Cover
Portrait

Lisa Alther, 1944 in Tennessee geboren, hat in Boston studiert und lebt heute in Vermont. Nach «Hautkontakte» und «Als das Paradies verlorenging» ist dies ihr dritter Roman.

Sie ist fünfunddreißig, Krankenschwester in der Unfallstation, und vor den Schrecken der Welt dreht sich ihr täglich die Seele um. Sie hat jedes Beruhigungsmittel probiert: Ehe und Mutterschaft, Feminismus und Gott, Arbeit, Alkohol und wahre Liebe – doch nach einer Weile überkommt das innere Schwarzgrau sie immer wieder. Kurz, Caroline, deren Beruf und Geschichte das Helfen ist, muß eingestehen, daß sie selbst Hilfe braucht. In der Psychotherapeutin Hannah findet sie eine ältere Frau, die sich als so stark, so hartnäckig und so einfühlsam erweist wie sie selbst. Gemeinsam erkunden sie einen Weg, Carolines depressiven Blick, der nur düstere Töne wahrnahm, zu öffnen für die Farben der wirklichen Welt.

neue frau
herausgegeben von
Angela Praesent

Lisa Alther

Schlechter als morgen,
besser als gestern

Roman

Aus dem Amerikanischen
von Adelheid Zöfel

Rowohlt

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel «Other Women»
bei Alfred A. Knopf, New York
Umschlagentwurf Isa Petrikat-Velonis
Foto der Autorin Kristin V. Rehder
Deutsche Erstausgabe

39.–46. Tausend Mai 1990

Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg, Juni 1987
Copyright © 1987 bei Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Copyright © 1984 by Lisa Alther
Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
1280-ISBN 3–499–15942–2

Für Nancy Magnus

«Ist das Leben so erbärmlich? Sind es nicht vielmehr
deine Hände, die zu klein sind, deine Sicht,
die zu verschwommen ist?
Es ist an dir, erwachsen zu werden.»

Dag Hammarskjöld

INHALTSeite
Teil I 
Kapitel 17
Kapitel 229
Kapitel 346
Kapitel 471
Kapitel 591
Kapitel 6128
Teil II 
Kapitel 1138
Kapitel 2162
Kapitel 3190
Kapitel 4209
Kapitel 5243
Kapitel 6261
Teil III 
Kapitel 1283
Kapitel 2307
Kapitel 3319
Kapitel 4339
Kapitel 5348
Kapitel 6366

7

I

1

Caroline stellte den Motor ihres roten Subaru ab, klammerte sich mit beiden Händen ans Lenkrad und blickte über den Parkplatz zum Lake Glass hinab. Regentropfen rollten wie Tränen die Windschutzscheibe hinunter und tropften von den kahlen grauen Zweigen auf den Platz. «Gott weint», hatte sie an regnerischen Tagen in Brookline ihren jüngeren Brüdern immer erklärt. «Wegen all der traurigen und leidenden Menschen auf der Welt.» Blätter, die einmal lebendig gewesen waren, lagen jetzt in durchnäßten Haufen um die Baumstämme herum. Lake Glass sah im verblassenden Nachmittagslicht kalt aus. Man konnte sich kaum vorstellen, daß vor etwa zwei Monaten Motorboote noch Wasserskifahrer über den See gezogen hatten. Segelboote waren über ihn geglitten. Schwimmer hatten dieses trübe Gewässer durchpflügt, und Angler hatten untätig am Ufer herumgesessen. Bald würde der See zufrieren, so wie sich die chemischen Lösungen in den Reagenzgläsern damals zu Kristallen verwandelten – bei den Laborexperimenten während ihrer Schwesternausbildung in Boston.

In ihrem Traum letzte Woche war der See schon zugefroren gewesen, und überall auf dem Eis lagen Menschenköpfe verstreut, kilometerweit, die Münder weit aufgerissen zu einem tonlosen Schrei. Gesichtslose Männer in Soldatenuniform marschierten zwischen den Köpfen hindurch und blieben gelegentlich stehen, um manche von ihnen mit blutigen Äxten zu spalten. Das Eis war bedeckt mit Gehirnen und geronnenem Blut und Knochensplittern, es sah aus wie der Boden eines Schlachthofs. Caroline erwachte mit aufgerissenem Mund, ihr Haar naß von Schweiß. Einen Augenblick lang war sie unfähig, sich zu bewegen oder zu denken. 8Allmählich begriff sie, daß sie in ihrem eigenen Bett lag, in dem kleinen Holzhaus in New Hampshire, in dem sie mit Diana wohnte. Sie stand auf und ging ins Nebenzimmer. Ihre Söhne und Arnold, der junge schwarze Labradorhund, schliefen fest und atmeten deutlich hörbar. Diana und ihre Tochter Sharon schliefen oben. Caroline rieb mit dem großen Zeh bei Jackies und Jasons Etagenbett über den Fußboden. Holz, kein Eis, und die Köpfe der Jungen waren offensichtlich noch am Hals angewachsen.

Am nächsten Tag wurde ein kleiner Junge auf die Unfallstation gebracht; sein Hinterkopf war gespalten, seine hellbraunen Haare mit Blut verklebt. Sein Vater hatte ihn an den Füßen gepackt und gegen die steinerne Kante eines offenen Kamins geschlagen, weil er auf dem Teppich Dreckspuren hinterlassen hatte. Caroline starrte auf die Wunde, der Unterkiefer fiel ihr herunter, und sie war wie gelähmt. Brenda, deren Namensschild, das sie an der Tasche ihrer Uniform befestigt hatte, wie ein Ambulanzwagen aussah, war viel zu sehr damit beschäftigt, die verfilzten Haare abzuschnippeln, als daß sie Carolines Erstarrung bemerkt hätte. Aber Caroline war nun endgültig klar, daß sie etwas unternehmen mußte. Nachts in Panik aufzuwachen, das ging ja noch, aber wenn sie nicht mehr fähig war, ihre Arbeit zu machen, dann war das noch etwas anderes. Sie hatte zwei Söhne und keinen Mann, sie mußte Geld nach Hause bringen. Selbst wenn sie sich viel lieber zwischen den Fischen am Grunde des Sees gewiegt hätte, Seetang zwischen den Haaren, die Eisdecke über sich, die wie eine immer dicker werdende Haut jede Verbindung zu dieser ekelhaften Welt abschneiden würde, auf der die Menschen sich gegenseitig mit Vergnügen folterten und verstümmelten.

Ein paar Wochen davor, als sie gerade in dem Wald neben ihrem Haus Brennholz hackte, beobachtete sie einen Mann in Wasserstiefeln, einem rotkarierten Hemd und einer grünen Schildmütze, der über die braune Wiese zum Seeufer ging. Er trug einen Hügel kleiner Steine zusammen. Dann ließ er einen Stein nach dem anderen in seine Gummistiefel fallen – und stapfte in den See. Erst als sein Kopf verschwand und nur noch die grüne Mütze auf dem grauen Wasser schwamm, begriff Caroline, was er vorhatte. Sie brauchte eine Weile, um ihre Bewunderung abzuschütteln, ins Haus zu rennen und den Rettungsdienst anzurufen. Mehrere Stunden lang saß sie dann auf dem Hügel und beobachtete die Taucher, die 9den Grund des Sees absuchten, amphibische Wespen mit ihren glänzenden schwarzen Taucheranzügen und den gelben Sauerstofftanks. Der Mann war schlau gewesen: dies war die tiefste Stelle des Sees. Die Felskante fiel steil ab, das eiskalte Wasser war weit über hundert Meter tief. Ein graues Polizeiboot zog langsam seine Kreise und zog Rettungshaken hinter sich her, die schneebedeckten White Mountains bildeten die Kulisse. Am Rand des Sees saßen Verwandte, die neben zerbeulten Chevrolets Kentucky Fried Chicken verspeisten. Ein mongoloides Kind torkelte am Ufer auf und ab und schrie jammervoll. Laßt ihn doch in Ruhe, dachte Caroline immer wieder. Um Himmels willen, laßt ihn in Ruhe. Sie bedauerte, daß sie überhaupt jemanden gerufen hatte.

 

Würde es wie ein Unfall aussehen, überlegte sie sich, wenn sie ihren Motor auf Hochtouren brächte und quer über den Parkplatz rasen würde, über die Klippen hinaus und in den See? Dann mußte sie an Jackie und Jason denken. Der hoch aufgeschossene, dünne, schüchterne Jackie, dessen Gelenke so beweglich waren wie die eines Hampelmanns und dessen Stimme sich jetzt manchmal überschlug. Und Jason, gebaut wie ein Panzerwagen und mit der entsprechenden Persönlichkeit. Jackson war völlig mit seiner zweiten Frau und mit neuen Kindern beschäftigt. Jackie und Jason hatten niemanden außer ihr. Sie müßte die beiden ebenfalls umbringen. Aber sie hatte viel zuviel Zeit und Mühe darein investiert, sie die ganzen Jahre über am Leben zu halten. Es käme ihr genauso unnatürlich vor, wie jeden September vor dem ersten Frost die grünen Tomaten zu pflücken.

Bevor Jackie und Jason existierten, nach Arlene und vor Jackson (sie benannte die verschiedenen Phasen ihres Lebens nach den Personen, die jeweils ihre Tage unterbrochen und ihre Träume beherrscht hatten; zur Zeit war sie gerade in ihrer Diana-Phase), hatte sie sich immer versichert, sie könne ja, falls die Abendnachrichten allzu schlimm würden, einen frühzeitigen Abgang machen. In ihrem Appartement in der Commonwealth Avenue standen auf der Kommode in Reih und Glied die Pillenflaschen, die sie aus dem Vorratsschrank des Massachussetts General Hospital gestohlen hatte, und sie betrachtete sie immer nachdenklich, wenn die Ereignisse auf der Unfallstation zu erdrückend wurden. Aber die Ankunft von Jackie und Jason hatte diesen Fluchtweg verriegelt. Sie 10hatte die Pillen noch, aber sie waren jetzt im Schrank verstaut, außer Reichweite der Kinder. Sie konsultierte die Flaschen nicht mehr täglich, um zu entscheiden, ob sie weiterhin an einer dermaßen enttäuschenden Welt teilhaben wollte.

Sie hatte alle üblichen Betäubungsmittel versucht: Ehe und Mutterschaft, Apfelkuchen und Monogamie, Bigamie und Polygamie; Konsumrausch, Kommunismus, Feminismus und Gott, Sex, Arbeit, Alkohol, Drogen und die wahre Liebe. Jedes Mittel tat eine Weile seine Wirkung, aber letztendlich hatten sie alle versagt und die Verzweiflung nicht wirklich besiegen können. Das einzige Mittel, das sie noch nicht ausprobiert hatte, war Psychotherapie. Leute, die in sozialen Berufen arbeiteten, sollten sich eigentlich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Aber sie hatte sich neuerdings eingestehen müssen, daß sie nichts hatte, woran sie ziehen konnte. Deshalb saß sie hier auf dem Parkplatz des Therapiezentrums Lake Glass, plante ihren Selbstmord und war zu spät dran für ihren ersten Termin.

Sie stieg aus und ging an einem kupferfarbenen Mercury vorbei, dessen Rücklicht zerbrochen war. Rote Glasstückchen knirschten unter ihren Stiefeln, als sie zum Eingang des großen graubetürmten Gebäudes ging, das als Gästehaus gedient hatte, als die Stadt zu Beginn des Jahrhunderts noch eine Sommerkolonie für Boston gewesen war.

 

«Ich habe einen Termin bei Hannah Burke», sagte eine junge Frau mit schwachem irisch-Bostoner Akzent zu Holly, der Sprechstundenhilfe.

Hannah, die hinter Holly stand, blickte von ihrem Telefongespräch auf. Der Mund der Frau war angespannt, ihr Blick unruhig und verwirrt. Mein Gott, so viel Schmerz, dachte Hannah. Aber immerhin ist sie attraktiv, wenn ich sie mir jetzt wer weiß wie viele Monate lang ansehen muß. Die Frau kam ihr bekannt vor, aber Hannah konnte sie nicht einordnen. Sie legte die Hand auf den Telefonhörer und sagte: «Tag, ich bin Hannah. Ich komme gleich.» Sie erinnerte sich an die Stimme der Frau von ihrem Telefongespräch letzte Woche – leise, höflich, entschuldigend … und ein bißchen angriffslustig. Nachdem sie um einen Termin gebeten hatte, sagte Hannah eine Weile nichts und wartete ihre eigene Antwort ab. Sie wußte nie genau, warum sie Leuten zu- oder 11absagte. Vermutlich ein instinktives Gefühl dafür, ob sie mit jemandem arbeiten konnte oder nicht. Wenn du Fehlschläge aussortierst, bevor du sie überhaupt annimmst, kannst du deine Erfolgsrate steigern und dich kompetenter fühlen. Aber diesmal sagte sie ja. Wenn diese Frau sich die Mühe gemacht hatte, sie ausfindig zu machen, dann hatte das wahrscheinlich seine Gründe, denn Hannah glaubte nicht an Zufälle.

Außer an solche wie heute morgen, als das Rücklicht ihres neuen Mercury kaputtgegangen war. Am Telefon fragte sie, wieviel es kosten würde, das Licht zu ersetzen. Sie war auf dem Parkplatz rückwärts in Jonathans Scout gefahren, während sie versuchte, die Gereiztheit zu unterdrücken, die sie immer an den Tagen empfand, an denen ein neuer Klient kommen sollte. Es war ein rein mechanischer Vorgang: Ihre Alltagsroutine wurde durch ein unvorhersagbares Element durchbrochen. Aber jedesmal war dieses Gefühl der Gereiztheit sehr real und persönlich, und heute morgen hatte sie sich sehr ungeduldig gefühlt, weil die Stimme der Frau am Telefon so schüchtern geklungen hatte. Gehörte sie zu den Frauen, die einen aufforderten, auf ihnen herumzutrampeln, und die sich dann über die Stiefelabdrücke auf ihrem Rücken beschwerten?

Sie warf einen Blick auf Caroline. Groß und schlank. Leicht grau werdender Afro-Look. Schön gebräunte Haut. Vom Skifahren oder von einer Reise in den Süden? Eine Frau, die viel Zeit und Muße hat? Soviel Glück sollten wir alle mal haben. Fühl dich hier nicht als Märtyrerin, sagte sie sich selbst. Deine Arbeit macht dir Spaß, ganz abgesehen davon, daß du nicht gerne auf der Straße verhungern würdest. Ein dunkelblauer Parka und Frye-Stiefel, verwaschene Jeans und ein kariertes Flanellhemd. Eine winzige Seemöwe aus Elfenbein an einer goldenen Kette um den Hals. Diese Kleidung ist zu jugendlich für sie. Sie sieht aus wie eine Studentin, aber sie ist mindestens fünfunddreißig. Wo ist sie steckengeblieben? Und weshalb? Bitte nicht noch ein verblühtes Blumenkind. Sie hatte heute morgen schon eines hier gehabt – Chip, eine Kreuzung aus Che Guevara und Peter Pan, ein bärtiges Überbleibsel aus den siebziger Jahren, im Overall, der sich in seinen abgewrackten Idealismus hüllte wie in Landstreicherlumpen. Konstant unglücklich, weil die Welt in den letzten fünfzehn Jahren nicht besser geworden war, nur weil er das wünschte. Er schien zu glauben, daß er seine eigenen Angelegenheiten nicht in Ordnung 12bringen konnte, ehe er nicht die ganze Welt in Ordnung gebracht hatte.

Die Frau stand da, Hände in den Hüften, das Gewicht auf ein Bein verlagert. Vermutlich lesbisch. Mal sehen, wie lange es dauert, bis sie mir das mitteilt. Mal sehen, ob sie es weiß.

Hannahs Augen registrierten Informationen, so wie eine Glucke den Himmel nach Habichten absucht. Dieses Bedürfnis, zu jedem Zeitpunkt zu wissen, was vor sich geht, war erschreckend in seiner Unersättlichkeit. Aber sie war zu oft überrascht worden. Vier Jahre alt, und deine Mutter stirbt an Typhus. Mit fünf vom Vater verlassen. Neunzehn, und dein Mann fällt im Krieg. Zwei Kinder tot im Bett: Kohlenmonoxyd. Keine Überraschungen mehr in ihrem Leben, wenn sie es vermeiden konnte. Was, wie sie wußte, nicht der Fall war.

 

Caroline fühlte sich von den blauen Augen der Frau durchbohrt. Ihr Ausdruck war nicht unfreundlich, nur unnachgiebig. Ähnlich wie ihre Stimme am Telefon letzte Woche. Ein etwas strenger britischer Akzent. Diese Frau machte nicht viele Umstände. Sie hatte hier in der Stadt einen guten Ruf. Mehrere Krankenschwestern, mit denen Caroline und Diana zusammenarbeiteten, hielten Hannah Burke für die absolute Superfrau. Aber Caroline hatte eine Mischung aus Mary Poppins und der drallen Pfannkuchentante Jemima erwartet, nicht eine grauhaarige Hausfrau in einem Hosenanzug aus Polyester und mit dem Blick einer Polizeiinspektorin.

Ich kann ja jederzeit aufhören, versicherte Caroline sich selbst. Eine miese Stunde, und ich verschwinde auf auf Nimmerwiedersehen. Wenn sie nur ein einziges Mal von sich als «Heilerin» spricht, dann bin ich weg wie der Blitz. Letzte Woche, im Gesundheitszentrum in der umgebauten Gerberei oben in der Stadt, hatte ein bärtiger Mann, der ein T-Shirt mit der Aufschrift «Love me – I'm Italian» trug, sie mit einem bedeutungsvollen Lächeln angeblickt: «Ich höre, was du sagst, Caroline. Danke, daß du mich teilhaben läßt. Ich habe wirklich ein gutes Gefühl, was diese Sitzung angeht. Wie war es für dich?»

Bitte, lieber Gott, laß mich hier raus, hatte sie gebetet. Und der liebe Gott hatte sie erhört. Aber nur, um sie jetzt hier bei dieser Frau landen zu lassen, die Augen wie blaue Laserstrahlen hatte und die sich gerade ihre zweite Zigarette anzündete. Sie rauchte eine dünne 13braune Marke und hustete, als würde sie sich um eine Rolle in einem Werbespot für Staublunge bewerben. Sie hatte also offensichtlich ihr Leben auch nicht so ganz im Griff. Außerdem war sie klein. Mit der werde ich schon fertig.

Eine Sirene ging in ihrem Kopf los. Das gleiche hatte sie sich gesagt, als sie Arlene und Diana und Jackson und David Michael das erste Mal sah. Die Tatsache, daß sie sich gut zureden mußte, war schon ein Anzeichen dafür, daß sie ihre Zweifel hatte. Und sie war mit den andern ja auch nicht «fertig geworden» – sie hatten alle ihr Leben ziemlich einschneidend durcheinandergebracht.

Caroline folgte Hannah einen dunklen Flur entlang, an mehreren geschlossenen Türen vorbei. An Hannahs Tür hing ein Schild, auf dem stand «Bitte beim Rauchen nicht stören». Caroline ließ sich auf eine braune Tweedcouch fallen und blickte sich um: Stapel von Büchern und Papieren auf dem Schreibtisch und auf den Bücherregalen. Fotos von mehreren blondköpfigen Kindern mit Zahnlücken an einer Pinnwand aus Kork, dazu ein Durcheinander von Glückwunschkarten, Notizzetteln, Kinderzeichnungen und Bildern, die aus Zeitschriften herausgerissen waren. An den weißen Wänden hingen verschiedene Sachen: ein primitives Gemälde mit einem unheimlich aussehenden kleinen Dämon oder dergleichen, ein abstraktes Schwarzweiß-Foto. Die Farne, die in dem Fenster mit dem kunstvollen viktorianischen Rahmen und den orangekarierten Vorhängen hingen, sahen welk und farblos aus. Wenn Musik von Bach Pflanzen zum Wachstum anregte, ließ sie dann das Elend, das sie sich den ganzen Tag anhören mußte, verkümmern? Caroline unterdrückte das Bedürfnis, anzubieten, sie mit nach Hause zu nehmen, in die Sonne zu stellen und mit Fischemulsion zu versorgen.

Hannah setzte sich auf einen gepolsterten Schreibtischstuhl aus Metall und legte die Füße auf einen Rohrschemel. Ihre Hände hingen über die Armlehnen hinab, zwischen zwei Fingern hielt sie eine braune Zigarette. Caroline wußte, daß es unangebracht war, zu beschreiben, was Rauchen ihren Lungen antat und wie Raucher auf die Unfallstation gestolpert kamen und Blut husteten.

«Dann erzählen Sie mal, warum Sie hier sind.»

Vermutlich aus dem gleichen Grund wie alle andern auch, dachte Caroline. Die Welt ist ein einziges Chaos, und ich wäre am liebsten tot. «Na ja, ich war in letzter Zeit oft depressiv.» Sie überlegte, wie 14sie die Atmosphäre in ihrem Kopf vermitteln konnte. An dem Morgen, nachdem Diana beschlossen hatte, daß sie nicht mehr miteinander schlafen sollten, war sie in der Dämmerung aufgewacht, allein in ihrem Doppelbett, und hatte den perlmuttfarbenen Himmel betrachtet, der feuerrot gestreift war. Und sie hatte an die entzündeten Wunden eines kleinen Mädchens gedacht, das am Tag davor auf der Unfallstation eingeliefert worden war: Ihr Vater hatte sie mit Zigaretten verbrannt. Nachdem sie die schlimmen Wunden gesäubert und verbunden hatte, machte sie Vorschläge, mit welchen anderen Methoden man das Baby dazu bringen konnte, mit dem Weinen aufzuhören, und der Vater war davongestapft, beleidigt. Caroline hatte seither mehrere Nächte von einer endlosen Eisfläche geträumt, in der die abgeschnittenen Gliedmaßen kleiner Kinder eingefroren waren. Letzte Woche war diese Eisfläche mit zerschmetterten Menschenköpfen bedeckt gewesen. Sie war völlig am Ende. Sie hatte so abgenommen, daß Knochen sichtbar wurden, deren Existenz ihr bis dahin nicht bewußt gewesen war.

Schwächling! fuhr sie sich selbst an. Krieg, Hungersnot, Atomwaffen, Folter. Nur Idioten waren in einer solchen Welt nicht depressiv. Immer wenn sie oder einer ihrer Brüder als Kinder herumjammerten, fuhr ihre Mutter mit ihnen zur Heilsarmee in Dorchester. Sie schauten zu, wie die Hungernden und Heimatlosen ankamen, und ihre Mutter erkundigte sich dann immer streng: «Und ihr denkt, ihr habt Probleme?»

 

Hannah zog an ihrer Zigarette und beobachtete, wie der Kampf begann – der Kampf einer neuen Klientin zwischen dem Wunsch, ihr zu vertrauen und vielleicht Hilfe von ihr zu bekommen, und der Angst, verletzt zu werden, auf Grund früherer Erfahrungen. Caroline saß da, die Beine übereinandergeschlagen und die Arme vor der Brust verschränkt. Sie hatte nicht die geringste Absicht, jemanden an sich heranzulassen.

«Wie sehen Ihre Depressionen aus?» fragte Hannah.

Caroline betrachtete Hannah aufmerksam, die eine riesige Rauchwolke ausatmete. Wenn sie wußte, was Depressionen sind, dann wußte sie doch Bescheid. Bezahlte sie teures Geld dafür, nur um diese Expertin hier über Depressionen aufzuklären? «Ich träume schlecht. Ich wache mitten in der Nacht naßgeschwitzt auf und kann nicht wieder einschlafen. Ich habe ein nagendes Gefühl in 15der Magengegend, fast die ganze Zeit über. Ich heule wegen blöder Kleinigkeiten. Ich fahre die Leute an, die ich gerne mag. Ich liege mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden und kann mich nicht bewegen. Ich komme mir vor wie eine Eiterblase, die jemand aufstechen sollte.» Sie sah aus dem Fenster ihr gegenüber, an den kränkelnden Farnen vorbei, auf den grauen See. Vielleicht wanderte der Typ in seinen Gummistiefeln noch irgendwo da unten herum. Die Versuchung, ihn auf diesem Spaziergang zu begleiten, war stark.

Und ob, dachte Hannah, das hört sich wie die große Depression an. «Erzählen Sie mir von Ihrer Familie, als Sie ein kleines Kind waren.»

Caroline runzelte die Stirn. Offensichtlich hatte sie nicht vermitteln können, wie miserabel sie sich fühlte. Ging das denn überhaupt? Entweder versteht jemand, wovon du redest, oder nicht. Hannah Burke verstand offenbar nicht, oder sie würde nicht so neutral reagieren. Familie? Wenn sie sich in dieser ganzen Freud-Scheiße wälzen wollte, dann wäre sie zu einer Psychoanalytikerin gegangen. Ihr Elend hatte damit zu tun, daß sie in diesem Höllental von Welt eingesperrt war, und zwar lebenslänglich. Sie begann mit monotoner Stimme von ihrer Geburt im Zweiten Weltkrieg zu erzählen, von der Abreise ihres Vaters in den südlichen Pazifik, von seiner Gefangennahme durch die Japaner und von der Arbeit ihrer Mutter beim Roten Kreuz.

Hannah bemerkte, daß sie den Hebel bediente, der es ihr an guten Tagen erlaubte, zuzuhören, ohne das Gesagte auf sich zu beziehen. Sie schob die Details von Carolines Kindheitserfahrungen beiseite, als würde sie Mais enthülsen und sich dabei auf den Kolben als Ganzes und nicht auf die einzelnen Maiskörner konzentrieren. Unruhe und Veränderungen, ein abwesender Vater, eine reservierte, nervöse, überanstrengte Mutter, jüngere Geschwister, die Caroline zu bemuttern versuchte, eine Reihe melancholischer Hausmädchen. Keine ungewöhnliche Geschichte für Carolines Klasse und Generation.

Caroline hatte ihre Haltung der höflichen Langeweile aufgegeben und strengte sich an, sich zu erinnern, was ihr über die drei Jahre erzählt worden war, als ihr Vater auf der anderen Seite des Globus kämpfte und sich in Kriegsgefangenschaft befand. «... meine Mutter sagt immer, was für ein braves Kind ich gewesen 16sei, tagsüber. Ich saß so still im Gras, daß die Bienen mir über die Finger krabbelten und die Kekskrümel inspizierten, ohne mich je zu stechen. Sie steckte mich in eine Babyhüpfschaukel, im Türrahmen aufgehängt, und ich hing einfach nur da, hielt meine rosarote Decke fest und lutschte am Daumen. Aber mitten in der Nacht schrie ich dann wie am Spieß.»

Caroline hörte auf zu reden, um die Frau anzusehen, die sie mit diesen eisigen blauen Augen ansah. In ihrem dunkelblauen Hosenanzug sah sie aus, als käme sie direkt aus einem Bridgezirkel. Scheiße, diese blöde Selbstbespiegelung. Millionen von Menschen verhungern da draußen, und ich quatsche einer Ausländerin die Ohren voll, weil es mir nicht so besonders gut geht. Was hat mein Verhalten im Laufstall mit dem Aufkommen des Faschismus in Westeuropa zu tun? Diese Frau ist viel zu bürgerlich. Sie würde ja überhaupt nicht begreifen, was ich meine, wenn ich sagen würde: ‹Ich kann diese Welt nicht ausstehen. Ich habe keine Lust, mich besser anzupassen. Ich möchte mich nur einfach wohler fühlen mit meiner Nicht-Anpassung.›

«Ich bin lesbisch», verkündete Caroline, und sie hörte sich bestimmter an, als sie sich fühlte, weil ihre Beziehung mit Diana auch nicht besser funktioniert hatte als die mit Jackson oder David Michael.

Hannah zuckte mit den Schultern. Ach ja, dachte sie, und was gab's zum Frühstück? Plötzlich fiel ihr ein, woher ihr Caroline bekannt vorkam: vom Fernsehen und aus den Regionalzeitungen; sie hatte sich vor ein paar Jahren bei den staatlichen Behörden für das Recht auf Abtreibung eingesetzt. Sie war von Caroline beeindruckt gewesen, wie sie da auf den Stufen des Regierungsgebäudes in Concord gestanden hatte, die Sonne in den Augen, und den aggressiven Spott ihrer Gegner mit Humor und Überzeugung zurückgewiesen hatte.

«Wäre das für Sie ein Problem?» fragte Caroline. Jemand derart Bürgerliches war bestimmt entsetzt angesichts der Vorstellung, jede Woche mit einer leibhaftigen Perversen festzusitzen.

Ist das für dich ein Problem, überlegte sich Hannah, spitzte die Lippen und schüttelte den Kopf. Homosexuelle schienen immer zu glauben, daß diese Enthüllung unglaublich bedeutungsvoll sei. Vermutlich für sie selber. Vermutlich hatten sie sich alle damit schon einige Zurückweisungen eingehandelt.

17

«Wie alt fühlen Sie sich?» fragte Hannah. Sie hatte sich gerade Caroline als das verängstigte Kind vorgestellt, den Schrecken einer Welt, in der Krieg herrschte, und den Ängsten des vaterlosen Haushalts ausgesetzt; ein Kind, das verschiedenen Hausmädchen übergeben wurde, das versuchte, still und ruhig und brav zu sein, damit jemand es mochte. Hannah dachte an ihre eigenen Babies, die über ihre angeschwollenen Brüste hinweg mit dunkelblauen Augen nach ihrem kleinen Finger griffen, zahnlos lächelnd, und die nur einen Wunsch hatten: zu bewundern und bewundert zu werden. Die Babies, die nicht fähig waren, jemanden dazu zu bringen, sich Hals über Kopf in sie zu verlieben, die sah sie jeden Tag als Erwachsene in diesem Sprechzimmer. Dieses eine Problem jedenfalls hatten ihre Kinder nicht gehabt, gleichgültig, in welcher Hinsicht sie sie später im Stich gelassen hatte.

Hannah zündete sich noch eine Zigarette an und schaltete ihre Gefühle ab. Sie blickte aus dem Fenster neben der Couch zu dem kaputten Rücklicht an ihrem neuen Mercury. Es war ein Gefühl wie damals, als Simon Nigels Babyschneidezahn einschlug, weil sie um ein Dreirad stritten – Hannah hatte akzeptieren müssen, daß ihr perfektes kleines Menschenbündel von der Welt des Verfalls eingeholt worden war. «Instandhaltung», behauptete Arthur, ihr Mann, oft. «Das Leben ist nichts weiter als Instandhaltung.» Jonathans Scout war ohne einen Kratzer davongekommen. Ein unbekannter Subaru-Combi mit dem Aufkleber «Club Sandwiches not Seals» stand neben ihrem Mercury.

Caroline starrte Hannah an, verwirrt. Entsetzen angesichts ihrer Perversion – ja. Empörung, Angst, Neugier. Aber nicht Gleichgültigkeit. Sie versuchte, sich vorzustellen, wie alt sie war. «Ich komme mir vor, als wäre ich siebzehn, gefangen in einem fünfunddreißigjährigen, zerfallenden Körper.»

Hannah betrachtete Caroline, die ihre Oberarme jeweils mit der anderen Hand umklammerte. Ruhig, still und brav. Witzig und unauffällig. Folgsam und unterhaltsam. Das würden ihre Taktiken sein. Die Aggression und die Wut waren in den Untergrund gegangen, wo sie ein Loch bis nach China sprengen könnten.

«Versuchen Sie es einmal mit elf, fast zwölf.» Sie wußte, sie konnte es sich nicht leisten, Caroline zu sagen, daß sie emotional vermutlich anderthalb Jahre alt war. Allerdings nicht auf den Stufen des Regierungsgebäudes 18in Concord. Dort war sie dreißig gewesen, durch und durch. Diese beiden Seiten lebten nebeneinanderher. Das Kunststück war jetzt, sie miteinander bekannt zu machen.

Caroline runzelte die Stirn. Elf? Und dafür zahle ich 35 Dollar pro Stunde? Was hat diese Bridge spielende Ziege für Vorstellungen? Diese bescheuerten, spießigen Hausfrauen mit ihrem langweiligen kleinen Einbauküchenleben. Caroline kannte sich da sehr gut aus: die Segelyachten auf dem See, die Flirts auf den Cocktailparties, die Aufmerksamkeit, die darauf verschwendet wurde, Blumenschmuck und Tischsets aufeinander abzustimmen, die Kindergruppen, die Chauffeurdienste und die Kaffeekränzchen. Sie hatte das acht Jahre lang mit Jackson in Newton praktiziert. Und das Ergebnis war, daß sie bewegungslos mit dem Gesicht nach unten auf dem feudalen, roséfarbenen Wohnzimmerteppich lag und sich mit dem Gedanken quälte, wie korrupt ein solches Leben sei, wenn gleichzeitig amerikanische Panzer durch den kambodschanischen Dschungel rollten. Jackie und Jason zogen sie an den Haaren, steckten ihr Bauklötze in die Ohren und turnten auf ihr herum, aber sie war zu sehr damit beschäftigt, sich vorzustellen, wie amerikanische Hubschrauber Napalmbomben auf vietnamesische Kinder abwarfen, als daß sie auf ihre eigenen Kinder hätte eingehen können.

«Sind Sie froh, daß Sie gekommen sind?» fragte Hannah mit einem Lächeln. Sie mußte zeigen, wer hier Regie führte, wenn die Show überhaupt zustande kommen sollte. Auf den Stufen des Regierungsgebäudes konnte Caroline bestimmen, wo's langging, aber hier in diesem Sprechzimmer war das Hannahs Aufgabe. Eine Person, die im Begriff war, einen Sumpf zu erforschen, mußte wissen, daß ihre Kundschafterin in etwa eine Vorstellung hatte, wo die Krokodile versteckt waren, oder sie würde zuviel Angst davor haben, auch nur einen Anfang zu machen.

Hannah merkte, daß sie bald ein Lächeln oder ein Ja aus Caroline herauslocken mußte, oder sie würde nicht wiederkommen. Normalerweise war es ihr gleichgültig, ob die Leute wiederkamen, aber sie empfand Carolines schüchterne Widerspenstigkeit als Herausforderung. Sie wurde dadurch an ihre eigene Einstellung im gleichen Alter erinnert, nach dem Tod der Kinder, als sie die Faust gegen das All erhob und trotzig von ihm eine Sinngebung gefordert hatte. Aber jetzt wußte sie, daß es schlicht nicht nötig war, mit Carolines gegenwärtigem Ausmaß an Elend zu leben.

19

«Ihre Mutter hat Ihnen erzählt, daß Sie nachts oft geschrien haben?»

«Ja.» Dies war die zusammenhangloseste Unterhaltung, die Caroline je geführt hatte. Wie konnte ihr das helfen, sich besser zu fühlen, wenn sie nicht einmal folgen konnte?

«Es ist Ihnen schon klar, daß das nur die Version Ihrer Mutter ist? Vielleicht haben Sie nur ein paarmal, wie alle Babies, geschrien, aber ihr kam es so vor, als wäre es dauernd, weil sie so beschäftigt und müde und einsam und verängstigt war.» Die Jahre, als ihr eigenes Haus voll mit kleinen Kindern war, erschienen ihr in der Erinnerung wie eine einzige, endlose Nacht voll kindlicher Alpträume, Tränen und Erbrochenem.

Hannah beobachtete, wie sich auf Carolines angespanntem Gesicht der Kampf, die Wahrheit über die eigene Vergangenheit herauszufinden, zeigte. Aber die gab es nicht – es gab nur Carolines persönliche Wahrheit, die sie mit niemandem teilte und die aber trotzdem für sie Geltung hatte.

Auf einmal kam es Caroline so vor, als sei Hannah auf ihrer Seite. Das regte sie auf, denn sie hatten keinerlei Gemeinsamkeiten. Sie konnte nicht einmal Bridge spielen.

«Wie sind Sie auf mich gekommen?» fragte Hannah.

«Sie sind so ziemlich die einzige Therapeutin hier, die ich nicht schon kenne. Und die meisten anderen sind in noch schlechterer Verfassung als ich.»

Hannah lächelte leicht und blickte zur Uhr auf ihrem Schreibtisch. «Und wie finden Sie nun die Vorstellung, mit mir zu arbeiten?»

«Wie finden Sie's?» Caroline war keinesfalls bereit, als erste Interesse zu bekunden. Eine ihrer frühesten Erinnerungen galt Maureen, dem Hausmädchen aus Galway mit den orangefarbenen Haaren, die sie in ihrem Kinderbett anzischte: «Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben.» Caroline wußte nicht mehr, was sie gewollt hatte, aber sie hatte inzwischen gelernt, daß man nicht zeigen sollte, was man will, weil man dann den andern um die Genugtuung bringt, es einem vorzuenthalten. Man hatte sowieso kein Recht, überhaupt irgend etwas zu wollen, wenn man ein Essen auf dem Tisch und ein Dach über dem Kopf hatte, während die Hälfte der Menschheit nicht einmal das hatte.

«Ich fühle mich ganz wohl mit Ihnen», sagte Hannah.

20

Caroline blickte auf. Langsam löste sie ihre Arme und Beine und ließ die Arme neben sich auf der Tweedcouch ruhen. «Na ja, ich glaube, ich überlege es mir noch einmal und rufe Sie dann an.»

«In Ordnung.» Hannah unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte gerade von Carolines Körper ein Ja bekommen, denn ihre gelockerte Körperhaltung drückte jetzt aus: «Meinetwegen, ich probier's mal, aber es hilft ja doch nichts.»

