auf den See hinauszufahren und jährlich eine Kreuzfahrt zu unternehmen. Ich konnte sie nur ansehen und sagen: »Ich hoffe, Ihr Sohn übersteht diese Erfahrung unbeschadet. Psychiatrische Kliniken können für Kinder eine sehr schlimme Sache sein.«

»Oh, er wird es überstehen«, sagte der Vater. »Er hat ja noch sein ganzes Leben vor sich. Ich weiß nur nicht, ob wir es überstehen werden.«

Ich sah die zwölf oder dreizehn Elternpaare an, die im Kreis um uns herumstanden und darauf warteten, daß ich ihre Bücher signierte, und ungefähr die Hälfte von ihnen nickte zustimmend. Auch sie waren in Sorge, daß die »Störung« ihrer Kinder sie jenes Glücks berauben könnte, das die Konsumideologie ihnen ihr Leben lang versprochen hatte.

Vor vier Tagen war ich in Deutschland bei meinem Mentor und Freund Gottfried Müller. Wir gingen auf seinem Lieblingsweg durch den Wald – er nennt ihn seinen »Weg des Propheten« –, und er zeigte mir einen Baum, der vom Abhang heraufwuchs. Seine Wurzeln hatten sich um einen Haufen Steine geschlungen, rauhes [398]Braun, das sich vom dunklen Grau des Granits abhob. »Sieh nur, wie die Wurzeln sich ihren Weg gebahnt haben«, sagte er. »Dahinter steckt ein Leben, eine Intelligenz, eine geistige Kraft.«

Er berührte den Baum mit seiner Hand und sagte: »Danke für dein Leben, daß du hier bist und mein Leben besser machst.«

Auch ich berührte den Baum und sprach ein stilles Gebet.

Ein paar Schritte weiter blieb er stehen und zeigte auf die jetzt zu Beginn des Winters kahlen Bäume, welche die Berge auf der anderen Seite des Tals bedeckten. Ein paar hundert Meter unter uns tanzte und gurgelte die Steinach. Die Luft roch nach Schnee, und die Kälte kitzelte in meiner Nase. »Wir können das alles sehen, Thomas«, sagte er. »Du kannst den Fluß hören und die kalte Luft fühlen.« Tränen traten in seine Augen: Mit seinen 84 Jahren sprach er jetzt oft davon, daß er bald »gehen müsse«. »Das Leben ist solch eine kostbare und seltene Gabe«, sagte er. »Denk nur an all die Menschen, die gelebt haben und heute nicht mehr sind. Was würden sie darum geben, hier zu stehen und diese Luft zu atmen? Das Leben ist ein solches G-ttesgeschenk.«

Für Gottfried Müller ist das Ritual des Alltagslebens, wie für viele Menschen der älteren Kulturen, erfüllt von Dingen und Situationen, die ihn an die Heiligkeit des Lebens erinnern. In diesen Augenblicken empfangen wir – in vollem Umfang – das Glück und den Sinn des Lebens, welche die Konsum-und-Konzern-Religion der jüngeren Kultur uns täglich tausendmal verspricht und doch nie wirklich gewähren kann.

Sinnvolle Rituale

Zusätzlich zu den Alltagsritualen – den »normalen« Ritualen – gibt es auch solche, die wir bewußt und mit einer bestimmten Absicht vollziehen. Dazu gehören Hochzeiten, der Besuch der Kirche oder Synagoge und die Riten des Übergangs.

[399]

Fast jede menschliche Gesellschaft hatte solche Rituale, Zeremonien des Übergangs, welche die Meilensteine des Lebens markieren. Doch in unserer modernen Gesellschaft sind auch sie weitgehend verlorengegangen, oder sie haben sich in »Konsumorgien« verwandelt, geleitet von den Konzern-Priestern wie Hochzeitsberatern, präsentiert in Abteilungen für Weihnachtsgeschenke in den großen Kaufhäusern oder zelebriert als Fototermin mit dem Nikolaus.

Das wirkt sich besonders verheerend auf unsere Kinder aus: Die jahreszeitlichen Übergangsriten oder die Riten des Eintritts in das Erwachsenenalter sind ein Echo aus menschheitsgeschichtlich uralten Epochen, und sie haben eine enorme Bedeutung im Leben. Der Schulabschluß und die Einberufung zum Militär sind fast das einzige, was davon für die meisten Kinder geblieben ist, und selbst das gilt zunehmend als »keine große Sache«. In religiösen Familien feiert man noch die Kommunion, Konfirmation oder Bar Mizwa, aber auch das sind nur noch »Überbleibsel«. Bei der ungestümen Jagd nach einem »besseren Leben«, die ohne Rücksicht auf unsere historischen kulturellen Rituale zu einer Explosion von Doppelverdiener-Familien geführt hat, sind sie eher die Ausnahme als die Regel.

Aber unsere Kinder brauchen ihre Übergangsriten: Nach Angaben des US Center for Health Statistics hat sich die Zahl der Selbstmorde bei Jugendlichen im Alter von 15 bis 19 Jahren in der Zeit zwischen 1970 und 1990 verdoppelt. Selbstmord und Mord sind für ein Drittel aller Todesfälle unter amerikanischen Teenagern verantwortlich.

Rituale sind in vieler Hinsicht ein wichtiger Teil des »Klebstoffs«, der eine Kultur, Gesellschaft, Familie oder Beziehung zusammenhält. In der modernen Gesellschaft werden wir Zeugen, wie unsere Rituale immer schneller zerfallen, wobei das Außergewöhnliche zum Gewöhnlichen wird. Es gibt in unseren Institutionen einige Führer, die sich bei Ritualen unbehaglich fühlen und deshalb meinen, man müßte sie »aufbrechen«. Andere haben es einfach nur [400]eilig, nach Hause zu kommen und ihre Lieblings-Fernsehshow zu sehen. Ein Freund schickte mir, nachdem er den ersten Entwurf dieses Kapitels gelesen hatte, eine E-Mail, in der er schrieb:

»Ich schätze, es ist kein Zufall, daß ich ausgerechnet heute abend darüber nachgedacht habe, daß Rituale (sogar weltliche) nicht mehr das sind, was sie einmal waren. Heute abend ist meine Tochter in der Schule in eine wichtige Organisation eingeführt worden. Als du und ich in ihrem Alter waren, hätte der Redner wahrscheinlich über die Werte gesprochen, welche die Kinder, die hier geehrt wurden, verkörperten, aber dieser Redner verschwendete das erste Viertel seiner Redezeit damit, daß er sich über die Kinder lustig machte, indem er über Teenager sprach, die »nicht ganz das Wahre« sind. Ich weiß, das ist nicht die Art von Ritual, die du meinst (wenn du über Religion und Kultur schreibst), aber ich denke, es gibt doch eine Gemeinsamkeit – unsere wachsende Unfähigkeit zu erkennen, was wichtig ist.«

In meinem Buch The Prophet's Way habe ich beschrieben, wie ich Zeuge eines Übergangsrituals für ein Apachen-Mädchen war, das in die Gemeinschaft der erwachsenen Frauen aufgenommen wurde. Es handelt sich dabei um ein Ritual, das seit Jahrhunderten so praktiziert wird und das dieses Mädchen offenkundig verwandelte. Ähnliche Rituale sind Bestandteile aller älteren Kulturen, mit denen ich mich beschäftigt habe.

Ich habe an Trommelzeremonien teilgenommen, an Gesprächskreisen, Schwitzhüttenzeremonien und anderen Ritualen amerikanischer und afrikanischer Ureinwohner, sowohl in Amerika als auch in Afrika. Eins der unter amerikanischen Ureinwohnern am weitesten verbreiteten Rituale ist der Gesprächskreis, wobei ein heiliger Gegenstand (ein Stock, eine Adlerfeder oder irgend etwas anderes) von einer Person zur nächsten weitergegeben wird. Nur derjenige, der den Gegenstand gerade in der Hand hält, darf sprechen, und bei den meisten Indianerstämmen vermeiden die anderen [401]Mitglieder des Kreises respektvoll jeglichen Augenkontakt mit dem Sprecher, um sich besser auf seine Worte konzentrieren zu können. Der Gegenstand wird im Kreis weitergereicht, und niemand unterbricht den Vorgang oder reagiert auch nur auf die Bemerkungen oder Fragen der anderen, bis er selbst an der Reihe ist. Wenn jemand dem Sprecher nachdrücklich zustimmt, dann wird er vielleicht leise brummen oder ein anderes wohlwollendes Geräusch von sich geben, aber das ist auch schon die Grenze. Jeder, der an die Reihe kommt zu sprechen, beginnt damit, daß er sich bedankt: bei seinem Schöpfer für sein Dasein, bei seinen Eltern für ihr Leben, bei den anderen im Kreis für ihr Zuhören und ihre Anwesenheit. Erst dann redet er über das, was ihn gedanklich beschäftigt. Ein solcher ritueller Gesprächskreis ist eine außergewöhnliche und sehr verbindende Erfahrung, bei der man sich in Geduld und Respekt üben kann.

Die alten Völker wußten, wie wichtig Rituale sind, und sie füllten ihr Leben damit. Auf diese Weise sorgten sie einerseits für vorhersagbare Ereignisse in einer unsicheren Welt und erinnerten sich andererseits ständig selbst daran, daß diese Welt von der heiligen Gegenwart der Gottheit erfüllt war.

Dave deBronkart, einer der Herausgeber dieses Buches, hat erwähnt, er habe im Konfirmationsunterricht gelernt: »Ein Sakrament ist ein äußeres und sichtbares Zeichen einer inneren und spirituellen Gnade.« Rituale sind nicht nur eine Art Schauspiel: Sie können tatsächlich bewirken, daß man Erfahrungen verinnerlicht. Dave hat hinzugefügt: »Rituale und Zeremonien sind gemeinsame Erfahrungen, die zu Schwingungen werden, welche uns heute alle verbinden und über die Generationen hinweg in Resonanz zu unseren Vorfahren stehen. Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß eine unterdrückerische Regierung, wenn sie eine Kultur auslöschen will, deren Zeremonien verbietet … und wenn die Zeremonien heimlich weiter praktiziert werden, kann diese Kultur wieder auferstehen, nachdem die Unterdrücker verschwunden sind.«

[402]

Rituale neu erfinden

Sie können Rituale und Zeremonien wieder in Ihr Leben zurückbringen und werden dann als Resultat eine sofortige Veränderung Ihrer Lebensqualität feststellen. Diese Rituale und Zeremonien können sich von Zeit zu Zeit verändern, man kann sie völlig neu erfinden oder von alten Völkern übernehmen.

Meine Frau und ich setzen uns beispielsweise jeden Morgen ein paar Minuten hin und meditieren. Häufig gehen wir zu einem Altar, den Herr Müller im Wald in der Nähe unseres Hauses gebaut hat, und beten dort. Oft sprechen wir ein Dankgebet vor den Mahlzeiten, und wenn wir zum Abendessen ein Glas Rotwein trinken, sagen wir ein besonderes Gebet, das uns an Jesu Blut und an die Opfer erinnert, die er für uns gebracht hat. Wir praktizieren am Freitag abend eine Art von Sabbatzeremonie, die wir von Herrn Müller gelernt haben (und die er von seinem Mentor gelernt hat), und wir nehmen uns den Samstag möglichst frei, nutzen ihn zur Entspannung, zum Lesen und Reden und für ausgedehnte Waldspaziergänge. Wenn wir morgens aufwachen, geben wir uns vor dem Aufstehen gegenseitig besondere Zuwendung, kuscheln im Bett, reden über den bevorstehenden Tag und versichern uns unserer Liebe füreinander. All dies sind Rituale, die wir mit Absicht entwickelt haben und durch die wir die Gegenwart des Heiligen erkennen.

Gemeinsam mit unseren Freunden experimentieren wir mit Gesprächskreisen und anderen Zeremonien. Wir denken auch darüber nach, Leute zu Meditationswochen in unser Haus einzuladen (wenn ich irgendwann einmal nicht mehr soviel auf Reisen bin), so wie wir es vor Jahren in Michigan und New Hampshire getan haben, und wir wollen mehr heilige Rituale in unsere Gartenarbeit und ins Kräutersammeln einbauen.

Auch Sie können Ihre eigenen Rituale und Zeremonien entwickeln. Nach den ersten mühsamen Wochen werden sie zu einem [403]selbstverständlichen Teil Ihres Alltags und erfüllen dennoch weiterhin den Zweck, Sie an das Heilige zu erinnern.

Wenn Sie in einer Gemeinschaft leben, kann diese eine Art Überbau schaffen, durch den es noch leichter wird, sich an die Rituale zu halten, und durch den ihre Bedeutung und ihre Wirkung noch weiter wachsen können. Ich habe einmal einen Sabbat in einer chassidischen Gemeinde in Jerusalem verbracht: Die ausführlichen Rituale waren beeindruckend und sehr machtvoll. In den ersten Jahren unseres New England Salem-Kinderdorfes (bevor ein Sozialarbeiter sich dagegen wehrte, daß wir »zu religiös« waren und der Staat von uns verlangte, darauf zu verzichten) läutete Großvater Irving jeden Morgen gegen neun Uhr und jeden Nachmittag gegen drei Uhr die Glocke. Die Erwachsenen (und gelegentlich auch ein Kind), die mitmachen wollten, versammelten sich in meinem Büro, um eine Viertelstunde lang still zu beten und zu meditieren, wobei wir am Ende einen Kreis bildeten, uns an den Händen hielten und das »Vaterunser« beteten. Gemeinschaften, die sich zu einem bestimmten Zweck zusammengeschlossen haben – beispielsweise um andere zu heilen oder den Planeten zu retten, und ganz gewiß die religiösen Gemeinschaften –, finden viele Möglichkeiten, um Rituale mühelos und ganz natürlich in ihren Alltag einzubauen.

In diesen Ritualen, im Dankgebet vor der Mahlzeit oder dem täglichen Waldspaziergang – oder auch wenn man in der Vorstadt nur die Straße entlanggeht und dabei das Gras, die Büsche und die Bäume wahrnimmt – erneuern wir unsere Verbindungen zu unseren Vorfahren. Indem wir das tun, bringen wir ihre Weisheit, ihre umweltverträgliche Lebensweise, ihre Weltsicht in unsere Gegenwart und unsere Zukunft – und wir können sie dann mit anderen Menschen teilen. Darin liegt vielleicht die größte Chance, unsere jüngere Kultur zu transformieren.

 

 

[404]

Wir haben viel zu lernen – und noch mehr, woran wir uns erinnern müssen

Unsere Vorfahren wußten etwas, das wir anscheinend vergessen haben.