Hannah erwiderte wortlos: Doch, es hilft. Du weißt es nur noch nicht.

 

Als Caroline aus dem Parkplatz herausfuhr, schob sie eine Kassette aus der Krankenhausbibliothek über die neuesten Entwicklungen in der Verbrennungstherapie in ihren Kassettenrecorder. Der Sonnenuntergang, purpurrote und violette Kleckse, wurde im Lake Glass wie in einem Spiegel reflektiert, weshalb der See ja auch von den Trappern und Holzfällern im 18. Jahrhundert diesen Namen erhalten hatte. Touristen bestaunten diese Sonnenuntergäng, aber Caroline mußte die Augen zusammenkneifen, um auch nur einen mit ansehen zu können. Weil der Himmel so aussah, wie sich ihr Gehirn anfühlte – wund und zerstückelt, ein Stück rohes Fleisch, das mit einem Fleischklopfer platt geschlagen worden ist. So hatte sie sich oft gefühlt. Aber es hatte ja auch genügend Gründe gegeben, sich elend zu fühlen: die Rassenunruhen in Selma und Watts, die Ermordung der vier Studenten in Kent State, und Watergate.

Zu spät bemerkte sie, daß sie das Stopzeichen an der Einfahrt zur Seestraße überfahren hatte. Ein Fahrer, der über die Kreuzung fuhr, hatte scharf gebremst und hupte jetzt laut. Mein Gott, sie würde sich so oder so bald selbst ins Jenseits befördern.

Dieses Therapiezeug war eine einzige Zeitverschwendung, befand Caroline, als sie den See entlang Richtung Süden nach Hause fuhr. Sie war Krankenschwester, sie konnte ihr Leiden selbst diagnostizieren: Sie lebte in einer Irrenanstalt, die sich Erde nannte. Mach was dagegen – dann ginge es ihr besser. Aber was konnte man in dieser grauenhaften Welt überhaupt machen? Sie selbst, ihre Eltern, die meisten ihrer Freunde verbrachten ihr ganzes Leben damit, die blutenden Elendswunden des Patienten Politik zu stillen. Aber immer noch tobten Kriege, herrschten Tyrannen und gedieh Folter.

Sie parkte in der Einfahrt zu dem zweistöckigen Holzhaus, das 21Diana und Mike, ihr Exmann, aus einem Baukasten riesiger Holzklötze gebastelt hatten, während ihrer Zurück-zur-Natur-Phase. Es paßte sich den Konturen des Hügels genau an, so daß beide Stockwerke ebenerdig waren und eine Aussicht über den See und die Berge hatten. Mike war vor fünf Jahren eines Tages einfach weggegangen, und zwar mit der Begründung, er müsse sich selbst finden. Er folgte seinem Stern nach Ann Arbor, wo er inzwischen ein Herrenbekleidungsgeschäft hatte.

Das Licht der untergehenden Sonne tauchte die Akazie in verschiedene Violettöne. Die aufgequollenen Wolken hinter den gekrümmten Zweigen erinnerten Caroline an die Leichen von Jonestown, die am Abend vorher in den Nachrichten gezeigt worden waren, aufgedunsen von vergifteter Limonade mit Traubengeschmack. Das war die schlimmste Tageszeit für Autounfälle und Gewalt in der Familie. Auf der Unfallstation herrschte vom Sonnenuntergang bis zum Einbruch der Dunkelheit Chaos.

Als sie die Treppen hinaufging, blieb sie abrupt stehen. Auf dem Treppenabsatz lag ein zerfetztes Bündel. Kindermord? Ein Packen mit Zeitungen von den letzten zwei Wochen? Sie versuchte, das Bündel zu untersuchen, ohne es zu berühren. Ein riesiger Vogel. Mit der Stiefelspitze drehte sie ihn um. Es war eine Kanadagans, die weiße Brust braun vom vertrockneten Blut einer Schußwunde. Sie atmete tief ein. Ihr Verhältnis zur Natur war schon immer problematisch gewesen. Ein kranker Waschbär war einmal hier aus dem Wald gekrochen gekommen, um vor ihren Füßen zu verenden. An einem Nachmittag las sie einen jungen Hund auf, der die Straße entlanghinkte, und brachte ihn zum Tierarzt, der ihr mitteilte, es handle sich um einen tollwütigen Fuchs. Schlangen verschluckten direkt neben ihr Kröten, wenn sie im Sommer im Gras lag. Eulen stürzten sich von Bäumen herab auf weghuschende Feldmäuse, wenn sie im Winter Ski lief. Im Frühling sprangen Wildkatzen auf kreischende junge Vögel, direkt unter ihrem offenen Fenster. Sie gab sich Mühe, es nicht persönlich zu nehmen.

Sie zog einen Handschuh aus und legte ihre Hand auf die Federn. Der Vogel fühlte sich kalt an. Sie hob ihn am Flügel hoch und schleppte ihn von der Treppe auf den Boden, weil sie zu müde war, um sich in der Dämmerung damit zu beschäftigen. Als sie ihre Stiefel am Türvorleger abstreifte, rief Diana, sie solle doch hereinkommen.

22

«Wußtest du, daß vor der Tür eine tote Gans liegt?»

Diana blickte auf. Sie saß auf dem Sofa und strickte einen dunkelgrünen Rollkragenpullover für Sharon. Sie trug noch ihre weiße Uniform, Hosen und Bluse, und sie sah erschöpft und zerknittert aus. Ihre lockigen roten Haare sahen noch zerwühlter aus als sonst, und unter ihren grünen Augen hatte sie dunkle Ringe. Gut. Vielleicht fiel es ihr auch schwer, allein zu schlafen.

«Ehrlich», sagte Caroline. Sie stand in der Tür und stützte sich mit der Hand gegen den Türrahmen.

«Wie denn das?» Diana ließ die Hände in den Schoß sinken.

«Keine Ahnung. Sie hat eine Schußwunde in der Brust. Ich nehme an, sie ist einfach vom Himmel heruntergefallen.»

«Scheußlich. Meinst du, das hat was zu bedeuten?»

«Flieg nicht zu nah an einem Jäger vorbei», sagte Caroline.

Diana lächelte. «Komm rein. Setz dich hin. Möchtest du einen Schluck Wein?»

Caroline zögerte und überlegte, ob sie nach unten in ihre eigene Wohnung gehen sollte. Es war nicht leicht herauszufinden, was zur Zeit zwischen ihnen erlaubt war. Ihre Beziehung hatte damit angefangen, daß sie an der Schwesternschule eng befreundet waren, dann waren sie Brieffreundinnen, während sie als die kleinen Frauen den großen Männern dienten; die nächste Stufe war, daß sie im selben Haus wohnten, und dann lebten sie als Paar zusammen – und was jetzt? Während der letzten Wochen hatte sie das Gefühl gehabt, in einem Erdbebengebiet zu leben. Eins war sicher: den ganzen Tag zusammen zu arbeiten und die ganze Nacht zusammen zu schlafen, das war zuviel des Zusammenseins gewesen. Vor allem für zwei Krankenschwestern. Sie stritten sich dauernd darum, wer den Kaffee ans Bett bringen durfte, wer während irgendwelcher Parties auf die Kinder aufpassen durfte, wer sich nachts um ein kotzendes Kind kümmern durfte. Die heilige Johanna hätte sie beide vertreiben müssen, um auf ihrem eigenen, schwer erkämpften Scheiterhaufen sterben zu können. Jesus Christus hätte sich auf Golgatha ohne Kreuz wiedergefunden: Eine von ihnen hätte seinen Platz eingenommen, während die andere seine Wunden versorgte.

Ihre Beziehung funktionierte nicht, zu dem Schluß waren sie schließlich gekommen, denn sie hatten beide das gleiche starke Bedürfnis, gebraucht zu werden. In Beziehungen mit Männern hatten sie sich beide nach Herzenslust ausbeuten lassen. Aber miteinander 23war das Leben ein konstanter Kampf, die andere an Fürsorge zu übertreffen. Das Haus füllte sich mit Glückwunschkarten. Auf den Tischen verwelkten dauernd irgendwelche Blumensträuße. Sie nahmen beide zehn Pfund zu, wegen der Süßigkeiten und Kuchen, die die andere jeweils nach Hause brachte und die pflichtgemäß verdrückt wurden, um der Spenderin eine Freude zu machen. Wenn sie sich liebten, wartete jede auf den Orgasmus der anderen, bis sie schließlich beide völlig das Interesse verloren. Sie stritten sich, wer das verkohlteste Toastbrot essen und wer als zweite duschen durfte, wenn das Wasser nur noch lauwarm war. Sie hätten sich darum gestritten, wer als letzte die Titanic oder als erste die Arche Noah verlassen durfte. Schließlich sahen sie sich gezwungen, das Problem anzugehen: Was ließ sich mit zwei Menschen machen, bei denen Rücksichtnahme zur Krankheit geworden war? Diana glaubte, zum Heilungsprozeß gehöre, daß sie lernen müßten, nicht mehr dauernd etwas füreinander zu tun, wozu auch gehörte, sich nicht mehr die Nacht hindurch in den Armen zu halten.

«Na, wie war's?» fragte Diana und reichte ihr ein Glas Weißwein.

«Sie ist ganz nett, aber ich gehe nicht wieder hin.»

Diana legte einen Arm um sie. «Ich habe dich noch nie so entschieden erlebt. Siehst du, was so ein bißchen Therapie alles bewirkt?»

Sie standen da, hatten den Arm umeinander gelegt und schauten aus dem großen Fenster über die Akazien hinweg zu dem Gebirgszug auf der anderen Seite des Sees. Seine wellenähnlichen Formen glichen einem weiblichen Torso. Früher hatte dieser Anblick schon ausgereicht, wilde Liebesszenen auf dem beigefarbigen Hirtenteppich auszulösen. Caroline stützte ihr Kinn auf Dianas Kopf. Schwer zu glauben, daß eine so kleine Person derart überwältigende Gefühle auslösen konnte. Aber für Napoleon waren Tausende selbstverständlich in den Tod gegangen. Sie merkte, daß sie Dianas große Brüste betrachtete, die sich unter ihrer Uniform abzeichneten. Das war jetzt verbotenes Terrain. Wie sollte jemand eine solche Umstellung von einem Tag zum andern fertigbringen?

«Weißt du was», sagte Caroline, «mir gefällt diese Enthaltsamkeit ganz gut. Das einzige, was mir daran nicht gefällt, ist die Tatsache, daß es keinen Sex gibt.»

Diana lachte. Sie hatte gesagt, sie hoffe, Caroline würde Geduld mit ihr haben. Vielleicht würde sie ja darüber hinwegkommen. 24Oder auch nicht. In der Zwischenzeit sollten sie auf ihre langjährige Freundschaft zurückgreifen, das Sicherheitsnetz bei einem komplizierten Balanceakt. Caroline hatte geantwortet: «Ja, natürlich können wir immer noch Freundinnen sein. Nicht gute Freundinnen, aber immerhin Freundinnen.»

«Wie ist sie?»

«Wer?» Caroline unterdrückte das Bedürfnis, den Wein über Dianas rote Locken zu kippen.

«Hannah Burke.»

«Klug. Nett. Aber bieder.» Caroline betrachtete den Wandbehang über dem Sofa, den sie vor einigen Jahren für Diana gewoben hatte. Der Garten Eden, beide Figuren waren Frauen, beide lächelnd und Äpfel essend.

«Was heißt das?»

«Auf Sicherheit und Bequemlichkeit ausgerichtet. Keine politische Analyse. Schirmt sich gegen die Wirklichkeit ab.» Caroline ließ sich neben Diana aufs Sofa fallen und schüttete sich dabei Wein auf die Hand.

«Na ja, du bestehst ja auch immer darauf, dem ganzen Horror direkt ins Auge zu blicken. Manchmal wollte ich, du würdest dir einfach die Augen ausstechen und dich ein bißchen amüsieren.»

Diana war davon überzeugt, daß Caroline ihre Depressionen genoß und als Zeichen einer höherentwickelten Wahrnehmungsfähigkeit ansah. Caroline konnte das nicht ganz leugnen. «Mit dir als Blindenführerin?» fragte Caroline und trocknete den verschütteten Wein von ihren Jeans ab.

«Genau.»

«Du weißt ja, ich wäre lieber deine Blindenführerin.»

«Ich glaube, wir haben das schon mal durchgespielt», sagte Diana. Ihr Grinsen glich der Grimasse einer Patientin, die gerade eine Spritze bekommt.

«Bis zum Erbrechen. Ach, übrigens – ich habe es ihr gleich gesagt.»

«Das ging ja schnell. Wie hat sie reagiert?»

«Es schien sie nicht besonders zu interessieren.»

«Wie enttäuschend.»

«Ja, allerdings.»

Diana stand auf. «Möchtest du einen Teller Suppe?»

«Kommt nicht in Frage. Du bemutterst mich nicht.»

25

«Ein Versuch lohnt sich immer.» Sie setzte sich wieder hin und griff nach ihrem Strickzeug.

Caroline schüttelte ihren dunkelblauen Parka ab und rutschte auf den Knien an Dianas Spinnrad vorbei, einem Überbleibsel aus den mühseligen Tagen mit Mike, als sie Schafe gehalten und ihre eigene Wolle hergestellt hatte. Caroline stellte den Fernseher an: Walter Cronkite, der Nachrichtensprecher, war dabei, das Leben von Jim Jones zu rekonstruieren. Seine Jünger nannten ihn Daddy. Während sie zum Sofa zurückkroch, erfuhr sie, daß die wichtigste Industrie in seiner Heimatstadt in Indiana Sargschreinerei war.

«Was ich nicht begreife», sagte Caroline und ließ sich aufs Sofa zurücksinken, während auf dem Fernsehschirm eine Gebißträgerin den peinlichsten Moment ihres Lebens beschrieb, «warum das alles so ein schlimmes Ende genommen hat, wo doch Jones so voll guter Absichten war.»

«Es ist wie bei Arnold», sagte Diana und kratzte sich mit der Stricknadel am Rücken. Arnold, der junge Hund, hatte Schwierigkeiten, das Prinzip der Stubenreinheit zu verstehen. «Seine Absichten schossen über das Ziel hinaus.»

Lächelnd gab Caroline Diana einen schnellen Kuß neben den Mund, ging zur Treppe und ließ Diana zurück, deren Hand mitten im Stricken einer Masche angesichts dieses abrupten Abgangs vor Verblüffung erstarrte.

Caroline schaltete die Lampe auf ihrem Nachttisch an und blickte sich im Zimmer um. Ihr Webstuhl stand in der Ecke neben einem großen Panoramafenster mit Aussicht auf Lake Glass. Außenwände aus verfugten Holzbalken, die Innenwände mit Pinienholz verkleidet. Die Räume hier unten sollten die sechs Kinder beherbergen, die Diana und Mike geplant hatten. Diana und Caroline hatten ein paar Wände eingerissen und die Zimmer in eine Wohnung für Caroline, Jackie und Jason verwandelt.

Caroline zog ihr Lanz-Nachthemd aus der Kiefernholzkommode und studierte die gerahmte Collage obszöner französischer Postkarten, die Diana für sie gemacht hatte und die an der Holzverkleidung über der Kommode hing. Ihr gutgelauntes Auftreten rutschte weg wie eine schlechtsitzende Perücke. Miss Ausgeglichenheit hinter der Bühne. Es war anstrengend, sich bei Sachen kooperativ zu verhalten, die ihr überhaupt nicht einleuchten wollten, wie zum Beispiel Therapie und Enthaltsamkeit. Aber es war nun einmal ihre 26Rolle, anderen zu helfen, damit es ihnen besser ging. Ihre Eltern kamen immer von ihrer Wohltätigkeitsarbeit erschöpft zum Essen nach Hause, und sie erzählte ihnen dann alle neuen Witze, die ihr einfielen, gleichgültig, in welcher Stimmung sie selbst vorher gewesen war. Es hatte sich gelohnt, zu beobachten, wie sie zuerst zögernd lächelten und dann lachten. Genauso befriedigend, wie zu sehen, daß die Farbe ins Gesicht des Patienten zurückkehrt, wenn sie beatmet werden.

In ihrer Wohnung war es ungewöhnlich still, weil Arnold, Jackie und Jason bei Freunden übernachteten. Das einzige, was sie hören konnte, war das Brummen des Kühlschranks und wie Diana oben Wasser in die Badewanne einlaufen ließ. Sie stellte sich Diana in der Badewanne vor, den Kopf zurückgelehnt, die Augen geschlossen, ein leises Lächeln auf den Lippen. Das Wasser stieg langsam über ihre sommersprossige Haut, die sich so glatt wie Seide anfühlte. Sie hatten oft gemeinsam gebadet, Kopf und Rücken der einen auf Brust und Bauch der anderen. Sie nahm die Goldkette mit der Seemöwe aus Elfenbein vom Hals. An einem Nachmittag letztes Frühjahr hatten Diana und sie im dichten Gras gesessen, hatten sich an der Hand gehalten und beobachtet, wie Hunderte von Möwen sich auf dem frischgedüngten Feld des benachbarten Bauern niederließen, um in Würmern und Insekten zu schwelgen. Sie hatten gemeinsam die verschiedenen Gruppierungen zu rivalisierenden Uni-Verbindungen für Frauen erklärt und sich krankgelacht über die Intrigengeschichten, die sie sich dazu ausdachten. Am nächsten Tag kam dann Diana mit der Elfenbeinmöwe aus der Stadt.

Während sie ihr kariertes Hemd aufhängte, blickte Caroline auf die Versammlung von Pillenflaschen hinten im Schrankfach. Sie schob einen Stapel Pullover, die Diana für sie gestrickt hatte, davor.

Sie ging in das dunkle Wohnzimmer, stolperte über einen Hockeyschläger und stieß mit der Zehe gegen ein Bein des zusammenklappbaren Eßtisches. Sie brauchte keinen Kalender: Sie merkte an der Sportausrüstung, welche Jahreszeit sie gerade hatten. Letzten Monat waren Fußbälle und Stollenschuhe dran gewesen. Zur Zeit schnitt sie sich an Schlittschuhkufen. Schon bald würde sie Baseballschlägern und Catchermasken aus dem Weg gehen müssen. Sie zog das Videospiel der Jungen aus dem Fernseher und trug den Apparat ins Schlafzimmer. Dann häufte sie Kissen aufeinander und kroch unter die riesige afghanische Decke 27aus goldener und brauner Wolle, die Diana für sie gestrickt hatte. Während sie in kleinen Schlucken ihren Kaffee trank, schaute sie sich einen Film über zwei Karrieremädchen an, die in New York ihr Glück versuchten. Sie merkte, daß sie den Film schon einmal gesehen hatte. Die Gutaussehende bekam Jimmy Stewart, und die andere wurde zur Redakteurin befördert. Wenn die Mädchen doch nur einmal einander kriegen würden. Aber das war vermutlich zu viel verlangt von Twentieth Century Fox. Hatte David Michael nicht einmal gesagt, daß die einem Konzern gehörten, der auch Babynahrung auf den Markt brachte? Sie schaltete um auf einen Dokumentarfilm über die Dürre in der Subsahara. Ihr Bruder Howard war gerade mit einer internationalen Hilfsorganisation im Tschad. Howard war ein schmächtiger kleiner Junge gewesen. Es leuchtete ein, daß er ein Kämpfer gegen den Hunger geworden war. Sie schaute sich die kleinen Kinder mit ihren aufgedunsenen Bäuchen und ihren fliegenbedeckten Lippen und Augen an, bis sie es nicht mehr aushalten konnte. Dann stellte sie den Apparat ab und schlief ein.

Sie träumte, sie liege in einem fauligen Sumpf, umgeben von giftigen Schlangen, ihre Augen und Lippen mit Insekten bedeckt, die halb Bienen und halb Blutegel waren. Sie klebten an ihr und stachen sie ununterbrochen. Durch die verschlungenen Rebstöcke und verfilzten Bäume tauchte Jim Jones auf, in seiner roten Robe und mit seiner Sonnenbrille. Er hatte eine Spritze in der Hand und einen Krug mit Traubenlimonade. Als sie zu entkommen versuchte, gab er ihr eine Spritze. Hannah Burke tauchte auf. Sie schickte Jones weg. Dann entfernte sie systematisch die Insekten von Carolines Gesicht.

Caroline setzte sich auf, ihre Haut brannte, ihre Haare waren schweißnaß. Das Laken war zerwühlt und feucht. Auf dem Wecker war es drei Uhr morgens. Sie atmete ein paarmal tief durch, entschlossen, nicht zu Diana hinaufzulaufen. Sie stand auf und machte sich einen Kamillentee. Während sie den Tee im Bett trank, überlegte sie sich Punkt für Punkt, in welcher Hinsicht sie diese Woche versagt hatte. Sie hatte die Jungen angeschrien, weil sie ihre ganzen Kleider mit Herbstblättern beklebt hatten, als Tarnung bei ihren Kriegsspielen; sie hatte den Mixer nach Arnold geworfen, weil er auf den Eßtisch geklettert war und mit dem Schweinebraten davonraste; sie hatte ihre Autoschlüssel verloren, so daß Diana ihren 28Wagen nicht herausfahren konnte, um mit Suzanne essen zu gehen, der neuen jungen Schwester von der Kinderstation, die Diana immer mit geistloser Bewunderun anglotzte. Caroline war kein netter Mensch. Sie war egoistisch, ungeduldig und eifersüchtig. Sie war eine schlechte Mutter, eine noch schlechtere Freundin und eine hoffnungslose Geliebte.

Zitternd vor Kälte stellte sie die Heizdecke an. Gemeinsam hatten sie und Diana so viel Wärme produziert, daß sie diese Decke nie gebraucht hatten. Aber in den letzten Wochen war sie dauernd in Betrieb gewesen.

Das Haus war still ohne das Murmeln, Seufzen und Herumwälzen der schlafenden Jungen, ohne das Knurren und Zucken des träumenden jungen Hundes. In nicht allzu ferner Zukunft würden sie für immer weggehen. Jackie und Jason, Diana – sie würden verschwinden, genau wie Arlene und Jackson und David Michael, sie würden sie hier allein lassen, Nacht für Nacht, während sich draußen vor den Fenstern der Schnee auftürmte und sie in einem eisigen Kokon begrub. Ihr Magen verkrampfte sich. Aber war sie jemals etwas anderes gewesen als allein? Sie mußte das schon als Baby gewußt haben. Vermutlich war das der Grund, weshalb sie nachts geschrien hatte. Seither hatte sie sich für einige trügerische Augenblicke der Gemeinsamkeit mit Menschen zusammengetan, um sie dann wieder verschwinden zu sehen, wie die Bilder im Kino, wenn das Licht wieder angeht.

Der Himmel hinter dem Fenster war schwarz, aber sie war hellwach. Sie stand auf, zog ihren Morgenmantel und ihre Hausschuhe an und setzte sich an den Webstuhl in der Ecke, an dem sie Sets in verschiedenen Braun- und Schwarztönen webte. Seit sie in Jacksons Haus in Newton angefangen hatte zu weben, verkauften sich ihre Servietten, Sets und Tischtücher immer am besten. Sie hatte schon so viele gemacht, daß sie ihr zum Hals heraushingen, aber sie wußte nicht, was sie sonst weben sollte. Nachts konnte sie nur weben, wenn die Jungen nicht da waren, weil das Geräusch des Schlagstocks sie aufweckte. Aber Weben war das einzige, womit sie ihre Verzweiflung überwinden konnte. Wenn ihre Füße und Hände schließlich den hypnotischen Rhythmus gefunden hatten, dann hatte sie keine Zeit und keine Gedanken mehr für ihr eigenes Elend. Sie hatte immer heimlich gewoben, als würde sie sich davonschleichen, um etwas Unanständiges zu tun, denn es schien unverantwortlich, 29in einer Welt des kollektiven Leidens einem Privatvergnügen nachzugehen.

Sie dachte über die bizarren klebrigen und stechenden Insekten in ihrem Traum nach. Hannah Burke hatte ihr geholfen, sie zu entfernen. Aber es war nur ein Traum. Hatte es wirklich einen Sinn, noch einen Termin auszumachen? Was konnte Hannah an der Lage der Menschheit ändern? Du beißt die Zähne zusammen und machst das Beste daraus. Oder du trittst ab. Sie dachte an die Pillenflaschen hinter den Pullovern. Aus den Augen vielleicht, aber nicht aus dem Sinn.

Grimmig bediente sie das Pedal des Webstuhls und warf das Weberschiffchen zwischen den Kettfäden hin und her.

2

Hannah fuhr durch die Stadt, an den Wasserfällen und an den umgestalteten Fabriken vorbei, in denen jetzt schicke Geschäfte und Boutiquen, Restaurants, ein Fitness-Zentrum, Eigentumswohnungen und Büros untergebracht waren. Lake Glass war als Handelsstation der Pelzhändler und Holzfäller entstanden. Aber der Transport den See hinunter hatte sich als zu aufwendig herausgestellt, deswegen waren Fabriken gebaut worden, um die Pelze und das Holz an Ort und Stelle zu verarbeiten – eine Gerberei, eine Schuhfabrik, eine Möbelfabrik. Als die Fabriken durch billigere Arbeitskräfte nach Süden gelockt wurden, bekam die Stadt eine neue Funktion als Sommererholungsort für die reichen Bostoner, die es auf Grund der Entlegenheit und der Schönheit des Sees nach Norden zog. Als Hannah und Arthur vor 35 Jahren hierhergekommen waren, war es eine verschlafene, heruntergekommene Stadt, voller verfallener Fabrikgebäude und verlassener Sommerhäuser. Nach London kam sich Hannah hier vor, als sei sie im Exil in Patagonien. In ihrer gegenwärtigen Phase beherbergte die Stadt Touristen und Skifahrer, und es hatten sich auch ein paar Elektronikfirmen hier angesiedelt. Aus einem kleinen Privatcollege war eine Universität geworden. In den Straßen wimmelte es von gutgekleideten Fremden, die Restaurants waren voll mit exotischen Delikatessen: 30Falafel und Knishes, Burritos und Sushi. In gewisser Weise waren Hannah die guten toten Patagonienzeiten lieber gewesen.

Sie fuhr Richtung Norden, an den Farmhäusern der Elektronikmanager vorbei, und beobachtete, wie der Himmel sein Zeitlupenfeuerwerk veranstaltete. Die Farben erschienen und verschwanden so langsam, daß jede Konstellation von Dauer zu sein schien. Aber wenn sie an den Straßenrand führe und ein kurzes Schläfchen hielte, dann würde sie aufwachen, und es wäre stockfinster. Sonnenuntergänge ärgerten sie. Seit zwanzig Jahren fuhr sie diese Strecke zweimal am Tag, seit Monas und Nigels Tod. Nachdem sie dreitausend Stunden lang Sonnenuntergänge beobachtet hatte, hatte sie entdeckt, daß es sich um leere Spielereien handelte. Diese ganze Aufregung, und am Schluß blieb nichts davon übrig. Viel Lärm um nichts.

Als sie in die Seestraße einbog, fiel ihr ein, daß ihr Blinklicht hinten links kaputt war. Wie hieß diese neue Klientin noch mal? Warum fiel es ihr so schwer, Namen zu behalten, wo sie doch mühelos jeweils zwei Dutzend Lebensgeschichten auseinanderhalten konnte? Bei einer Party im Büro neulich wollte sie Mary Beth, der neuen, jungen Therapeutin, Arthur vorstellen, und ihr fiel Arthurs Name nicht ein. Er schaute sie sehr erstaunt an. Sie kannte ihn erst seit achtunddreißig Jahren.

Caroline, das war's. Genau. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es für ein Kind war, in eine vom Krieg geprägte Welt hineingeboren zu werden. Wenn du schon nicht deine Eltern mit deinem Erscheinen entzücken konntest, dann konnte es wenigstens deine Schuld sein, daß Vati wegging und Mutti außer sich war. Und von da an trägst du dann immer ein gewisses unbestimmtes Gefühl mit dir herum, du seist für alle Katastrophen verantwortlich. Und wenn du keine fertigen Katastrophen vorfindest, derentwegen du dich schuldig fühlen kannst, dann schusterst du dir eben deine eigenen zusammen.

Ihr Sohn Simon saß im gleichen Boot. Colin, sein Vater, ging weg, um in Belgien zu kämpfen, als Simon noch nicht ganz ein Jahr alt war, und er kam nie zurück. Simon war ein zerbrechliches, ängstliches Kind gewesen, und jetzt war er ein tyrannischer Erwachsener, der seine staatliche Wohnungsbehörde wie eine Strafanstalt leitete. Die Blumenkinder. Eine ganze Generation, die während 31ihrer Kindheit für Verlust und Schrecken sensibilisiert worden war und die als Erwachsene auf der Straße ihre Empörung im Namen der Mittellosen auslebte, die eigentlich sie selbst waren. Man mußte nicht von einem Panzer überfahren werden, um zu den Kriegsgeschädigten zu gehören.

Während sie den wilden Sonnenuntergang betrachtete, dachte sie an den Sonnenuntergang, den sie mit Arthur in Hampstead Heath beobachtet hatte, nicht lange bevor Carolines Vater sich im südlichen Pazifik abkämpfte. London, in Blutrot getaucht, erstreckte sich vor ihnen bis hin zur Themse. Arthur arbeitete für das amerikanische Kriegsministerium und verhandelte über Rüstungslieferungen, die das ersetzen sollten, was die Engländer in Dünkirchen zurückgelassen hatten. Sie hatte ihn ein paar Wochen zuvor bei einem diplomatischen Empfang kennengelernt, zu dem ihre Großmutter sie geschleppt hatte, um sie in ihrem traurigen Kriegerwitwenschicksal etwas aufzuheitern. Was sie als erstes bemerkte, waren seine regelmäßigen weißen Zähne, an denen er sofort als Amerikaner zu erkennen war, selbst wenn er keine Uniform angehabt hätte. Seine breite Aussprache war ebenfalls amerikanisch, obwohl sie damals noch nicht den neuenglischen Akzent ausmachen konnte.

Sie und Arthur saßen im Gras auf einem Hügel, beide in seinen olivgrünen Armeemantel eingehüllt. Fettiges Zeitungspapier, in das Fish and Chips eingewickelt gewesen war, raschelte im Herbstwind. Dann wurde es dunkel, und die Luftwaffe kam und lud massenhaft Feuerwerkskörper ab. Grimmig schweigend sahen sie zu, wie Teile von London und ausgewählte Londoner in Stücke zerfetzt und von den Flammen aufgefressen wurden. Dann gingen sie Hand in Hand an dem verlassenen Rummelplatz vorbei, das Vale of Heath hinunter; ihre Füße schlurften durch Haufen von feuchten Blättern. Sie hatte Arthurs Mantel an, die Ärmel umgekrempelt – ein bißchen wie Charlie Chaplin.

«Im 14. Jahrhundert sind die Leute aus London hierher geflüchtet, um der Pest zu entkommen», verkündete sie, um der Anweisung ihrer Großmutter, sie solle «Arthur London zeigen», nachzukommen. Seine amerikanischen Umgangsformen waren völlig anders als Colins Londoner East End-Manieren. Er fragte sie nach ihrer Meinung und wartete ihre Antworten ab.

«Ich habe den Eindruck, daß sich im Lauf der Jahrhunderte nicht allzuviel verändert.»

32

«Vermutlich nicht.» Sie kämpfte mit sich selbst, ob sie «nachgeben» sollte oder nicht. Es war eigentlich ein sehr kurzer Kampf. Colin vermoderte in einem Grab irgendwo an der Maas. Ihre Großmutter war mit Simon in Somerset. Fast ganz London hatte sich in die U-Bahnhöfe verkrochen. Sie wußte damals noch nicht, daß Arthur in Amerika eine Frau hatte. Und sie waren beide nicht sicher, ob sie den kommenden Tag überhaupt erleben würden, um die Ereignisse dieser Nacht zu bereuen. In einer verrückt gewordenen Welt war die hautnahe Berührung zweier Körper, verschwitzt und beharrlich lebendig, das einzige, was überhaupt noch sinnvoll erschien.

Als sie zu dem Klinkerhaus ihrer Großmutter am Rande der Heath kamen, ringsum von verlassenen Häusern umgeben, fragte Arthur: «Wie kommt es, daß du nicht abgehauen bist wie alle deine Nachbarn?»

Sie schaute ihn an; er war groß und verläßlich in seiner amerikanischen Uniform. Er würde für sie sorgen, wie ihr Vater und Colin in ihren britischen Uniformen es nicht getan hatten. «Weil ich gehofft habe», sagte sie und senkte den Blick, «wenn ich hier bleibe, dann würdest du vielleicht mit mir ins Bett gehen.»

Seine sanften braunen Augen blickten beunruhigt, aber ein schiefes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, und er murmelte: «Ganz schön mutig.»

Sie gingen ins Haus, zogen die Verdunklung herunter und liebten sich bei Kerzenlicht auf dem viktorianischen Mahagonibett aus ihrer Mädchenzeit.

 

Sie parkte ihren Mercury in der Einfahrt. Während sie zu dem umgebauten gelben viktorianischen Sommerhaus hinaufging, überlegte sie zum hundertstenmal, ob sie und Arthur nicht in ein kleineres Haus ziehen sollten. Als Simon und Joanna endlich ihre eigenen Wohnungen in der Stadt hatten, da hatten Arthur und sie die Hälfte der Zimmer verschlossen, um Heizkosten zu sparen. Es war sinnlos, immer noch Steuern für Schlafzimmer und ein Spielzimmer von Kindern zu zahlen, die es längst nicht mehr gab. Aber mit diesem Haus waren Erinnerungen verbunden. Die versteckte, von Birken umgebene Wiese, auf der an einem heißen Nachmittag im Mai Nigel empfangen worden war. Die riesigen, gekrümmten Zedern auf den Klippen oberhalb des Sees, die die Kinder als 33Setzlinge gepflanzt hatten. Die Felshöhlen, wo sich die Kinder versteckten, um Zigaretten zu rauchen, die sie aus ihrer Handtasche geklaut hatten. Die Marsch, wo sie wilde Schlammschlachten veranstalteten. Die Erinnerungen und ein paar Fotos, das war so gut wie alles, was sie von Mona und Nigel noch hatte. Arthur und sie hatten oft davon geredet, sie sollten umziehen, um nicht dauernd an diese schreckliche Nacht erinnert zu werden. Aber sie wurde sowieso dauernd daran erinnert. Und sie kam schließlich zu dem Schluß, daß das Grauen durch die Erinnerungen aufgewogen wurde. Also blieben sie und Arthur da, und die Hälfte des Hauses stand leer und unbenutzt, das Phantomglied eines Amputierten.

Arthur nahm ihren Martini von der Kühltruhe, als sie hereinkam, und reichte ihn ihr, nachdem sie ihren London-Fog-Mantel aufgehängt hatte. «Wie war's heute?»

«Ganz gut, danke.» Sie entspannte sich in seiner Umarmung. Es war angenehm, immer noch umarmt zu werden, auch wenn ihre Antwort auf eine unvermeidbare Nachfrage nicht «ganz furchtbar» lautete. Als sie sich in dem Wohnzimmer mit der hohen Decke auf das braune Ledersofa setzten, um das Finale des Sonnenuntergangs anzusehen, zündete sie sich mit Streichhölzern von Ron's Steakhouse in Kansas City eine Zigarette an. Sie betrachtete die Streichholzschachtel, auf der ein Stierkopf mit einem breiten Lächeln und einem blinzelnden Auge abgebildet war. Ein charmanter junger Kollege hatte sie benutzt, um ihr beim Abendessen während einer Konferenz letzten Monat eine Zigarette anzuzünden, kurz bevor er sie fragte, ob sie mit ihm schlafen wolle. Sie war überrascht gewesen und hatte sich geschmeichelt gefühlt. Sie hatte nicht mehr allzuoft diese Wirkung auf junge Männer, die nicht ihre Klienten waren, jetzt, da sie in den Jahren intensiver Instandhaltung war: Zähne, Augen, Lungen und Magen gaben warnende Hinweise auf den unvermeidlichen Zusammenbruch.

Auf Grund der drei Martinis, die sie gerade getrunken hatte, dachte sie einen Moment lang ernsthaft über dieses Angebot nach. Dann nahm sie sich zusammen und sagte: «Wenn mein Leben anders wäre, Charles, dann würde ich sofort ja sagen. Aber da dem nicht so ist, akzeptieren Sie bitte meinen Dank und mein aufrichtiges Bedauern.» Wenn sie Komplikationen in ihr Leben bringen wollte, dann gab es dafür bessere Methoden als eine Affäre mit einem verheirateten Mann aus Toledo.

34

«Und grüßen Sie bitte Ihre Eltern von mir?» fügte Charles hinzu.

«Genau.» Hannah lächelte und spielte mit der Zigarette im Aschenbecher.

«Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gefragt.»

«Nein, das werde ich nicht, Charles.»

 

«Ich dachte, du wolltest aufhören», sagte Arthur, als sie einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette nahm.

«Wollte ich wahrscheinlich auch. Ich höre die ganze Zeit auf.»

«Das merkt man.»

«Ich hatte heute eine neue Klientin, deren Vater in japanischer Kriegsgefangenschaft war. Deshalb mußte ich auf dem Heimweg an die Nacht in der Heath denken.»