Albert Einstein

Wir haben unseren Weg in diesem Buch damit begonnen, daß wir in einen dichten, dunklen Wald eingetaucht sind. Wir haben festgestellt, in welche Situation wir uns gebracht haben und was in absehbarer Zeit auf uns und unsere Kinder zukommen wird. Wir leben ständig »über unsere Verhältnisse« und sind dadurch in eine bedrohliche Abhängigkeit von unterirdisch gespeichertem Sonnenlicht (und anderen begrenzten Ressourcen) geraten, die bald zur Neige gehen werden. Wir treiben Raubbau an der Erde und töten dabei unsere Mitgeschöpfe.

Dann haben wir zurückgeblickt und festgestellt, auf welche Weise wir in diese Situation gekommen sind. Wir haben erkannt, welche zentrale, weltverändernde Bedeutung die Geschichten haben, die wir uns selbst erzählen; die lange und gewöhnlich ehrenhafte Geschichte vom umweltverträglichen Lebensstil unserer Vorfahren, die der älteren Kultur angehörten – sie hatten in der Regel keine derartigen Probleme –, und dann der Wechsel, der erst vor relativ kurzer Zeit vollzogen wurde, hin zu den jüngeren Kulturen, zum Wétiko der auf Herrschaft basierenden Städte und Staaten.

Es wird keine angenehme Zeit sein, wenn die Ölvorräte zur Neige gehen. Von den Sumerern angefangen, ist die Situation immer unangenehm geworden, wenn einer auf Wachstum angelegten Kultur die Energie ausging. Aber es ist möglich zu überleben, es zu [405]einem wie auch immer gearteten neuen Leben auf der anderen Seite zu schaffen. Die Chancen stehen nicht schlecht, daß andere Energiequellen das Öl ersetzen können. Die große Gefahr liegt jedoch darin, daß diese neuen Energiequellen – wenn sie, wie es für die jüngere Kultur typisch ist, lediglich dazu benutzt werden, die Zahl der Menschen auf diesem Planeten noch weiter zu erhöhen, noch mehr konkurrierende Arten auszurotten, noch mehr Ressourcen zu plündern, noch mehr Kriege gegeneinander und gegen die Umwelt anzuzetteln – unseren Untergang noch nachdrücklicher besiegeln werden als der bloße Verlust unserer fossilen Brennstoffe.

Unsere Energiequellen sind nicht so wichtig wie unser Weltbild, das in unserer Kultur verankert ist. Dieses Weltbild müssen wir ändern, und zwar schnell und gründlich.

Die gute Nachricht lautet, daß wir keine neue Kultur oder Lebensweise erfinden müssen. Es gibt viel zu lernen und viel, woran wir uns erinnern müssen – die Art und Weise unserer Vorfahren, die lange, bevor wir geboren wurden, ein umweltverträgliches Leben führten. Ihr Lebensstil war unabhängig von irgendwelchen Energievorräten, weil ihm eine Verbindung zu allem anderen Leben innewohnte, die ihm eine außerordentliche Flexibilität verlieh. Diese Flexibilität steht auch uns noch zur Verfügung, und sie läßt sich sogar in unsere »moderne« Welt integrieren.

In der hunderttausend Jahre währenden Geschichte der Menschheit haben etwa 5000 Generationen gelebt. Fast während der ganzen Zeit galt unseren Vorfahren die gesamte Schöpfung als heilig, und sie behandelten sowohl die Natur als auch ihre Mitmenschen mit Respekt und Verehrung. Nur in den letzten paar hundert Generationen sind wir von diesem Weg abgewichen.

Auch Sie stammen von Tausenden von Elterngenerationen ab, die umweltverträglich lebten, gut genug, um schließlich Ihnen das Leben zu schenken. Die DNS in Ihren Zellen stammt von eben jenen Menschen.

Stellen Sie sich eine Kette von 5000 Müttern vor, die im Laufe [406]vieler Jahrtausende Ihre Vorfahren und schließlich Sie zur Welt gebracht haben – die Kette reicht zurück bis zu den Stammesgesellschaften und nach vorn bis zu Ihnen selbst.

Die Fähigkeit unserer Vorfahren, alles Leben zu respektieren – die Gegenwart G-ttes, die göttliche Intelligenz in allen Lebewesen und sogar im scheinbar unbelebten Universum zu spüren –, liegt genauso in den Genen, die Ihre in Stammesgesellschaften lebenden Vorfahren Ihnen mitgegeben haben, wie der Instinkt, eine Gemeinschaft zu bilden und in harmonischer Kooperation zusammenzuleben. Die anthropologischen Forschungsergebnisse zeigen uns, daß der Psychologe Abraham Maslow recht hatte mit seiner Hypothese, daß der Mensch von Natur aus gut ist und instinktiv das Göttliche sucht, und daß er nur dann Störungen entwickelt, wenn er in einer kranken Kultur aufwächst, die gewalttätige und zerstörerische Menschen hervorbringt.

Die hunderttausend Jahre währende menschliche Geschichte – und die heute noch lebenden »primitiven« Menschen – sagen uns, daß das »herkömmliche Wissen«, daß »der Mensch von Natur aus böse und herrschsüchtig ist«, nicht der Wahrheit entspricht, daß es sich hier lediglich um eine für unsere Kultur typische Krankheit handelt, die gemessen an der langen Geschichte der menschlichen Rasse erst vor kurzer Zeit aufgetreten ist. Wir alle sind vielmehr mit dem angeborenen Wissen zur Welt gekommen, daß die gesamte Schöpfung göttlich ist, mit der angeborenen Ehrfurcht vor dieser Schöpfung, und unsere ersten und grundlegenden Instinkte sind Mitgefühl und Liebe.

Wenn Sie sich jetzt in diesen gegenwärtigen Augenblick versetzen, sich umsehen und erkennen, daß die gesamte Welt vor Leben vibriert, wenn Sie fühlen, wie diese Energie von der Schöpfung ausstrahlt und sich als Liebe in Ihr Herz ergießt, dann stellen Sie – in diesem Augenblick – die Verbindung zu der althergebrachten Lebensweise und ihrem heiligen Weltbild her.

Von dieser Verbindung aus – diesem Ankerplatz im heiligen Hier [407]und Jetzt – können Sie die Lebenskraft berühren sowie sich selbst transformieren und damit auch die anderen Menschen in Ihrer Umgebung. Diese transformieren wiederum andere Menschen, mit denen sie in Berührung kommen, und durch die Kraft der Lebensenergie berühren wir gemeinsam jeden Menschen und jedes lebende Wesen auf diesem Planeten. Während Sie Ihr Weltbild ändern – und so beginnen, kleine, anonyme Akte der Barmherzigkeit und des Mitgefühls zu praktizieren, Ihre Lebensweise und Ihr Verhältnis zum Konsum zu verändern, Ihre Rituale mit Spiritualität zu erfüllen –, wird sich Ihr Leben auf leichte und natürliche Weise verwandeln und neue Sichtweisen und Handlungsformen hervorbringen, die wir jetzt brauchen, wenn die letzten Stunden des gespeicherten Sonnenlichts anbrechen.

Durch diesen einfachen, praktischen, täglichen Vorgang beginnen wir, die Welt zu retten.

 

 

[408]

Nachwort

Sie haben gerade eins der wichtigsten Bücher gelesen, die Sie je in Ihrem Leben lesen werden.

Und weil Sie dieses außergewöhnliche Buch bis hierhin gelesen haben, gehören Sie zu den Menschen, auf die es ankommt. Sie sind einer von denen, die eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung unserer Zukunft auf diesem Planeten spielen. Vielleicht haben Sie sich selbst noch nicht in dieser neuen Rolle gesehen, aber wenn Sie bis hierher gekommen sind, dann ist sie Ihnen damit aufgetragen worden.

Auf diese Art funktioniert das Leben und das Universum. Auf diese Weise spricht Gott mit uns allen. Zunächst werden wir mit Daten und Fakten konfrontiert – eine Mitteilung. Dann werden wir aufgefordert, gedrängt oder gezwungen, die Informationen aufzunehmen, die Mitteilung zu empfangen. Und schließlich entscheiden wir, wer wir in bezug auf diese Mitteilung sind.

Das ist es, was Sie jetzt gerade tun. Sie entscheiden, wer Sie wirklich sind in bezug auf diese unglaublich wichtige Information, die Sie gerade aufgenommen haben. Und nun, ganz gleich, wie Ihre Entscheidung ausfällt, werden Sie eine Schlüsselrolle bei der Gestaltung unserer Zukunft auf der Erde spielen.

Wenn Sie beschließen, diese Information zu ignorieren, werden Sie eine bestimmte Art von Zukunft mitgestalten. Wenn Sie beschließen, entsprechend zu handeln, werden Sie eine andere Art von Zukunft mitgestalten.

Sie können sich dieser Rolle nicht verweigern. Sie wissen zuviel. Als ich dieses Buch gelesen hatte, wußte ich, daß mein Leben nie wieder so sein würde wie zuvor. Ich konnte mich selbst als Teil des [409]Problems oder als Teil der Lösung sehen, aber ich konnte nicht mehr vorgeben, das alles hätte nichts mit mir zu tun.

Irgendwo in der Mitte des Buches haben Sie sich vielleicht gesagt: »Ich erkenne das Problem. Ich verstehe die Zusammenhänge. Aber was kann ich tun?« Jetzt, nachdem Sie das Buch zu Ende gelesen haben, ist diese Frage hoffentlich beantwortet. Aber es gibt noch eine weitere Frage, die für alle denkenden Menschen sofort folgen muß: »Kann das funktionieren?«

Ich bin hier, um Ihnen zu sagen: »Es kann.« Aber viel – alles – wird davon abhängen, ob Sie daran glauben, daß es funktionieren kann, ob Sie wissen und ob Sie wollen, daß es funktioniert.

Wir befinden uns jetzt in einem Prozeß, den Barbara Marx Hubbard als »bewußte Evolution« bezeichnet. Wir erschaffen uns selbst neu auf diesem Planeten mit jeder Entscheidung, die wir hier und jetzt treffen, und wir tun das – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit (und besonders, nachdem wir dieses Buch gelesen haben) – im vollen Bewußtsein dessen, was wir schaffen und wie.

Ich bitte Sie von ganzem Herzen, dieses Buch nicht wegzulegen, ohne daraus persönliche Konsequenzen zu ziehen. Thom Hartmann hat Ihnen hier einen Aktionsplan vorgestellt. Er hat Ihnen Werkzeuge in die Hand gegeben, mit denen Sie hier und jetzt anfangen können, an der Veränderung unseres kollektiven Bewußtseins mitzuwirken und eine neue »Geschichte« zu schreiben, die den Motor der menschlichen Erfahrung mit neuer Energie versorgt.

Wenn Sie nicht glauben, daß ein einzelner Mensch viel bewirken kann – genug tun kann –, um echte Veränderungen herbeizuführen, dann bitte ich Sie dringend, ein anderes von Thoms Büchern zu lesen: The Prophet's Way.

Besorgen Sie es sich jetzt. Lesen Sie es sofort. Es wird Sie inspirieren und in Aufregung versetzen. Denn es belegt konkret, was ein einzelner Mensch tun kann, und es wird Ihnen eine neue Entschlossenheit [410]verleihen, Ihre rechtmäßige Rolle bei der Gestaltung unserer Zukunft zu übernehmen.

Was dieses Buch hier betrifft: Zitieren Sie es überall. Kaufen Sie zehn Exemplare und verschenken Sie sie. Lassen Sie diesen Aufruf nicht ungehört verhallen.

Vielleicht fühlen Sie sich wie ein Rufer in der Wüste, aber es ist Ihre Stimme, auf die wir gewartet haben. Ihr Votum ist maßgebend. Sie sind der entscheidende Faktor. Wir erreichen die kritische Masse, wenn wir Sie erreichen – und wenn Sie beschließen, andere zu erreichen – mit der einfachen Botschaft dieses Buches: Wir sind alle eins.

Lassen Sie uns endlich handeln, in unser aller bestem Interesse. Dann wird die Sonne noch einen weiteren Tag scheinen, und dann noch einen, und das Leben wird nicht nur weitergehen, sondern zu seinem höchsten Ausdruck finden, zu seinem höchsten Ruhm, zu seiner größten Freude. Können wir unseren Kindern dieses Geschenk machen?

Bitte sagen Sie ja.

Neale Donald Walsch

Ashland, Oregon
April 1998

 

 

[411]

Literaturempfehlungen

Nachdem sie die erste Ausgabe dieses Buches gelesen hatten, haben mich viele Leute um Literaturhinweise gebeten. Die folgende Liste ist keineswegs vollständig, aber sie ist ein Anfang. Sie wird für spätere Auflagen weiter vervollständigt und aktualisiert.

Diese Liste ist jedoch keine ausführliche Bibliographie: Achten Sie auf die Fußnoten im Text, wo im Zusammenhang mit entsprechenden Zitaten auf weitere ausgezeichnete Bücher hingewiesen wird. Hier zunächst nur eine subjektive Auswahl von Büchern, die ich persönlich für wichtig oder nützlich halte, und die zusätzlich zu den im Text zitierten Büchern für das Thema von Bedeutung sind.

Weitere Informationen bekommen Sie auch bei den in der Danksagung erwähnten drei Organisationen, wenn Sie sich direkt an sie wenden oder die betreffenden Webseiten aufsuchen. Außerdem können Sie sich auch mit mir schriftlich in Verbindung setzen über Mythical Books, 41 Northfield St, Montpelier, VT 05602, USA, oder über die E-Mail-Adresse: Email2thom@cs.com

Thom Hartmann

 

 

[414]

Danksagung

Obwohl mir die meisten Ideen zu diesem Buch schon seit Jahren durch den Kopf gehen (die Leser meiner früheren Bücher werden sie wiedererkennen), haben mir verschiedene Leute geholfen, sie in den letzten Jahren deutlicher herauszuarbeiten. Dies gilt besonders für Professor Jack D. Forbes von der University of California in Davis, der so freundlich war, mich persönlich zu empfangen, mir viele E-Mails zu beantworten und mich bei meiner Arbeit zu ermutigen. Andere, die meine Welt eher aus der Ferne durch ihre eigenen Veröffentlichungen verändert haben, sind Ross Gelbspan, Bill McKibben, Charles Little, Joseph Chilton Pearce, Dan Millman, Daniel Quinn, Riane Eisler, Lester R. Brown, Paul und Anne Ehrlich, Michael Tobias, Rupert Sheldrake, Jerry Mander, Richard Bandler, Alan Cohen, Patch Adams, Theodore Roszak, John Robbins, Terence McKenna, James Lee Burke und Jack Vance. Ihnen allen schulde ich großen Dank für ihre Arbeit und die Gedanken, die sie veröffentlicht haben.