Arthur lächelte. Hannah liebte sein schiefes Lächeln, die Falten um seine Augen, die mit jedem Jahrzehnt unauslöschlicher wurden. Mehr Falten, weniger Haare. Ansonsten war er noch so ziemlich derselbe wie vor all den Jahren in der Heath, als sie zum erstenmal eine solche Leidenschaft für ihn empfunden hatte. Er hatte immer noch sämtliche seiner Colgate-weißen amerikanischen Zähne. Aber als sie jünger – und dümmer – war, kam ihr seine Verläßlichkeit manchmal langweilig vor. Aufregung bestand in diesen schlechten alten Tagen darin, daß sie auf Parties in den Wohnzimmern anderer Leute hinter Männern her war, mit denen sie so rücksichtsvoll umging wie Colin und ihr Vater mit ihr. Aber als Mona und Nigel starben, war es Arthurs Beständigkeit, die ihr da durchhalf – und damals hatte sie auch angefangen, das Standhalten als eine Tugend anzusehen, eine Tugend, die Arthur selbst nur langsam und nicht ohne Schmerzen entwickelt hatte, in seinem privaten Kampf darum, zu akzeptieren, daß er eine Familie verlassen hatte, um mit ihr eine neue zu gründen.

«Eins führt zum andern.» Er trank einen kleinen Schluck von seinem Gin.

«Hast du damals an die Konsequenzen gedacht?»

«Bist du verrückt? Während rund um mich Bomben einschlagen? Man müßte völlig übergeschnappt sein, um zu einem solchen Zeitpunkt eine wunderbare Frau, die an deinem Wintermantel herumfummelt, zurückzuweisen.» Er streichelte mit dem Handrücken ihre Wange.

«Ich soll herumgefummelt haben?»

35

«Na ja, es war jedenfalls nicht meine Idee. Schließlich war ich verheiratet.» Er legte seinen Arm um ihre Schultern.

«Du hast dir nicht die Mühe gemacht, mir das zu erzählen.»

«Hätte das etwas geändert?»

«Vermutlich», antwortete sie spröde.

Er lachte. «Erzähl mal. Na ja, es hat ja gut geklappt, würde ich sagen. Du redest nicht mal mehr allzu komisch. Wenn du nur ein paar von diesen Pflanzen rausschmeißen könntest. Man kommt sich hier ja vor wie in einem Sauerstoffzelt.» Mit einer Kopfbewegung deutete er auf das Blumenfenster, hinter dem der violette Sonnenuntergang seinen Kampf gegen die Nacht verlor.

 

«Was wird also Ihrer Meinung nach hier passieren?» fragte Hannah, lehnte sich in ihrem Schreibtischstuhl aus Metall zurück und zündete sich eine braune Zigarette an. Caroline trug eine zerknitterte weiße Uniform und weiße Schuhe. Offensichtlich war sie Krankenschwester. Oder Eisverkäuferin. Sie sah bleich aus, mit dunklen Ringen unter den Augen, als wäre ihre Wimperntusche verschmiert, nur daß sie keine trug. Hannah war nicht überrascht gewesen, als sie am Telefon ihre Stimme wieder gehört hatte. Aber Caroline hatte sowohl überrascht als auch widerstrebend geklungen. Hannah erinnerte sich, daß sie zu Beginn ihrer Lehranalyse Maggie gegenüber darauf beharrt hatte, es gehe ihr sehr gut und sie befinde sich nur hier in Maggies Sprechzimmer, um ihr Diplom zu bekommen. Maggies Mund zuckte, aber sie schaffte es, nicht zu lächeln.

«Ich weiß nicht», antwortete Caroline. «Ich nehme an, Sie haben Ihre Techniken und so.» Bitte verlangen Sie nicht von mir, daß ich ein Stuhl sein soll oder auf ein Kissen einschlage, dachte sie und erinnerte sich an Jennys Erzählungen. Sie spielten jede Woche Poker miteinander, und Jenny war eine gläubige Jüngerin der Therapieszene. Ich möchte nicht das wilde Kind in mir besitzen oder mein Sein erforschen. Ich möchte nur morgens aufwachen können, ohne tot sein zu wollen.

«Nein, wir führen hier nur so eine Art ausgedehntes Gespräch.» Sie beobachtete, wie Caroline mit Daumen und Zeigefinger ihren Nasenrücken rieb. Dann lächelte sie schwach. Ein gutes Omen. Normalerweise nahmen Klienten ihr eigenes Elend dermaßen ernst, daß sie wochenlang kein Lächeln aus ihnen herausbringen 36konnte. «Was ist das schmerzlichste Erlebnis, das Sie in der letzten Zeit gehabt haben?»

Caroline seufzte. Wie sollte sie sich da entscheiden? Enthaltsamkeit? Eine tote Gans auf der Türschwelle? Norman Rockwells Tod? «Die Sache mit Jonestown, glaube ich.»

«Warum ist das so schmerzlich für Sie?»

«Na ja, sind neunhundert mit Zyankali vollgepumpte Leichen, die da im Dschungel vermodern, für Sie nicht schmerzlich?»

«Es ist nicht besonders angenehm. Aber ich bin nicht eine der Leichen. Und ich muß nicht sehr lange darüber nachdenken, es sei denn, ich entscheide mich dafür. Und das mache ich nicht. Warum tun Sie es also?» Sie dachte über den Symbolcharakter nach und verneigte sich respektvoll vor Carolines Unterbewußtsein.

Caroline schaute Hannah müde an, in ihrem rotkarierten Rock und Pullover von Pendleton. Es war ein Fehler, daß sie wieder hergekommen war. Sie hatte gedacht, der Traum sei eine Botschaft ihres Unterbewußtseins gewesen, aber offensichtlich hatte ihr Unterbewußtsein wieder einmal völlig danebengelegen, wie üblich. Hannah war ein hoffnungsloser Fall. Sie hatte keinerlei politische Analyse. Zum Bridgespielen brauchte sie ja auch keine. «Es macht mich völlig fertig, diese Kluft zwischen dem, was sie tun wollten, und dem, was dabei herausgekommen ist.» Jones als junger Mann, mit seiner ganzen Teilnahme für die Unterdrückten, klang nicht viel anders als sie selbst, ihre Eltern, ihre Mitschülerinnen in der Schwesternschule, ihre Kolleginnen bei der People's Free Clinic und bei der Abtreibungshilfe und auf der Unfallstation. Der gleiche Wunsch, zu dienen und zu retten. Was war schiefgegangen? Was ging andauernd schief?

«Ah.»

«Was, ah?»

«Haben Sie gehört, was Sie gerade gesagt haben?» fragte Hannah. Sie streifte ihre Zigarette an dem hohlen Stein ab, den Nigel ihr vor Jahren geschenkt hatte. Er fand ihn eines Nachmittags am Strand. «Mama, komm mal, schau dir diese graue Pampelmuse an», rief er. Er spaltete diesen unvermuteten Edelstein mit einem Hammer und einem Meißel und entdeckte, daß er innen hohl war, bedeckt mit Quarzkristallen und Glimmer, die in der Sonne wie Fischschuppen glitzerten.

«Ja.»

37

«Können Sie das auf Ihr Leben übertragen?» Hannah sah das kleine Kind vor sich, das sich so große Mühe gab, den anderen zu gefallen, und das so durchgehend scheiterte. Ein normales Baby hing nicht einfach in seiner Babyschaukel. Nigel hatte praktisch den Türrahmen eingerissen, weil er herumwirbelte wie ein Fallschirmspringer bei einem Sturm. Während ihrer Assistenzzeit am staatlichen Krankenhaus versuchte sie, mit einem jungen Mädchen zu arbeiten, die nichts tat, als mit angezogenen Knien in der Ecke zu sitzen, ihren Pullover über den Kopf und bis hinunter zu den Knöcheln gezogen. Das Mädchen schien das Gefühl zu haben, wenn sie sich nur vollkommen reglos und still verhalten könnte, dann falle sie niemandem zur Last und könne sich sicher fühlen.

«Was?» Caroline verzog das Gesicht und betrachtete den blassen, welken Zierspargel am Fenster. Es war kriminell, mit Pflanzen so umzugehen. Sie würde Hannah Pflanzendünger mitbringen.

«Was ist mit Ihrem Privatleben? Was war da in der letzten Woche das Schmerzlichste?»

Caroline rutschte hin und her. Dies führte zu absolut gar nichts. Wie konnte auch eine britische Hausfrau amerikanischen Völkermord begreifen?

«Denken Sie nach», schlug Hannah vor. Diese gescheiterten Revolutionäre kotzten sie manchmal an, wenn sie ihre innere Verfassung auf die Welt projizierten und dann darauf beharrten, das sei die objektive Realität. Chippie, der Hippie, war heute morgen hier gewesen und hatte sich über den Mangel an Frieden auf der Welt beklagt. Sie hatte ihn gefragt, ob es nicht etwas verlogen sei, Frieden auf der Welt zu fordern, wenn man nicht einmal Frieden mit sich selbst geschlossen hatte. «Es muß doch irgend etwas gegeben haben.»

Sie saßen schweigend da, während Caroline, den rechten Fuß auf dem linken Knie, mit dem Finger das rote Gummiprofil ihres weißen Schuhs nachzeichnete.

Hannah wandte den Blick zum Fenster hinaus auf den Parkplatz. Jonathan ging vorbei; dicke Schneeflocken fielen auf seinen grauen Lockenkopf, wodurch er aussah wie eine Pusteblume. Er stieg in seinen Scout und fuhr davon. Hannah bemühte sich, nicht zu lächeln, als sie seinen neuen Aufkleber sah: «Eßt mehr Lamm, 50 000 Kojoten können sich nicht irren.» Er war Teilzeitfarmer und gleichzeitig, mit ihr zusammen, Mitbegründer und Ko-Direktor 38des Lake Glass-Therapiezentrums. An der Universität hatten sie sich zueinander hingezogen gefühlt, weil sie beide älter waren als die übrigen Studenten, und sie hatten seither immer zusammengearbeitet, auch wenn sie sich zu gewissen Zeiten maßlos auf die Nerven gingen.

Das Schweigen war erdrückend. Caroline suchte krampfhaft nach etwas, um Hannah zufriedenzustellen. «Meine beiden Söhne, Jackie und Jason, haben sich gestritten und ihr Videospiel kaputtgemacht.»

«Und warum war das schmerzlich?»

«Weil es nagelneu war.»

«Dann lassen Sie es reparieren.» Caroline würde sich jetzt jeden Augenblick in komplizierte Ausweichmanöver flüchten, wie eine aufgescheuchte Wachtel, die einen Jäger erblickt hat. «Was noch?» Caroline hatte recht mit ihrer Angst. Ein paar Sachen, denen sie bei sich selbst ins Auge sehen mußte, würden schmerzhaft sein.

«Sie haben also eine angenehme Woche hinter sich?»

«Ich glaube schon.»

«Weshalb sind Sie dann hier? Sie können doch bestimmt mit Ihrem Geld etwas Besseres anfangen.»

«Ja, das stimmt, ich habe angefangen zu sparen, um eine Sauna einzubauen …»

Hier kam die Abschweifung. Hannah zog ironisch die Augenbrauen hoch, um das zu verhindern. Je stärker der Widerstand, desto verheerender die darunterliegenden Wunden, sagte sie sich, um nicht die Geduld zu verlieren.

Caroline bemerkte die hochgezogenen Augenbrauen und verfiel in Schweigen. Es war ihr bewußt, daß sie sich keine Mühe gab. Sie schaute aus dem Fenster zum See. Schneeflocken, so groß wie Daunenfedern, wirbelten durch die Luft, als veranstalteten Jackie und Jason auf dem Hof eine Kissenschlacht. Schließlich begann sie mit leiser Stimme zu reden: «Diana, meine Freundin, oder besser, meine Exfreundin, ließ einen Brief herumliegen, den sie gerade schrieb, und da stand, es sei schwierig, mit mir zusammenzuleben, weil ich egoistisch sei.» Sie spielte mit der Elfenbeinmöwe an ihrem Hals.

Hannah drückte ihre Zigarette aus und unterdrückte ein Lächeln darüber, mit welcher Leichtigkeit Caroline zugab, daß sie anderer 39Leute Post las. Diese Frau fing an, ihr zu gefallen. Wenn sie einmal den ganzen Quatsch hinter sich ließ, dann war sie beunruhigend direkt. Hannah machte im Kopf eine Notiz über die Sache mit der Exfreundin. Ihr Sexleben war also durcheinander. Das war allemal Grund genug für Depressionen. «Sie halten sich selbst nicht für egoistisch?»

«Ich bin Krankenschwester, Hergott noch mal. Und Mutter. Außerdem hat sich Diana letzten Monat darüber beschwert, ich sei erdrückend, weil ich dauernd irgend etwas für sie tun würde.» Sie fuhr sich zerstreut mit der Hand durch die Haare.

«Wie sehen Sie sich selbst?»

«Was?»

«Nennen Sie ein paar Adjektive, die auf Sie zutreffen. Erzählen Sie mir, wie Sie sind.» Hannah war zufrieden, daß sie so schnell zum Kern der Sache vorgedrungen waren: Caroline wußte nicht, wer sie war.

Caroline saß schweigend da. Jackson sagte, sie sei zu intensiv. Howard behauptete, sie sei grausam gewesen, als sie Kinder waren, weil sie seinen Teddy gelyncht und die Luft aus seinen Fahrradreifen herausgelassen hatte, damit er ihr nicht folgen konnte. Natürlich sagte er auch, es sei der schlimmste Tag seines Lebens gewesen, als ihm klar wurde, daß er sie nicht heiraten konnte. Erdrückend. Egoistisch. Was war sie?

«Ist Ihnen in den Sinn gekommen, daß Diana Sie als egoistisch bezeichnet, weil sie Angst hat, daß sie es selbst ist? Warum sollte es sonst ein Problem für sie sein?»

Diana egoistisch? Falsch. Diana schickte ihren Freundinnen Karten zur Sonnwende, ging in die Fußgängerzone, um überschüssiges Gemüse aus dem Garten zu verteilen, strickte Skimützen für die Behinderten-Olympiade, nahm zur Zeit der Laubfärbung gestrandete Touristen in ihrem Gästezimmer auf. Dann fiel ihr Dianas Mutter ein, eine schrille Frau mit rosaroten Plastiklockenwicklern und dünnen weißen Söckchen, die dauernd aus Poughkeepsie anrief, um sich über Dianas Undankbarkeit zu beschweren. Diana lachte nach diesen Gesprächen immer verärgert, aber vielleicht befürchtete sie heimlich, ihre Mutter könnte recht haben.

«Sehen Sie den Zusammenhang?» fragte Hannah.

«Welchen Zusammenhang?»

40

«Zwischen Ihrer Reaktion auf die Sache mit Jonestown und auf Dianas Brief?»

Caroline runzelte die Stirn. «Was?» Was hatte diese Frau für Vorstellungen? Nichts, was sie sagte, ergab einen Sinn.

«Denken Sie darüber nach. Ihre Aufgabe bis zum nächstenmal ist, eine Liste mit Adjektiven aufzustellen, die auf Sie zutreffen.»

«Meine Aufgabe?» Sie war sich nicht bewußt, daß sie Interesse gezeigt hätte, wiederzukommen. «Wie lange dauert das normalerweise?»

«Dauert was?»

«Diese Therapie?»

«Wenn ich jemanden nicht innerhalb von ein paar Monaten wieder auf die Füße stellen kann, dann sollte ich den Beruf wechseln. Ich möchte nicht, daß meine Klienten bei mir Schlange stehen.» Caroline würde vermutlich nicht einmal einen Versuch machen, wenn sie wüßte, wie lange es manchmal dauerte, Muster zu entwirren, die im Verlauf von 35 Jahren gewoben worden waren.

Caroline schaute sie an. Alle Leute, die sie kannte, waren seit acht Jahren in Therapie. Zum Teufel – ein paar Monate konnte sie alles aushalten. Selbst diesen Unsinn. Dann konnte sie Jenny sagen, sie hätte es versucht und es hätte nichts geholfen. Es gab immer noch die Pillen im Schrank.

«Sie sind also Krankenschwester», sagte Hannah, während Caroline einen Scheck ausstellte. xxWo arbeiten Sie?»

«Auf der Unfallstation am Lloyd Harris-Krankenhaus. Ich habe jetzt meine Mittagspause.»

Hannah nickte. «Ganz wie zu Hause, was?» Sie streckte ihre Füße auf dem Fußschemel aus.

Caroline blickte auf. «Was ist wie zu Hause?»

«Es klingt so, als seien Sie daran gewöhnt, von Krisen umgeben zu sein.»

«Wirklich?»

«Für mich klingt es so.»

«Nein, ich hatte eine sehr glückliche Kindheit.» Caroline stand auf, reichte Hannah den Scheck und nahm die Karte mit dem Termin, die Hannah ihr hinhielt.

«Gut. Das freut mich.» Hannah faltete den Scheck zusammen und spürte, wie Maggies Lächeln um ihre Mundwinkel zuckte.

Als Caroline hinausging, stand Hannah auf, streckte sich und 41dachte über Maggie nach, eine hitzige alte Dame mit scharfem Verstand und noch schärferer Zunge. Sie hatte ihre Ausbildung am William Alanson White Institute in New York gemacht und hatte sich dann mit all den berühmten Sullivaniern herumgetrieben, bevor sie sich nach dem Tod ihres Mannes in ihr Sommerhaus am Lake Glass zurückzog. Dort verfiel sie einige Jahre in ein schlimmes Tief, aus dem ihre eigenen therapeutischen Fähigkeiten sie nicht herausholen konnten, bis sie schließlich mit einigen neuen Techniken wieder auftauchte, die sie in ihrem privaten Höllenfeuer geschmiedet hatte. Nach ihrer Rückkehr ins Land der Lebenden teilte sie ihre Zeit in New Hampshire auf zwischen ihrer Privatpraxis und Seminaren an der städtischen Universität, wo sie mithalf, am Institut für klinische Psychologie ein Promotionsprogramm zu entwickeln, und Hannah gehörte zu den ersten Doktoranden. Maggie stammte aus der Tschechoslowakei und hatte fast ihre ganze Familie im Konzentrationslager verloren, wodurch alles, was sie über menschliches Leiden sagte, eine gewisse Glaubwürdigkeit erhielt. Ihr Haus am See, in der Nähe von Hannah, war voll mit Antiquitäten, Teppichen und Kunstgegenständen gewesen, die sie auf ihren Weltreisen erstanden hatte. Sie hatte zu den wenigen Leuten hier in der Gegend gehört, mit denen Hannah über England und Australien reden konnte.

Die Arme vor der Brust verschränkt, ging Hannah den mit Teppichboden ausgelegten Flur hinunter und stellte sich Maggie vor, die Brille an einer Kette um den Hals. Sie setzte die Brille auf, nicht, um besser sehen zu können, sondern um ihre Augen zu verbergen, die dauernd unangemessene Reaktionen auf die Konflikte ihrer Klienten offenbarten, zum Beispiel Belustigung oder Faszination. Aber Maggie hatte mit einfühlsamer Zurückhaltung herumgestochert und gebohrt, um Hannah dazu zu bringen, ihrem Schmerz und ihrer Wut ins Gesicht zu sehen. Zu beobachten, wie sie schließlich herausgeschossen kamen, wie das Fruchtwasser bei der Geburt, war eine sehr ernüchternde Erfahrung gewesen. Jahre später, als sie und Maggie längst Kolleginnen und Freundinnen geworden waren, behauptete Maggie oft, Therapie zu machen bedeute schlicht, das Kind, das in jedem Klienten verborgen war, aufzuziehen und dann den Klienten über das Ausmaß der Macht der Therapeutin zu desillusionieren.

Hannah besuchte Maggie jeden Tag im Lloyd Harris-Krankenhaus, 42als sie an Krebs starb. Maggie behielt ihren scharfen Verstand und ihre spitze Zunge, aber ihr Körper schwand dahin. Ihre Augen, die Hannah so oft belustigt angeblitzt hatten, waren jetzt von einem Schmerz verschleiert, den ihre Brille nicht verbergen konnte. Ihre Mundwinkel, die von unterdrücktem Lächeln gezuckt hatten, zuckten jetzt grimassenartig. Es war die höchste Stufe der Desillusionierung. Eines ihrer letzten Worte war, gesprochen mit rauher Stimme, als sie so in ihrem Krankenhausbett lag, umgeben von lebenserhaltenden Maschinen mit glupschäugigen Meßgeräten: «Du siehst also, meine liebe Hannah – so wunderbar ich auch sein mag, ich sterbe genau wie alle anderen.»

Hannah erfuhr von Holly, daß ihr nächster Termin abgesagt worden war. Also ging sie in ihr Sprechzimmer zurück, setzte sich auf ihren Stuhl, zündete sich eine Zigarette an und schaute aus dem Fenster. Ein orangefarbener Le Car kam die Straße hinter dem Parkplatz entlanggekrochen. Hannah atmete den Rauch aus. Der Fahrer des Wagens war ein ehemaliger Klient namens Harold Mortimer und gehörte zu ihren großartigsten Fehlschlägen. Sie konnte sein angespanntes weißes Gesicht zu ihrem Bürofenster heraufblicken sehen, in der Hoffnung, sie wenigstens flüchtig zu sehen zu bekommen. Manchmal hielt er und steckte einen Zettel hinter ihren Scheibenwischer, auf dem er von seiner unsterblichen Ergebenheit sprach. Vielleicht würde ihr neues Auto ihn hinters Licht führen.

Als der orangefarbene Le Car wieder um die Ecke bog, machte Hannah sich Gedanken über das Verhaltensmuster, das bei Caroline langsam auftauchte. Sie würde wahrscheinlich versuchen, Hannah für sich einzunehmen, und dann versuchen, Hannah dazu zu bringen, sie zurückzuweisen. Und an dem Punkt würde Hannah sich weigern, mitzumachen. Die eine nützliche Fähigkeit, die sie im Internat in Sussex erworben hatte, in das ihre Großmutter sie gesteckt hatte, war das Fechten. Das gleiche machte sie hier den ganzen Tag: Sie tauschte Stiche und Paraden aus, bis sie eines Tages ihr Florett fallen ließ und den Klienten erlaubte, sie direkt anzugreifen. Und dann beobachtete sie das Erstaunen der Klienten, daß sie weder auf dem Fußboden zusammenbrach noch zurückschlug. Aber das hatte sie selbstverständlich dadurch gelernt, daß sie während ihrer Ausbildung Kämpfe mit Zorro ausgefochten hatte.

Hannah ließ die Schultern sinken. Sie stützte den Ellbogen auf 43den Schreibtisch und legte ihr Kinn auf die Hand. Ihre Großmutter hatte sie vermutlich für diesen mühseligen Beruf vorprogrammiert, indem sie ihr dauernd sagte, wie begabt sie für den Umgang mit leidenden Menschen sein könnte, wenn sie nur ihren eigenen Müll aus dem Weg räumen würde. Sie lächelte leise, als sie an ihre Großmutter dachte; weiße Haare, die zu einem kunstvollen Knoten hochgesteckt waren, ein eingeschnürter Busen, der herausragte wie ein viktorianisches Buffet, und so stand sie hinter einem Stand auf der High Street und organisierte Wohltätigkeitsbasare. Hannah hatte immer vorausgesagt, daß die alte Kämpferin sie alle überleben würde, aber das hatte sie nicht getan. Und zweifellos war ihr Aufenthalt nicht dadurch verlängert worden, daß sie eine zornige, aufsässige Enkeltochter aufzog. Sie erinnerte sich daran, wie die weißen Augenbrauen der alten Frau vor Mißbilligung zitterten, wenn Hannah die Nachmittage nach der Schule damit verbrachte, mit einer Bande von Jungen und Hunden auf dem Fahrrad die Gehwege in der Heath hinunterzurasen, während andere Mädchen zum Ballettunterricht gingen. Oder wenn sie auf den hohen Gartenmauern der Nachbarhäuser herumbalancierte und in die oberen Fenster spähte, um die Nachbarn zu beobachten, wie sie sich umzogen, ein Bad nahmen oder sich liebten. Oder wenn sie auf Rollschuhen Christ Church Hill hinuntersauste und alle Fußgänger zur Seite springen mußten. Oder wenn sie ihr Taschengeld dafür ausgab, mit einem Doppeldeckerbus bis ans Ende der Strecke und zurück zu fahren. Oder wenn sie aus der Financial Times Drachen bastelte, ehe ihr Großvater sie gelesen hatte, um sie von dem hohen Hügel in der Heath fliegen zu lassen.

Hannahs Vater war als junger Mann nach Australien gegangen, um auf einer Schafzuchtfarm von seiner Tuberkulose zu genesen. Auf der Farm, die einem Freund der Familie gehörte, lernte er Hannahs Mutter kennen, die Tochter des Besitzers. Sie heirateten und produzierten Hannah. Hannah erinnerte sich verschwommen daran, wie sie versuchte, sich zwischen ihre Eltern zu stellen, wenn ihr Vater brüllte. Ihre Mutter starb an Typhus: Sie hatte sich angesteckt, als sie einen Eingeborenen pflegte, der auf der Farm kampierte. Ihr Vater brachte Hannah zurück zu seinen Eltern nach Hampstead, bevor er selbst als Kolonialbeamter nach Trinidad ging. In ihrer Erinnerung war ihr Vater ein gutaussehender, flotter Mann, der alle paar Jahre in Hampstead auftauchte, braungebrannt 44und mit lächelnden Zähnen, die wie kleine weiße Grabsteine aussahen. Das einzige, was er immer zu ihr sagte, war eine Redewendung, die er in Australien aufgeschnappt hatte: «Na, wie geht's denn so, Kumpel?» Dann tätschelte er ungeschickt ihre Schulter und starrte dabei auf eine ferne Mauer.

Hannah schaute das Borkengemälde an, das an der Wand in ihrem Büro hing. Der Eingeborene gab das Bild Hannahs Mutter, bevor er starb, und Hannahs Vater brachte es mit nach Hampstead. Ihre Großmutter fand es scheußlich und versteckte es in einem Wandschrank unter der Treppe. Auf rotbrauner Rinde war in Weiß ein bizarres, hüpfendes Wesen gemalt, mit hohlen Augen und stockartigen Gliedmaßen. Es war ein Mimi-Geist. Hannah hatte Angst davor gehabt, und gleichzeitig hatte es sie fasziniert. Wenn ihre Großmutter merkte, daß sie sich das Bild anschaute, schüttelte sie immer den Kopf und seufzte: «Meine wilde, eingeborene Enkeltochter.»

Während sie es sich jetzt anschaute, fiel ihr ein Farmteich ein, umgeben von Eukalyptusbäumen mit weißer Rinde, in deren Zweigen Papageien lachten; ein Lamm namens Mutton, das nach und nach zu einem Schaf wurde und auf der großen Veranda des Hauses herumspazierte und kleine, runde Kotkügelchen auf den geblümten Teppich im Salon schiß; Scharen von grellen Kakadus, die ihr leuchtend rosarotes Gefieder zeigten; kleine, dunkle Kinder, die sich mit ihr in der staubigen Pferdekoppel herumbalgten; Fliegen, die ununterbrochen summten; der Hut ihres Vaters, von dessen Rand an Schnüren befestigte Korken herunterhingen, damit die Fliegen sich fernhielten; der Regen im Winter, der gegen das metallene Dach trommelte. Sie erinnerte sich an eine Hand, die ihr das feuchte Haar aus der Stirn strich, wenn sie im Halbschlaf lag. Aber sie konnte sich nicht an das Gesicht ihrer Mutter erinnern. Das einzige Gesicht, das sie heraufbeschwören konnte, stammte von einem vergilbten Foto, traurig und angespannt. Ein kleines Mädchen, Hannah, umklammerte ihren Arm, als wüßte sie, daß ihre Mutter bald verschwinden würde.

«Warum so versonnen?» fragte Jonathan an der Tür. Er hielt ihr ein eingewickeltes Sandwich hin.

Hannah blickte auf. «Ich habe gerade an meine Mutter gedacht.»

«Das reicht.»

«Komm rein. Setz dich. Danke. Ist das Schinken?»

45

Jonathan nickte mit seiner grauen Mähne. «Was gibt's Neues?» Er setzte sich auf die Tweedcouch und wickelte sein Sandwich aus.

«Ach, nur das Übliche.» Hannah nahm eine Sandwichhälfte in die Hand. «Verlust. Leid. Verrat. Täuschung.»

Jonathan lächelte. Mary Beth tauchte aus dem Zimmer nebenan auf. Sie trug eine hochgeschlossene, geraffte Bluse, Mao-Slippers und sah aus wie Rotkäppchen, dem der Wolf gerade den Frühstückskorb weggeschnappt hat.

«Was ist denn mit dir los?» fragte Jonathan.

«Ich habe gerade gemerkt, ich kann es nicht leiden, daß mir die Klienten soviel Macht zuschieben.»

Hannah nahm einen großen Bissen. Mary Beth kam direkt von der Universität und dachte immer noch, das wirkliche Leben sei eine einzige, fortwährende Seminarveranstaltung. Hannah kannte die jetzt beginnende Unterhaltung auswendig. Ein Klient hatte sich von seiner Frau getrennt, weil er dachte, Mary Beth hätte gesagt, er solle es tun. Jetzt ging es ihm schlecht, und er machte Mary Beth Vorwürfe. Jonathan gab all die üblichen Antworten: Klienten hörten nur das, was sie hören wollten, sie seien ja nicht verpflichtet wiederzukommen, und so weiter.

«Nenn es Vertrauen statt Macht», schlug Hannah zwischen zwei Bissen vor. «Dann geht es dir besser.»

«Es ist völlig gleichgültig, wie du es nennst», sagte Mary Beth und lehnte sich gegen den Türpfosten. «Es ist und bleibt Macht.»

Hannah zuckte mit den Schultern. «Dann werde Tierärztin.»

Als sie die Einstellungsgespräche führten, war sie, was Mary Beth betraf, nicht sicher gewesen: Sie war etwas zu ernsthaft. Aber Jonathan bestand darauf, sie bräuchten noch eine Frau, jung, mit guten Zeugnissen, so wie Mary Beth. Es war noch nicht klar, ob es mit ihr klappte, weil sie immer noch die Nerven einer Novizin hatte, wie Hannah es nannte, und weil sie alles, was mit den Klienten passierte, zu ernst und zu persönlich nahm. Völlige Erschöpfung würde sie zweifellos davon kurieren.

«Ein Klient muß ein gewisses Maß an Macht abgeben, damit der Therapieprozeß funktioniert», sagte Jonathan gerade.

Hannah beobachtete ihn, wie er mit geduldigem Lächeln zu Mary Beth hinaufschaute. Er fand, Hannah sei zu streng. Hannah fand, er ertränke die Leute in Honig. Sie hatten oft über diese Frage der Macht gestritten. Aber sie war immer noch davon überzeugt, 46daß die Klienten überhaupt keine Macht abgaben. Sie gebrauchten lediglich die Therapeuten als Stellvertreter des starken Teils ihrer selbst, bis sie fähig waren, ihre eigene Stärke zu akzeptieren.

3

Caroline stand Schlange fürs Mittagessen. Sie nahm einen Salat und eine Tasse Kaffee. Mit dem Plastiktablett in der Hand schaute sie sich in dem großen, zugigen, gekachelten Raum um. Diana saß mit Brenda, Barb und Suzanne an einem Tisch, alle in weißer Uniform. Sie hatte nicht die geringste Lust, nett zu Suzanne zu sein, die die letzte Woche damit verbracht hatte, auf dem Flur hinter Sauerstofftanks herumzulungern, um dann plötzlich aufzutauchen und loszuplappern, wenn Diana vorbeikam. Deshalb ging sie zu einem Tisch, an dem Brian Stone saß, in hellgrüner OP-Kleidung und mit Plastikschuhen. Brian war ein junger Chirurg, den seine Frau kürzlich verlassen hatte. Sie hatte die Kinder mit sich nach Boston genommen, ohne einen Blick zurück zu tun. Caroline hatte ihm mehrere Male auf der Unfallstation assistiert, und sie hatten manchmal zwischen zwei Fällen zusammen einen Kaffee getrunken. Sie bewunderte die einfühlsame Geschicklichkeit, mit der er Wunden vernähte, als würde er ein Segelschiff in einer Flasche zusammensetzen. Er war ein Typ, der Carolines Mitgefühl ansprach, mit seinen sich lichtenden Haaren, seinen traurigen Augen und seinem unendlichen Kummer über Irenes Weggehen. Obwohl sie ihn kaum kannte, war sie seine Vertraute geworden. Das ließ sich nicht umgehen, denn er konnte über nichts anderes reden als über Irene.

«Kann ich mich zu dir setzen?»

Brian blickte auf, mit geröteten Augen und einem gequälten Lächeln. «Ich bin entzückt.»

Sie nahm ihre Sachen vom Tablett und fragte: «Wie geht's dir so?»

«Gut. Ganz gut.»

Caroline setzte sich und nahm ihre Gabel in die Hand. «Schönes Wetter heute, nicht?»

«Nicht schlecht für Dezember.»

«Was gibt's Neues?»

47

Brian seufzte. «Nicht viel. Dieselbe alte Leier.»

«Sagte die Stripteasetänzerin zum Bischof.»

«Was?»

«Ein alter Witz.»

«t'schuldigung. Ich glaube, ich bin heute ziemlich daneben.»

«Sag das bloß nicht deinen Patienten», sagte Caroline.

«Die sind ahnungslos. Die merken den Unterschied eh nicht.»

«Was ist los?»

«Ach, ich habe heute morgen mit Irene gesprochen.»

«Wie geht es ihr?»

«Nicht schlecht, glaube ich. Aber ich verstehe die Frauen einfach nicht.» Brian ging mit Messer und Gabel genauso geschickt um wie mit dem Seziermesser, mit seinen langen, graziösen Fingern.

«Frag mich nicht», meinte Caroline, den Mund voll Salat. «Mir geht es genauso.»

«Ich meine, zum Beispiel», sagte er, mit der Gabel gestikulierend, «Irene hat so gerne all diese Sachen gekauft – Kleider, Möbel, Autos, Reisen. Und ich mußte mich totschuften, um dafür zu bezahlen. Aber dann beschwerte sie sich, ich sei nie zu Hause. Ich kapier das nicht.» Er schüttelte den Kopf.

Caroline dachte, sie kapiere es, aber sie war nicht sicher, ob es angebracht sei, ihm zu erklären, daß alle diese Anschaffungen vielleicht ein Versuch waren, die Lücke zu füllen, an deren Stelle eigentlich ein Ehemann hätte sein sollen. «Das klingt ganz wie meine Ehe.»

«Ich wußte gar nicht, daß du verheiratet warst.»

«Vor vielen Jahren.»

Er lachte. «Na hör mal, so alt kannst du doch gar nicht sein.»

«An manchen Tagen fühle ich mich wie Tutanchamun.»

Er seufzte. «Ja, ich weiß, was du meinst.»

Ach wirklich, dachte Caroline. Wenn sie nur ein bißchen mehr Zeit hätten, dann könnte es vielleicht interessant werden, das herauszufinden. Außerdem hatte sie gerade bemerkt, daß Diana zu ihnen herüberschielte.

«Ich habe mir immer überlegt, warum eine attraktive Frau wie du nicht verheiratet ist.» Brian schaute sie mit seinen traurigen Augen an, das Kinn auf die Faust gestützt.

Ach, komm mir bloß nicht damit, dachte Caroline. Sie stand auf. «Ich muß los, Brian. Schön, mit dir zu plaudern.»

48

Caroline setzte sich hinter den Aufnahmetisch der Unfallstation und nahm einen Bleistift von einem Stapel Karteikarten. Sie wollte die Liste für Hannah machen und hoffte, daß niemand auf einer Bahre durch die Flügeltüren gerollt käme. Sie war immer derart entzückt gewesen, wenn in der People's Free Clinic eine Frau mit schweren Blutungen ankam, weil sie einen Abtreibungsversuch mit einem Kleiderbügel gemacht hatte, oder wenn ein Student, der auf einem Horrortrip war, in das überfüllte Büro in Somerville gestolpert kam. Sie wurde gebraucht. Sie konnte helfen. Jetzt wollte sie nur in Ruhe gelassen werden. Sie hatte ihren Nerv für solche Sachen verloren. Sie hatte Angst, sie könnte im entscheidenden Augenblick völlig erstarren, so wie an dem Nachmittag, als der kleine Junge mit der klaffenden Wunde am Kopf behandelt werden mußte. Wer war sie denn überhaupt, daß sie glaubte, sie könne jemandem helfen? Das einzige, was sie tun konnte, war, sich selbst am Leben zu erhalten.

Sie schrieb das Wort «freundlich» hin, einfach, um die Sache ins Rollen zu bringen. Aber was war mit den Hüten der Straßenmusikanten, in die sie keine Münzen geworfen hatte, mit den Trampern, an denen sie vorbeigefahren war, mit den Sammelbüchsen für Behinderte, bei denen sie nichts gespendet hatte, mit den telefonischen Marktumfragen, bei denen sie aufgelegt hatte, mit den Zeugen Jehovas an der Haustür, bei denen sie so getan hatte, als sei sie nicht zu Hause? Sie strich «freundlich» aus.

Brian wurde über Lautsprecher gesucht: «Dr. Stone, Dr. Stone, vierter Stock, vierter Stock …»

Caroline schrieb «ehrlich». Aber war es ehrlich, so zu tun, als würden Diana und sie nur einfach im gleichen Haus wohnen, damit sie nicht ihren Job verloren und damit die Kinder nicht auf dem Spielplatz gehänselt wurden? War es ehrlich, hinter diesem Schreibtisch zu sitzen und die Ankunft von Patienten zu fürchten? Sie machte einen Strich durch «ehrlich» und kritzelte «unfreundlich» und «unehrlich». Sie schaute sich diese Wörter an. Das war das Ergebnis ihres Verhaltens, aber es war nicht die Absicht, genausowenig wie Jim Jones ursprünglich beabsichtigt hatte, seine Anhänger zu vergiften.

Also strich sie «unfreundlich» und «unehrlich» wieder aus und schrieb «wohlmeinend». Aber war sie das, überlegte sie und kaute auf dem Radiergummi hinten am Bleistift. Um zu essen, ließ sie zu, 49daß ihretwegen Pflanzen und Tiere abgeschlachtet wurden. Wenn sie ging, zerquetschte sie Insekten. Wenn sie atmete, brachte sie Bakterien um. Ihre weißen Blutkörperchen zerstörten jede Sekunde eine Menge Bazillen. Zu leben bedeutete schon, ein Mörder zu sein.

Diana kam den Flur entlanggeschlendert, den Kopf mit den wirren roten Haaren Suzanne zugewandt, mit lachenden Schlafzimmeraugen. Suzanne sah begeistert und erwartungsvoll aus, wie Arnold, als er sein erstes totes Murmeltier erblickte. Sie waren in Straßenkleidung – Cordsamtjeans, Anoraks, Stiefel. Auf dem Weg zur Tür rief Diana Caroline zu: «Mach dir keine Sorgen, falls ich spät heimkomme.»

Den Bleistift zwischen den Fingern dachte Caroline über diese Bemerkung nach. Wenn Diana heute abend lange wegblieb, dann war es kein Trost, zu wissen, daß sie mit Suzanne zusammen war. Es wäre ihr lieber, sie tot auf der Autobahn zu wissen. Diana wollte es also darauf anlegen? Vielleicht sollte sie Brian Stone ein bißchen ermutigen. Nur schade, daß er ein Mann war.

Sie dachte über diese Gedanken nach und fügte «engherzig» hinzu. Aber verdammt noch mal, sie hatte meistens ihr Bestes getan. Wenn Maureen, das irische Hausmädchen, Horrorgeschichten über die britische Herrschaft erzählte und vor Heimweh schluchzte, dann streichelte Caroline ihr die orangefarbenen Haare und sagte, es werde schon alles wieder gut werden. Wenn ihr Vater nach Hause gehumpelt kam und Darmkrämpfe hatte, weil er vor Gericht Fälle für Minderheiten durchfocht, dann ließ Caroline für ihn die Badewanne vollaufen und massierte ihm die Schläfen. Während er badete, putzte sie seine Schuhe. Wenn ihre Mutter vom Sozialamt nach Hause kam, wo sie nach dem Krieg zu arbeiten begann, brachte Caroline ihr Tee, legte Opernmusik auf und deckte sie mit einer Decke zu. Ihre Mutter saß in einem Sessel, unter dem Wappen ihres Colleges, auf dem stand: «Non ministrari, sed ministrare». Nicht bedient werden, sondern dienen. Und genau das hatte Caroline immer zu tun versucht. Während ihre Eltern sich ausruhten, sorgte sie dafür, daß Howard und Tommy ruhig waren, indem sie die beiden ins Spielzimmer einschloß und Missionsarzt spielen ließ.

Zu Weihnachten bekamen sie einmal von ihren Eltern jeder die Patenschaft für ein «Save the Children»-Kind. Carolines Kind war aus Kentucky und hieß Stanley Horton. Auf dem Foto hatte er nur 50sehr wenige gesunde Zähne und keine Schuhe an. Er schrieb jeden Monat und schickte ein Bild von seinem Zuhause, einer Hütte, deren Wände aus Teerkarton bestanden und die mit Nehi-Limonade-Schildern aus Blech gedeckt war. Beim Abendessen reichten Howard, Tommy und sie die Bilder und Briefe herum, und ihre Eltern erklärten ihnen, weil sie so privilegiert seien, hätten sie eine Verantwortung denen gegenüber, denen es nicht so gut gehe. Caroline fing an, das Geld zu sparen, das sie beim Babysitten verdiente, um Stanley kleine Geschenke zu kaufen, wie etwa Wundpflaster in Form von Sternen.

Sandra zog den Stapel mit Karten unter Carolines Ellbogen weg und sagte: «Laß mich die mal aus dem Weg räumen, Schätzchen.»

Caroline studierte ihre Liste. Das meiste war ausgestrichen. Sie radierte «engherzig» aus und prüfte «wohlmeinend». Aber wie war das, als sie immer Howard unten an die Treppe setzte und seinen Teddybär mit einer Schlinge um den Hals vor ihm herumbaumeln ließ, so daß er ihn gerade nicht zu fassen bekam, und zischte: «Ich weiß, was du willst, aber du kannst es nicht haben.» Was war, als sie Maureen so biß, daß sie genäht werden mußte? Sie strich «wohlmeinend» aus. Nichts blieb übrig. Ach, Scheiße, sie würde keine Liste aufstellen. Sie sah sowieso nicht ein, wozu. Sie zerriß den Zettel und warf die Stücke in den grauen Papierkorb aus Metall.

Brenda stützte sich mit beiden Fäusten auf den Schreibtisch. «Sollen wir die Kugel rollen lassen?»

Caroline blickte auf. Brenda erinnerte sie ein bißchen an Arlene, ihre Lieblingslehrerin an der Schwesternschule – sie war so massiv gebaut wie eine aufrecht stehende eiserne Lunge und hatte die gleiche gedankenlos-hingebungsvolle Arbeitsmoral. Aber im Gegensatz zu Arlene spielte Brenda genauso intensiv, wie sie arbeitete, organisierte dauernd irgendwelche Sportvereine und Exkursionen zu den Bars in der Nähe.

«Aber klar», antwortete Caroline, ohne jede Begeisterung. Sie hatte vergessen, daß sie heute nachmittag zum Bowling gehen wollten. Sie war diese Woche dran, auf die Kinder aufzupassen. Also griff sie zum Telefon und rief zu Hause an. Sharon antwortete. Ja, Jackie und Jason waren da. Ja, sie paßte auf sie auf. Die Planung war jetzt einfacher, seit Sharon in die achte Klasse ging und endlose Geldmengen für ihre sich dauernd vergrößernde Garderobe brauchte. Es war unglaublich wichtig für ihre Clique, ob das Schild 51hinten auf den Levis rot oder orange war. Aber es war keine leichte Aufgabe, auf Jackie aufzupassen. Er war selber in der sechsten Klasse und behauptete, er sei zu alt für einen Babysitter. Das stimmte, aber er war andererseits zu jung, um ohne Babysitter auszukommen, weil er manchmal vergaß, den Herd abzustellen, oder weil er seine Haare fönen wollte, während er in der vollen Badewanne saß.

«Soll ich euch Pizzas oder Big Macs mitbringen?» fragte Caroline Sharon.

Sharon schrie Jackie und Jason etwas zu. «Jackie möchte einen großen Hamburger, mit einer großen Portion Pommes, und eine mittlere Cola. Jason möchte Kentucky Fried Chicken, Pommes, Kartoffelbrei und Brötchen. Ich möchte eine Pizza mit Peperoni.»

«Kommt nicht in Frage. Ihr müßt abstimmen. Ich fahre nicht quer durch die Stadt.» Übers Telefon hörte sie Geräusche, die auf eine lautstarke Auseinandersetzung schließen ließen. Demokratie am Werk. Caroline seufzte und stützte eine Hand in die Hüfte.

«Ich komm gleich», sagte sie zu Brenda. «Der Kentucky Colonel wird gerade von Ronald McDonald in die Flucht geschlagen.» Sie hörte, wie Jason vor Schmerz aufheulte und Jackie eine «gottverdammte Tunte» nannte. Sie hatte ihr ganzes Leben damit verbracht, kleine Jungen großzuziehen, zuerst ihre Brüder und jetzt ihre Söhne, und sie verstand sie immer noch nicht. Sie verstand nicht, warum sie so fasziniert davon waren, aus ihren Legos und ihren Klötzen komplizierte Zerstörungsmaschinen zu basteln – Panzer, Weltraumkriegsschiffe, Kampfflugzeuge, Flugzeugträger, Raketensilos. Wenn sie ihnen Puppen schenkte, wie Ms-Magazine vorschlug, dann benutzten sie diese als Zielscheiben.

Sharon kam wieder ans Telefon. «Jackie und ich wollen Big Macs, aber Jason sagt, er will überhaupt nichts, wenn er kein Hähnchen haben kann.»

«Okay, aber sag ihm, ich mache ihm nicht mitten in der Nacht ein Brot.» Bei der Geburt von Jackie und Jason hatte sie keine Ahnung, daß sie die nächsten zwölf Jahre damit verbringen würde, alles genau zeitlich zu planen – Mahlzeiten, Transport, Babysitter, Zahnarzttermine, Hockeytraining. Und ihre Arbeitszeiten drum herum zu arrangieren und Ängste auszustehen, wenn alles nicht klappte und die Jungen schließlich doch alleine waren. Jede Mutter könnte mühelos die Aufgaben mehrerer Fluglotsen bewältigen.

52

Im Schwesternzimmer zogen sie und Brenda sich um und schlüpften in die orangefarbenen Teamhemden, auf denen hinten «Lake Glass-Hundezwinger» stand. Der Mann eines ehemaligen Teammitglieds, dem die Hundezwinger gehörten, hatte letztes Jahr das Team finanziell unterstützt. Brenda roch verschwitzt, und die Bluse spannte über ihren riesigen Brüsten. Sie war eine Krankenschwester alten Stils und sprach von jedem Arzt, mit dem sie zusammenarbeitete, nur per «der Doktor»: «Der Doktor ist gleich bei Ihnen.» Sie ging menschliches Leiden schwungvoll an, und sie rieb sich die Hände angesichts der Herausforderung, die zermatschten Überreste von Motorradunfällen wieder zu Menschen zusammenzuflicken. Sie lebte mit Barb von der Intensivstation auf einem kleinen Bauernhof in Idyll Acre Estates. Den ganzen Winter spielten sie Bowling und den ganzen Sommer Softball. Sie hatten Spaß miteinander. Sie schienen mit ihrer Arbeit und mit ihrem Leben zufrieden zu sein. Als sie Caroline fragten, ob sie sich dem Bowling-Team anschließen wolle, sagte sie ja, weil sie dachte, vielleicht würde diese Zufriedenheit auf sie abfärben, wenn sie mit ihnen zusammen war. Aber bis jetzt war das nicht der Fall.

Brendas grüner Torino hatte ein «Unfallschwester»-Zeichen über dem Nummernschild von New Hampshire, auf dem stand «Live free or die», Lebe in Freiheit oder stirb. Als Caroline einstieg, fummelte Brenda gerade an ihrem CB-Radio herum. Sie gehörte zum städtischen Rettungsdienst. Sobald sie von einem Unfall erfuhr, raste sie hin, um ihre Hilfe anzubieten. Mehrmals im Monat machte sie Bereitschaftsdienst für die Ambulanz.

Caroline schaute zum Autofenster hinaus, und als sie an Maude's Corner Café vorbeikamen, sah sie Diana und Suzanne an einem Tisch sitzen, im Schein einer niedrig hängenden Tiffany-Lampe in ein intensives Gespräch vertieft. Sie hatten rosarote Getränke vor sich stehen, vermutlich Erdbeer-Daiquiris, Dianas Lieblingscocktail. An einem Nachmittag, kurz nachdem ihre Liebesbeziehung angefangen hatte, hatte Caroline Stunden damit verbracht, auf einem benachbarten Feld genug wilde Erdbeeren zu pflücken, um einen ganzen Krug Daiquiri zu machen. Sie lag dann mit Diana in der Sonne, und sie tranken beide, bis sie so betrunken waren, daß sie sich mitten auf der Wiese liebten. Eine ganze Herde von Kühen kam daher, um zuzuschauen, und mampften friedlich rings um sie herum. Caroline wußte noch genau, daß sie dachte, als sie da so 53lagen, umgeben von den Geräuschen wiederkäuender Kühe: Das ist es. Das ist das Glück.

Wie konnte Diana Suzannes geistlose Anbetung dem ehrlichen Austausch mit einer alten Freundin vorziehen? Es war unglaublich. Suzanne war nicht einmal attraktiv. Sie war linkisch. Hatte ein Pferdegebiß. Und schielte ein bißchen. Und war bucklig, fügte Caroline hinzu und versuchte vergeblich, sich so etwas aufzuheitern.

«Du bist heute abend so still», sagte Brenda, als sie in den Parkplatz bei Lake Glass Lanes einbogen, einem niedrigen Gebäude, das mit Asbestplatten verkleidet war, die wie Backsteine aussehen sollten. Es stand direkt an der großen Straße, neben der neuen Einkaufspassage.

«Bin ich wohl auch.»

«Ist was?»

«Nein, es ist alles in Ordnung.» Sie konnte sich schließlich nicht über ein bißchen Schlaflosigkeit beklagen, wenn jemand den ganzen Tag über intravenöse Spritzen verabreicht, Mägen ausgepumpt und stehengebliebene Herzen wieder angekurbelt hatte. Das Goldmedaillon an Brendas Hals glitzerte im Straßenlicht. Es war ein Geschenk von Barb, die wie Brenda aus einer französisch-kanadischen Familie stammte. Auf dem Medaillon stand «Plus que hier, moins que demain». Caroline und Diana machten sich oft über Barbs und Brendas hingebungsvolles Paardasein lustig und sahen darin eine Parodie auf Irene und Brian Stone. Zwei ertrinkende Schwimmer in tödlicher Umklammerung, die sich gegenseitig in die Tiefe zogen. Selbst auf dem Höhepunkt ihrer Flitterwochen hatten Diana und sie ihre eigenen Freundschaften und Flirts beibehalten, getrennte Wohnungen und getrennte Bankkonten. Aber an diesem Nachmittag war Caroline von Barbs und Brendas Symbiose sehr berührt – wenn die Alternative dazu Verlassenheit war. Besser im Kitsch ersticken als in Verzweiflung ertrinken.

Barb übte auf Bahn vier. Sie rutschte bis zur Straflinie und stolperte dann darüber, wodurch der Alarm ausgelöst wurde. Brenda jubelte und applaudierte. Lucille von der Herzstation, deren Korkenzieherlocken ihren Kopf aussehen ließen wie einen menschlichen Gaumen, war dabei, eine Liste für die Spielergebnisse aufzustellen. Brenda und Caroline zogen ihre Stiefel aus und dafür Schuhe mit blau-weiß-rotem Sternenmuster an. Während Brenda 54ihre Kugel aus dem gepolsterten Behälter herausholte, machte sich Caroline auf die Suche nach einer Bowlingkugel, deren Haltelöcher die richtige Größe für sie hatten. Als sie zurückkam, goß Brenda gerade aus einer Flasche, die sie in der Handtasche mit sich herumtrug, Rum in die Colas der anderen Teamfrauen und blickte sich dabei um, ob der Manager es auch nicht merkte.

Caroline saß auf der glatten roten Plastikbank, stand auf, wenn sie an der Reihe war, reagierte automatisch auf das Geplapper der anderen und dachte daran, daß manchmal Bowlingspieler mit ausgerenkten Schultern und Daumen oder mit gebrochenen Knöcheln auf die Unfallstation kamen. Im Verlauf des Spiels bekam sie immer mehr das Gefühl, als werde sie in einen Kokon aus steriler Watte gewickelt, wie die Stützen bei einem Gipsverband. Die Stimmen ihrer Teamkameradinnen klangen wie das Gezwitscher von Zugvögeln bei einer Ruhepause. Die Kugeln auf den Bahnen und das Geklapper der umfallenden Kegel waren das dumpfe, donnernde Geknatter entfernter Gewehre, die an einem grauen Herbstmorgen Gänse mitten im Flug töteten. Zu beobachten, wie die Kegel durcheinanderfielen, weggefegt und dann wieder aufgestellt wurden, nur um wieder umgeworfen zu werden, empfand sie als erschöpfend. Wozu das alles? Es war genau wie mit ihrem Leben – sie baute es auf, dann fiel alles auseinander, sie baute es wieder auf … Es war völlig sinnlos.

Sie beobachtete kritisch ihre Teamkameradinnen, wie sie kreischend über Barbs Krankenhauswitze lachten. Brenda prustete ihren Rum mit Cola über das ganze Blatt mit den Spielergebnissen. Caroline lächelte schwach, als Lucille zu ihr herüberschaute.

Caroline studierte diese Frauen, ihre Teamkameradinnen, ihre Kolleginnen, die gezuckerte Doughnuts aßen, in gemusterten Schuhen und orangefarbenen Hemden zur Straflinie hinschlitterten und bei einem Strike hüpften und quietschten. Sie kam schließlich zu dem Schluß, daß sie Dummköpfe waren. Denn sonst müßten sie genau wie sie selbst über die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit des Ganzen entsetzt sein – absurd schwere Kugeln auf entfernt stehende hölzerne Kegel zu werfen, während die Welt in Leid und Blut ertrank. Sie kämpfte mit dem Verlangen, den Kopf auf die Rücklaufbahn zu legen, so daß eine ankommende Kugel ihren Kopf spalten würde – wie einen Kürbis, der auf den Gehweg geworfen wird. Wie der Kopf des kleinen Jungen, den sein Vater gegen den 55steinernen Kamin geschlagen hatte. Ihr Gehirn würde auf den blanken Holzfußboden spritzen, wie eine Leiche in Jonestown, die in der Hitze des Dschungels explodierte …

«He, du, ist alles in Ordnung?» fragte Brenda, die vor ihr stand und sich mit besorgtem Blick zu ihr herabbeugte, wobei das Goldmedaillon hypnotisierend von ihrem Hals baumelte. Mehr als gestern, weniger als morgen: absoluter Quatsch.

«Alles okay», antwortete Caroline und wünschte, sie könnte sich durch die Wattewand zwischen ihnen durchkämpfen, aber sie wußte, es war unmöglich. Sie lebten in verschiedenen Welten – und sie selbst lebte an einem Ort tiefer, finsterer Sinnlosigkeit. Deswegen bekam sie auch Hannahs verdammte Liste nicht zusammen. Wie konnte man eine Person beschreiben, die gar nicht existierte?

 

Sie beugte sich von der Tweedcouch zu ihrer Tragetasche von der National Abortion Rights Action League hinab, die auf dem Teppich lag, und suchte darin herum. Als sie ohne Liste vom Lloyd Harris-Krankenhaus heruntergefahren war, war sie von Panik erfüllt gewesen. Diese Liste war ihre Hausaufgabe, und sie hatte sie nicht gemacht. Sie hatte es ja weiß Gott versucht. Da, wo sich eine Vorstellung von ihr selbst befinden sollte, war ein riesiger, verkohlter Krater. Aber wenn sie keine Liste abgab, war Hannah sicher verstimmt. Auf dem Parkplatz kritzelte sie dann: «Freundlich, ehrlich, wohlmeinend, böse, pervers, engherzig, besitzergreifend, jämmerlich …» Sollte Hannah das doch entschlüsseln. Dafür wurde sie ja schließlich bezahlt.

Sie blickte zu Hannah auf, die auf ihrem Drehstuhl saß und Carolines Herumgewühle mit einem leicht amüsierten Lächeln beobachtete. Sie trug einen braunen Hosenanzug und eine Bluse mit Krawatte und einer Krawattennadel mit einem Tigerauge. Hannah sah aus, als würde sie gerade eine Tupperware-Party schwänzen. Auf den zweiten Blick stellte Caroline fest: Hannah hatte keine Schuhe an.

«Ach ja, die Liste», sagte Hannah und nahm den Zettel. Sie schaute ihn kurz an, dann gab sie ihn Caroline zurück und zündete sich eine braune Zigarette an, und zwar mit Streichhölzern von Corinne's, einem neuen Restaurant in der Gerberei, wo sie gestern abend mit Arthur Lammbraten gegessen hatte. Wenn Caroline die Liste ihretwegen gemacht hatte, dann wollte sie ihr vermitteln, daß 56Carolines Wohlverhalten oder Nicht-Wohlverhalten für sie völlig bedeutungslos war. Auf Grund des verwirrten Ausdrucks auf Carolines erschöpftem Gesicht hatte sie den Verdacht, daß ihre Einschätzung richtig war. Therapie war Theater. Du versuchst, Szenen aus der Vergangenheit der Klienten neu zu inszenieren, und zwar mit anderem Ausgang. Sie erinnerte sich an einen Jungen im staatlichen Krankenhaus, der seine Zeit damit verbrachte, unsichtbare Käfer aus der Luft zu holen. Aber das eine Mal, als sie ihn überredete, damit aufzuhören, landete er in der Zwangsjacke.

«Warum teilen Sie nicht bis zum nächstenmal die Liste in verschiedene Kategorien ein?» sagte Hannah, nahm Nigels Stein und wiegte ihn in der Hand, während sie die Zigarettenasche abstreifte.

Caroline runzelte die Stirn. Die Liste hatte sie die ganze Woche über beschäftigt, und jetzt wurde sie innerhalb von fünfzehn Sekunden abgetan. Wozu sollte sie sich die Mühe machen? «Was für Kategorien?»

«Die, die Sie sehen.»

Caroline seufzte hörbar. Jetzt würde sie die nächste Woche damit verbringen, herauszufinden, welche Kategorien Hannah gesehen hatte. Als hätte sie keine Krankenberichte zu schreiben, Wäsche zu falten, Verbände zu wechseln. Sie hatte keine Zeit für solche Spielchen. Sollten das doch die Hausfrauen machen, die nichts Besseres zu tun hatten. Ihr Blick kehrte zu Hannahs bloßen Füßen zurück.

«Was ist los?» fragte Hannah. Diese rituellen Handlungen kamen ihr so durchsichtig vor, aber die meisten ihrer Klienten schienen sie nicht zu durchschauen. Hier erwies sich ihr britisches Erbe als sehr nützlich. Niemand hatte soviel Geschick wie die Briten, wenn es um leeren Schein ging – Krönungen, Leichenzüge, königliche Hochzeiten, Wachablösung, Meisterwerke der Phantasie, die Teilnehmer und Betrachter gleichermaßen für real hielten. Aber ihr war immerhin klar, daß sie eine Schwindlerin war.

«Diese Liste war wirklich sehr schwierig», sagte Caroline. «Mir fielen nur Sachen ein, die andere Leute über mich gesagt haben. Aber deren Sichtweisen widersprechen sich. Ich kam mir ausgelöscht vor.»

«Warum haben Sie die Liste dann gemacht?»

Eine lange Pause trat ein. Gute Frage, dachte Caroline. Es war ihr gar nicht in den Sinn gekommen, die Liste nicht zu machen. Sie senkte den Blick und schaute auf die Schachtel mit Papiertaschentüchern, 57die auf der geschnitzten Holzkommode neben ihr stand. «Weil ich wollte, daß Sie mich mögen.»

Sie zuckten beide zusammen. Caroline erstarrte und wagte nicht aufzublicken. Warum zum Teufel hatte sie das gesagt? Sie hatte den festen Grundsatz, die Leute nicht wissen zu lassen, was sie von ihnen wollte. Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben. Wenn du so tust, als sei es dir egal, dann kommt das, was du willst, manchmal ohne daß du darum bittest. Aber in diesem speziellen Fall war es ihr wirklich egal. Warum sollte es ihr wichtig sein, ob diese alternde britische Hausfrau sie gerne mochte? Es war ihr absolut gleichgültig.

Hannah merkte, daß sie rot wurde – ob nun aus Verlegenheit angesichts solcher Verwundbarkeit oder ob es von der fliegenden Hitze kam, das wußte sie nicht genau. Sie bekämpfte das Bedürfnis, Caroline zu versichern, daß sie sie wirklich möge. Es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für beruhigende Versicherungen. Aber wie konnte man, wenn man Mutter gewesen war, jetzt keine geben?

«Haben Sie das Gefühl, daß Sie Listen aufstellen müssen, damit die Leute Sie mögen?» fragte Hannah freundlich. Sie fühlte einen schmerzlichen Stich bei dem Gedanken an dieses Kind, das es so gerne recht machen wollte.

«Ich habe das Gefühl, daß ich tun sollte, was Sie wollen, oder ich habe nicht die geringste Chance», hörte Caroline sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen.

«Sehen Sie, woher das kommt?»

«Was?»

«Dieses Gefühl. Erinnern Sie sich, daß Sie mir erzählt haben, wie Sie als Kind immer versucht haben, hilfsbereit zu sein?»

Caroline schloß die Augen und drückte ihren Nasenrücken. Hannah hatte den Eindruck, daß das ein Volltreffer gewesen war. Nach vielen solcher Volltreffer würde sie kapieren.

Caroline blickte aus dem Fenster über den Hof, wo die Grasstoppeln der leichten Neuschneedecke ein schlechtrasiertes Aussehen verliehen. Sie dachte daran, wie die verschiedenen Hausmädchen ihre Mutter immer frisiert hatten. Caroline stand dann in der Ecke des Zimmers, einen Fuß auf dem andern, und wünschte, sie könnte helfen. Ihre Mutter lachte und plauderte mit den Hausmädchen, und sie schnurrte fast, wenn sie ihr den Hals massierten. Ihr brauner Morgenmantel war am Hals offen und entblößte die Formen der 58Schlüsselbeinknochen und weiche Vertiefungen. Wenn Caroline das tun könnte, was die Hausmädchen taten, dann würde ihre Mutter sich ihr gegenüber auch so verhalten.

Als Hannah sah, daß sich Carolines Augen verdunkelten und vor Schmerz zusammenzogen, ermahnte sie sich selbst, nicht zu schnell vorzugehen. Wenn der Schmerz zu stark war, dann würde Caroline zumachen. Sie mußte das beginnende Vertrauen der Klientin abwägen gegen das Aufdecken ihrer uralten Schmerzen. «Sie haben diese Woche darüber nachgedacht, wie die Leute Sie sehen. Wollen Sie hören, was ich sehe?»

«Ja. Okay.» Caroline grub ihre Finger in die Tweedcouch. Was hatte diese Frau wohl herumzumäkeln? Sie hatte ihre Aufgabe gemacht, so gut sie eben konnte. Sie konnte nichts dafür, daß sie eine Nichtperson war.

«Ich sehe eine freundliche, sanfte, verletzbare Frau vor mir, die einiges durchgemacht hat, ohne dabei diese Qualitäten zu verlieren.»

Caroline blickte auf. Einen Augenblick lang begegneten ihre Augen Hannahs Blick. Dann schaute sie schnell weg und studierte mit gerunzelter Stirn die Türklinke aus Messing. Das hörte sich nicht richtig an. Sie erinnerte sich an die Radiosendung, die sie, Tommy und Howard, als Kinder immer hörten, möglichst nah an den großen Holzkasten mit der Vorderseite aus Stoff gedrängt, und sie erschauerten genüßlich, wenn die Stimme zu Beginn der Sendung ‹The Shadow› geheimnisvoll murmelte: «Wer weiß, welche Bosheit in den Herzen der Menschheit lauert …» Wenn Hannah in ihr Sanftmut sah, dann hatte sie weniger Durchblick, als es schien.

«Warum sagen Sie das?»

Hannah zuckte mit den Schultern. Diese Einschätzung war dermaßen weit entfernt von dem, was Caroline gewohnt war, daß sie sie gar nicht an sich heranlassen konnte. Sie hätte sich selbst mit Petrus gestritten und gesagt, sie sei nicht berechtigt, in den Himmel zu kommen. «Ihr Gesicht, Ihr Ausdruck, die Art, wie Sie stehen und sitzen, wie Sie sprechen.» Und nicht nur Caroline, sondern die meisten Klienten. Sie versuchte, dieses Bild vor Augen zu haben, wenn sie mit ihnen arbeitete – liebevolle, fähige Menschen, unter einer Lage Schrott, den andere Leute auf sie abgeladen hatten, als sie zu klein waren, um sich zu wehren. Sie wandte ihren Blick von Carolines unruhigen Augen ab, die ihre bloßen Füße musterten, 59und schaute die kleine graue, steinerne Willendorfer Venus auf dem Fensterbrett an, mit ihren riesigen Schenkeln und dem angeschwollenen Bauch. Sie hatte sie auf dem Flohmarkt in Camden Lock gekauft, als sie das letzte Mal in London gewesen war.

Während Caroline eine Laufmasche an der Fußsohle von Hannahs Strümpfen betrachtete, ging sie Punkt für Punkt durch, wo sie letzte Woche versagt hatte. Sie hatte eine Verabredung zum Mittagessen mit Pam vergessen. Sie hatte sich mit Jackie wegen der Unordnung in seinem Zimmer gestritten. Er schrie: «Ich habe dich schließlich nicht darum gebeten, mich in die Welt zu setzen!» Sie schrie zurück: «Und wenn, dann wäre die Antwort nein gewesen.» Sie fuhr Diana wegen der Stromrechnung an, als sie bis nachts um drei mit Suzanne weg war und alle Lichter hatte brennen lassen. Caroline wußte, daß sie einen höflichen und charmanten Eindruck machen konnte. Aber in Wirklichkeit war sie eine streitsüchtige Furie. Nörgelig. Das mußte sie noch auf die Liste schreiben. Diana hatte dieses wahre Ich oft genug zu sehen bekommen. Das war es wahrscheinlich, was sie vertrieben hatte. Diana sagte, sie sei egoistisch. Aber das war noch das wenigste. Sie war rücksichtslos, egozentrisch – ein Alptraum von einer Frau. Freundlich und sanft? Hannah wurde dafür bezahlt, daß sie solche Sachen sagte.

«Sie würden das nicht denken, wenn Sie mich wirklich kennen würden», sagte Caroline.

Hannah kam es so vor, als gebe es auf der ganzen Welt nur zwei Verhaltensweisen: Die eine bedeutete «komm her», und die andere bedeutete «geh weg». «Also gut», sagte sie mit einem Lächeln, «enthüllen Sie mir Ihre wirklichen Schwächen und Mängel.» Du kannst wütend weggehen, oder du kannst amüsiert weggehen.

Caroline schüttelte verneinend den Kopf. Und betrachtete irritiert die rote Sohle an einem ihrer weißen Schuhe. «Kein Mensch in diesem Land hat das Recht, sich selbst als freundlich und sanft zu betrachten», verkündete sie. «Amerika plündert die ganze Welt aus, und alle Amerikaner sind die Nutznießer.»

Hannah betrachtete Caroline. Was für eine panische Reaktion darauf, daß jemand etwas Nettes über dich sagt. «Und Sie sind selbstverständlich persönlich für die amerikanische Außenpolitik zuständig?»

Caroline schaute Hannah an. Dann schaute sie wieder auf ihre Schuhsohle. Ihre Eltern, David Michael, ihre Genossinnen in der 60Abtreibungsvermittlungsstelle und in den Krankenhäusern, in denen sie gearbeitet hatte, hatten es alle als selbstverständlich angesehen, daß sie für das Verhalten ihres Landes verantwortlich seien, daß sie kollektiv die Nation bildeten. Diese Frau kam aus England, vielleicht wußte sie deswegen nicht, was Demokratie bedeutete. Aber es klang doch so, als sei Hannah auf ihrer Seite. Sie saß lange schweigend da und zeichnete mit den Fingerspitzen die Nähte an ihrem Schuh nach. Unbekannte Empfindungen, die etwas mit Erleichterung und Dankbarkeit zu tun hatten, leuchteten am Horizont ihres Bewußtseins auf, wie das Nordlicht über Lake Glass an einem klaren Wintertag.

«Und was ist mit der Übertragung?» fragte Caroline schließlich. Sie wußte aus den Psychologiekursen an der Schwesternschule, daß Therapie so funktionierte. Sie erinnerte sich, daß sie in ihren Lehrbüchern darüber gelesen hatte. Aber dann war es tatsächlich eingetreten, mit Arlene. Die farblosen Beschreibungen in den Lehrbüchern hatten mit der Wirklichkeit sehr wenig zu tun.

«Was ist damit?»

«Das will ich nicht machen.»

«Wenn Sie es nicht wollen, dann machen Sie es nicht.» Leider mußte es aber eintreten, damit der ganze Prozeß funktionierte. Caroline mußte Hannah als Autoritätsfigur akzeptieren, damit sie die Sachen neu hören konnte, die sie als Baby mißverstanden hatte – wie zum Beispiel die Vorstellung, sie habe den Zweiten Weltkrieg verursacht.

«Ich habe das schon einmal gemacht, und das reicht.» Das letzte, was sie im Augenblick brauchen konnte, war, in einen Zustand hündischer Ergebenheit und Abhängigkeit zu verfallen.

«Ich wußte nicht, daß Sie schon mal in einer Therapie waren.» Daß Caroline auf das Thema Übertragung zu sprechen kam, hieß vermutlich, daß dieser Prozeß bereits stattfand. Hannah machte sich in Gedanken eine Notiz, alles zu tun, um ihn zu unterwandern, und dazu gehörte normalerweise, viele schlechte Witze zu erzählen.

«Hab ich auch nicht. Ich meine, in meinem Privatleben.»

«Und was meinen Sie mit Übertragung?»

«Jemanden zu Gott zu machen.» Sie hatte Arlenes Büro belagert, ihr ganzes Leben dem Dienst an Arlene gewidmet. Sie putzte ihre Bürofenster und wusch ihren VW, sie brachte ihr Sandwiches von dem Laden unten an der Straße und spitzte ihre Bleistifte, sie 61brachte ihre Uniformen zur Wäscherei und tippte ihre Krankenberichte. Sie machte nach, wie Arlene ihre gestärkte weiße Schwesternhaube trug, sie imitierte den zielstrebigen Gang, mit dem sie durch die Korridore marschierte und Barmherzigkeit austeilte. Es war sehr beängstigend gewesen, Menschenleben davon abhängig zu wissen, daß man die richtigen Medikamente in den richtigen Abständen ausgab. Dadurch, daß sie Arlene nachäffte, schuf sie sich die Illusion, daß sie ihre Arbeit gleich gut machte.

Hannah nickte. «Ja, ich kann das genausowenig leiden wie Sie. Stellen Sie sich vor, was das für ein Gefühl ist, wenn jemand das mit Ihnen macht.» Als sie angefangen hatte, als Therapeutin zu arbeiten, brachte es sie völlig durcheinander. Die Augen eines Klienten verschleierten sich, und er oder sie fing an, über all ihre schlechten Witze zu lachen und ihre Kommentare aus der letzten Sitzung wiederholen, als seien es die Zehn Gebote. Es war eine Belastung, zu sehen, wie jede ihrer Bemerkungen auf eine versteckte Bedeutung hin untersucht wurde, wenn sie doch die meiste Zeit nur improvisierte. Aber schließlich wurde ihr klar, daß sie einen Kehrbesen auf ihrem Stuhl plazieren könnte und die gleiche Vergötterung stattfinden würde.

Sie schaute kurz aus dem Fenster auf die Straße, und genau in diesem Augenblick kam der orangefarbene Le Car angeschlichen. Amoklaufende Übertragung. Andererseits hatte Maggie von Zeit zu Zeit erklärt: «Gib's zu, meine Liebe: Manchmal genießt du es sehr, angebetet zu werden. Das geht uns allen so.» Und Hannah konnte es nicht leugnen.

«Sie klingen britisch oder was», sagte Caroline. Hannahs akkurater Akzent erinnerte sie an ihre Mutter, die glaubte, weil ihr Vater Engländer war, habe sie das Recht, wie Königin Victoria zu reden: «We are not amused …» Sie konnte sich kaum an ihren Großvater erinnern; in der Shaker Heights-Kirche hatte er eine Predigt gehalten, als Caroline vier war, und hatte einen schwarzen Morgenrock und ein riesiges violettes Lesezeichen aus Satin um den Hals getragen. Caroline bekam den Schluckauf und konnte nicht aufhören. Ihre Mutter starrte sie die ganze Zeit an. Später sorgte sie dafür, daß Caroline sich bei ihrem Großvater entschuldigte. Er starb eine Woche später. Jahrelang glaubte Caroline, sie sei schuld an seinem Tod, weil sie während seiner Predigt den Schluckauf gehabt hatte.

«Ich bin in Australien geboren und dann mit vier Jahren nach 62London umgezogen», sagte Hannah. Wenn sie Dinge von sich selbst mitteilte, bedeutete das, daß sie sich einem echten Austausch öffnete; ein wirklicher Austausch führte zu Anteilnahme; jede Person, an der sie Anteil nahm, war eine Person mehr, die sie verlieren konnte; und deren hatte es schon so viele gegeben. Sie verstand die Vorteile der freudianischen Distanz: «Lassen Sie uns überlegen, warum Sie sich für meinen Akzent interessieren …» Verlockend, aber alles andere als hilfreich, wenn man versuchte, Übertragung möglichst gering zu halten. Übertragung basierte auf Rätselhaftigkeit und Distanziertheit. Und Caroline hatte schon zuviel Distanziertheit erlebt.

«Und wie sind Sie dann hier gelandet?» Eine graue Steinstatue von einer runden, nackten Frau stand auf dem Fenstersims Hannah gegenüber. War sie schon die ganze Zeit über hiergewesen? Caroline hatte sie nie bemerkt.

«Ich habe im Krieg einen Amerikaner geheiratet.»