Meine Verleger, Lektoren und Helfer bei diesem Buch – Dave deBronkart, Kyle Roderick, Brad Walrod, Jerome Lipani und Gwynne Fisher – haben Unschätzbares geleistet. Dank an Hal und Shelley Cohen, daß sie so ein guter Resonanzboden und so gute Freunde sind, an Jack und Norma Vance für ihre Ermutigung und dafür, daß sie ein Beispiel geben, was echter Einsatz beim Schreiben bedeutet, sowie an Rita Curtis, Tammy Nye, Adam Cohen, Rob Call, Karen Cross, Ellen Lafferty, Susan Reich, Tim Underwood und Charlie Winton. Mein tiefer Dank gilt meinem Herausgeber Peter Guzzardi und Harmony Books, dem das Thema wichtig genug war, um dieses Buch einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen, [415]sowie meinen Agenten Bill Gladstone und Stephen Corrick, die sich sehr dafür eingesetzt haben, die Veröffentlichung zu ermöglichen. Besonders dankbar bin ich Gerhard Riemann, der Übersetzerin und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Verlagsgruppe Bertelsmann, die mit großer Sorgfalt die deutsche Ausgabe des Buches erstellt haben, um es auch den Leserinnen und Lesern in Deutschland zugänglich zu machen, einem Land, in dem ich einige Zeit gelebt habe und für das ich eine tiefe Zuneigung empfinde. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank.

Die wichtigsten Einflüsse, die zu diesem Buch geführt haben, stammen von meinen Eltern, Carl und Jean Hartmann, meiner Frau Louise Hartmann, meinen Kindern Kindra, Justin und Kerith Hartmann und meinem langjährigen Mentor Gottfried Müller. Ihnen schulde ich nicht nur mein Leben, sondern auch meine Lebensqualität, für die ich zutiefst dankbar bin.

Schließlich gilt mein ganz besonderer Dank den Gründern und Mitarbeitern des Worldwatch Institute[97], von Cultural Survival[98] und Earth Save[99] für die enorm wichtige Arbeit, die sie durch ihre Aufzeichnungen über den Zustand unseres Planeten und praktische Lösungsvorschläge zur Verbesserung der Situation leisten.


Fußnoten

[1] Armageddon (hebr.; nach Offenb. Joh. 16, 16) ist der mythische Ort, an dem die bösen Geister die Könige der gesamten Erde für einen großen Krieg versammeln; (politische) Katastrophe. (A.d.Ü.)

[2] Die einzige Ausnahme bilden Bakterien und andere Organismen, die tief auf dem Meeresgrund leben und ihre Energie aus Vulkanöffnungen beziehen, die unter dem Wasser liegen. Doch sogar sie leben letzten Endes von Sonnenenergie: Die vulkanische Hitze des Erdkerns wurde gespeichert, als sich die Erde aus dem explodierenden Kern eines Sterns oder einer Sonne gebildet hat.

[3]Während es sich bei Kohle eindeutig um ehemalige Vegetationsschichten handelt, ist der Ursprung des Öls nicht völlig geklärt. Die konventionelle Wissenschaft behauptet, es sei ebenfalls aus pflanzlichen Stoffen entstanden, aber eine andere Theorie, die der Astronomie-Professor Thomas Gold von der Cornell University entwickelt hat, geht davon aus, daß Öl in acht bis hundert Kilometern Tiefe unter der Erdoberfläche von hyperthermophilen (unter hohen Temperaturen lebenden) Bakterien geschaffen wurde. Obwohl Golds Theorie – für die viele faszinierende Hinweise sprechen, wie beispielsweise das Vorhandensein von Helium in natürlichen Gasvorkommen – bedeuten würde, daß Öl kein »gespeichertes Sonnenlicht« ist, ändert das nichts an der zentralen These dieses Buches, denn die Art und Weise, wie die Bakterien nach Golds Ansicht das Öl geschaffen haben, das wir heute verbrauchen, bedeutet ebenfalls einen Prozeß, der sich über viele hundert Millionen Jahre erstreckt hat. Wenn die Vorräte erst einmal erschöpft sind, dauert es wieder viele hundert Millionen Jahre, um sie aufzufüllen. (Vgl. T. Gold, »The Deep, Hot Biosphere« in Proceedings of the National Academy of Sciences, 89, S. 6045–6049.)

[4]Santa Fe, NM: Bear & Co. Publishers 1994.

[5]Amerikanische Maßeinheit für Erdöl; 1 Barrel = 158,987 Liter (A.d.Ü.)

[6]In ihrer Studie »The World Oil Supply 1930–2050«.

[7]Norwell, MA, Kluwer Academic Pub.; (Das goldene Jahrhundert des Erdöls: 1950–2050 – die Erschöpfung einer Ressource).

[8]Deutsche Ausgabe: Der Klima-GAU. Erdöl, Macht und Politik, Gerling Akad., 1998.

[9]Public Health Reports Jan.–Feb. 1996, U.S. Department of Health and Human Services.

[10]Barbara J. Culliton, »Drug-resistant TB may be epidemic.« in Nature, 9/1992.

[11]»The third epidemic – multidrug-resistant tuberculosis.« in Chest, Jan. 1994.

[12]Barker, Rodney: Killeralgen. Winzige Mikroorganismen verursachen plötzlich Seuchen unangenehmen Ausmaßes, Scherz, München, 1999.

[13]Tödliche Mahlzeit vom Pulitzer-Preisträger Richard Rhodes ist ein ausgezeichnetes Buch zu diesem Thema. (Hoffmann und Campe, Hamburg, 1998).

[14]Ein interessantes Beispiel dafür ist ein Brief, den Amerikas größter Automobilhersteller kürzlich an Magazine und Zeitungen schickte. Das Unternehmen bat darum, über alle Artikel vorab informiert zu werden, damit man entscheiden könne, die Werbung ggf. zurückzuziehen, wenn man mit einem Beitrag inhaltlich nicht einverstanden sei. Als Reaktion auf diesen Brief verzichtete Esquire auf die Veröffentlichung eines geplanten Artikels aus Angst, das Unternehmen könne dagegen Einwände haben, obwohl es dabei um das Thema Homosexualität ging, das nicht im geringsten mit Autos oder Autoherstellern zu tun hatte.

[15]Brief des Kolumbus, zitiert in Eric Williams: Documents of West Indian History (Port-of-Spain, Trinidad: PNM, 1963) und in Peter Martyr: De Orbe Novo (1516).

[16]Ein weiteres Problem liegt darin, daß man eine ökologische Katastrophe heraufbeschwört, indem reine Monokulturen aufgeforstet werden. Wenn der gesamte Wald nur aus einer einzigen Baumart besteht und die Bäume alle gleich alt sind, ist der Bestand extrem anfällig für Schädlinge wie Raupen, Käfer und Pilze, was sich am Beispiel zahlloser Wälder in Nordamerika und Europa gezeigt hat. Mischwälder, in denen die Bäume zudem unterschiedlich alt sind, erweisen sich als wesentlich robuster.

[17]Associated Press am 25. August 1997, Bericht von Dirk Beveridge.

[18]Benannt wurden sie nach der Stadt Clovis im Osten New Mexicos, wo man die ersten archäologischen Spuren dieser Kultur entdeckte. (A.d.Ü.)

[19]Richard Leakey und Roger Lewin: Die sechste Auslöschung. Über die Zukunft der Menschheit, Frankfurt a. M., S. Fischer, 1996.