«Oh.» Es war Caroline bis jetzt nicht so richtig bewußt gewesen, daß Hannah ein Leben hatte außerhalb der Stunde, die sie gemeinsam in diesem Raum verbrachten. Die Vorstellung behagte ihr gar nicht. «Mein Großvater kam aus England. Er war anglikanischer Pfarrer.»

«Ach ja? Und aus welcher Gegend?»

«Aus Dartmouth.»

Hannah sah das hübsche kleine Städtchen vor sich, auf Hügeln rings um einen Hafen gelegen, ähnlich wie am Mittelmeer, soweit das in England eben möglich war. Sie war einmal mit ihren Großeltern dort gewesen. Sie wanderten oberhalb des Hafens auf den Klippen entlang, ihre Großmutter vorweg, ein Ozeandampfer, flankiert von zwei Schleppern. Sie landeten in einem Gasthaus an einer engen, kurvigen Straße, wo sie Tee tranken und wunderbare Törtchen mit Sahne und frischen Erdbeeren aßen.

«Und Sie haben einen Bostoner Akzent mit irischem Einschlag», sagte Hannah.

«Mein Vater ist Ire. In der Gegend, in der wir gewohnt haben, wohnten hauptsächlich Iren. Meine Mutter muß sich wie eine Missionarin unter den Heiden gefühlt haben. Sie machte sich immer über unsere Aussprache lustig. ‹Good Mawning›, sagte sie, wenn wir zum Frühstück kamen. Sie ließ uns die Wörter ‹heart› und ‹bar› immer wieder sagen, bis wir sie richtig aussprachen. Mein Bruder 63Howard redete vier Monate lang überhaupt nicht, als er fünf war. Das war wunderbar. Nur hat er seither nicht mehr aufgehört zu reden …»

Hannah beobachtete Caroline und hörte genau zu. Caroline lächelte, aber was sie sagte, war nicht lustig.

«Wir hatten einen Papagei namens Cracker, und alle Leute sagten, sein Wortschatz sei größer als der von Howard. Wenn das Telefon klingelte, sagte Cracker immer ‹Hallo?›. Wenn jemand zur Tür hereinkam, sagte er ‹Tag!›. Wenn man seinen Namen rief, sagte er ‹Was?›. Kennen Sie den Witz von dem Mann, der in eine Zoohandlung geht und nach einem Gürteltier verlangt?»

Während sie den Witz erzählte, durchforstete Caroline ihr Gehirn nach den besten Witzen, die sie kannte. Hannah war vermutlich erschöpft – den ganzen Tag mußte sie sich mit irgendwelchen Irren abgeben. Warum sollte sie ihr nicht mal eine Pause ermöglichen? Während sie noch einen Witz erzählte, von einem Frosch, der bei der Bank ein Darlehen aufnimmt, beobachtete sie Hannahs Gesicht aufmerksam und glaubte entdecken zu können, daß in ihre blassen Wangen etwas Farbe kam. Als Hannah lächelte und dann leise lachte, spürte Caroline ein angenehmes Gefühl in sich aufsteigen. Humorvoll. Vielleicht konnte sie das noch in ihre Liste aufnehmen?

Nach dem dritten Witz schaute Hannah auf die Uhr. Ihr war klar, daß Caroline vermutlich ihre Mutter auf diese Weise für sich einzunehmen versucht hatte. Und Hannah mußte zugeben, daß auch sie davon eingenommen war; sie versuchte, sich die Pointen zu merken, damit sie Arthur die Witze beim Abendessen erzählen konnte. Aber von jemandem eingenommen zu werden, gehörte nicht zu ihrem Job, ermahnte sie sich. «Mir hat diese Sitzung wirklich Spaß gemacht, Caroline. Aber ich glaube, ich sollte darauf hinweisen, daß dies vermutlich die teuersten Witze waren, die Sie je erzählt haben.»

Caroline schaute sie an, bestürzt.

 

Während sich die Jungen im Fernsehen ‹Welcome Back, Kotter› anschauten, briet Caroline Schweinekoteletts und dachte über Übertragung nach. Allmählich wurde ihr klar, daß Arlene nicht der einzige Fall war. Der erste Fall war im Grunde ihre rosa Decke gewesen, deren Wunderkräfte sie entdeckte, als sie drei war. Sie erinnerte sich daran, wie sie im Dunkeln mit einer vollen Blase 64aufwachte, froh, daß sie nicht von einer warmen Pfütze umgeben war. Sie stand auf, packte ihre rosa Decke und machte sich auf den Weg durch den Flur zur Toilette. Überall waren beängstigende Schatten. Sie war nicht so ganz sicher, ob es sich nicht doch um Monster handelte. Sie steckte den Daumen in den Mund, aber das half nichts. Dann holte sie tief Luft und rannte in das Zimmer ihrer Eltern, wo ihre Mutter auf der Seite liegend schlief. Allein im Bett, weil Carolines Vater von den Japanern gefangen worden war. Caroline packte sie an den Schultern, rüttelte sie und flüsterte: «Mama, muß aufs Töpfchen.»

Nach dem dritten Rütteln begann ihre Mutter zu schluchzen. Caroline erstarrte. Was hatte sie getan? Sie dachte, ihre Mutter würde sich freuen, daß sie nicht ins Bett machte. «Ich bin zu müde, Caroline. Geh allein. Du bist doch jetzt ein großes Mädchen.»

Sie mußte schnell etwas unternehmen. Auf den Zehenspitzen trippelnd wickelte sie sich in ihre rosa Decke und versicherte sich, daß kein Monster sie schnappen konnte, solange sie so eingehüllt war. Sie raste zum Klo und kam unversehrt dort an.

Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Mutter zum Weinen gebracht hatte. Und weil sie wußte, ihre Mutter würde sich darüber freuen, daß Caroline den mit Monstern erfüllten Flur und das Klo ganz alleine gemeistert hatte, zog Caroline ein paar Papiertaschentücher aus der Schachtel, die auf der Klospülung stand, wickelte sich in die Decke und kehrte triumphierend zu ihrer Mutter zurück und tupfte ihr die Tränen mit den Papiertüchern ab. Ihre Mutter schob ihre Hand weg und sagte: «Laß das. Geh wieder ins Bett und schlaf.»

Von da an wußte Caroline, daß ihr nichts passieren konnte, solange sie in ihre rosa Decke gewickelt war. Es machte nichts, daß ihre Mutter und Maureen jammerten, die Decke sei miefig und dreckig – Caroline wußte, daß sie magische Kräfte besaß, die dem forschenden Blick der Erwachsenen verborgen blieben.

Sie schaute zu Jackie und Jason hinüber, die bäuchlings auf dem geknüpften Teppich lagen, die Füße in der Luft und die Köpfe auf Kissen, und über Barbarino im Fernsehen kicherten. Jason hielt in einer Hand seinen Hockeyschläger. Caroline hätte sich nicht gewundert, wenn sie entdeckt hätte, daß er den Schläger auch mit ins Bett nahm. Jason kam auf Carolines Vater heraus, er war klein und gedrungen, mit rotbraunen Haaren, grünen Augen und mit Wimpern, 65die so lang waren, daß sie unecht wirkten. Er lachte viel und war erfüllt von stürmischem Selbstvertrauen. Jackie glich mehr ihr selbst – groß und schmal, mit dunklen, lockigen Haaren und bekümmerten blauen Augen. Er nahm alles zu ernst und überdeckte das mit gequälten, aber angenehmen Umgangsformen. Es wunderte sie oft, daß beide Jungen denselben Vater hatten und aus ihrem Bauch gekommen waren.

Arnold nagte anmutig an Jasons neuen blauen Nike-Turnschuhen herum. «Laß das, Arnold!» rief sie. «Jason, laß ihn nicht deine neuen Schuhe zerkauen, Schatz.»

«Das kann er doch, wenn er will, Mama.»

«Nein, das kann er nicht. Ich habe diese Schuhe bezahlt, und ich bin nicht -» Sie hielt inne, weil die beginnende Moralpredigt sie bereits anödete. «Jackie, könntest du bitte noch ein bißchen mehr Holz für mich in den Ofen tun, Schatz. Es wird kühl hier drin.»

Jackie erhob sich langsam, ohne die Augen vom Fernseher zu nehmen, und Caroline kehrte zu ihren Erinnerungen an Pink Blanky, ihre rosa Decke, zurück. Normalerweise schleppte sie sie überallhin mit. Aber eines Morgens überredete ihre Mutter sie, die Decke zu Hause zu lassen, wenn sie in den Kindergarten ging. Sie faltete sie sorgfältig zusammen, legte sie auf ihr Kopfkissen und streichelte sie beruhigend. Den ganzen Morgen über griff sie immer wieder vergeblich mit der linken Hand nach Pink Blanky, während sie Papier ausschnitt und aufklebte. Als sie nach Hause kam, verkündete Maureen, sie habe Putzlappen gebraucht und Pink Blanky in vier Stücke zerschnitten. Unter Schock kletterte Caroline ins Bett, um ihren Mittagsschlaf zu machen. Als sie die Steppdecke zu sich heraufzog, die ihre Mutter per Post von der blinden Frau eines Landarbeiters aus den Appalachen gekauft hatte, versuchte sie, sich einzureden, daß diese Decke sie ebenfalls vor nächtlichem Feuer, vor Dieben im Kleiderschrank, vor Japanern auf Okinawa und vor der britischen Herrschaft in Irland beschützen werde.

Aber die Decke roch nach der Zedernholzkommode, in der sie im Sommer aufbewahrt wurde, und nicht nach Moder, Rotz und Spucke. Sie hatte nicht die lasche, abgewetzte Formbarkeit von Pink Blanky. Wenn man daran lutschte, war es, als würde man Pappkarton lutschen. Pink Blanky gab nach, wenn Caroline sie mit den Fingerspitzen streichelte, aber diese Decke lag nur da wie ein Waschbrett aus Zinn. Während sie in den steifen, sauberen Falten 66dieser Decke Schutz und Sicherheit suchte, dachte sie wehmütig an die widerlichen Genüsse mit Pink Blanky, die jetzt bei den alten Unterhosen ihres Vaters lag. Wie hatte sie es nur dazu kommen lassen können? Sie hätte Pink Blanky nie dalassen dürfen, selbst wenn sie damit im Kindergarten wie ein Baby wirkte. Wenn sie sich nicht so hartnäckig an Pink Blanky geklammert hätte, dann würden sie jetzt vielleicht immer noch zusammen schlafen. Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben. Wenn du sie nicht wissen läßt, daß du etwas willst, dann müssen sie es dir auch nicht wegnehmen. Sie steckte den Daumen in den Mund und schlief ein, getröstet von dieser Einsicht in die seltsamen Gesetzmäßigkeiten der Erwachsenenwelt.

Ein paar Nächte später schlich sie um Mitternacht zum Putzschrank, wühlte in den Staublappen herum und rettete zwei von Pink Blankys vier Stücken. Sie raste nach oben ins Bett und streichelte eines der Stücke. Es war glatt und steif, bedeckt mit Bohnerwachs. Sie griff nach dem anderen Stück und steckte ihre Nase hinein. Es roch nach Möbelpolitur mit Zitronengeschmack. Sie begann zu weinen. Pink Blanky war nicht nur außerstande, sie vor dem Verlust seines magischen Schutzes zu bewahren, die Decke konnte nicht einmal sich selbst vor dieser erniedrigenden Zerstückelung und Verbannung bewahren. Sie mußte den Tatsachen ins Gesicht sehen: Pink Blanky war auch nur sterblich.

Am nächsten Morgen stopfte sie die Stücke unter die Matratze, aber Maureen fand sie, als sie das feuchte Bettlaken wechselte. Als sie die Stücke wegtrug, grub Caroline ihre Zähne in Maureens Unterarm. Maureen mußte mit vier Stichen genäht werden und kehrte nach Galway zurück, mit vielen schlechten Erinnerungen an die Neue Welt. Caroline wurde für den Rest ihres Lebens auf ihr Zimmer geschickt. Maureen wurde durch Esther aus Polen ersetzt, die ihnen in gebrochenem Englisch Gute-Nacht-Geschichten über ihre Erlebnisse als junges Mädchen in Buchenwald erzählte.

Caroline beobachtete, wie ihre Söhne voll Bewunderung Gabriel Kotter anstarrten. Jason bat sie in regelmäßigen Abständen, sie solle doch einen Mann wie Gabriel Kotter heiraten; er wolle einen Vater haben.

«Du hast schon einen Vater», erklärte Caroline immer.

Jason verzog dann vor Abscheu das Gesicht, und Caroline 67brachte nicht mehr genügend Loyalität gegenüber Jackson auf, um ihn zurechtzuweisen.

Jackie und Jason hatten beide ihre Schmusedecken gehabt, aber es war keine große Sache für sie gewesen, sie aufzugeben. Sie verloren einfach mit der Zeit das Interesse daran. Vielleicht fühlten sie sich bei ihr einfach sicher genug, daß sie keine solchen Ersatzgegenstände brauchten? Vielleicht war sie als Mutter doch nicht so eine Niete? Sie überlegte sich, wieviel Schaden sie ihnen wohl angetan hatte, indem sie sie von einem Haus zum andern schleppte. Aus Jacksons Villa im Neo-Tudor-Stil in Newton heraus und in David Michaels Bus, auf dessen Rückfenster eine Szene von Maos Langem Marsch gemalt war. In die Kommune nach Somerville und dann hierher in dieses Haus in den Wäldern. Jedesmal, wenn sie eine schlechte Klassenarbeit schrieben oder sich mit einem Freund stritten, nahm sie an, es sei ihre Schuld, weil sie ihnen so viel Instabilität zumutete. Natürlich hatte sie selbst die ersten achtzehn Jahre ihres Lebens in derselben weitläufigen viktorianischen Bruchbude in Brookline verbracht, und sie war nicht gerade ein Musterbeispiel psychischer Gesundheit. Gute Mutter. Könnte sie das in ihre Liste aufnehmen?

Sie dachte über ihre Liste nach, während sie die Backofentür öffnete und mit der Gabel in die gebackenen Kartoffeln stach. Wenn Hannah zu ihr sagen konnte, sie solle die Liste in Kategorien aufteilen, dann hatte sie offensichtlich welche gesehen. Aber welche? Freundlich, ehrlich, engherzig, besitzergreifend, jämmerlich … Sie sah keinen Ansatzpunkt. «Humorvoll» wollte sie hinzufügen. Aber Hannah hatten ihre Witze nicht gefallen. Oder vielmehr, sie hatte auf die Witze reagiert und ihr dann gesagt, sie verplempere ihr Geld. Auch recht. Sie würde keine mehr erzählen. Sollte Hannah doch den ganzen Tag wie ein Buddha dasitzen und sich von den Problemen anderer Leute anöden lassen.

Ihr fiel ein, daß sie zu Hannah gesagt hatte, sie habe das Gefühl, sie müsse tun, was andere wollten, damit sie sie gerne mochten. Würde sie also Hannah ihre Probleme erzählen, weil Hannah das wollte? Aber es war ihr gleichgültig, ob Hannah sie mochte. Dann fiel ihr ein, daß sie Hannah gesagt hatte, es sei ihr nicht gleichgültig. Warum zum Teufel hatte sie das gesagt? Es war ihr nämlich wirklich gleichgültig. Diese Frau, die aussah wie ein Betty Furness-Verschnitt, bedeutete ihr überhaupt nichts. Sie würde noch Lügnerin in ihre Liste aufnehmen.

68

Stimmte es denn überhaupt, daß sie das Gefühl hatte, sie müsse tun, was andere wollten, damit sie sie gerne mochten? Sie dachte an Jackson mit seinem Piepser, den er am Gürtel trug wie ein Bergsteiger sein Jagdmesser. Als sie schließlich ihrer Verzweiflung darüber, daß sie ihn nie sah, Ausdruck gab, verbrachte er noch mehr Zeit im Krankenhaus als zuvor. Und was war mit David Michael? Sie sah ihn vor sich, wie er an einem Joint zog, seinen Pferdeschwanz unter eine Operationsmütze gestopft; ein Krümel Marihuana hing in seinem Schnurrbart. Als sie sich über seine anderen Frauen beschwert hatte, fing er eine Affäre mit Clea an, die eine ihrer besten Freundinnen war und ebenfalls in der Somerville-Kommune lebte. Immer wenn sie aufhörte, langmütig zu sein, zogen sich die Leute zurück. Aber Diana hatte sich auch zurückgezogen, und Caroline hatte immer versucht, alles zu tun, was Diana wollte. Einschließlich dieser gottserbärmlichen Enthaltsamkeit.

Während Caroline die Salatblätter zerriß und in die hölzerne Salatschüssel warf, nahm sie ihre Gedenkfeier für Pink Blanky wieder auf, den einzigen Gegenstand ihrer Anbetung, dessen Weggang unfreiwillig gewesen war. Nein, das stimmte nicht. Was war mit Marsha? Caroline erinnerte sich, wie sie an einem Sommernachmittag mit ihrem Dreirad die Straße entlanggefahren war und Pink Blanky nachgetrauert hatte. Sie fuhr mit geschlossenen Augen, in der Hoffnung, in einen Kanalschacht zu fallen oder von einem Bus überfahren zu werden. Das würde wahrscheinlich auch passieren, ohne den Schutz von Pink Blanky. Es war ihre Schuld. Sie hatte Pink Blanky allein zu Hause gelassen, mit einer Mörderin.

Ein Mädchen, das mit seinem roten Dreirad in die entgegengesetzte Richtung radelte, hielt vor Caroline an und sagte: «Nicht weinen. Ich kann deine Freundin sein.» Sie hatte kurze Rattenschwänzchen an beiden Seiten ihres Kopfes, wie Schweinsohren, zusammengebunden mit schmalen rosa Bändern.

Es stellte sich heraus, daß Marsha alles Wissenswerte wußte, außer, wozu Penisse da waren. Sie wußte, in welchen Nachbarsgärten man Blumen pflücken konnte, ohne erwischt zu werden; wie man Blumen zerdrückte, um Parfum herzustellen (das wurde dann in leere Pillenkapseln verpackt, und die jüngeren Kinder in der Nachbarschaft wurden gezwungen, es zu kaufen); warum Risse im Gehweg waren; wie man mit Wäscheklammern Spielkarten an den Rädern des Dreirads befestigte, damit beim Fahren ein flappendes 69Geräusch entstand; warum gewisse Gräber auf dem Friedhof am Ende der Straße eingesunken waren (Grabschänder hatten die Särge gestohlen); wo kleine Brüder wie Howard herkamen (man kaufte sie im Krankenhaus) und warum man ihnen nicht weh tun sollte. Caroline hörte auf, ein Angsthase zu sein, der sich nicht einmal nachts allein auf die Toilette traute. Sie waren sämtliche Fernseh-Paare: Marsha war der Lone Ranger, der für Gerechtigkeit sorgte, und Caroline war der Indianer Tonto, sein Gehilfe. Marsha war der Cowboy Cisco Kid, und sie war sein mexikanischer Freund Pancho. Marsha war Roy Rogers, der singende Cowboy, und sie war Dale Evans, seine Frau. Ihre Dreiräder waren Hengste, und sie ritten auf ihnen sehr weit, bis zur nächsten Querstraße.

Praktisch das einzige, was Marsha nicht gewußt hatte, war, wie man nicht stirbt, wenn man in der sechsten Klasse von einem Bäckereilaster überfahren wird. Caroline hatte gewußt, daß man sich auf niemanden verlassen konnte, selbst wenn die Ampel grün war. Wäre sie an jenem Nachmittag mit Marsha zusammengewesen, statt zu dem Treffen eines Schulclubs zu gehen, in den Marsha nicht aufgenommen wurde, weil ihre Noten nicht gut genug waren, dann wäre Marsha nicht überfahren worden. Caroline hatte nicht einmal in einen Club eintreten wollen, der nicht auch Marsha haben wollte. Marsha war sehr gekränkt gewesen.

Die Kinder in der Nachbarschaft verbrachten viel Zeit damit, den Zebrastreifen und den Bordstein, wo Marsha überfahren worden war, nach Blutflecken zu untersuchen. Als Caroline vorbeikam, riefen sie sie herbei und sagten, sie solle sich einen Kieselstein anschauen; und sie behaupteten steif und fest, das sei einer von Marshas Zähnen. Aber Caroline sah innerlich ohnehin schon alles viel zu deutlich vor sich – Marshas Körper, blutig und zermatscht, schlaff und leblos auf dem Asphalt.

Caroline sparte das Geld, das sie mit Babysitten verdiente, und kaufte einen Blumenstock mit einer Lilie für Marshas Grab. Esther war durch Geraldine ersetzt worden, die Gute-Nacht-Geschichten über ihre Flucht aus Mississippi erzählte, nachdem ihr Mann vom Ku-Klux-Klan gelyncht worden war. Den Kopf in einen geblümten Schal gehüllt, hatte Geraldine sich bereit erklärt, Caroline mit dem Bus zu Marshas Grab zu bringen. Aber sie schaute die Lilie an und sagte: «Große Güte, mein Kind, du willst da doch keine echten Blumen hinstellen. Mist, das olle Ding wird genauso vermodern 70wie sie. Du willst welche aus Plastik, die bleiben schön, bis in alle Ewigkeit.» Also gingen Caroline und Geraldine und kauften violette Plastikhortensien. Als sie den marmornen Grabstein, der ein Lamm darstellte, betrachtete, rief Caroline sich ins Gedächtnis, daß Marshas Tod ihre Schuld sei. Sie war an dem Nachmittag nicht mit ihr zusammengewesen. Sie hatte erst viel zu spät begriffen, daß Marsha ihren Schutz genauso dringend brauchte wie sie selbst den von Marsha.

Als sie nach Hause kam, schloß sie sich mit einer Schachtel Uncle Ben's Reis im Badezimmer ein. Marshas Mutter war eine ehemalige Nonne, die ihren Orden verlassen hatte, weil ihr keine elektrische Decke genehmigt wurde, als sie Arthritis bekam. Marsha hatte Caroline oft erzählt, wie man Buße tat. Als Buße für ihre Schuld an Marshas Tod streute Caroline eine Lage Reis auf den gekachelten Fußboden und kniete darauf, mit ausgestreckten Armen, wie Jesus am Kreuz. Nach mehreren Nachmittagen dieser Art waren ihre Knie wund gerieben, und der Reis ging ihr aus. Sie überlegte, ob sie sich im Fernsehen die Musiksendung ‹American Bandstand› anschauen sollte, aber Rockmusik erschien ihr zu frivol, und sie nahm statt dessen ihr Taschengeld und ging neuen Reis kaufen. Denn wenn sie nicht jemand war, der Strafe für die Schuld am Tod ihrer besten Freundin verdiente, wer war sie dann? Niemand.

Caroline drehte die Schweinekoteletts um und begann, Äpfel in die eiserne Bratpfanne zu schneiden. Dabei überlegte sie sich, ob diese violetten Hortensien wohl noch auf Marshas Grab standen, frisch wie am Tag, als sie gekauft wurden. Nach Marsha kam Rorkie, dann eine Reihe grauenhafter Freunde, dann kamen Arlene, Jackson, David Michael, Diana. Sie merkte, daß sie seit Pink Blanky immer wieder jemanden mit deren Weisheit und Güte ausgestattet hatte.

Als sie den Tisch deckte, mit den braunen Steinguttellern, die – neben Jackie und Jason – zu den wenigen Überbleibseln ihrer Ehe mit Jackson gehörten, fiel ihr wieder ein, daß Hannah heute nachmittag gesagt hatte, sie sei ein freundlicher und sanfter Mensch. War da etwas Wahres dran? Immerhin hatte diese Frau einen Doktortitel und einen britischen Akzent. Selbst wenn sie barfuß herumrannte.

Jackie blickte vom Fußboden vor dem Fernseher auf und fragte: «Was ist so komisch, Mama?»

71

Sie merkte, daß auf ihrem Gesicht ein nachdenkliches Lächeln lag. Um Gottes willen, bloß nicht. Bitte nicht noch einen Pink-Blanky-Ersatz. «Gar nichts», sagte sie, kurz angebunden.

4

Im Nachthemd, mit einem roséfarbenen Morgenmantel aus Flanell darüber, saß Hannah in einem Sessel neben dem Franklin-Ofen, las ‹Love Comes Fast› und trank einen trockenen Martini. Sie hörte das Rascheln von Arthurs Wall Street Journal im Wohnzimmer. Ihr Taschenbuch war zerlesen und hatte Eselsohren, weil es bereits durch die Hände dreier Freundinnen gegangen war, die mit der gleichen Begeisterung Kitschromane austauschten wie ihre Kinder früher Baseball-Sammelkarten. Sie hatte vor Jahren angefangen, Liebesromane zu lesen, um herauszufinden, was viele ihrer Klienten an ihnen fanden. Sie begriff schnell, daß sie sie verschlangen, um sich von dem Glanz mühseliger Ehen und langweiliger oder aggressiver Ehemänner zu überzeugen. Als sie das herausgefunden hatte, fand sie zudem heraus, daß sie selbst süchtig geworden war. Diese verdammten Dinger hatten eine anregende Wirkung auf sie. Ihre Klienten beklagten sich oft darüber, daß ihre Beziehungen eintönig und fad wurden, als sei es die Schuld ihrer jeweiligen Partner, daß sie sich nicht alle paar Jahre in aufregende neue Personen verwandelten. Und sie antwortete dann: «Deswegen hat Gott Ihnen Phantasie geschenkt.»

Maggie hatte sie wegen ihres literarischen Geschmacks oft ausgeschimpft. Als Hannah sie eines Tages im Lloyd Harris-Krankenhaus besuchte, sah sich Maggie gerade das Verbraucherquiz ‹The price is right› an. «Na, habe ich dich ertappt!» sagte Hannah. «Ich soll keine Liebesromane lesen, aber du kannst dir Quizsendungen ansehen?»

«Meine Liebe», sagte Maggie in ihrer gesteppten Bettjacke, «wenn du im Sterben liegst, dann kannst du dir ansehen, was du willst.»

Hannah hielt sich bei den letzten paar Seiten etwas länger auf und freute sich, daß ‹Love Comes Fast› genauso aufhörte, wie sie es sich schon gedacht hatte: Er kriegt sie, er vögelt sie, und beide weisen 72alle Symptome auf, daß sie nun bis an ihr Lebensende glücklich miteinander leben werden. Sie legte das Buch auf den Fußboden und zündete sich eine Zigarette an. Mit geschlossenen Augen spürte sie die vom Ofen ausgehende Wärme. Sie las Liebesromane und nicht ‹Madame Bovary› unter anderem auch deswegen, weil sie alle ein Happy-End hatten – im Gegensatz zu vielen ihrer Klienten. Wenn sie sich den ganzen Tag Geschichten über Kindesmißhandlung und geschlagene Frauen, über Vergewaltigung und Inzest angehört hatte, war sie zu müde für noch mehr Realismus. Sie brauchte Geschichten, in denen die Guten bekamen, was sie wollten – und die Schlechten, was sie verdienten.

Sie stand auf, streckte sich und ging zum Fenster, das oben eine Scheibe aus farbigem Glas hatte. Kalte Luft drang durch die Abdichtungen. Weit unten am See verliehen die Lichter der Stadt dem Nachthimmel einen schwachen Glanz. Simon und Joanna waren irgendwo dort unten und lebten ihr eigenes Leben. Sie waren in ihrem Bauch gewachsen und hatten sich jahrelang an ihren Rockschößen festgehalten, und jetzt stellten sie ungedeckte Schecks aus, backten Quiche, spielten Racketball und hatten ihre Liebesaffären, ganz ohne Hannahs Beistand. Sie schaute zu den Porträts von Mona und Nigel an der Wand hinüber. Deren gegenwärtigen Zustand konnte sie sich nicht so leicht vorstellen, obwohl sie es weiß Gott versucht hatte. Aber wo sie auch waren – sie hoffte, daß auch sie ohne ihre Hilfe zurechtkamen.

Sie studierte die vier Bilder, die ein Mann aus der Umgebung nach Fotos gemalt hatte. Jedes der Kinder war ihr Produkt, und doch waren sie so verschieden. Simon, gutaussehend und tyrannisch, mit den Gesichtszügen und Gesten eines Vaters, der verschwand, als Simon ein Jahr alt war – die gleichen hellen Haare und die gleiche blasse Haut, die gleiche arrogante Kopfhaltung und das gleiche vorgeschobene Kinn. Nigel, ein schmaler, verrückter kleiner Junge mit dicken Brillengläsern, der immer in der Morgendämmerung zum See hinunterrannte, um Steine springen zu lassen, und sie erschreckte, wenn sie sein Bett leer vorfand. Einmal schickte sie einen Wildhüter in Uniform zum See, um ihn zu suchen, in der Hoffnung, es werde ihn so einschüchtern, daß er in Zukunft im Bett bliebe. Er fiel auf die Knie, hob die gefalteten Hände und sagte: «Verhaften Sie mich, Sir!» Mona, pummelig und knuddelig, die Freundin neuer Kinder in der Schule, die Retterin verletzter Haustiere. 73Sie wäre zu einer Mutter, Krankenschwester, Therapeutin, Sozialarbeiterin herangewachsen, vorbelastet wie sie war mit dem Mitgefühl ihrer Mutter für alles Schwache oder Verletzte. Und Joanna, flink und effizient als kleines Mädchen, die Bibliothekarin, wenn die Kinder Bibliothek spielten, die Oberschwester, wenn sie Krankenhaus spielten. Jetzt erfolgreiche Börsenmaklerin, Vorsitzende der Lake Glass Professional Women's League, letztes Jahr Geschäftsfrau des Jahres in New Hampshire. Der Wildhüter gab ihnen einmal ein verlassenes Rehkitz. Joanna stellte den Plan auf, wie es versorgt und ernährt werden sollte, aber Mona war es dann, die es Tag für Tag mit der Flasche fütterte.

Was nun die Frage, wie Hannah ohne sie zurechtkam, betraf – es war auf jeden Fall jetzt anders in diesem ewig ordentlichen und ruhigen Haus. Sie wartete immer darauf, daß sie das Syndrom des leeren Nestes an den Tag legte, aber bis jetzt war das nicht der Fall. Gelegentlich fühlte sie sich einsam, aber das ließ sich mühelos in ein Gefühl köstlichen Alleinseins verwandeln. Sie mußte sich nur das Chaos ins Gedächtnis rufen, das in einem Haus voll kleiner Kinder herrscht; die Berge von schmutziger Wäsche und ungespültem Geschirr und zerbrochenen Spielsachen; die Streitereien und die ohrenbetäubende Musik. Während dieser turbulenten Zeit hatte sie sich ihren gesunden Menschenverstand dadurch bewahrt, daß sie sich sagte, eines Tages würden alle weg sein, und zwar bald, und sie würde ihr verrücktes Chaos vermissen. Dieser Zustand kam viel früher, als sie es sich vorgestellt hatte, und sie vermißte sie sehr. Aber nicht so sehr, daß sie nicht diese plötzliche Ruhe genießen konnte, die nur durch das knisternde Feuer im Franklin-Ofen und durch das Rascheln von Arthurs Wall Street Journal durchbrochen wurde. Das war wahrscheinlich der Unterschied zwischen ihr und einigen der Mütter, die bei ihr im Sprechzimmer landeten. Sie fühlten sich hektisch während des Chaos, und verloren, wenn es vorüber war.

Sie wanderte ins Wohnzimmer und goß sich in der antiken Kiefernholzbütte, die als Bar diente, noch einen Martini ein und überlegte dabei, ob sie zuviel trank. Es stimmte, daß ihr ein Abend ohne Martini vorkam wie ein Geburtstag ohne Kuchen. Aber sie behauptete auch nie, sie sei eine Asketin. Sie setzte sich auf das Ledersofa Arthur gegenüber, der ihr über seine Zeitung hinweg zulächelte. Er hatte seine Lieblingsstrickjacke an, grün und abgetragen, 74mit Lederknöpfen und Flicken auf den Ellbogen, und er sah darin aus wie Mr. Chips, der englische Schullehrer. Sie begann, ihre heutigen Klienten durchzugehen. Sie versuchte, die Emotionen, die den ganzen Tag durch ihr Büro schwirrten, genau zu bestimmen und Distanz zu ihnen zu gewinnen, damit sie sie nicht ablenkten. Zu Beginn ihrer Laufbahn war es verlockend gewesen, sie als echt anzusehen und sich auf eine Auseinandersetzung einzulassen, aber ihr wurde schließlich klar, daß die Emotionen, die ihre Klienten in ihr auslösten, nur als Hinweise dafür wichtig waren, welche Reaktionen sie im Lauf ihres Lebens bei wichtigen Personen hervorgerufen hatten. Wenn sie Ärger empfand, dann war dieser Klient vermutlich daran gewöhnt, Ärger auszulösen.

Ed, ein Ingenieurstudent mit doppelter Schmachtlocke und schlaksigen Beinen, war am Nachmittag dagewesen. Sanft, voll skurriler Einfälle und attraktiv – er kam ihr vor wie die Art von jungem Mann, zu der Nigel vermutlich herangewachsen wäre. Er redete darüber, daß er sich sexuell von älteren Frauen angezogen fühlte. Sie hatte vermutet, daß das kommen würde, und hatte diese Anziehung ebenfalls gespürt. Solche Gefühle waren in der Regel sehr flüchtig. Ganz abgesehen von ihrer Zuneigung zu Arthur – um das Interesse zu verlieren, mußte sie sich nur vor Augen halten, wieviel Training solch ein junger Mensch brauchen würde. Training bei der körperlichen Liebe, denn jugendliche Begeisterung konnte langjährige Erfahrung nicht wettmachen. Aber vor allem Training, was die Erwartungen betraf, die jemand vernünftigerweise an eine andere Person stellen konnte; Training, was den Spielraum und die Freiheiten betraf, die man dem anderen geben mußte, um nicht genau die Qualitäten abzuwürgen, durch die man sich ursprünglich zu jemandem hingezogen gefühlt hatte. Sie hatte das alles mit Arthur durchgemacht – die ungestümen Forderungen nach Beweisen und Liebeserklärungen, während sie lernten, die Liebe in Ruhe zu lassen, zu wachsen und abzunehmen, sich zu vertiefen und zu verlagern und sich zu beruhigen und wieder zu vertiefen, ohne endlose, zermürbende Analysen. Während sie lernten, sich so nahe zu kommen, wie es für zwei Menschen, die in getrennten Körpern lebten, nur möglich war; aber dann die Notwendigkeit dieses Getrenntseins zu akzeptieren und sich zu entfernen, traurig vielleicht, aber ohne Bitterkeit, in dem Wissen, daß man nur die Vorbereitungen dafür traf, das Vergnügen, diese Getrenntheit 75ein weiteres Mal zu überwinden, noch einmal durchzuspielen.

«Wieviel älter?» fragte sie Ed mit einem Lächeln; sie neckte ihn, um das Thema zu entschärfen.

«Viel älter.» Er wurde rot und blickte sie an.

Scheiße, Junge, damit hast du es verpfuscht, dachte sie. «Ed, lassen Sie uns einmal überlegen, warum Sie das jetzt ansprechen …»

Während sie einen kleinen Schluck Martini trank, dachte sie über Carolines Abwehr der Übertragung gegenüber nach. Ganz richtig. Sie konnten nicht einfach ihre Eltern ersetzen und sie, Hannah, als magische Beschützerin annehmen. Sie mußten in sich selbst Schutz finden. Aber wie konnte man sie dazu bringen, ihre Außenorientiertheit auf Innenorientiertheit umzustellen? Übertragung war am Anfang so herrlich, ähnlich wie Verliebtsein.

Vermutlich war es das gleiche. Damals, im Haus ihrer Großmutter mit dem Blick über die Heath, hätte sie gesagt, sie sei in Arthur «verliebt». Aber rückblickend glich es eindeutig der Übertragung, die sie später Maggie gegenüber empfand und die viele Klienten jetzt ihr gegenüber zu empfinden schienen. Der gleiche Hunger danach, akzeptiert zu werden – und schließlich die gleiche Wut darüber, solche Bedürftigkeit, solches Verlangen, solche Dankbarkeit zu empfinden. Nachdem sie und Arthur ein paar Wochen lang in ihrem viktorianischen Bett zugange gewesen waren, setzte sie sich eines Morgens auf und verkündete: «Du widerlicher Mistkerl!»

«Was?» Er drehte sich um und öffnete entsetzt die Augen.

«Du wirst mich verlassen.» Seine braunen Haare waren zerwühlt.

«Was?» Er richtete sich auf und drückte die Bettdecke gegen seine Brust.

«Hau ab.»

«Häh?»

«Ich hab gesagt, geh weg.» Sie schob ihn mit den Füßen aus dem Bett.

«Wovon redest du überhaupt? Ich liebe dich.» Er stand da, auf dem kalten Holzfußboden, nackt und verletzlich im frühen Morgenlicht.

«Ach, halt doch den Mund!» Sie begann zu schluchzen.

«Ich muß nach Amerika zurück. Aber ich komme zurück und hole dich.» Er kletterte wieder unter die Decke.

76

Als er versuchte, sie zu umarmen, schlug sie ihn mit der zusammengefalteten London Times auf den Kopf und knurrte: «Spar dir die Mühe. Verdufte, damit wir's hinter uns haben.» Sie umschlang sich selbst und schaukelte vor und zurück und dachte an ihren gutaussehenden Vater in Trinidad, mit seinen leuchtend weißen Zähnen, dachte an Colin, der in seinem mit Moos bewachsenen belgischen Grab vermoderte, dachte an ihre Mutter, die in Australien zu Staub zerfiel. Es lohnte sich nicht, jemanden zu lieben.

Arthur verduftete an diesem Tag tatsächlich, aber er kam zurück – und er kam immer wieder zurück. Nur der Himmel wußte warum, denn sie bestand darauf, ihn für die anderen zu bestrafen, die ihr davongelaufen waren. Außer daß er immer zugab, sie sei die tollste Frau, die er je gehabt hatte.

Sie drückte ihre Zigarette aus, stellte ihren Martini auf das Tischchen und rief mit süßer Stimme: «Arthur.» Sie hatten keine weiteren Probleme, nachdem sie sich einmal eingespielt hatten, daß er die großen Entscheidungen traf – zum Beispiel, gegen wen Amerika Krieg führen würde – und sie alles übrige entschied. «Komm hierher.»

«Ich kenne diese Stimme», sagte Arthur und ließ das Wall Street Journal sinken. «Ich glaube, das ist meine wilde eingeborene Rose.»

«Allerdings», sagte sie und deutete mit der Hand neben sich aufs Sofa.

 

Hannah stand vor ihrer Sprechzimmertür, die Hand gegen den Türrahmen gelehnt, schloß die Augen und versuchte, nach einer Stunde mit einem Bankier, der seinen Sohn vergewaltigt hatte, die Fassung wiederzugewinnen. Als Therapeutin zu arbeiten, war einfacher geworden, seit sie entdeckt hatte, daß sie nicht Regie führte. Als sie anfing, gleich nach der Universität, machte sie sich Notizen, analysierte sie an Hand der Theorie, der sie gerade anhing, und schmiedete Pläne, wie es weitergehen sollte. Wenn sich dann die Klienten nicht an ihre Pläne hielten, hätte sie sie am liebsten umgebracht. Aber im Laufe der Jahre, während deren sie mühsam versuchte, mit Nigels und Monas Tod fertig zu werden, sah sie sich gezwungen, zu entscheiden, ob sie überschnappen wollte, oder aber zu akzeptieren, daß das, was passierte, seine eigene Dynamik und seine eigene Logik hatte, die oft undurchsichtig war. Man versuchte, aus dem, was passierte, zu lernen, gleichgültig, wie wenig Begeisterung man dabei empfand.

77

Caroline saß auf der Tweedcouch, abwechselnd beunruhigt und zufrieden, daß sie die Liste nicht in Kategorien eingeteilt hatte. Würde Hannah sie hinauswerfen? Aber Hannah schien sich letzte Woche nicht für die Liste interessiert zu haben. Daß sie die Liste gemacht hatte, hatte Hannah nicht gefreut. Die Witze auch nicht. Was wollte sie überhaupt, in Gottes Namen?

Carolines Blick wanderte zu der grauen Steinvenus auf dem Fensterbrett. Ein angeschwollener Bauch, Hände, die auf riesigen Brüsten ruhten. Eigentlich ein ziemliches Lesbenobjekt für ein Sprechzimmer. War Hannah deswegen nicht schockiert gewesen, als Caroline es ihr erzählt hatte? War sie auch lesbisch? Nein, das war lächerlich. Sie war viel zu bürgerlich. Außerdem hatte sie irgendeinen widerlichen Ehemann erwähnt. Caroline paßte die Vorstellung von Hannah mit einem Mann nicht. Aber sie war vermutlich zu alt, um überhaupt mit jemandem zu schlafen.

Was juckt es mich, ob Hannah mit ihrem Mann schläft, überlegte Caroline. Sie sollte sich besser an das halten, worum es hier ging – um sie selbst. Sollte sie ihre Überlegungen über Pink Blanky zum besten geben? Das kam ihr ein bißchen viel vor.

Hannah kam herein, in einem Wollrock, dunkelblauem Blazer und einer Bluse mit Nadelstreifen, die am Hals offen war. Und ohne Schuhe. «Tag.»

«Tag.» Caroline deutete mit einer Kopfbewegung auf die Venus. «Das Ding ist toll. Wo haben Sie das her?»

«Ich habe es auf dem Flohmarkt gekauft, als ich das letzte Mal in London war. Es war ein windiger Tag, und sie sah so ungeschützt aus, da hatte ich das Gefühl, ich müßte sie retten.» Sie war das letzte Mal zur Beerdigung ihrer Großmutter in London gewesen, in der Christuskirche am Ende der Straße, wo das Haus an der Heath stand. Vermutlich hatte sie die Statue in dem vergeblichen Versuch gekauft, die alte Frau zu ersetzen. Eine tragbare Mutterfigur, die nie sterben würde.

«Weshalb haben Sie sie hier stehen?»

Weshalb willst du das wissen, überlegte Hannah. «Die Originale solcher Statuen wurden bei Fruchtbarkeitsriten verwendet. Die Leute bewahrten das Bild einer fruchtbaren Frau im Kopf, und dann gediehen ihre Herden und ihr Getreide und ihre Familien. Und das ist mehr oder weniger das, was ich hier mache. Also habe ich die Statue hier bei mir stehen, um mich daran zu erinnern.» Sie 78setzte sich und legte ihre bestrumpften Füße auf den geflochtenen Hocker.

«Was?» Caroline dachte, hier fände Therapie statt und nicht irgendein Hokuspokus.

«Was, was?»

«Ich verstehe nicht, was Sie meinen.»

«Ich habe das Bild eines gesunden, glücklichen Klienten, der gut zurechtkommt, im Kopf, und das ist es, worauf ich hinarbeite. Wenn ich die Vorstellung von einem depressiven, abhängigen Klienten im Kopf hätte, dann würde ich darauf hinarbeiten.» Hannah schüttelte eine braune Zigarette aus einer More-Schachtel, die auf ihrem Schreibtisch lag, und steckte sie sich zwischen die Lippen.

«Da stimme ich nicht zu.»

«Sie stimmen nicht zu, daß ich das mache?» Hannah zog die Augenbrauen hoch. Die Dame war heute kampflustig. Gut. Hannah konnte eine kleine Rauferei gebrauchen. Sie war immer noch ein bißchen aufgewühlt wegen ihres Kinderschänders.

«Ich glaube nicht, daß es so einfach ist.»

«Na ja, das ist sicherlich Ihr gutes Recht.» Sie hatte genug Erfolg mit ihren Methoden gehabt, um sie nicht verteidigen zu müssen. «Es ist auch Ihr gutes Recht, depressiv zu bleiben, wenn Sie wollen.» Sie schnippte ihr Feuerzeug an und zog die Flamme in die Zigarettenspitze.

«Wenn ich will?»

«Es ist Ihre Entscheidung.» Hannah blies eine lange Rauchschlange in die Strahlen der schwachen Wintersonne, die durch das Fenster schien.

«Entscheidung? Wenn Sie sich die Welt wirklich genau anschauen, dann können Sie nicht anders als depressiv sein.» Offensichtlich war Hannah noch nie dpressiv gewesen. Sie wußte nicht, was für ein Gefühl es war, wenn die Luft zu schwer wurde zum Atmen.

«Es kommt ganz darauf an, was Sie sehen, wenn Sie schauen. Was sehen Sie?» Hannah legte beide Arme auf die Armlehnen ihres Stuhls, so daß die Hände am Ende der Lehne herunterhingen.

«Ungerechtigkeit, Grausamkeit, Krieg, Hunger.»

«Stimmt. Aber es gibt auf der Welt auch ungeheuer Schönes und Faszinierendes. Und es laufen ein paar Leute auf der Welt herum, die zu enormer Großzügigkeit und Anständigkeit fähig sind.»

79

«Dann erzählen Sie mal.» Las diese Frau denn nicht die Zeitung?

«Das habe ich gerade getan», sagte Hannah. «Warum sind Sie heute so schlecht gelaunt?» Carolines Mund sah verkniffen aus, und in ihren Augen war ein schwaches, blaues Brennen.

«Wer ist schlecht gelaunt?» Hannah hatte sie letzte Woche mit ihren Witzen abfahren lassen, und sie hatte ja recht gehabt. Sie waren hier, um sich mit Carolines Depressionen zu beschäftigen. Caroline war entschlossen, alles ganz geschäftsmäßig abzuwickeln. Hannah schien einige Fähigkeiten und Techniken zu besitzen, und vielleicht konnte Caroline von ihnen profitieren, aber sie mußte deshalb noch lange nicht anfangen, sie gern zu haben. Sie würde diese Sitzungen betrachten wie Zahnarztbesuche oder Klempnertermine.

«Möchten Sie wissen, was ich für den Grund Ihrer schlechten Laune halte?»

Caroline stief einen ungeduldigen Seufzer aus.

«Sie fangen an, mich zu mögen.» Sie schaute Caroline sachlich an.

Caroline war erstaunt. Sie mögen? Sie kannte sie ja nicht einmal. Sie war bisher nicht wütend gewesen, aber jetzt wurde sie sehr wohl wütend. «Der eigentliche Grund, weshalb ich wütend bin, ist, daß Sie sofort das Thema agewechselt haben, als ich Ihnen erzählt habe, ich sei lesbisch. Es hat mich genug Zeit gekostet, es zu akzeptieren, und Sie haben nur mit den Schultern gezuckt.» Sie erinnerte sich an ihr Entsetzen, als sie nackt im Bett mit Clea aufgewacht war, deren goldenes Haar auf dem Kissen ausgebreitet lag wie reifer Weizen in der Sommersonne. Sie hatte mit einer Frau geschlafen. Und sie hatte sich dabei so wohl gefühlt wie ein Schwein im Schlamm. In den darauffolgenden Wochen hatte sie David Michael praktisch zu einem Stummel reduziert, weil sie zu beweisen versuchte, daß sie nicht pervers war. Lesbisch sein konnte doch eine aktiv heterosexuelle Frau nicht ohne Vorankündigung befallen! Aber es war so. Und deshalb wich Hannah diesem Thema dauernd aus.

«Ich wußte nicht, daß Sie immer noch so wenig Vertrauen zu mir haben», sagte Hannah und schaute auf den Parkplatz hinaus. Jonathan stand da und redete mit einem Mann, der sich auf eine Schaufel stützte und gerade das Eis vom Gehweg gekratzt hatte. Manchmal wünschte sie, sie hätte einen netten, eindeutigen Beruf, wie Schneeschippen.

Caroline spürte einen Stich der Reue. Hannah wollte, daß sie ihr 80vertraute, und Caroline hatte sie enttäuscht. Aber was hatte das alles mit Vertrauen zu tun? «Was bringt Sie dazu, zu glauben, daß ich kein Vertrauen zu Ihnen habe? Das, was ich gerade gesagt habe?»

Hannah nickte und zog an ihrer Zigarette.

«Sehen Sie? Sie haben es wieder getan. Das Thema gewechselt.»

«Ich habe nicht das Thema gewechselt. Ich habe versucht, das anzusprechen, was wirklich vor sich ging.»

«Was wirklich vor sich ging», sagte Caroline, «war, daß ich versucht habe, über meine Sexualität zu reden, und Sie haben das Thema gewechselt.»

«Was wirklich vor sich ging, war meiner Meinung nach, daß wir uns letzte Woche ziemlich nahe gekommen sind, und jetzt ist die Reaktion darauf eingetreten.» Hannah fühlte sich auf unfaire Weise im Vorteil. Sie hatte das schon so oft mitgemacht. Während es für Caroline alles neu, real und ganz im Ernst war.

Stimmt das, überlegte Caroline. Hannah hatte letzte Woche gesagt, sie sei freundlich und sanft. Aber sie hatte das nicht wirklich ernst gemeint. Es war eine Taktik und hatte irgend etwas mit der steinernen Venus zu tun. «Warum können Sie nicht einfach akzeptieren, daß ich lesbisch bin?»

Hannah lachte und schüttelte den Kopf. «Aber ich akzeptiere es doch, Caroline. Sie schlafen mit Frauen, und ich schlafe mit Männern. In Ordnung. Wen interessiert das?»

Also bumst sie mit ihrem Mann, überlegte Caroline. Mit Männern? Mit wem noch, außer mit ihrem Mann? Vielleicht war sie gar nicht so bürgerlich, wie sie aussah. Was war mit ihren bloßen Füßen? «Sie glauben nicht wirklich, daß es in Ordnung ist.» Caroline wußte, daß eine Frau, die noch nie Verlangen nach einer anderen Frau empfunden hatte, lesbische Liebe als eine minderwertige Form der Sexualität ansah, die nur zu unfemininen und unreifen Frauen paßte. Das traf nicht zu, aber den harten Heterosexuellen war nichts beizubringen. Sie hatten die Biologie und den Papst auf ihrer Seite.

«Wer sonst in Ihrem Leben fand es nicht in Ordnung?» fragte Hannah, steckte die Zigarette zwischen die Lippen und lehnte sich nach vorn, um ihren Blazer abzuschütteln, den sie dann zusammenfaltete und auf ihren Schreibtisch legte. Die durchs Fenster scheinende Sonne brannte auf ihre linke Schulter.

Während sie schweigend dasaßen, überlegte Caroline, daß kaum 81jemand davon wußte und also auch kaum jemand eine Meinung darüber haben konnte. David Michael war entsetzt gewesen und hatte sein Bestes getan, sie von einem Leben in bürgerlicher Dekadenz abzubringen, aber sie sah ihn ja jetzt nie. Jackson hatte wahrscheinlich seine Vermutungen, weil er sie bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen er Interesse an Jackie und Jason zeigte, über ihre Lebensumstände ausquetschte. Ihre Eltern vermieden das Thema sorgfältig. Sie hatte vor, über Weihnachten nach Hause zu fahren, aber ohne Diana. Es gab niemanden in ihrem Leben, der fand, lesbisch sein sei in Ordnung, außer ihren lesbischen Freundinnen. Und deshalb verbrachte sie soviel Zeit wie möglich mit ihnen. Obwohl sie in letzter Zeit ein paarmal mit Brian Stone zu Mittag gegessen hatte, der immer mal wieder in seiner Klinikkleidung bei der Aufnahme der Unfallstation vorbeikam, wenn sie Dienst hatte. Seine traurigen, dunklen Aufgen fingen an, ihr Eindruck zu machen. Sie empfand zunehmend das Bedürfnis, ihn aufzuheitern, sein angeknackstes Ego aufzupäppeln, alles in Ordnung zu bringen. Ein- oder zweimal hatte sie sich bei der Überlegung ertappt, ob lesbisch sein doch nur ein Zwischenspiel in einem ansonsten ausgiebig heterosexuellen Leben sein könnte.

«Wovor haben Sie solche Angst?» fragte Hannah.

Caroline blickte auf. «Wieso meine Sie denn, ich hätte Angst?»

Hannah spitzte die Lippen und zuckte mit den Schultern, während sie ihre Zigarette in Nigels Stein ausdrückte.

Caroline hörte Worte ohne ihre Erlaubnis aus ihrem Mund kommen: «Daß ich mich Ihnen öffne und dann eins übergezogen bekomme.»

Hannah atmete tief ein. Wenn Caroline aufrichtig war, tat diese Aufrichtigkeit weh. Sie öffnete sich ganz. Hannah sagte nichts, knöpfte ihre Ärmel auf und rollte sie bis zum Ellbogen hoch. Sie wollte, daß Caroline ihren Wunsch spürte, sich anzuvertrauen, sich festzuklammern, zusammenzubrechen – daß sie ihn spürte, ans Tageslicht brachte und merkte, daß all das Hannah nicht ängstigte oder entsetzte, und daß es Caroline auch nicht ängstigen oder entsetzen mußte. Caroline bemühte sich tapfer, für alle übrigen zu sorgen. Sie tat für andere das, wovon sie wünschte, jemand möge es für sie tun.

«Tja, ich kann nicht versprechen, daß das nicht passiert», antwortete Hannah schließlich und zündete sich noch eine Zigarette an, 82«denn wenn jemand entschlossen ist, eins übergezogen zu bekommen, dann wird er etwas als Prügel ansehen, was der andere keineswegs so meint. Aber wir wollen das erst mal beiseite lassen. Wie war Ihre Woche?» Jonathan arbeitete manchmal auf massive Explosionen hin, auf eine Art von emotionalem Elektroschock, aber Hannah baute den aufgespeicherten Vorrat lieber Stück für Stück ab. Die meisten ihrer Klienten mußten im Alltag weiterhin funktionieren, und das konnten sie nicht, wenn sie total aufgelöst waren.

Caroline sank in die Couch zurück; die Achselhöhlen ihrer weißen Uniform waren feucht. «Ich habe viel über Übertragung nachgedacht.»

«Inwiefern?»

«Darüber, warum ich es nicht noch einmal machen werde.»

«Wie war es denn früher für Sie?»

«Glauben Sie, daß es möglich ist, auf Gegenstände zu übertragen?»

«Natürlich. Die Leute übertragen auf alles mögliche. Auf Ideologien, Haustiere, Schuhe, Tabletten. Diese Welt kann einem sehr beängstigend vorkommen. Die meisten Leute suchen nach jemandem oder nach etwas, der oder das alles in Ordnung bringt.» Mary Beth schrie im Nebenzimmer. Hannah schaute Caroline an, die nichts gemerkt zu haben schien.

Caroline betrachtete Hannah in ihrer Bluse aus englischem Stoff; sie hatte die Augen zusammengekniffen gegen den Zigarettenrauch, der auf den Sonnenstrahlen trieb, die durch das Fenster kamen. Vielleicht verstand sie mehr von dem Elend der Welt, als sie zugab? «Ich hatte als Kind eine rosa Decke, und ich glaubte, wenn ich mich in diese Decke wickelte, würden die Messer eindringender Mörder abgewehrt.»

Hannah nickte. «Klingt wie ein nützlicher Gegenstand.»

Caroline lächelte.

«Was ist daraus geworden? Oder haben Sie die Decke noch?» Mary Beth schrie wieder. Hannah runzelte die Stirn. Wo waren sie denn hier, im Fußballstadion?

«Das Hausmädchen hat sie zu Putzlappen zerschnitten.»

Hannah zog eine Grimasse und schloß die Augen. «Das ist schlimm.» Sie versuchte, Werturteile zu vermeiden, aber sie dachte daran, wie ihre Kinder sich an ihre Flaschen, Stofftiere und Decken geklammert hatten, Rettungsanker im wilden Meer der Objekte. 83Simon stand immer schmerzerfüllt vor der Waschmaschine, während das Waschprogramm ablief, in dem seine Decke gewaschen wurde. Jedes Kind hatte zumindest einen Urlaub unterbrochen, weil es einen geliebten Gegenstand vergessen hatte und darauf bestand, sie müßten umkehren und ihn holen. Sie kaufte Mona drei identische Stoffschafe, weil sie immer eines verlegte und dann in Panik geriet. Nigel hatte jahrelang eine rosa Plastikflasche mit sich herumgeschleppt.

Sie blickte zu der grauen Steinvenus, dann zu ihrem Mimi-Geist. Hatten sie nicht genau die gleiche Funktion, auch wenn sie viel stilvoller aussahen? Alles, was einem half, die Nacht zu überstehen. Sie blickte auf ihre braune Zigarette. Wenn sie diese Dinger aufgeben würde, durch welche unattraktive Angewohnheit würde sie sie dann ersetzen? Maggie sagte immer in ihrem osteuropäischen Akzent: «Meine liebe Hannah, wir alle haben unsere Macken.» Der Trick bestand nur darin, jemanden dazu zu bringen, daß er nicht mehr seinen Sohn fickte, sondern statt dessen Briefmarken sammelte.

«Das hat bestimmt sehr weh getan», sagte Hannah.

Caroline dachte darüber nach und schaute dabei aus dem Fenster. Lake Glass führte seine Kunststücke vor, spiegelte in seinem bewegungslosen Wasser die Sonne und einen einsamen Vogel im Flug. Es hatte bestimmt sehr weh getan, obwohl sie sich nicht erinnern konnte, irgend etwas empfunden zu haben. «Ich habe diese Woche über meine beste Freundin nachgedacht, die ich hatte, als ich ein Kind war …»

Während Caroline redete, dachte Hannah, daß Carolines Realität ein leerer Raum aus Angst, Unsicherheit und Sehnsucht nach Zuneigung und Schutz sei – und daß sie versucht habe, dieses Vakuum mit einer Parade von Menschen, Gegenständen und Plänen zu füllen. Zur Garde in Hannahs eigener Parade gehörten ihre Eltern, ihre Großeltern, Colin, Arthur, Maggie. Alle waren inzwischen tot, bis auf Arthur.

«Ist Ihnen bewußt», fragte Hannah, «daß Ihre Gefühle für Marsha die gleichen waren wie für Ihre Decke?»

«Ja, neulich abends wurde mir auf einmal klar, daß ich das gleiche Gefühl einer ganzen Menge von Leuten gegenüber gehabt habe. Immer wieder. Wie Angina-Anfälle.»

Hannah lächelte und nickte. «Sehr gut. Und was ist also aus Marsha geworden?»

84

«Sie wurde von einem Bäckereilaster überfahren und starb.»

Hannah zuckte zusammen. Carolines Gesichtsausdruck war so unbewegt, daß Hannah sich fragte, ob sie je um ihre Freundin getrauert hatte.

«Ich hätte an dem Tag bei ihr sein sollen. Sie wäre wahrscheinlich noch am Leben, wenn ich dagewesen wäre.»

Hannah zuckte mit den Schultern. «Was passiert, passiert. Ich glaube, daß Ihr Verhaltensmuster, sich für Katastrophen verantwortlich zu fühlen, schon sehr viel früher angelegt worden ist.» Wenn jemand für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich ist, müssen ihm alle späteren Katastrophen wie kleine Fische erscheinen.

Caroline drückte ihren Nasenrücken und runzelte die Stirn. Sie hatte nicht das Mitgefühl hervorgerufen, das sie erwartet hätte. Wieder einmal hatte Hannah nur mit den Schultern gezuckt. «Ich habe gestern mit einem Typen im Krankenhaus geredet. Er hat gelächelt, und da habe ich einen Stich verspürt. Ich habe gemerkt, daß er genau wie Marsha lächelt. Ich habe gedacht, mein Gott, das Mädchen ist seit über zwanzig Jahren tot.»

«Sie ist jetzt Teil Ihres Programms. In diesem Sinn ist sie für Sie immer noch lebendig. Aber das hat nichts mit ihr zu tun. Sie nehmen die Erinnerung an ihr Lächeln als Entschuldigung dafür, sich schlecht zu fühlen.»

Caroline schaute Hannah an. Hatte sie überhaupt irgendwelche normalen menschlichen Gefühle, oder war für sie alles nur ein intellektuelles Spielchen?

Hannah bemerkte Carolines ungehaltenen Blick, einen Blick, den sie kannte. Aber das war eine Methode, eine Klientin aus über zwanzig Jahren festgefahrenen Bahnen herauszuholen. Sie erinnerte sich daran, daß sie ähnliche Empörung empfunden hatte, als sie Maggie einmal im Krankenhaus besuchte. Maggie hatte eine gesteppte Bettjacke an, ein Servierbrett mit Essen auf dem Tisch vor sich, und sagte mit schmerzverschleierten Augen: «Ein Vorteil beim Sterben ist, daß du nicht Diät halten mußt.»

«Haben Sie irgendwelche Fotos aus Ihrer Kindheit?» fragte Hannah, während sie ihre Ärmel herunterrollte, weil sie plötzlich fröstelte. Ihr inneres Thermometer war heute total durcheinander. Es war wohl wieder Zeit für ein bißchen fliegende Hitze.

Caroline nickte.

«Warum bringen Sie nächste Woche nicht mal ein paar davon mit?»

85

Caroline runzelte die Stirn und sagte nichts. Sie gingen zur nächsten Aufgabe über, und Hannah hatte nicht einmal bemerkt, daß sie ihre letzte gar nicht gemacht hatte.

«Es hilft mir, wenn ich mir vorstellen kann, von wem wir sprechen», erläuterte Hannah, weil sie wußte, Caroline würde es tun, wenn sie jemand anderem damit half. Armes Kind.

 

Hannah ging am See entlang, der sich reglos und schweigend bis zu den schneebedeckten Bergen am Horizont erstreckte. Die kalte Luft brannte auf ihren Wangen. Sie verschränkte die Arme vor ihrem Anorak und dachte: Es gibt keinen Ort auf der Welt, wo ich lieber wäre. Aber so hatte sie nicht immer empfunden. Im Vergleich zu London war ihr das ländliche Neuengland vorgekommen wie eine von Wilden bewohnte Einöde – und so war es vermutlich auch Arthurs Vorfahren in der Bay-Kolonie in Massachusetts ergangen. In den ersten Monaten, frisch verheiratet mit Arthur, erlebte sie die plötzliche Ruhe hier als Leere. Und sie machte sich daran, diese Leere zu füllen – mit Babies, Besitztümern und Gefühlsreisen. Sie dachte an die vielen Flirts, die sie auf Parties gehabt hatte – an die Blicke und Anspielungen, die Telefonanrufe und Briefchen, die empörte Unschuld, die auf der Schwelle zum Schlafzimmer zur Schau gestellt wurde. Immer wieder bestrafte sie in diesen ahnungslosen Männern ihren Vater und Colin dafür, daß sie fortgegangen waren – und Arthur dafür, daß er nicht wegging, wie sie es doch eigentlich von ihm erwartete. Arthur beobachtete das alles mit leicht ironischer Miene und ging trotzdem nicht. Und sie empfand Verachtung für seine Schwäche, weil sie nicht genug Verstand hatte zu begreifen, daß sein Bleiben auf einer Stärke beruhte, von der sie nichts ahnte. Außerdem konnte er sie nicht verlassen. Er hatte zuviel aufgegeben, um mit ihr zusammenzusein.

Sie füllte das Haus mit Porzellan, Silber, Wäsche und Antiquitäten. Sie füllte ihren Schrank mit teuren Kleidern. Sie bestand darauf, daß Arthur einen Lincoln Continental und eine Segelyacht kaufte.

Und dann starben Mona und Nigel, und die Antiquitäten wurden gestohlen. Die Kinder vermißte sie. Die Antiquitäten nicht. Ihr bisheriges Leben fiel von ihr ab wie eine ausgetrocknete Hülse. Die Kleider trug sie auch weiterhin, ohne zu merken oder sich darum zu kümmern, daß sie aus der Mode kamen. Sie mied Parties; und wenn 86das nicht ging, dann mied sie alle früheren und mögliche künftige Liebhaber.

Ihre Klienten sprachen über die Schwierigkeiten in ihrem Leben, als wären sie göttliche Fügung. Es machte keinerlei Eindruck auf sie, wenn Hannah andeutete, daß sie viele dieser Schwierigkeiten selbst geschaffen hatten und sie deshalb auch schlicht fallenlassen konnten. Fünfjährige Kinder wußten das. An dem flachen Strand, an dem sie jetzt stand, hatte sie ihren Kindern am 4. Juli, am Tag der Unabhängigkeit, immer Wunderkerzen gegeben. Sie zeichneten damit kunstvolle Muster an den Nachthimmel und riefen, sie solle kommen und zusehen. In kürzester Zeit brannten die Wunderkerzen herunter, und die Muster verschwanden spurlos. Die Kinder auch. Aber fünfunddreißigjährige Kinder hatten die Tatsache völlig aus den Augen verloren, daß es ihre Hände waren, die die Wunderkerzen herumschwenkten.

Sie schlenderte zu den flachen grauen Felsen hinüber, wo ihre Kinder wie kleine weiße Seehunde herumgerollt und herumgeklettert waren. Eis bedeckte die nackten Zweige der riesigen Eiche, die am Wasserrand stand, von deren Zweigen die Kinder an geknoteten Seilen hin und her geschaukelt waren. Das waren hektische Jahre gewesen, mit vier kleinen Kindern und einem Mann, der oft aus geschäftlichen Gründen unterwegs war. Sie hatte wenig Ahnung gehabt, was sie eigentlich tat. Wie Caroline an ihre rosa Decke, so hatte sich Mona an ihre Stoffschafe geklammert und Nigel an seine rosa Flasche. Sie wußte noch, daß sie sich manchmal über Nigels Späße geärgert und Monas Umarmungen zurückgewiesen hatte. Hätte sie damals gewußt, was sie nun über den Einfluß von Eltern auf ihre Kinder wußte, dann hätte sie sich anders verhalten. Aber ich habe es nicht gewußt, sagte sie sich beharrlich. Wie hätte ich es auch wissen sollen?

Sie riß sich zusammen. Diese Gedankenmühle war zu langwierig. Sie hatte ihre Sache ganz gut gemacht, vor allem angesichts der Tatsache, daß sie keine Eltern gehabt hatte, die sie hätte nachahmen können. Man brauchte nur zu sehen, was aus Simon und Joanna geworden war. Und Nigel und Mona hatten viele glückliche Tage erlebt und viel Liebe bekommen, solange sie auf der Welt waren. Sie blickte in das reglose graue Wasser und sah eine Frau mittleren Alters, fast schon alt, in einem zu stark wattierten Anorak und Gummistiefeln, mit einem freundlichen Gesicht und grauen 87Locken. Sie beobachtete, wie die Frau ihr Gesicht mit den behandschuhten Händen berührte. Sie fühlte ihre eigenen Finger auf ihrem Gesicht, lächelte und schüttelte den Kopf – und sah, wie die Frau im Wasser dasselbe tat. Das Leben war schon eine seltsame Erfahrung. Und zweifellos würde der Tod noch seltsamer sein.

Sie blickte zu den vereisten Eichenzweigen auf, die in der späten Nachmittagssonne glitzerten. Im Frühjahr würde das Eis schmelzen und in die Erde sickern, von den Wurzeln aufgesogen werden und auf einem Zweig als Eichenblatt wieder zutage treten. Und das Blatt würde sich im Herbst mattrot verfärben und abfallen, um zu vermodern und von Würmern aufgefressen zu werden …

Und so weiter, bis es ihr langweilig wurde, den Verwandlungen eines Wassertropfens zu folgen, und sie nach Hause ging, um einen Martini zu trinken und am Kamin ein bißchen mit Arthur zu kuscheln, bevor die Sullivans zum Bridgespielen kamen.

 

Hannah hatte gerade beim Bieten mit «Fünfen ohne» gewonnen, als das Telefon klingelte.

«Julie Byington», flüsterte ihr Arthur ins Ohr.

Hannah stöhnte und schaute wehmütig auf ihre Karten, lauter Bilder und Asse. Sie nahm das Telefon mit hinter den Kühlschrank, damit Allen und Harriet nicht mithören konnten. «Hallo.»

«Es tut mir leid, daß ich Sie zu Hause störe», sagte eine zaghafte Stimme.

Warum tust du es dann, du Schwachkopf, dachte Hannah und sagte bewußt nicht, daß es in Ordnung sei. Selbst Mitglieder der helfenden Berufe brauchten ihre Bridge-Abende.

«Ich hoffe, ich störe Sie nicht bei etwas?»

Nur beim Orgasmus. «Nur bei einem ‹Fünf ohne›-Blatt.»

«Was?»

«Ich spiele gerade Bridge.»

«Oh.»

Hannah konnte sich ihre Gedanken vorstellen: Sie spielen Bridge, während ich hier ganz allein sitze und mir einen Drano-Cocktail mixe. «Was kann ich für Sie tun, Julie?»

«Es ist mir so unangenehm, daß ich Sie störe.»

«Das ist schon in Ordnung.» Was sie brauchten, war, nicht zurückgewiesen zu werden, aber sie waren so an Zurückweisung gewöhnt, daß sie alles mögliche taten, um genau das auszulösen – 88wie zum Beispiel, daß sie an einem Samstagabend im spannendsten Moment einer Bridgepartie anriefen.

«Es geht mir wirklich schlecht.»

«Was ist passiert?» Hannah klemmte den Hörer zwischen Ohr und Schulter, schlug die Arme übereinander, nahm ihren Drink in die eine Hand und lehnte sich gegen den Kühlschrank.

«Terry hat mich verlassen. Er hat mich in den Bauch getreten und ist weggegangen.»

Hannah trank einen kleinen Schluck Martini und dachte wehmütig an ihre drei Asse. «Möchten Sie jetzt darüber reden, oder kann es bis Montag warten?»

Genau da bekam sie plötzlich einen Anfall von fliegender Hitze. Das brennende Gefühl breitete sich über Rücken und Brust aus wie ein Präriefeuer. Schweiß trat ihr auf die Stirn und rann von ihren Achselhöhlen hinunter.

«Es kann warten, glaube ich.»

«Rufen Sie mich am Montag im Büro an, und wir machen dann einen Termin aus. Und denken Sie daran: Sie sind gut zurechtgekommen, und Sie werden auch wieder zurechtkommen.» Der Hörer zitterte in ihrer Hand.

«Ich verstehe nicht, wie du das aushältst», murmelte Harriet, während Hannah Arthurs Blatt studierte, das ausgebreitet auf dem Eichenholz-Eßtisch lag, im Licht der Tiffany-Lampe. Sie befand, daß sie mühelos gewinnen würden. Seit über 25 Jahren spielten sie einmal im Monat mit Harriet und Allen Bridge. Allen war ein Partner in Arthurs Rechtsanwaltbüro, und er war an der Cornell University zwei Semester unter Arthur gewesen. Harriet hatte eine silberne Frisur à la Marie Antoinette und einen kleinen, geschminkten Mund.

«Ich komme mir dadurch wichtig vor.» Ihr Rollkragen war feucht, aber sie wollte sich nicht die Zeit nehmen und sich umziehen, wenn hier Stiche zu machen waren. Sie hoffte nur, daß man es nicht riechen konnte.

«Ist es das wert?» fragte Allen und zog an seiner Pfeife, um sie zum Brennen zu bringen.

«Aber ja», sagte Hannah und machte schnell ihre Stiche. «Es macht mir Spaß zu wissen, was die Leute hier in der Stadt so treiben. Auf diese Weise kann mich niemand überraschen. Das macht mir fast genausoviel Spaß, wie zu wissen, daß du den Karo-König hast, Allen.»

89

«Richtig», sagte er mit einem Lächeln und legte seine Pfeife hin, um den König auf den Tisch zu werfen und den letzten Stich zu machen.

Während Arthur in seiner abgetragenen grünen Mr. Chips-Jacke die Karten einsammelte, blickte Hannah zwischen ihm und Allen hin und her. Weißhaarig und distinguiert – mit jedem Jahrzehnt sahen sie besser aus. Wohingegen sie und Harriet von mehreren Geburten ausgeleiert und von fliegender Hitze, Nachtschweiß und Angstanfällen zermürbt waren. Es war einfach nicht fair. Arthur hatte seine Beständigkeit aus biologischen Gründen. Frauen dagegen, mit ihren hormonellen Stürmen, waren ständig in Veränderung begriffen. In der Therapie spornte sie die Männer oft an, sich selbst eine größere emotionale Bandbreite zuzugestehen, während die Frauen meist jenen Teil ihrer selbst entdecken mußten, der sich nicht jeden Monat mit den Hormonen veränderte. Bis sie diesen inneren Polarstern fanden, klammerten sie sich an Beziehungen oder an irgend etwas anderes, was äußere Stabilität zu versprechen schien. Wie die arme Julie an diesen Widerling Terry. Aber immerhin konnte sie sich darauf verlassen, daß er sie alle vierzehn Tage verprügelte, so regelmäßig wie ein Uhrwerk.

Sie schnitt Arthur eine Grimasse.

Er lachte betroffen auf. «Was willst du damit sagen, mien Schatz?»

«Daß du so verdammt attraktiv bist. Ist er doch, oder?» fragte sie die Sullivans. Ihr war gerade klargeworden, daß Arthur und Allen in einer vergangenen Epoche neue zwanzigjährige Frauen gehabt hätten, und sie und Harriet lägen tot im Grab, gestorben an Kindbettfieber. «Ihr seid zwei ‹ältere Herren›, aber Harriet und ich sind zwei alte Frauen.» Alle lachten.

«Das ist der pure Quatsch», sagte Arthur, der gerade die Karten mischte. «In dir steckt noch ganz schön viel Leben, altes Mädchen.»

«Tröste dich mit der Tatsache, daß ihr beide uns vermutlich um viele Jahre überlebt», sagte Allen und stand auf, um in der Kiefernholzbütte neue Martinis zu mixen.

«Ja», sagte Arthur und teilte die Karten aus. «Und ihr könnt dann auf exotische Kreuzfahrten gehen und jugendliche Matrosen auflesen.»

«Erspar mir das», sagte Hannah und nahm ihre Karten auf.

«Weshalb lächelst du?» fragte Arthur.

90

«Ich dachte daran, daß Maggie mir erzählt hat, wie sie einmal abends nach dem Theater die 43. Straße entlangging, und eine Prostituierte kam aus einem schäbigen Hotel herausgerannt und rief nach einem Arzt. Maggie ging also mit ihr nach oben, und da lag ein nackter Mann auf einem eisernen Bett. Grauhaarig, gepflegt, wohl ein Geschäftsmann. Maggie untersuchte ihn kurz, und er war tot. Als sie das der Frau mitteilte, schaute die sie an und sagte: ‹Tja, Doc, ich dachte, er käme, aber ich glaube, er ging.›»

«Ich wette, das hat sie erfunden», sagte Arthur unter Gelächter.

«Das wäre ihr durchaus zuzutrauen.»

«Sie war wirklich was Besonderes.»