[20]Den deutschen Ausdruck »fehlerfreundlich« hat die Biologin Christine von Weizsäcker geprägt. Er wird hier verwendet, weil er genau das trifft, was der Autor meint. (A.d.Ü.)

[21]Das Wort »riesig« ist keine Übertreibung: Die Nahrungsmittelproduktion ist ein viel größeres Geschäft, als die meisten Leute meinen; es gibt scharfe Kontrollen und wenig Wettbewerb. So haben beispielsweise zwei Unternehmen, Cargill und Continental, 50 Prozent aller US-amerikanischen Getreideexporte des Jahres 1994 kontrolliert. In diesem Jahr betrugen die US-Getreideexporte 36 Prozent der weltweiten Weizenexporte, 64 Prozent der Mais-, Gersten-, Hirse- und Haferexporte und 40 Prozent der Sojaexporte.

[22]Salzburg: A. Pustet, (ed. solidarisch leben), 1998.

[23]Offensichtlich haben auch die Berge des Himalaya eine gewisse Menge Kohlendioxid aus der Atmosphäre gebunden, denn durch sie kommt ein Teil der oberen Atmosphäre mit Felsen in Berührung, und dadurch bilden sich kohlenstoffhaltige Gesteine.

[24]Anchor Books, 1990.

[25]New York: Penguin Books, 1995.

[26]New York: Touchstone Books, 1996.

[27]Ich habe den Namen und andere Details verändert, um seine Identität nicht preiszugeben.

[28]Unter demselben Titel erschien sein Buch bei W. W. Norton, New York, 1995.

[29]Einige Leute behaupten in diesem Zusammenhang: »Es ging gar nicht um Öl. Die Soldaten aus dem Irak haben unseren Verbündeten Kuwait überfallen.« Aber ständig werden unsere Verbündeten irgendwo in der Welt angegriffen, und ihr Territorium wird besetzt. Ende des zwanzigsten Jahrhunderts hat Amerika darauf nur dann so hart reagiert, wenn Öl im Spiel war.

[30]In der internationalen Geschäftswelt ist die monatliche oder vierteljährliche Gewinn- und Verlustrechnung viel wichtiger als irgendwelche Überlegungen, wie man, bezogen auf die nächsten vierzig Jahre, umweltverträglich wirtschaften kann. Das haben wir bei einem Industriezweig nach dem anderen erlebt. Und oft sind heute nicht mehr Nationen die Zentren von Macht und Reichtum, sondern Konzerne sind die »neuen Herren«. Unter den weltgrößten Wirtschaftsmächten steht Indonesien an 23. Stelle, hinter Mitsubishi (22. Stelle). Dänemark und Thailand kommen erst hinter General Motors (26. Stelle). Auch Exxon, Hitachi, Toyota, AT&T und Shell findet man auf den ersten fünfzig Plätzen. Diese Konzerne haben zunehmend die Macht, die öffentliche Meinung zu manipulieren und demokratisch gewählten Volksvertretern ihren Willen aufzuzwingen.

[31]Sonnenlicht setzt den Wasserkreislauf in Bewegung, weil die Sonne Wasser verdunsten läßt, welches dann als Niederschlag wieder zur Erde zurückkommt. Es sorgt gleichzeitig für die Wärmeenergie, die Wind entstehen läßt.

[32]Ich habe das persönlich in Bogota, Kolumbien, beobachtet und die Folgen in Mexiko City und Lima, Peru, gesehen.

[33]Die katholische Kirche verkündete jüngst stolz in einer Pressemitteilung des Vatikans, 1998 habe die Zahl der Katholiken weltweit die Schwelle von einer Milliarde überschritten.

[34]Ausführliche und schockierende Einsichten in dieses Problem – bezogen auf das amerikanische Fernsehen – sind nachzulesen in The Media Monopoly von Ben Bagdikian (Beacon Press, Boston) und The FAIR Reader von Naureckas und Jackson (Westview Press/Harper Collins, New York).

[35]Nähere Einzelheiten können Sie bei Foods & Water, Walden, Vermont, 1–800–EAT–SAFE, USA erfahren.

[36]22. Juni 1997, Burlington Free Press.

[37]Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, wollte ich hier darstellen, wie die Vorstände der Medienriesen personell mit den größten amerikanischen Konzernen verquickt sind; eine ausführliche Analyse finden Sie bei Ben Bagdikian in seinem Buch The Media Monopoly.

[38]Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt a. M.: Fischer. 5. Aufl. 1997.

[39]Ecopsychology, San Francisco: Sierra Club Books, 1995.

[40]Reinbek: Rowohlt Tb, 1993.

[41]Ich habe kürzlich erfahren, daß einige Stämme amerikanischer Ureinwohner jahrtausendelang Schriftsprachen hatten, während andere sich hartnäckig weigerten, Worte aufzuschreiben. Die Apachensprache wurde beispielsweise vor dreißig Jahren erstmals von einem methodistischen Missionar aufgezeichnet und kodifiziert. Ein Apache sagte mir: »Es war ein Fehler, das zu tun: Unsere Sprache ist zu heilig, um aufgeschrieben zu werden.« Es wäre interessant, die Unterschiede in den persönlichen religiösen Erfahrungen von Menschen mit und ohne Schriftsprache zu erforschen. Soviel ich weiß, hat das bisher noch niemand untersucht.

[42]Verlag Die Grüne Kraft, Ed. Rauschke, 1996.

[43]Glaube an die göttliche Bestimmung des amerikanischen Volkes, seine Ideale und Lebensformen dem ganzen Kontinent aufzuprägen, der ganzen Welt ein leuchtendes Beispiel und der demokratisch-republikanischen Freiheit ein Hort zu sein. (A.d.Ü.)

[44]Dorothy Lee, Freedom and Culture, Prentice Hall publishers, 1959.

[45]Hammer-Verlag, 1992.

[46]Diesen Prozeß stellt Jerry Mander in seinem Buch The Absence of the Sacred (San Francisco: Sierra Club Books, 1992), umfassend und brillant in allen Einzelheiten dar.

[47]Diese Gesetze bezeichnet man oft als »Gemüse-Verleumdungs-Gesetze«; Oprah Winfrey wurde bestraft, weil sie dagegen verstoßen hatte, als sie sich eine verächtliche Bemerkung über Rindfleisch erlaubte.

[48]Von Donald Bartlett und James Steele, Andrews & McMeel, 1992.

[49]In Afrika beispielsweise zahlte die südafrikanische Regierung zuletzt 1938 eine Prämie für ein Paar Ohren, die von einem !Kung-Buschmann stammten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte das Jagen und Töten von Buschmännern als »Freizeitsport« gegolten und sogar Jäger aus Europa und den Vereinigten Staaten angezogen.

[50]In: The Chalice and the Blade (Der Kelch und die Klinge), Harper San Francisco, 1987.

[51]Eine ausgezeichnete Zusammenstellung vieler dieser Geschichten und zahlreiche weitere Informationen über die amerikanische Geschichte finden Sie in dem Buch Lies My Teacher Told Me von James W. Loewen (New York: Touchstone Books, 1996).