«Allerdings.» Während Hannah ihre drei alten Freunde lachen und die Köpfe schütteln sah, fragte sie sich, ob der Schmerz über ihren Verlust all die angenehmen und vergnügten gemeinsamen Stunden wert war. Das Gleichgewicht zwischen beiden Seiten ließ sich mit zunehmendem Alter immer schwieriger halten. Denn nun wußte man genau, daß die Freunde in nicht allzu langer Zeit anfangen würden, einem wegzusterben. Oder man selbst ihnen. Auf jeden Fall mußte man sich trennen. Das machte einen wenig bereit, sich neuen Menschen zu öffnen. Es war einfach nicht zu leugnen: Das Leben war eine schmerzliche Erfahrung. Alles Vergnügen schwand dahin, und alle mußten sterben. Aber in der Zwischenzeit gab es Entschädigungen. Jetzt beispielsweise: Arthur hatte ihr gerade wieder ein gutes Blatt ohne Trümpfe gegeben. Sie trank einen kleinen Schluck Martini, um ihre erfreute Miene vor Allen zu verbergen, der Bridge wie Poker spielte und den Leuten das Blatt vom Gesicht ablas.

«Nein, das tust du nicht, Allen», sagte sie und hielt sich die Hand vors Gesicht.

Er grinste. «Tut mir leid, Schätzchen. Ich hab dich schon durchschaut.»

Hannah blickte die anderen an, die um den beleuchteten Tisch saßen, während der Wind vom See an den Fenstern rüttelte. Die Nacht war gekommen, der Winter stand bevor, das Alter nahte. Das Geschenk der mittleren Jahre war die Fähigkeit, den Augenblick zu genießen, ohne zu erwarten, daß er von Dauer sein würde.

91

5

Jackie und Jason waren so weit voraus, daß Caroline nur das leise Brummen eines entfernten Motorschlittens und das Geräusch ihrer eigenen Skier hören konnte. Sie stakte den Spuren der Jungen nach und sah den neuen Schnee in der Sonne glitzern – als hätte jemand bunten Glimmer gestreut. Der Wind hatte die Schneeverwehungen zu muschelartigen Gebilden geformt. Als sie tief einatmete, klebten ihre Nasenflügel vor Kälte zusammen. Heute war auf der Unfallstation bestimmt viel Betrieb. Frostbeulen, Knochenbrüche vom Skifahren, Rückenzerrungen und Herzversagen vom Schneeschippen.

Sie kam an einer riesigen grauen, toten Ulme vorbei. Von den Zweigen war letzten Winter eine Eule heruntergeschossen und mit einer Feldmaus davongeflogen, gerade als sie auf den Skiern vorbeikam. Jemand sollte diesen Baum fällen. Immer wieder fielen Äste herunter. Einer, der aussah wie eine riesige Wünschelrute, hing weit oben über einem anderen. Eines Tages fiel er womöglich jemandem auf den Kopf. Natürlich könnte auch das ganze Riesending auf denjenigen stürzen, der es zu fällen versuchte, oder auf irgendeinen unschuldigen Wanderer. Und Motorsägen schlugen manchmal aus, wenn man eine der verwachsenen Ulmen umzusägen versuchte. Vor ein paar Jahren war ein Mann auf der Unfallstation gewesen, der auf diese Art ein Bein verloren hatte.

Plötzlich fiel ihr ein, daß sie an einem so schönen Nachmittag nicht unbedingt an jagende Eulen oder amputierte Beine zu denken brauchte. Sie konnte stattdessen an Schneeskulpturen denken, die in der Sonne leuchteten. Sie hielt an und blieb ganz still stehen. Hannah sagte, ob man depressiv sei, hänge davon ab, was man wahrnehme, wenn man um sich schaue. Man konnte eine tote Ulme als potentielle Unfallquelle betrachten, oder als Feuerholz oder als eine Naturplastik. Sie lehnte sich auf ihre Skistöcke und betrachtete den Baum. Hannah sagte auch, sie nehme die Erinnerung an Marshas Lächeln als Ausrede dafür, sich elend zu fühlen. Vielleicht war da etwas Wahres dran. Nein, es war lächerlich. Hannah war ein Zombie.

Es war Zeit, zum Haus zurückzugehen und ein Feuer zu machen. «Okay, Jungs, wo seid ihr?» rief sie. Weiter vorn führte eine Spur nach rechts, die andere nach links. Offensichtlich ein Trick. Welche Richtung sie auch einschlug – einer von beiden würde ihr vorwerfen, sie liebe ihn weniger.

92

Die Nachmittagsstille wurde durch hohle, dumpfe Schläge durchbrochen. Mit den Augen folgte sie dem Geräusch und merkte, daß es von der Ulme kam. Ganz oben in den grauen Zweigen hämmerte ein Specht, der vielleicht dreißig Zentimeter groß war und einen leuchtend roten Kopf hatte, auf die Wünschelrute ein. Voll Erstaunen beobachtete sie, wie der große Vogel eine Wolke von Sägemehl und abgestorbener Rinde auf den Schnee hinabbeförderte, der gegen den Baumstamm geweht worden war. Der Vogel hielt inne, wandte den Kopf, um seine Arbeit zu begutachten und um das, was er aufgedeckt hatte, zu verschlingen.

Laut rufend kamen die Jungen auf ihren Skiern herbei, mit fliegenden Skistöcken. Arnold sprang bellend neben ihnen her, sein Fell war bedeckt mit pulverigem Schnee. Der Specht flog auf, kreiste mit einem heiseren Schrei über ihnen und schwebte dann über die Felder den Wäldern in der Ferne zu.

«Seht mal!» sagte Caroline. «Ein Schwarzspecht. Die sieht man nur ganz selten.»

«Na und», sagte Jason und stieß sich mit seinen Skistöcken ab wie ein Slalomfahrer. «Wetten, daß ich vor dir zu Hause bin, du Blödmann!» Arnold bellte vergnügt und versuchte, mit den Zähnen einen der Skistöcke zu fassen zu kriegen.

Jackie schaute aus reiner Höflichkeit in Richtung des verschwindenden Spechts.

Als Caroline in der Spur der Jungen zum Haus zurückfuhr, nahm sie ganz bewußt den Blick durch die Bäume auf das Haus unten wahr: ein feiner Rauchstreifen wehte vom Kamin, die Fenster blitzten in der Sonne. Glitzernde weiße Wiesen erstreckten sich zum Lake Glass hinunter, der sich bis zu den dunstigen Bergen am fernen Horizont ausbreitete. Und über allem ein tiefblauer Himmel. Sie mußte zugeben, es war atemberaubend. Die Touristen wußten schon, warum sie scharenweise hier heraufkamen, um die Aussicht zu bewundern. Ihr kam die Idee, sie könnte so einen Schal machen – die Kettenfäden in Grau-, Blau- und Violettönen färben. Und Streifen in denselben Farben weben. Das wäre phantastisch. Der Webstuhl war leer. Sie würde noch am Wochenende damit anfangen.

Caroline saß da und beobachtete das Feuer in ihrem offenen Kamin aus Stein und dachte über ihre neue Schalidee nach, während sie ein Michelob-Bier trank und zuhörte, wie die Jungen auf 93ihrem Videospiel Space Invaders spielten. Arnold lag da und döste, der Feuerschein spiegelte sich in seinem glänzenden schwarzen Fell wider. Er war zufrieden mit sich, denn er hatte gerade Jasons Hockeyschläger völlig zerbissen. Nasse Skisocken hingen dampfend über den Armlehnen eines Sessels, der neben dem Kamin stand. Caroline hatte einen Schuhkarton mit Fotos auf dem Schoß; hin und wieder schaute sie ein Bild an und versuchte, ein paar für Hannah auszuwählen. Sie selbst, ihre Eltern, Howard und Tommy, unterschiedliche Hausmädchen und Klienten, Jackie und Jason, Jackson, David Michael, Diana. Verschiedene Hintergründe, verschiedene Altersstufen, verschiedene Kleidungsstile. Eine Geisterparade. Selbst die Babies und Kleinkinder namens Jackie und Jason gab es nicht mehr. Sie waren jetzt schon große Jungen. Das ernste kleine Mädchen namens Caroline, die nervös-eifrige Schwesternschülerin, die gehetzte Hausfrau, die wilde Revolutionärin, sie waren alle verschwunden. Und doch war, was Caroline zu Caroline machte, offensichtlich noch vorhanden, denn hier saß sie. Vielleicht wollte Hannah sie mit dieser elenden Liste dazu bringen, genau das zu definieren?

Immer, wenn Jason bei Space Invaders verlor, was oft der Fall war, kam er hereingestolpert, kniete neben ihr hin und legte seinen Kopf in ihren Schoß. Sie strich ihm etwa zwanzig Sekunden über seine rotbraunen Haare und bestaunte dabei die Länge seiner Augenwimpern, dann raste er auch schon wieder gutgelaunt zur nächsten Niederlage. Caroline merkte, daß sie in die Flammen blickte, daß sie gern dasselbe tun würde – auf dem Teppich neben Hannahs Schreibtischstuhl sitzen und den Kopf in Hannahs Schoß legen, während Hannah ihr übers Haar strich. Um Gottes willen, dachte sie und sprang auf.

Während sie wild entschlossen die Kartoffeln fürs Abendessen schrubbte, versicherte sie sich, daß sie auf keinen Fall diese bescheuerte Übertragungskiste noch einmal mitmachen werde. Sie habe Angst, eins übergezogen zu bekommen, hatte sie sich zu Hannah sagen hören. Und das war eine berechtigte Angst. Sie brauchte nur an all die Gesichter auf den Fotos zu denken, die inzwischen von der Bildfläche verschwunden waren.

Nach dem Essen kamen Jenny und Pam zum Pokerspielen, und auch Diana kam herunter. Sie verbannten das Videogerät in das Schlafzimmer der Jungen, aber die Piepgeräusche hüpften auch 94weiterhin durch das Wohnzimmer, als die vier Frauen sich an den zusammenklappbaren Eßtisch setzten, den sie mit grünem Filz zugedeckt hatten.

«Nun läßt sich also auch die letzte der großen Therapiegegnerinnen den Kopf zurechtrücken?» fragte Pam und schob ihren handgemachten ledernen Augenschirm zurecht.

«Ja.» Caroline hatte Schwierigkeiten mit Pams neuer Frisur: vorne fast ein Bürstenschnitt, aber hinten lang. Seit fünf Jahren kannte sie Pam mit einem wilden Haarschopf, hinter dem ihre blaßblauen Hundeaugen fast verschwanden. Sie hatten sich alle vier kennengelernt, als sie Informationen über Abtreibung betrieben, in den schlimmen alten Tagen vor der Legalisierung der Abtreibung. Sie hatten Geld zusammengekratzt, waren mit schluchzenden Teenagern nach Kanada gefahren, hatten hysterische Hausfrauen davon abgebracht, mit Insektengift Scheidenspülungen zu machen, hatten gegen Nasse-T-Shirt-Schönheitswettbewerbe demonstriert. Gemeinsam hatten sie sich auf den Stufen des Regierungsgebäudes mit Abtreibungsgegnern auseinandergesetzt und sich für die Abendnachrichten interviewen lassen. Aber eines Tages schickte Caroline eine Sozialhilfemutter für eine späte Abtreibung zu einem Arzt nach New Jersey. Er gab ihr Injektionen mit Kochsalzlösung und schickte sie weg. Sie nahm ein Zimmer in einem Holiday Inn und hatte eine Fehlgeburt; übers Telefon schrie sie Caroline wild schluchzend an, während sie auf dem blutgetränkten Bett saß und den toten Fötus im Arm hielt. Caroline stieg aus dem Projekt aus und fiel in tiefe Verzweiflung.

Als das Bild jener Frau – mit ihrem toten Fötus in einem Motelzimmer allein – in ihrem Kopf auftauchte, merkte Caroline, daß ein Tief aufzog, wie dunkle Wolken am Horizont. Sie erinnerte sich daran, daß sie nicht an so schlimme Dinge denken mußte, genausowenig wie sie die tote Ulme heute nachmittag als potentielle Unfallquelle ansehen mußte. Sie zuckte ein paarmal mit den Schultern, wie Hannah. Sie war von alten Freundinnen umgeben, in einem warmen Haus, vor sich ein kühles Bier. Alles war gut.

«Und wie ist es?» fragte Pam.

«Ganz gut», sagte Caroline. «Ich komme mir doof vor, daß ich soviel darüber gelästert habe.»

«Du warst ziemlich unerträglich», sagte Jenny, während sie die Pokerchips austeilte und das Geld einsammelte. Jenny und Pam 95waren enge Freundinnen, die gelegentlich auch miteinander schliefen. Sie gingen so selten wie möglich bezahlter Arbeit nach und hatten möglichst viele Liebesaffären gleichzeitig. Indem sie nicht arbeiteten, glaubten sie, ihren Beitrag zur Unterwanderung des Patriarchats zu leisten; indem sie den sexuellen Reichtum mit anderen teilten, leisteten sie ihren Beitrag zum Aufbau des Matriarchats. Caroline fand diese Philosophie verlockend, aber sie war nicht fähig, ihr puritanisches Bostoner Erbe weit genug hinter sich zu lassen, um diese Philosophie in die Praxis umzusetzen.

«Aber es war ja ganz offensichtlich, daß du deswegen so dagegen warst, weil du dich so davon angezogen gefühlt hast», fügte Jenny hinzu. Sie trug eine Rote-Armee-Mütze mit einem roten Stern vorne, die sie kürzlich auf einer Chinareise gekauft hatte. Sie war mit ihren Eltern und einer Gruppe presbyterianischer Missionare aus Georgia unterwegs gewesen, und mit einer der Missionarinnen war sie angeblich in Nanking ins Bett gegangen.

«Das klingt wie die Einschätzung von jemandem, der schon einiges an Therapie hinter sich hat», sagte Diana und deckte Karten auf, um festzulegen, wer als erste geben würde.

«Ach, tausend Jahre. Ich war richtig therapiesüchtig. Meine Eltern gaben ein Vermögen aus für meine Therapeuten, in der Hoffnung, ich würde von meiner Perversion geheilt werden. Statt dessen verbrachte ich die Sitzungen damit, meine Therapeutinnen zu verführen. Einmal mit Erfolg, möchte ich hinzufügen. Sie wollte dann, daß wir die Therapie abbrechen und die Affäre weiterführen. Ich wies darauf hin, daß eines meiner Probleme, wegen denen ich hier sei, darin bestehe, daß ich keine sexuelle Beziehung aufrechterhalten könne. Sie warf den Brieföffner nach mir, und der blieb in der Wand stecken, neben meinem Kopf. Als ich ging, bat sie gerade ihre eigene Therapeutin am Telefon dringend um eine Sitzung und murmelte, jetzt verstehe sie zumindest, was Gegenübertragung sei.»

«Ist das wahr?» fragte Pam und gab jeder sieben Karten. «Oder hast du das gerade erfunden?»

«Das sage ich euch, wenn Caroline mit ihrer Therapie fertig ist», sagte sie mit einem hinterlistigen Lächeln und warf ihren Einsatz in den Pott. Sie beugte sich herüber und nahm ein paar Erdnüsse von Pams Haufen, als wären sie ein altes Ehepaar.

«Nur zu, amüsiert euch über mich, Kinder», sagte Caroline. «Ich weiß, ich habe es verdient.»

96

Caroline schaute ins Feuer, trank ihr Bier und gewann beim Kartenspiel, während sie darüber tratschten, wer mit wem schlief. Das Tief war genauso abrupt wieder verschwunden, wie es aufgetaucht war. Welch ein Luxus, mit alten Freundinnen zusammen zu sein, mit denen es ohne weiteres möglich war, einfach auch nur über Banalitäten zu reden. Sie hatten erlebt, wie ihre Haare grau wurden, wie ihre Schwangerschaftsstreifen sich senkten, wie das ihnen zur Verfügung stehende Einkommen mit der Inflation immer mehr zusammenschmolz. Schnee schwebte draußen vor dem Fenster vorbei. Der Geruch der feuchten Wollsocken drang vom Kamin herüber. Feindliche Laserstrahlen piepten im Nebenzimmer. Die Stimmen der Jungen warfen sich gegenseitig vor, sie würden schummeln und lügen. Wohlbefinden beschlich Caroline so unmerklich, daß sie keine Möglichkeit hatte, es abzuwehren. Die Geister, die hinter ihr lauerten, verblaßten und schwanden dahin. Ihr genügten die Menschen, die sie umgaben, und das, was hier und heute war. Es war sogar mehr als genug – ein unerwartetes Geschenk von nirgendwo. Wie der Specht auf der Ulme. Das ist Friede, teilte sie sich voll Überraschung mit.

«Was ist los?» fragte Diana, nachdem Caroline verloren hatte.

«Ich komme in die mittleren Jahre, vor euren Augen.»

«Und warum sagst du das?»

«Ich fühle mich friedlich.» Bestimmt konnte Friede nicht derart einfach sein – einfach für das Gegenwärtige dankbar zu sein und nicht dauernd an die Toten und Weggegangenen, die Kranken und die Leidenden zu denken?

«Mach dir keine Sorgen», sagte Pam und zog an ihrem Augenschirm. «Das hält nicht an.»

«Aber das würde mir gefallen. Und ich habe immer geglaubt, Zufriedenheit sei unverantwortlich in einer Welt, in der so viel verändert werden muß.»

«In den ersten Therapiewochen werden alle gläubig», sagte Jenny, die ihren Armeerucksack durchwühlte und ein zweites Kartenspiel herausholte. «Es ist berauschend, wenn dir jemand zuhört.»

«Ich höre ihr zu», protestierte Diana.

«Du zählst nicht. Du kostest ja nichts.» Jenny mischte die neuen Karten und schob sie Caroline zum Abheben hin.

«Was für Karten sind denn das?» fragte Caroline.

97

«Die hab ich aus Hong King», sagte Jenny und teilte die Karten aus.

Als Caroline ihre Karten aufnahm, blickten ihr sieben nackte Frauen in obszönen Posen entgegen. Sie und Diana begannen zu lachen.

«Du bist wirklich widerlich», teilte Pam Jenny mit, während sie ihre Karten anschaute.

«Aber lustig», sagte Jenny.

«Ich meine es ernst. Ich finde das wirklich beleidigend.»

«Selbst wenn wir die mit Männern drauf wegtun?» fragte Diana und versuchte, ihre Karten zu ordnen.

«Ich könnte sie ja in braunes Packpapier wickeln», sagte Jenny.

Pam warf beiden einen verächtlichen Blick zu.

«Deine Missionarin muß von der da begeistert gewesen sein», sagte Caroline und hielt die Pik-Drei hin, auf der eine Frau abgebildet war, die nichts anhatte außer schwarzen Strümpfen und einem Kreuz an einer goldenen Kette um den Hals.

Jenny grinste.

«Aber ich kann nicht mal sehen, welche Farbe sie sind», sagte Diana.

«Ich weigere mich, mit diesen Karten zu spielen.» Pam warf ihre Karten mit der Bildseite nach unten hin. «Ich kann es nicht ertragen, Frauen derart ausgebeutet zu sehen.»

«Ach, meinetwegen», sagte Jenny und fegte die Karten zusammen. «Aber wird es dir nicht langweilig, dauernd so fürchterlich politisch korrekt zu sein, Pam?»

«Wird es dir nicht langweilig, dauernd das ungezogene Mädchen zu spielen?»

Jenny zog sich ihre Rote-Armee-Mütze ins Gesicht und mischte die alten Karten, ohne zu antworten.

Caroline versuchte zu entscheiden, ob sie sich schämen sollte, weil sie nicht so entsetzt über Jennys Karten war wie Pam. Pam starrte mit beherrschter Wut auf Carolines Türme von roten, weißen und blauen Chips. «Schau, Pam, ich kann nichts dafür, wenn ich euch Schwachköpfe dauernd besiege», sagte Caroline, um das angespannte Schweigen zu durchbrechen.

Alle lachten kurz auf. «Ich glaube, die Therapie wirkt schon», sagte Pam und legte ihren Kopf zurück, um mit ihren großen Hundeaugen unter ihrem Augenschirm hervorzublicken. «Du wirst butch.»

98

«Das war sie schon immer», sagte Diana. «Wir sind beide butch. Deswegen kommen wir nicht miteinander zurecht. Wir versuchen, einander im Butch-Sein zu übertreffen, indem wir uns beide als Superfemmes aufführen.» Sie streckte die Hand aus, um Carolines Unterarm zu streicheln.

«Mein Gott, streitet ihr zwei euch immer noch?» sagte Pam. «Hört doch auf damit. Das Leben ist viel zu kurz.»

Dianas Berührung war wie ein elektrischer Schlag. Carolines Arm zuckte so stark, daß ihr die Kreuz-Königin aus der Hand fiel. Sie und Diana schauten die Karte an, dann einander. Jenny und Pam tauschten ebenfalls Blicke aus. «Tja», sagte Jenny munter, wie June Allyson in einem Spätfilm, «wir müssen gehen. Ich bin sicher, ihr zwei habt eine Menge zu besprechen.»

Diana spülte die Biergläser und räumte die Erdnüsse weg, während Caroline die Jungen ins Bett brachte. Dann setzten sie sich auf das Sofa am Kamin.

«Es ist schön zu sehen, daß es dir so gut geht», sagte Diana.

«Danke. Es ist schön, sich so zu fühlen.»

«Hannah Burke muß was von ihrem Job verstehen.» Ihre Stimme klang verkrampft.

«Ich habe keine Ahnung. Ich war noch bei niemandem sonst in Therapie.» Ihre mit Cordsamthosen bekleideten Schenkel berührten sich. Caroline verstärkte leicht den Druck. Sie schauten beide in das ausgehende Feuer.

«Die Sache ist die», sagte Diana, «ich glaube, ich bin eifersüchtig. Ich wollte, ich hätte dir helfen können, dich besser zu fühlen.»

«Aber du hast mir geholfen. Und hilfst mir immer noch.»

Carolines Aufmerksamkeit konzentrierte sich völlig auf die Stelle, wo sich ihre Schenkel berührten.

«Nein, ich weiß, ich bin ein Teil des Problems und nicht die Lösung. Aber das will ich nicht.»

Caroline wußte nicht, was sie sagen sollte. Ihr war klar, daß beide Aussagen stimmten. Aber was wollte Diana sonst?

«Wie läuft es mit Suzanne?»

Dianas grüne Augen lagen im Schatten. «Sie und ich sind nur Freundinnen, weißt du.»

«Bis jetzt noch.»

Diana zuckte irritiert mit den Schultern und nahm ihren Schenkel 99von Caroline weg. «Sie bewundert mich. Das gefällt mir. Ich brauche das im Augenblick.»

«Na ja, es sieht ja so aus, als bekämst du es auch.»

«Ach, Caroline, sieh mal …» Sie nahm Carolines Gesicht zwischen beide Hände und küßte sie auf den Mund. Caroline erwiderte den Kuß und zog Diana an sich.

Nachdem sie sich einige Minuten geküßt hatten, murmelte Diana: «Wir sollten das eigentlich nicht machen.»

«Wer sagt das?»

«Ich.»

Sie küßten sich weiter. Caroline schob ihre Hand unter Dianas Flanellhemd und ihren glatten, bloßen Rücken hinauf.

Diana stand abrupt auf und fuhr sich mit den Fingern durch ihre wirren roten Haare. «Es tut mir leid. Ich hätte nicht anfangen sollen. Träum süß, liebe Freundin.»

Als Diana die Treppe nach oben hastete, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, lächelte Caroline in ihrer Sofaecke leise in sich hinein. Dieses blöde Hin und Her. Caroline wußte, sie müßte sich eigentlich ärgern oder sich elend fühlen, aber die friedliche Stimmung von vorhin war immer noch in ihr, verstärkt durch die neue Erkenntnis, daß Diana sie immer noch wollte. Ihr Körper teilte diese Botschaft ganz deutlich mit, gleichgültig, was ihr dummer kleiner Mund so beharrlich behauptete. Diana wenigstens war ein Geist, der immer noch sehr stark aus Fleisch und Blut bestand.

Caroline ging in ihr Zimmer und begann, mit Farben für die Kettenfäden ihres neuen Landschaftsschals zu experimentieren. Sie arbeitete gut gelaunt bis in die Nacht, fügte Stränge von Naturwolle zusammen, drehte sie, knüpfte sie und tauchte sie in Farblösungen, wobei sie die Farbe überall im Zimmer verspritzte.

In der Nacht träumte sie, sie sitze im Dunkeln auf einem zu weich gepolsterten Sessel und sehe fern. Hannah erschien auf dem Bildschirm. Sie war jung, hatte dunkle Haare und ein zerquältes Gesicht. Sie sprach mit matter Stimme von den Schwierigkeiten einer jungen Mutter. Am anderen Ende des Zimmers öffnete sich eine Tür. Herein kam eine Hannah mittleren Alters, mit grau werdenden Haaren und mit von der Kälte geröteten Wangen, einem lebhaften Lächeln und durchdringenden blauen Augen, wie Saphire in der Sonne. Caroline freute sich, sie zu sehen, und wollte sie begrüßen. Aber sie war nicht imstande aufzustehen. Offensichtlich 100mußte sie weiter die leidende Hannah auf dem Fernsehschirm anschauen.

 

«Tag. Ich bin gleich bei Ihnen, Caroline.» Hannah saß an ihrem Schreibtisch und studierte ihren Terminkalender. Sie trug einen Namen ein und radierte einen anderen aus.

Caroline setzte sich auf die Tweedcouch, überkreuzte ihre mit Levis bekleideten Beine und blickte aus dem Fenster auf Lake Glass. Der Schnee auf den Bäumen im Hof war geschmolzen und wieder gefroren; die Zweige leuchteten im hellen Sonnenlicht wie Filigrankristall.

Hannah drehte sich auf ihrem Stuhl um und lächelte. Caroline sah gebräunt aus. Sie mußte übers Wochenende Ski fahren gewesen sein. Die übliche Angespanntheit um Mund und Augen hatte etwas nachgelassen. Eine leichte Aufgedunsenheit um ihre Wangen war verschwunden. Es war erstaunlich zu beobachten, wie sie sich äußerlich veränderten, wenn sie anfingen, sich besser zu fühlen.

«Ich habe neulich nachts von Ihnen geträumt», sagte Caroline und verschränkte die Arme vor dem Bauch.

«Ach ja? Und was?» Dieser Prozeß überraschte Hannah immer wieder von neuem. Zwei Menschen saßen in einem kleinen Raum und redeten, und etwas begann zu geschehen. Sie fingen an, übereinander nachzudenken; eine träumte von der anderen; ahmte die Verhaltensweisen der anderen nach. Um was ging es denn eigentlich? Sie dachte gerne, sie habe alles immer fest im Griff, aber in Wahrheit machte sie oft nur einfach mit.

«Ich war mal eine gehetzte Hausfrau», sagte Hannah, nachdem sie den Traum gehört hatte. «Vier Kinder, keine Arbeit außerhalb des Hauses, ein Mann, der oft weg war.» Sie legte ihre Füße auf den Fußschemel.

«Sie?» So hatte Caroline Hannah ursprünglich wahrgenommen. Aber inzwischen hatte sie angefangen, sie als erfahrene Therapeutin zu sehen. Es war schwierig, beides unter einen Hut zu bringen.

«Ja. Aber wie verstehen Sie den Traum?»

Caroline zögerte. Hannah war die Expertin. Was war die richtige Antwort? «Ich habe mich gefragt, ob ich versuche, Sie in dieselbe Schublade zu stecken wie die meisten Leute um mich herum.»

«Und wie sind die?»

«Weil ich Krankenschwester bin, bin ich immer von Kranken 101und Depressiven umgeben.» Wenn sie in Hannah einfach auch eine weitere Patientin sehen könnte, dann wüßte sie, wie sie mit ihr umgehen sollte.

«Das klingt einleuchtend. Aber im Traum repräsentieren andere Leute meistens verschiedene Teile der Träumenden selbst. Für mich klingt es so, als versuchten Sie, sich von dem depressiven Teil Ihrer selbst zu entfernen.»

«Was?»

«Wie war der Rest der Woche?» Wenn es nur so einfach wäre, daß sie ihren Klienten in ein paar Sätzen alles erklären könnte. Dann könnte sie ihnen, gleich wenn sie zur Tür hereinkamen, eine Liste mit psychologischen Grundprinzipien in die Hand drücken und sie als gut funktionierende Menschen wieder entlassen.

«Ziemlich gut. Am Samstag war ich mit den Jungen Ski fahren und hab einen Schwarzspecht gesehen. Wir gingen heim und machten ein Feuer. Ein paar Freundinnen kamen zum Kartenspielen. Und fast den ganzen Abend über fühlte ich mich – friedlich oder so.»

«Wie schön.» Auf Carolines Gesicht lag ein offener, vertrauensvoller Ausdruck, den Hannah noch nie gesehen hatte.

«Na ja, nicht ganz so schön …»

Hannah lachte. Carolines Gesicht hatte sich gerade zu seinem üblichen Ausdruck schmerzlichen Mißtrauens verzogen, wie ein Einsiedlerkrebs, der sich wieder in sein Gehäuse zurückzieht. «Natürlich ist es schön. Lassen Sie mal.» Sie bekamen es mit der Angst zu tun, wenn sie anfingen, sich wohl zu fühlen, einfach weil das ein so wenig vertrautes Gefühl war. Wie chronisch Gefangene, die der Haftentlassung entgegensehen.

Ein langes Schweigen trat ein. Schließlich sagte Caroline: «Ich habe nicht viel zu erzählen. Ich habe mich von da an ziemlich gut gefühlt. Vielleicht hätte ich heute nicht kommen sollen?»

«Ich freue mich», sagte Hannah. «Wir brauchen ja nichts groß zu reden. Wir können Witze erzählen. Oder Sie erzählen mir von Ihren Freundinnen. Ich habe am Samstag auch Karten gespielt. Was haben Sie gespielt?» Sie mußte gegen die Vorstellung angehen, sie sei nur an Carolines Problemen interessiert, sonst würde Caroline alles dransetzen, immer exotischere Probleme zu fabrizieren.

«Poker. Und Sie?»

«Bridge.»

102

Caroline schaute sie an. Sie spielte also tatsächlich Bridge. Aber sie kam ihr nicht mehr wie der Typ dazu vor. Was immer das hieß.

«Haben Sie gewonnen?»

«Ja. Ich gewinne meistens.»

«Das wundert mich nicht.»

«Wieso?»

«Ihr Gesicht nimmt immer einen gewissen undurchdringlichen Ausdruck an, wenn Sie nicht wollen, daß die Leute wissen, was Sie fühlen. Vor allem dann, wenn sie Ihnen nicht in die Augen schauen.»

Caroline fühlte sich geschmeichelt, daß jemand sie so genau beobachtet hatte. Ihre Augen wanderten einen Augenblick lang zu Hannahs Busen, üppig unter einem gelben Rollkragenpullover. Sie fühlte ein Verlangen, ihren Kopf dort auszuruhen und Hannahs Arme um sich zu spüren. Oh, bitte lieber Gott, nein.

«Haben Sie gewonnen?» fragte Caroline schnell. Sie suchte nach etwas, was ihr an Hannah nicht gefallen könnte, nachdem es jetzt keine Wirkung mehr hatte, sie als Bridge spielende Hausfrau abzutun. Daß sie barfuß in ihrem Büro herumrannte? Aber das gefiel Caroline. Sie schaute kurz zu den blondköpfigen Kindern auf den Fotos an der Pinnwand über Hannahs Schreibtisch, und sie wurde von Eifersucht überschwemmt. Diese kleinen Biester. Sie wurden von Hannah in die Arme genommen.

«Ja, ich gewinne auch immer. Die gleiche Undurchschaubarkeit. Deshalb nehme ich das wahrscheinlich bei Ihnen wahr.» Sie empfand das unangenehme Taumeln, das ihr mitteilte, daß eine Klientin anfing, sie zu verschlingen. «Was für Leute sind Ihre Freundinnen?»

«Ich kenne sie seit Jahren. Sie sind alternde Hippies. Sie arbeiten nur, wenn es gar nicht anders geht, und sie hängen gern einfach nur rum.» Welches Durcheinander auf Hannahs Schreibtisch, dachte Caroline; Bücher, Zeitungen, Kaffeetassen und Sandwichtüten. Was für eine Schlampe. Aber Caroline war das auch manchmal.

«Der Teil Ihrer selbst, den Sie nie ausgelebt haben?»

«Wie bitte?»

«Sie waren immer so sehr damit beschäftigt, für alle anderen zu sorgen, in der Hoffnung, die würden dann für Sie sorgen, daß Sie nie viel einfach herumgehangen haben, oder?»

Caroline senkte die Augen. Hatte sie immer für alle gesorgt? Und wenn, war das dann ihr Motiv, und nicht Selbstlosigkeit?

103

«Also leben Sie es durch die Wahl Ihrer Freunde aus», fuhr Hannah beiläufig fort und schaute aus dem Fenster, als gerade Mary Beth in einem Chinchilla-Mantel und in Stiefeln mit lächerlich hohen Absätzen vorbeikam. Wie brachte sie es fertig, sich bei diesem Glatteis nicht das Genick zu brechen? «Wie in Ihrem Traum; ich auf dem Fernsehschirm als der verantwortungsbewußte, depressive Teil Ihrer selbst. Ihre Freundinnen sind Ihre faule, lebenslustige Seite. Aber wir sind beide eigentlich Sie.» Der orangefarbene Le Car kam die Straße beim Büro entlanggekrochen, wie ein ausgesprochen unangenehmes Insekt.

Caroline merkte, wie ihr der Kopf schwirrte, weil er versuchte, mehr aufzunehmen, als er fassen konnte. Dann dachte sie gar nichts mehr und saß in verwirrtem Schweigen da, während sie die Staubkörnchen beobachtete, die sich im Sonnenlicht bewegten, das durch das Fenster drang. Als das Schweigen drückend wurde, sagte sie: «Ich dachte, wir wollten Witze erzählen.»

«Wie viele Therapeuten braucht man, um eine Birne auszuwechseln?» fragte Hannah. Es dauerte normalerweise eine Weile, eine Person dazu zu bringen, die einzelnen Elemente ihres Lebens als Stücke des Puzzles anzusehen, das ihre eigene Psyche war.

«Wie viele?»

«Einen, aber die Birne muß wirklich ausgewechselt werden wollen.»

Caroline lächelte, und Hannah dachte, wieviel Spaß es ihr machte, Leuten zu helfen, sich besser zu fühlen. Wenn das hieß, daß sie ihnen den Kopf zurechtrücken mußte, schön. Wenn sie es erreichen konnte, indem sie Witze erzählte, um so besser. Sie wandte ihre eigene Formel an und gab zu, daß die Tatsache, daß sie anderen Leuten half, sich besser zu fühlen, bedeutete, daß sie etwas für ihre eigene depressive Seite tat.

«Wissen Sie, was hier vor sich geht, Caroline?» Hannah zündete sich eine Zigarette an.

Caroline blickte auf. Eine Rauchwolke verdeckte Hannahs Augen. Heute ging nicht viel vor sich. Und das war ihr auch ganz recht so.

«Sie werden jetzt akzeptiert, wie Sie es als Kind nie erlebt haben. Und wenn Sie genug davon haben, gehen wir zu etwas anderem über.»

Caroline fühlte Ärger in sich emporsteigen. Wer sagte, daß sie als 104Kind nicht akzeptiert wurde? Hannah dachte, sie wisse alles. Caroline konzentrierte sich selbstgerecht auf Hannahs Arroganz. «Ich habe nur noch ein paar Stunden, und dann sind die zwei Monate um.»

«Dann machen wir uns besser mal an die Arbeit.»

«Sie werfen mich also wirklich in ein paar Wochen hier raus?» fragte Caroline angriffslustig.

Hannah schaute sie mit gespielter Verwunderung an. «Wenn ich mich richtig entsinne, war die ursprüngliche Frage, ob Sie gezwungen wären, bis ans Ende Ihres Lebens herzukommen. Sie können für immer hierherkommen. Es ist Ihr Geld.» Sie griff nach Nigels Steinaschenbecher.

Caroline war irritiert. Hannah schien es gleichgültig zu sein, was passierte. Aber ihr selbst war es nicht mehr gleichgültig, merkte sie mit Beunruhigung. Dies sollte eigentlich ein Zahnarztbesuch sein. Sie saß erschrocken schweigend da. Hannah war ihr wichtig. Sie wollte weiterhin kommen, sie wollte Hannah jede Woche sehen, sie wollte, daß Hannah sie sehen wollte. Wenn Hannah das herausfand, dann würde sie angewidert weggehen. Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben. Caroline mußte ganz kühl vorgehen, nichts davon preisgeben, tun, was ihr gesagt wurde, oder Hannah würde sich zurückziehen wie all die andern. Sie spürte, wie ihre Gesichtszüge sich zu der ausdruckslosen Maske ordneten, die sie beim Pokerspielen verwendete. Die Fotos! Sie hatte ihre Hausaufgaben gemacht!

Sie griff in ihre Tragetasche und verkündete: «Ich habe Ihnen ein paar Bilder mitgebracht.»

«Großartig», sagte Hannah, drückte ihre Zigarette aus und stellte den Aschenbecher auf den Schreibtisch. Als sie die Fotos anschaute, fand sie in einer Aufnahme nach der andern die Bestätigung ihrer ursprünglichen Diagnose. Für jeden deutlich zu erkennen, den keine Gefühle für die einzelnen Personen blendeten. Zwei ängstliche kleine Jungen klammerten sich an ihre ältere Schwester, die meist den Kopf gesenkt hielt, als erwarte sie einen Schlag. Der Vater war nicht zu sehen, oder er blickte von der Kamera weg; die Mutter wandte sich meist etwas von den Kindern ab, eine buchstäblich kalte Schulter. Ein Foto zeigte ein Baby, vermutlich Caroline, teilnahmslos in einer Babyhüpfschaukel im Türrahmen hängend. Auf neueren Fotos klammerten sich wieder zwei kleine Jungen an 105Caroline, und eine Galerie von Männern und Frauen standen neben ihr, leicht abgewandt.