[52]Als der spanische Konquistador Pizarro 1514 erstmals auf dem südamerikanischen Kontinent landete, verlas er (wie alle spanischen Eroberer einschließlich Kolumbus, als dieser in Haiti an Land ging) vor den verständnislosen Ureinwohnern, die ihm Nahrungsmittel und heilige Gegenstände als Geschenke überreichen wollten, die folgende vorbereitete Proklamation (als »die Anordnung« bezeichnet): »Ich fordere euch auf, die Kirche als Herrin und im Namen des Papstes den König als Herrn dieses Landes anzuerkennen und ihren Abgesandten zu gehorchen. Tut ihr das nicht, so versichere ich euch, daß ich mit Gottes Hilfe überall und auf jede Weise Krieg gegen euch führen werde. Und ich werde euch zu gehorsamen Dienern der Kirche und ihrer Führer machen. Und ich werde euch, eure Frauen und Kinder gefangennehmen und zu Sklaven machen. Ich werde euch euer Hab und Gut nehmen und euch Böses antun und schaden, wo ich nur kann. Alle Toten und Verletzten werdet ihr euch von jetzt an selbst zuzuschreiben haben, und die Schuld daran trifft weder seine Majestät noch die Herren in meiner Begleitung.«

[53]Obwohl es fast noch hundert Jahre dauerte, bis Jennings seinen Pockenimpfstoff entwickelte, waren die Europäer dieser Krankheit schon seit Jahrhunderten, vielleicht sogar Jahrtausenden ausgesetzt gewesen. Das verlieh ihnen eine relative Immunität: Die Menschen, die für diese Krankheit genetisch besonders anfällig waren, waren überwiegend schon vor langer Zeit gestorben. Folglich starben von den infizierten Spaniern nur fünf bis 30 Prozent an den Pocken. Die Inkas jedoch, die mit dieser Krankheit noch nie in Berührung gekommen waren, hatten nach Schätzungen einiger Experten nach dem ersten Kontakt im Jahre 1520 Todesraten von 60 bis 85 Prozent zu beklagen.

[54]Aus diesem Grund bestimmte Pol Pot, daß Brillenträger und ältere Menschen als erste hingerichtet werden sollten.

[55]Denken Sie an das Jahr 0 in unserem eigenen Kalender.

[56]Die frühen europäischen Siedler hatten große Angst vor den schamanischen Kräften der amerikanischen Ureinwohner, die von sich behaupteten, auch Regen machen und auf andere Weise die Natur kontrollieren zu können. 1587–88 wurde auf Roanoke Island, NC, die erste englische Kolonie in den Vereinigten Staaten gegründet, wobei auch der erste Indianerhäuptling von Weißen ermordet und das erste europäische Kind (Virginia Dare) auf amerikanischem Boden geboren wurde. Als die Briten 1589 zu dieser Kolonie zurückkamen, um Nachschub und Proviant zu bringen, stellten sie fest, daß alle 400 Siedler spurlos verschwunden waren, was dazu führte, daß man diese Siedlung als »The Lost Colony« bezeichnete. In Jamestown, VA, versuchten die Engländer 1607 erneut, eine Kolonie zu gründen. Nur 38 der ursprünglich 104 Siedler überlebten das erste Jahr, und weitere 4800 starben in den folgenden sieben Jahren bei mehreren Versuchen, sich in diesem Gebiet niederzulassen. Aber warum? Matthew Therrell, ein Spezialist für Baumringe von der University of Arcansas, hat die Ringe von kürzlich gefällten, tausend Jahre alten virginischen Sumpfzypressen untersucht und dabei vier verblüffende Anomalien entdeckt. Seine Untersuchungsergebnisse wurden am 24. April 1998 in der Zeitschrift Science veröffentlicht. Zwischen den Jahren 1000 und 1997 gab es an der Ostküste zwei – und zwar nur zwei – schwere Dürreperioden, in denen sogar Bäume verdorrten – während der Jahre 1587–88 und 1607–14.

[57]Die Kirche hat auch interne Machtkämpfe über diese Gebiete ausgetragen. 1997 besuchten Louise und ich die Gila Riber Pima Indian Community. Alte Karten aus dem 18. Jahrhundert zeigen, daß das Gebiet, nachdem die ersten spanischen Eroberer es mit allem Gold verlassen hatten, zunächst »Franziskaner-Land« und später »Jesuiten-Land« gewesen war.

[58]Yale University Press, 1989.

[59]Selbst die Verwendung des Wortes »heilig« ist hier problematisch, weil damit unterstellt wird, daß es etwas gibt, was »nicht heilig« ist. In diesen älteren Kulturen existieren solche Unterscheidungen nicht. Leben ist – und das ist von außerordentlicher Bedeutung – der wesentliche Kern aller Existenz.

[60]Während die frühesten Kulturen, die andere zu bekehren versuchten, historisch nicht mehr auszumachen sind, können wir die internen Auseinandersetzungen darüber in den Schriften der alten Griechen (die nicht versuchten, andere zu bekehren) und der Römer finden. Die Römer versuchten ursprünglich auch nicht, andere zu bekehren, wie man aus den Schriften einiger ihrer Philosophen und Führer einschließlich Julius Caesars entnehmen kann – die römischen Bürger waren ein »exklusiver Club«. Als das Römische Reich jedoch im frühen vierten Jahrhundert auseinanderzufallen begann, versuchte Kaiser Constantin, es dadurch zu retten, daß er den von den Römern ehemals verehrten Sonnengott durch den jüdischen Messias Jesus ersetzte und den jüdischen Sabbat (Samstag) als Tag der Gottesverehrung auf den Tag verlegte, an dem die Römer traditionell den Sonnengott verehrt hatten (Sonntag). Indem er so die eine (»katholische«) offizielle römische Kirche schuf, integrierte er die Verkündigungsidee, die am deutlichsten in den Schriften des Paulus zutage tritt, in die römische Kultur. Dies ist zwar keineswegs das einzige Beispiel dafür, daß eine Kultur den Bekehrungsgedanken übernimmt, aber es ist eins der am besten dokumentierten.

[61]Vgl. Matthäus 6, Vers 26.

[62]Abfällige Bezeichnung für Indianer, die darauf hinweist, wie die weißen Amerikaner damals mit den Ureinwohnern umgingen: go shoot [them] – »geh und erschieß sie.« (A.d.Ü.)

[63]Man's Rise to Civilization: The cultural ascent of the Indians of North America, Bantam Books, 1978.

[64]New York: Harvest Books, später veröffentlicht bei Harcourt Brace (1980).

[65]Mehr Informationen über die Kogi finden Sie in meinem Buch The Prophet's Way sowie auf einem exzellenten Videofilm unter dem Titel »From the Heart of the World«, der über Mystic Fire Video zu beziehen ist.

[66]Der englische Ausdruck sustainable wird im Deutschen meist als nachhaltig übersetzt; ich habe mich in diesem Buch für die Übersetzung umweltverträglich entschieden, weil meines Erachtens darin präziser erfaßt wird, worum es geht. (A.d.Ü.)

[67]Als die Weißen das herausgefunden hatten, wurde es eine übliche Praxis der amerikanischen Regierung, einen einzigen Stammesvertreter auszuwählen – oft einen, der mit Geld oder Alkohol bestochen werden konnte – und diese Person zum einzig autorisierten Stammesvertreter zu ernennen. Die »Verträge« erhielten dadurch einen Schein von Legalität, und wenn der Rest des Stammes sich weigerte, auf sein Land, seine Mineralien oder was sonst im Vertrag stand, zu verzichten, konnten sie alle wegen »Vertragsverletzung« brutal unterdrückt werden. Diese Praxis wird unter dem Bureau of Indian Affairs und anderen Regierungsbehörden sowie von großen Konzernen, die Indianerland haben wollen, bis auf den heutigen Tag fortgesetzt.

[68]Vgl. Cohen und Armelagos, Paleopathology at the Origins of Agriculture, New York: Academic Press, 1984.

[69]London: Thames & Hudson, 1996.

[70]Ed. Trickster im Peter Hammer Verlag, 1983.

[71]Susan L. Epp, »The diagnosis and treatment of athletic amenorrhea«, in Physician Assistant, März 1997.

[72]C. La Vecchia, »Ovarian function and disease risk«, in Cancer Researcher Weekly, 25. Okt. 1993.

[73]Living the Spirit: A Gay American Indian Anthology, St. Martin's Press, 1998.

[74]Spirit and the Flesh: Sexual Diversity in American Indian Culture, Bacon Press, 1992.

[75]William McNeill, Plagues and Peoples, New York: Doubleday, 1997.

[76]Das Evangelium des Thomas war Teil der alten Manuskripte, die zunächst 1897 in Ägypten und später 1954 in Nag Hammadi gefunden wurden, und man nimmt an, daß es zur gleichen Zeit oder früher als die Evangelien von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes geschrieben wurde.

[77]Menschen lassen sich nach ihrem Tod bei sehr tiefen Temperaturen einfrieren, weil sie hoffen, daß die Medizin eines Tages in der Lage sein wird, sie wieder zum Leben zu erwecken und ihre Krankheiten zu heilen. (A.d.Ü.)

[78]Das holographische Universum. Die Welt in neuer Dimension, München: Knaur, 1994.

[79]Das Gedächtnis der Natur. Das Geheimnis der Entstehung der Formen in der Natur, München: Piper, 4. Aufl. 1998.

[80]Als die Staaten in der verfassunggebenden Versammlung darüber entschieden, wie viele Repräsentanten ein Staat in den Kongreß entsenden durfte, legten unsere Gründerväter fest, daß Schwarze für die Statistik nur als drei Fünftel eines Menschen zählten.

[81]Der Wissenschaftler und Autor hat viele ausgezeichnete, zum Nachdenken anregende Bücher veröffentlicht. Seine Theorie der »morphogenetischen Felder« stellte er erstmals in seinem Buch Das schöpferische Universum (1983) vor.

[82]Integral Press, 1995.

[83]Die innere Burg und Weg der Vollkommenheit von Teresa von Avila sind Klassiker der Literatur des christlichen Mystizismus.

[84]Aus dem Spanischen übertragen von Cornelia Capol, vgl.: Johannes vom Kreuz: Sämtliche Werke, Band 2, Johannes-Verlag Einsiedeln, 4. Aufl., Freiburg 1992.

[85]Mamas ist in ihrer Sprache das Wort für Priester und Priesterschaft und hat nichts mit der Bedeutung des Wortes »Mama« in unserer Sprache zu tun.

[86]Das männliche Geschlechtshormon, das in den Hoden produziert wird und das man mit Gesichtsbehaarung, aggressivem Verhalten und einer größeren Muskelmasse in Verbindung bringt.

[87]Der jüngste Eingriff in das religiöse Leben der amerikanischen Ureinwohner wurde vom amerikanischen Kongreß verabschiedet und von Präsident Jimmy Carter ratifiziert. Der American Indian Religious Freedom Act von 1978 hob verschiedene frühere Gesetze auf, die Schwitzhüttenzeremonien und Sonnentänze zu Staatsverbrechen erklärt hatten, billigte dem Staat jedoch weiterhin die Kontrolle über die religiösen Praktiken der amerikanischen Ureinwohner zu.

[88]Der Irrtum der Marxisten und Kommunisten bestand darin, daß sie »Reichtum« im Sinne von Waren, Dienstleistungen und Kapital interpretierten, und diese folglich zu kontrollieren versuchten. Sie haben nicht verstanden, daß der »Reichtum« der älteren Kulturen Sicherheit, Geborgenheit und die tägliche Erfahrung des Heiligen bedeutete: die Wurzeln der menschlichen Bedürfnisse. Diese Bedürfnisse (und vor allem das Bedürfnis nach Kontakt mit dem Heiligen) sind in einer sozialen Gruppe von der Größe einer Nation oder eines Staates nur sehr schwer zu befriedigen. Das Konzept »Jeder nach seinen Fähigkeiten; jedem nach seinen Bedürfnissen« gehört zu den Fundamenten der älteren Kultur, aber weil die Kommunisten versuchten, es im Rahmen einer jüngeren Kultur umzusetzen, waren sie von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Bei ihrem Versuch, den materiellen Reichtum umzuverteilen, schufen sie lediglich innerhalb der jüngeren Kultur eine neue Klasse herrschender Reichtums-Kontrolleure: die Bürokraten.

[89]München, Goldmann, 1996.

[90]Kürzlich hat mich der Moderator in einer landesweit ausgestrahlten Radio-Talkshow aufgefordert, ihm »auch nur einen einzigen Grund zu nennen, warum es mich im geringsten kümmern sollte, daß in Haiti Menschen sterben.«

[91]Es gibt fossile Funde, die darauf hindeuten, daß der Homo erectus mehrere Millionen Jahre lang in Stammesgemeinschaften gelebt und Feuer benutzt hat, und seitdem hat man bei Ausgrabungen aus der Frühzeit des Menschen immer auch Hinweise auf Feuerstellen gefunden.

[92]Es ist interessant, darüber zu spekulieren, welche Auswirkungen das Fernsehen auf das Entstehen einer »nationalen« oder »globalen« Gemeinschaft hat – die in vielfacher Hinsicht ein Produkt der Interessen der Sender und ihrer Sponsoren ist. Eine Untersuchung nach der anderen hat gezeigt, daß Menschen, die vier bis fünf Stunden täglich vor dem Fernseher verbringen, immer stärker die Verbindung zu ihren lokalen Gemeinschaften verlieren. In einem Artikel, der vor ein paar Jahren in der Zeitung The Wall Street Journal erschien, wurde dieses Phänomen als »Tod der Kegelvereine« bezeichnet, und aufgrund der Konkurrenz durch das Fernsehen erleben auch viele traditionelle Wohltätigkeitsorganisationen einen bedrohlichen Mitgliederschwund.

[93]Einzelheiten über solche Gemeinschaften finden Sie in dem Buch von Sun Bear Black Dawn, Bright Day, New York: Fireside Books, 1992.

[94]Vgl. Carolyn Shaffer und Kristin Anundsen, Creating Community Anywhere, New York: Tarcher/Putnam publishers, 1993; Communities Magazine, Alpha Farm, Deadwood, OR 97430, USA; Communities Directory: A guide to cooperative living, Fellowship For International Community, PO Box 814, Langley, WA 98260, USA.

[95]Rochester, VT: Schenkman Books, 1995.

[96]Ein Aufkleber, den man auf vielen Stoßstangen amerikanischer Autos findet, trägt den Spruch: »Wer mit den meisten Spielsachen stirbt, ist der Sieger«, was ein beredtes Zeugnis für diese »Konsumreligion« ablegt. Beachten Sie dabei den Hinweis auf den Tod, der ganz klar in den Bereich religiöser Überzeugungen gehört.

[97]Worldwatch Institute, 1776 Massachusetts Ave. NW, Washington, DC 20036, USA.

[98]Cultural Survival, 96 Mount Auburn St., Cambridge, MA 02138, USA.

[99]Earth Save, 706 Frederick St., Santa Cruz, CA 95062, USA.

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