«Sind das alle Fotos, die Sie haben?» fragte Hannah.

«Nein, ich habe einen ganzen Karton voll. Wollen Sie noch mehr sehen?»

«Nein. Es interessiert mich nur.» Caroline hatte diese Fotos aus vielen anderen ausgewählt, um ihre Geschichte zu erzählen. Ob dies aus der Perspektive irgendeines anderen Menschen die «wirkliche» Situation war, spielte keine Rolle. Eine andere Auswahl hätte etwas anderes mitgeteilt. Aber Zurückweisung und Verlassenheit waren Carolines inneres Ambiente, wahrscheinlich geprägt durch jene ersten Monate, als ihr Vater in den Krieg zog und ihre Mutter überschnappte vor Verlassenheit und Angst. Aber bewußt war Caroline nichts davon. Und es ihr in ein paar Sätzen zu erklären, bewirkte überhaupt nichts.

«Sehen Sie in diesen Fotos ein bestimmtes Muster?» fragte Hannah und beugte sich vor, um sie zurückzugeben.

«Ein bestimmtes Muster?»

«Nehmen Sie sie mit nach Hause und schauen Sie sie hin und wieder an.»

Caroline runzelte die Stirn. Sie dachte, Hannahs Absicht sei es, sich die Leute besser vorstellen zu können, über die sie hier sprachen. Muster?

«Was machen Sie über Weihnachten?» fragte Hannah.

«Ich fahre mit meinen Söhnen zu meinen Eltern nach Boston.»

Hannah blinzelte. Die entscheidende Schlacht fand früher statt, als sie erwartet hatte. «Ist das ein Vergnügen?»

«Ja. Die Jungen können es gut leiden, wenn an Weihnachten viel los ist, und da gibt es Parties und so.» Sie rieb ihren Nasenrücken, dann hörte sie sich selbst zu ihrem Entsetzen sagen: «Ich habe Angst.»

«Wovor?»

«Es ist mir in letzter Zeit so gut gegangen.»

«Es kann Ihnen auf die Dauer nicht dadurch gut gehen, daß Sie Dingen aus dem Weg gehen, die schmerzlich für Sie sind. Sie müssen mit ihnen fertig werden. Und das werden Sie auch.» Sie lächelte über sich selbst, weil sie so bestimmt klang.

«Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe. Ich komme mit meinen Eltern gut aus. Immer schon. Ich hatte eine sehr glückliche und privilegierte Kindheit.»

106

Hannah behielt ein ausdrucksloses Gesicht und dachte daran, wie oft Maggie sich bemüht hatte, bei ihr dasselbe zu tun.

«Das stimmt», sagte Caroline und schaute Hannah trotzig an.

«Ich habe nicht widersprochen.»

«Sie haben gerade gesagt, sie würden mir Schmerz zufügen.» Sie stopfte die Fotos in ihre Tragetasche.

«In Ordnung, dann tun sie es also nicht. Schön.»

«Meine Eltern haben vielen Menschen viel Gutes getan.» Ihre ganze Kindheit über hatten Klienten und Nachbarn sie auf der Straße festgehalten, um ihr zu sagen, was für wunderbare Menschen ihre Eltern seien. Und das war die Wahrheit.

«Großartig.»

«Ja, das haben sie wirklich, verdammt noch mal!»

«Wen versuchen Sie zu überzeugen, Caroline? Mich nicht. Ich akzeptiere das, was Sie mir sagen. Schließlich kenne ich Ihre Eltern ja gar nicht.»

Sie saßen schweigend da. Schließlich sagte Hannah: «Rufen Sie mich an, wenn Sie dort sind, falls Sie das wollen.»

Caroline schaute sie überrascht an und fragte sich, warum Hannah glaubte, sie könnte den Wunsch haben. Dann fiel ihr ganz plötzlich ein, wie es war, wenn sie manchmal von der Schule aus angerufen hatte, ob jemand sie abholen könnte, weil ihr schlecht war – und die Hausmädchen und Sekretärinnen hatten dann geantwortet, alle seien unterwegs, um gute Taten zu vollbringen. Oder wenn sie Jackson im Massachusetts General Hospital angerufen hatte, weil sie wegen der Jungen ärztlichen Rat brauchte oder weil er auf dem Heimweg irgend etwas erledigen sollte – um dann gesagt zu bekommen, er sei gerade im Operationssaal. Oder wenn sie im Bett die Hand nach David Michael ausstreckte – um zu merken, daß er bei Clea war. Und Diana? Wer wußte, was sie vorhatte? Sie hofierte Suzanne, und in der nächsten Minute machte sie Caroline an. Gestern abend hatte sie verkündet, sie werde nach Weihnachten noch in Poughkeepsie bleiben, um sich an Silvester mit Suzanne in New York zu treffen – das erste Mal, daß sie Silvester nicht gemeinsam verbrachten, seit sie miteinander schliefen.

«Danke», sagte sie mit erstickter Stimme zu Hannah. «So etwas hat bisher noch nie jemand für mich getan.» Ihre Hand bewegte sich nervös auf der Couch hin und her, und sie wollte sich ein Papiertaschentuch aus der Schachtel auf der Kommode holen. Aber sie zog 107die Hand wieder an sich. Mit den Fingerspitzen streichelte sie die Kissenbezüge aus Tweedstoff.

«Es klingt so, als hätten Sie sich wirklich immer mit Leuten umgeben, die Sie nicht richtig zu schätzen wußten.» Es brauchte wirklich ein gutes Stück Phantasie, um jemanden wie Caroline, die so wild entschlossen war, andere Leute zufriedenzustellen, als «Egoistin» zu bezeichnen. Hannah bemerkte den Fast-Griff nach den Taschentüchern, erfreut darüber, daß Selbstmitleid die Bühne betreten hatte. Die Schutzmauern gerieten offensichtlich ins Wanken.

Caroline hatte mit Hannahs Bemerkung zu kämpfen. Was hatte sie gesagt, wodurch der Eindruck entstehen konnte, daß die Leute sie nicht richtig behandelt hatten? Sie hatte ein privilegiertes Leben gehabt. Was hatte Hannah in diesen Fotos gesehen?

«Sie haben sich Ihre Eltern nicht ausgesucht», sagte Hannah auf Carolines verwirrten Blick hin, «aber seither haben Sie alle ausgesucht.»

Caroline stand abrupt auf. Sie fühlte sich jämmerlich.

«Ich habe Sie ausgesucht, oder?»

«Ja, und das war auch eine kluge Entscheidung», sagte Hannah.

 

Caroline lud die Kartons mit den zu klein gewordenen Kleidungsstücken und den L. L. Bean-Stiefeln der Jungen aus dem Kofferraum ihres Subaru, während die Jungen zum Laden an der Ecke rasten, um ihr Taschengeld auszugeben, ein Luxus, den es auf dem Land nicht gab. Ihre Mutter hatte sie um Sachen für den Basar des Boat People Relief Fund gebeten. Caroline trug die Kartons in die leere Garage. Auf dem Betonfußboden waren zwei große Ölflecke, wo normalerweise die Autos parkten. Ihre Eltern waren offensichtlich trotz ihrer Ankunft ins Büro gegangen. Aber es war in ihrer Familie immer selbstverständlich gewesen, daß Katastrophen den Vorrang hatten. Ferienreisen waren verschoben, Pfadfinderfeiern verpaßt worden, weil ihr Vater für einen Festgenommenen bürgen mußte, weil ihre Mutter einen Ausreißer aufspürte. Es stand außer Frage, daß die Bedürfnisse der Klienten vor allem anderen kamen, denn die eigene Familie war so gut dran. Ihre Eltern waren gute Menschen. Sie ärgerte sich über Hannahs skeptische Haltung. Wie konnte Hannah sich anmaßen, ein Urteil über Leute zu fällen, die sie gar nicht kannte?

108

Während sie die Kartons aufstapelte, dachte Caroline daran, daß ihr Vater immer Sachen ins Haus gebracht hatte, während ihre Mutter sie immer wieder hinausgetragen hatte. Ihre Ehe war ein perfekt ausgeglichenes Ökosystem. Er hatte Klienten, die alles und jedes im Großhandel bekommen konnten. Ein Mann zum Beispiel hatte ein Geschäft in Dorchester, das die Ladungen verunglückter Lastwagen und Züge verkaufte. Der beige Spannteppich, der überall im Haus ausgelegt war, hatte eine Massenkarambolage mit 35 Fahrzeugen auf der Route 128 überstanden. Wenn ihr Vater die Schlüssel im Wagen einschloß, dann rief er sofort einen Klienten an, den er von einer Anklage wegen Einbruchs freibekommen hatte. Jeden Herbst waren sie nach Maine gefahren, um Kartoffeln zu sammeln, die für die Erntemaschinen zu klein waren. Am Wochenende fuhren sie immer zum Fischmarkt im Bostoner Hafen. Vorne lagen Fische unter einem Schild, auf dem stand «Heute frisch gefangen». Sie kauften dann die lascheren, stärker riechenden Fische vom Vortag, die weiter hinten lagen. Auf dem Heimweg schauten sie am Haymarket vorbei, um unverkauftes Gemüse zu reduzierten Preisen zu kaufen.

Die Vorfahren von Carolines Vater kamen von einem Bauernhof in der Bay of Dingle in Irland während der Hungersnot nach Boston. Sein Jurastudium an der Bostoner Universität während der Weltwirtschaftskrise hatte er selbst finanziert, indem er Schiffe belud und Wäsche auslieferte. Er lernte Carolines Mutter bei einer Tanzveranstaltung am Wellesley College kennen. Sie sprach oft mit Bedauern von den anderen jungen Männern, die am Wellesley College hinter ihr her gewesen waren – obwohl nie klar wurde, was sie eigentlich von ihm gewollt und nicht bekommen hatte. Carolines Mutter war von ihrem Vater, einem anglikanischen Pfarrer, für ein dienendes Leben erzogen worden. Genau wie die Mutter ihrer Mutter, die mit dem Geschick eines Spielbankcroupiers Basare an der Shaker Heights-Kirche organisierte. Hier in diesem geräumigen Haus in der Walnut Street in Brookline wohnte Carolines Familie Seite an Seite mit denen, die Hilfsdienste brauchten. Die Vorstellung, die Carolines Mutter von Hilfsdiensten hatte, war sichtlich etwas vornehmer. Man hilft anderen, aber abends zieht man sich in den Komfort von Shaker Heights zurück.

Caroline ging in die Einfahrt hinaus und betrachtete das riesige viktorianische Gebäude, von dem die weiße Farbe abblätterte, in 109einer Straße mit ähnlich verfallenen Häusern. Während ihrer ganzen Kindheit waren Holzverzierungen von den Türmchen und von unter der Dachrinne heruntergefallen und nicht ersetzt worden; deshalb sah das Haus nun aus, als würde immer noch daran gearbeitet, als befände es sich seit hundert Jahren im Bau, wie eine gotische Kathedrale. Die immergrünen Büsche im Vorgarten waren rostbraun, weil auf der Straße immer Salz gestreut wurde, und das Gras war zertrampelt von den Schulkindern, die hier vorbeikamen. Wo das Haus Schatten warf, gab es noch schmutzige Schneeflecken. Ihr Vater war mit neun Geschwistern weiter unten in der Straße aufgewachsen, als Kind eines Iren, der eine unbedeutende Stelle beim städtischen Wohnungsamt innehatte. Seine Mutter hatte als Hilfsschwester am Beth Israel-Krankenhaus gearbeitet, und dort war Caroline das erste Mal der Gedanke gekommen, sie könnte Krankenschwester werden. Wenn Caroline krank war, kam immer ihre Großmutter vorbei, mit weißen Schuhen, Uniform und Haarnetz. Caroline wurde gerne krank, weil ihre Großmutter ihr dann die Schultern mit Alkohol abrieb und ihr auf einem Servierbrett das Essen brachte. Außerdem konnte sie den ganzen Tag im Bett bleiben und mußte nicht in der ganzen Nachbarschaft hinter Howard und Tommy herlaufen und sie davor bewahren, daß sie in irgendwelche Kanalschächte fielen oder zu fremden Leuten ins Auto stiegen. Sie hatte immer panische Angst, es könnte ihnen etwas Furchtbares zustoßen, während sie auf sie aufpaßte.

Als Caroline ins Haus ging, war sie froh, ein paar Augenblicke für sich allein zu haben. Sie schaute sich das Treppenhaus an, wo sie den Teddybär ihres armen Bruders Howard aufgehängt hatte. Er war auf die Pennsylvania State University gegangen und in die Boxmannschaft eingetreten. Vermutlich war sie es, die er bei jedem Kampf im Ring zermalmte. Er kam an Weihnachten nicht nach Hause. Wegen der Hungersnot hielt er sich immer noch im Tschad auf. Tommy arbeitete für die staatliche Gesundheitsbehörde in einem Sioux-Reservat in South Dakota, und auch er kam nicht nach Hause.

Sie ging über den Teppich von der Route 128 und blickte sich im Wohnzimmer um. Die Regale und Tische waren ohne die persönlichen Gegenstände, die sich in der Wohnung anderer Leute ansammeln. Ihre Eltern waren Asketen, sie füllten ihr Leben nicht mit bedeutungslosem Kram an, sondern konzentrierten sich ganz auf 110das Wesentliche, wie zum Beispiel auf Katastrophenhilfe. Es war bewundernswert. Aber dieses Haus war so ganz anders als all die Häuser, in denen sie seither gelebt hatte. Jacksons Haus im Neo-Tudor-Stil war der obszöne Wunschtraum einer jungen Braut gewesen – ausgestattet mit allen Maschinen und Prunkstücken, die man sich nur vorstellen konnte. David Michaels Kommune in Somerville war ein Meisterwerk eigenen Stils gewesen – Autositze als Sofas, Vorhänge aus amerikanischen Flaggen, die von Regierungsfahnenstangen befreit worden waren; an jeder leeren Stelle an der Wand Poster, die zu dieser Befreiung und jenem Widerstand aufriefen; aus Weinflaschen hergestellte Gläser, Besteck, das aus dem Café des Waldorf Hotel am Harvard Square gestohlen war. Diana und sie neigten mehr zum rustikalen Blümchenstil – geknüpfte Teppiche, frischgebackenes Brot, die Wäsche auf der Leine. Jeder Stil war deutlich erkennbar, im Gegensatz zu dem dieses Wohnzimmers, das die Empfangshalle eines Motels hätte sein können.

Ihr Vater kam zur Haustür herein, gedrungen und mit gerötetem Gesicht, mit rotbraunen Haaren wie Jason, die an den Schläfen inzwischen gelblich ergraut waren. Auf der Stirn hatte er über der Augenbraue eine Narbe von einer Bajonettwunde, die er erhalten hatte, weil er als japanischer Kriegsgefangener bei einem erzwungenen Marsch gestürzt war. Seine Krawatte war keine drei Zentimeter breit. Als Mädchen hatte Caroline sich wegen seiner Krawatten und Hosenaufschläge geschämt. Weil er alles im Schlußverkauf erstand, kaufte er schmale, wenn breite Mode waren, und umgekehrt. Er rückte ins Untergeschoß von Filene's Kaufhaus vor wie ein Soldat in einen feindlichen Schützengraben und kam mit heruntergesetzter Ware zweiter Wahl wieder zum Vorschein. «Es ist völlig in Ordnung», beharrte er und ließ eine Schulter hängen, während seine Frau mit ungläubigem Entsetzen ein neues Jackett inspizierte. «Man muß nur eine Schulter etwas höher halten als die andere.»

«Da bist du ja, mein Schatz!» Er umarmte sie ungeschickt. Kaugummi kauend kamen die Jungen hereingestürzt, die Hände voll Starwars-Spielkarten. «Na, wen haben wir denn hier?» fragte ihr Vater und schüttelte ihnen die Hand, während sie mit den Spielkarten jonglierten. «Wie war die Reise, mein Schatz?»

«Danke, gut, Vati. Keine besonderen Zwischenfälle.»

«Tut mir leid, daß niemand hier war. Ich mußte nach Dorchester. 111Und deine Mutter hatte einen Notruf. Wie wäre es, wenn ihr drei mit mir zu Filene's gehen würdet, um Geschenke für die Sekretärinnen auszusuchen?»

Die vielen Leute in der U-Bahn waren nach den Wäldern von New Hampshire einschüchternd. Die Jungen blieben ganz dicht bei Caroline und griffen nach ihrer Hand, als sie sich durch die sich windenden Reihen halb angezogener Frauen durchkämpften, die in den Gängen von Filene's Untergeschoß Blusen anprobierten.

Ihr Vater entschloß sich, für die Sekretärinnen Chanel No. 5 zu kaufen. Als Caroline ihm half, die Flaschen aus einem beschädigten Karton zu holen, wurde sie von dem Duft umflutet. Ihre Mutter hatte immer dieses Parfüm verwendet. Oft versammelten sich Caroline, Howard und Tommy um sie, wenn sie sich zum Ausgehen zurechtmachte. Wer sich am besten benommen hatte, durfte ihr die Strümpfe am Strumpfgürtel festmachen. Carolines Finger zuckten bei dem Gedanken daran, welches Vergnügen es gewesen war, die Seidenstrümpfe über den Knopf zu legen und dann beides in den Halter aus Draht gleiten zu lassen. Inzwischen betupfte sich ihre Mutter mit Chanel No. 5. Und Caroline strich zart mit den Fingern über den Bogen des Hüftknochens, über dem sich der seidene Schlüpfer ihrer Mutter spannte. Brüste und Knochen, die kamen zum Vorschein, wenn man zur Frau wurde. Sie hatten nie eine genaue Vorstellung von der Arbeit ihrer Mutter. Wenn Caroline oder ihre Geschwister sich über irgend etwas beklagten, redete sie von Waisenkindern, die an Straßenecken zitterten; Maureen las ihnen die Geschichte vom ‹Kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern› vor, und Caroline leitete daraus die Vorstellung ab, ihre Mutter gehe an die Straßenecken und verteile unter die Waisenkinder Streichhölzer zum Verkaufen.

«Meinst du, das wird ihnen gefallen?» fragte ihr Vater, als die Verkäuferin die Packungen von Chanel No. 5 in die Kasse tippte.

Caroline war es nicht gewöhnt, daß er sie um Rat fragte. «Mutter mag es sehr gerne. Ich auch. Sie freuen sich bestimmt darüber.» Sie betrachtete sein rötliches, knochiges Gesicht. Hannah hatte angedeutet, sie müsse an ihm gelitten haben. Aber sie hatte ihn vor allem als abwesend in Erinnerung. Er war fast nie zu Hause. Und wenn, dann war er am Telefon, oder er las Zeugenaussagen, oder er lag im Bett und stöhnte wegen seiner Darmkoliken. Sie konnte sich nicht 112erinnern, daß es je eine Meinungsverschiedenheit oder auch nur ein Gespräch zwischen ihnen gegeben hatte.

Washington Street war verstopft von Feiertagseinkäufern, die sich vor Filene's und Jordan Marsh von Fenster zu Fenster bewegten. Caroline, ihr Vater und die Jungen blieben vor einem Schaufenster stehen, in dem mechanische Mäuse mit roten Schleifen um den Hals durch Geschenke unter einem riesigen Weihnachtsbaum flitzten, während eine entsetzte Mutter im Nachthemd immer wieder die Arme in die Höhe riß. Caroline schnüffelte an der Chanel No. 5-Probe an ihrem Handgelenk und grübelte über ihre fünf Sinne nach. Je mehr ihrer Sinne sie mit einer anderen Person in Verbindung brachte, desto schneller wurde aus einer Bindung eine Fessel. Solange sie sich nur mit den Augen hingezogen fühlte, so wie zu Jackson in seinem weißen Labormantel auf den Korridoren des Massachusetts General Hospital – solange konnte ihr nichts passieren. Sie hatte sich ausgemalt, wie sich wohl seine Haut anfühlte, aber das blieben Phantasien in ihrem fiebrigen Kopf. Und dann redete man mit jemandem – und es wurde schwieriger, Distanz zu halten. Gesprächsfetzen fielen ihr wieder ein, wenn sie nicht darauf gefaßt war. Wenn dann erst der Geruchssinn mit ins Spiel kam, dann fingen die Probleme richtig an. Wohin man auch ging, begegneten einem Spuren des Parfüms oder Rasierwassers der betreffenden Person, was dann wieder Erinnerungen an das Gesicht oder die Stimme auslöste. In letzter Zeit war ihr Brian Stones English Leather bewußt geworden. Das war kein gutes Zeichen. Einen Menschen zu berühren bedeutete, daß man spürte, wie die lockere Kette sich plötzlich anspannt – wie wenn der Abschleppdienst gerade im Begriff ist, deinen Wagen zum Schrottplatz zu transportieren. Und Gott stehe einem bei, wenn die Zunge beginnt, den Schweiß und den Speichel dieses Menschen kosten zu wollen. Wenn alle fünf Sinne völlig mit denen des anderen Menschen beschäftigt sind, dann ist es um einen geschehen. Die beiden Sinneswelten fangen an, ihr eigenes verworrenes Intrigengewebe zu spinnen, ohne Rücksicht auf die Interessen und das Wohlbefinden ihrer Besitzer.

Während sie von der Menschenmenge zu einem zweiten Schaufenster weitergetragen wurden, in dem ein Rentier auf einem Dach tanzte, dachte Caroline, daß deshalb dieser Enthaltsamkeitsmist so schwierig war. Als würde einem eine Droge entzogen. 113Diana war bei ihrer Mutter in Poughkeepsie. Sie und Caroline hatten Weihnachten noch nie gemeinsam verbracht, und jetzt würden sie es wahrscheinlich nie mehr tun. Es war ihnen nie der Mühe wert erschienen, deswegen allen das Weihnachtsfest zu verderben. Wenn man schwarz oder verkrüppelt war,dann liebte einen immerhin noch die Familie. Aber wenn man homosexuell war, dann war man allein, von der Familie genauso verachtet wie von der übrigen Gesellschaft. Sie erschufen einen, und dann haßten sie einen dafür, daß man so wurde, wie sie einen programmiert hatten. Vielleicht hatte deshalb die verwirrende Beziehung zwischen ihr und Diana eine so verzweifelte Komponente. Sie hatten nur einander.

Aber natürlich hatte Diana jetzt Suzanne. Sie trafen sich über Silvester in New York. Caroline versuchte zu raten, ob sie wohl ein Hotelzimmer nehmen würden. Es ging sie nichts an, aber sie hatte immer noch das Gefühl, als ginge es sie etwas an. Als Brian sie gefragt hatte, ob sie an Silvester mit ihm ausgehen wollte, hatte sie die Einladung angenommen. Und Diana tobte daraufhin durchs Haus wie Elizabeth Taylor in ‹Wer hat Angst vor Virginia Woolf?

»Warum stellst du dich so an?« fragte Caroline. »Ich dachte, du wolltest, daß wir mit anderen Leuten ausgehen.«

»Wer ärgert sich denn?« zischte Diana. »Andere Leute heißt noch lange nicht Männer«, fügte sie vom Nebenzimmer hinzu.

Im ersten Rausch der neuen Liebe hatte Caroline Diana nach Brookline mitgebracht, weil sie annahm, ihre Eltern wären erleichtert, wenn sie merkten, daß sie endlich das Glück gefunden hatte. Ihre Mutter, groß und eckig, betrachtete Diana mit verkniffenen Augen und schmallippiger Mißbilligung und verbrachte dann das Wochenende in ihrem Büro. Ihr Vater plauderte unbehaglich mit ihnen über Abtreibungsgesetze, dann schlich er sich ebenfalls in sein Büro davon und ließ sie mit dem vietnamesischen Hausmädchen zurück, das dem Zusammenbruch Saigons entflohen war. Sie sprach kein Wort Englisch, kannte nur Putzmittelmarken wie Lemon Pledge, Drano und Comet. Mit ihr zu reden war, als würde man einen Werbespot im Fernsehen anschauen. »Brauche Vanish jetzt«, erwiderte sie sibyllinisch auf jede Frage.

Als sie von der U-Bahn nach Hause gingen, kamen Caroline, ihr Vater und die Jungen an Carolines alter High School vorbei, einem weitläufigen Gebäude aus totem Backstein, wo sie wegen der 114Firmenschilder in ihren Kleidern vier Jahre in einem ewigen Angstzustand verbracht hatte. Rorkie, die Anführerin ihrer Clique, entschied, wer dazugehörte und wer nicht.

»Hier bin ich in die Schule gegangen«, teilte sie Jackie und Jason mit, die auf der Bordsteinkante balancierten.

»War damals das Auto schon erfunden?« fragte Jackson.

Carolines Mutter lag in einem Hosenanzug und ohne Schuhe auf dem Sofa. »Hallo, Liebes, wie schön, dich zu sehen«, murmelte sie.

»Tag, Mutter.« Caroline beugte sich herunter und küßte sie auf die Stirn. Sie atmete Chanel No. 5 ein. Ihre Haare, in Carolines Erinnerung seidig kastanienbraun, waren jetzt zum größten Teil borstig grau. Ihre Mutter hatte feine Gesichtszüge und hohe Backenknochen. Wenn ihre blauen Augen sich verengten, wirkte sie mißtrauisch und kritisch. Caroline fiel ein, wie sie als Zehnjährige einmal gebettelt hatte: »Ich mache, was du willst, Mutter, wenn du nur nicht mehr wütend bist.« Und sie hatte geantwortet: »Aber ich bin nicht wütend, Liebes.« Als Kind war Caroline ihre Mutter atemberaubend schön und strahlend vorgekommen. Manchmal sagten Leute auf der Straße: »Du siehst genau aus wie deine Mutter.« Und ihre Mutter antwortete dann: »Ich habe diese Ähnlichkeit noch nie feststellen können.« Caroline hatte das Gefühl, als hätten sich die Risse im Gehweg gähnend vor ihr aufgetan.

»Wie geht es dir, Mutter?« fragte Caroline. Sie merkte auf einmal, daß Diana die gleichen feinen Gesichtszüge und hohen Backenknochen hatte, allerdings nicht die seidigen kastanienbraunen Haare. Und wenn sich Dianas Augen verengten, dann aus Lust und Begierde.

»So gut, wie man es unter den Umständen erwarten kann.«

»Unter welchen Umständen?«

»Den Umständen, daß Weihnachten ist, und das ist eine deprimierende Jahreszeit.«

»Ich glaube, ich gehe nach oben und lege mich hin, bis es Zeit ist, in die Kirche zu gehen«, sagte Carolines Vater und lockerte seine zu schmale Krawatte.

»Bist du müde, mein Lieber?« fragte Carolines Mutter.

»Ein bißchen. Heute morgen habe ich in Dorchester mit den Eltern eines bisher nicht vorbestraften Jungen gesprochen. Und heute nachmittag war ich unterwegs, um Geschenke für die Sekretärinnen zu kaufen.«

115

»Ich habe den ganzen Tag Kleidungsstücke für den Basar gesammelt.« Sie schloß die Augen und legte den Arm auf die Stirn.

»Du bist bestimmt auch müde.« Er rieb den Narbenbogen über seiner Augenbraue.

»Ach nein, es ist nicht so schlimm«, sagte sie schwach. »Aber du siehst müde aus.«

»Na ja, mein Darm verspannt sich wieder.« Er zog sein Jackett aus und hängte es über den Treppenpfosten.

»Komm, ruh dich aus. Ich bringe dir Tee.«

Caroline hatte diesen großen Erschöpfungswettbewerb ganz vergessen. Es war immer selbstverständlich gewesen, daß diejenigen, die ihre Zeit damit verbrachten, menschliches Leid zu lindern, höher entwickelte Menschen waren und bedient werden mußten, wenn sie nach Hause kamen. Aber es entstanden Probleme, wenn das Hausmädchen seinen freien Tag hatte.

»Ich bin nicht müde«, sagte Caroline trübsinnig und zog ihre graue Cordhose zurecht. »Warum legt ihr euch nicht beide hin, und ich mache Tee?«

»Aber du bist doch bestimmt müde nach der langen Fahrt«, sagte ihre Mutter und schaute vom Sofa auf. »Warum legst du dich nicht hin, und ich bringe dir Tee?«

»Aber ich bin nicht müde, und ich möchte mich nicht hinlegen!«

»Ich wollte nur was Nettes tun.«

»Entschuldigung. Bitte, laß mich dir eine Tasse Tee bringen, Mutter.«

»Nein«, sagte sie kühl und drehte sich zur Seite, mit dem Rücken zu Caroline. »Ich möchte keinen Tee.«

Carolines Haut juckte vor Nervosität. Sie riß sich zusammen und bettelte nicht weiter darum, Tee machen zu dürfen. Sie brachte die Jungen ins Spielzimmer, damit ihre Eltern in Frieden ruhen konnten, wie sie es vor vielen Jahren mit Howard und Tommy so oft gemacht hatte. Aber Jackie und Jason begannen, Space Invaders zu spielen, nicht Missionsärzte.

Als sie sich in der Küche auf dem goldbraunen Herd, der einen Warenlagerbrand überstanden hatte, einen Tee machte, spürte sie, wie verkrampft ihre Schultern waren. Sie zuckte ein paarmal mit den Schultern, um die Muskeln zu lockern. Warum war sie nur so abgespannt? Vermutlich von diesen Menschenmengen beim Einkaufen.

 

116

Sie saß auf einer Kirchenbank in der bischöflichen St. Bartholomew-Kirche, wie sie es jeden Sonntag ihres Lebens getan hatte, bis sie zu David Michaels Kommune in Somerville gezogen war. Sie schaute Jackie und Jason an, die in Jacketts und Krawatten neben ihr saßen und verwirrt dreinblickten angesichts des Hokuspokus, der da am Altar zur Vorbereitung der Kommunion vor sich ging. Als sie mit Jackson verheiratet gewesen war, ging sie allein in die Kirche, weil er meist entweder im Krankenhaus war oder Rufbereitschaftsdienst hatte. Die Jungen waren hier getauft worden. Aber als sie Jackson verließ, da verließ sie auch die Kirche und übernahm David Michaels Verachtung für alles Organisierte, und sie merkte, daß es ihr Spaß machte, sonntags lange zu schlafen, dann zu vögeln und im Bett zu frühstücken.

Ihr Vater, mit seiner zu schmalen Krawatte und den zu schmalen Aufschlägen, saß neben Jackie. Er war von der katholischen Kirche exkommuniziert worden und fast auch von seiner eigenen Familie, weil er seine Kinder nicht katholisch erzog. Als Kind hatte Caroline sich oft gewünscht, sie wäre katholisch wie Marsha, wie die Kinder in der Nachbarschaft, wie die beliebtesten Kinder in der Schule. Sie wünschte sich Marshas Gebetskarten und ihren Rosenkranz, ihre Kerzen und den Katechismusunterricht. Sie sah neidisch zu, als Marsha die Kerzen aus den Kerzenständern auf Carolines Eßtisch nahm, sie über ihrer Kehle kreuzte und erzählte, daß der Priester am St. Blasius-Tag die Kehle segnete, damit niemand an Fischgräten erstickte. Die Katholiken hatten Segenssprüche für alles, was schiefgehen konnte. Der Priester segnete sogar den neuen Amana-Herd, den Marshas Mutter hatte, um ihn vor Fettbränden und Kurzschlüssen zu schützen. Natürlich hatte das alles Marsha überhaupt nicht geholfen. Obwohl der Priester vielleicht einfach eine Versicherung gegen unaufmerksame Brotlaster vergessen hatte.

Caroline hatte den Pfarrer am Altar noch nie gesehen. Groß und leicht vorgebeugt, sah er in seinem schwarzen Talar aus wie eine ruhende Krähe, als er sich am Chorpult niederließ und seine Predigt hielt: »... genau wie die Israeliten, die unfähig waren, das lebendige Wort Gottes von Moses zu empfangen, als er vom Berge herunterstieg. Sie tanzten um das Goldene Kalb und hatten die Anweisungen Gottes, des Herrn, vergessen: ‹Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.› Genauso mißlingt es uns, die Ankunft des neugeborenen Christus in unseren Herzen zu erleben. Wir sind so 117beschäftigt mit Geschenken, mit Essen und der Familie. Und nicht nur an Weihnachten, sondern das ganze Jahr über. Wir sind besessen von unseren Beziehungen und Errungenschaften, von unseren neuen Autos und der Ausstattung unseres Hauses, unseren Golfspielen und den Firmenzeichen unserer Kleidung …«

An der Art, wie er »wir« sagte, merkte Caroline, daß er sie nur bei Laune halten wollte. Er wußte, daß er selbst über all dem stand. Es hatte schon seinen Grund, warum sie nicht mehr in die Kirche ging.

»... und beseitigt all die falschen Götzenbilder, die ihr selbst geschaffen habt. Blickt auf eure nackte Seele, nur einen Augenblick, ohne den Schmuck des wertlosen Tands dieser sündigen Welt, und seht, was ihr dort finden könnt …«

Das ist ein Bursche, der weiß, wie er einem allen Spaß an Weihnachten verderben kann, befand Caroline und schaute zu ihrer Mutter, die mit Hut und Schleier neben Jason saß und grimmig beobachtete, daß er unendliche Summen auf den Opferzettel kritzelte. Litt sie unter ihrer Mutter, wie Hannah angedeutet hatte?

Sie gingen durch die kalte Nacht zu Fuß nach Hause, Cypress Street entlang, an verdunkelten Geschäften vorbei und durch die Lichtkegel der Straßenlaternen. Der frische Schnee dämpfte ihre Schritte. Caroline schaute zu ihren Eltern; in Wintermänteln verpackt, mit weiß dampfendem Atem, gingen sie beide leicht vorgebeugt, weil sie seit so vielen Jahren die Last der Welt auf ihren Schultern trugen. Wie hatten sie es geschafft, Jahrzehnt für Jahrzehnt weiterzumachen? Sie selbst war kurz davor aufzugeben, und das nach nur ein paar Jahren. Vielleicht sollte sie doch noch in die katholische Kirche eintreten. Die Heiligen auf den Bildern in Marshas Haus und in der Kirche – der heilige Sebastian, voll mit Pfeilen, Jesus am Kreuz, dessen Stirn durch die Dornenkrone aufgerissen wurde, der heilige Stephanus, zerschunden und blutig von den Steinen -, sie schauten immer nach oben, als ob sie da etwas sähen, was sie aufheiterte. Als ob sie es fertiggebracht hätten, mit dem brutalen Verhalten ihrer Mitbürger Frieden zu schließen.

Am Weihnachtsmorgen saßen sie um eine Zeder herum, die Carolines Vater am Abend zuvor zum halben Preis gekauft hatte, und zwar von einem Mann, der unbedingt seinen Stand zumachen wollte, um in die Messe zu gehen. Jackie nahm einen Umschlag mit seinem Namen vom Baum und riß ihn auf. Darin lag eine teilweise gefüllte Spendenkarte zugunsten von Kindern, die an Kinderlähmung 118erkrankt waren. Er blickte fragend auf die Karte und drehte und wendete sie.

»Du füllst die leeren Stellen mit Münzen aus deinem Taschengeld auf«, sagte Carolines Mutter, die in ihrem braunen Morgenmantel aus Satin auf dem Sofa saß. »Wenn die Karte voll ist, dann schickst du sie zur zentralen Sammelstelle.«

»Dufte«, sagte Jackie und schaute unter dem Baum nach weiteren Geschenken.

»Es macht dir doch bestimmt Spaß, dazu beizutragen, daß ein verkrüppeltes Kind wieder laufen kann?« fragte Carolines Mutter und trank einen Schluck Kaffee.

»Ja, kann schon sein.«

»Er sieht ja nicht gerade begeistert aus«, sagte Carolines Mutter.

Caroline zuckte zusammen. Jackie zeigte nicht genug Dankbarkeit. Ihre Mutter würde denken, sie hätte einen gierigen, undankbaren Menschen herangezogen. »Ich bin sicher, er freut sich«, sagte Caroline, während Jason eine ebensolche Karte öffnete und noch weniger Begeisterung an den Tag legte. Sie hatten sich Kassetten für Videospiele gewünscht. Offensichtlich war in letzter Zeit in der Gegend von Boston kein Lastwagen mit derartiger Ladung verunglückt.

Auf die UNICEF-Karte, die an Caroline adressiert war, hatte ihre Mutter die übliche Botschaft geschrieben – die Karte sei ein Gutschein für eine Spende an eine Wohltätigkeitsorganisation ihrer Wahl. Caroline wußte vom Hörensagen, daß andere Familien an Weihnachten herumsaßen und sich über die Vorzüge des Footballteams der Buffalo Bills gegenüber den Dallas Cowboys unterhielten. In ihrer Familie war immer über die Überlegenheit der Heilsarmee gegenüber Pro Familia gesprochen worden, weil bei der Heilsarmee die Verwaltungskosten niedriger waren.

»Für welche Organisation entscheidest du dich denn dieses Jahr, Caroline?« fragte ihre Mutter und streckte ihren Arm auf der Sofalehne aus. Caroline betrachtete ihren Satinmorgenmantel. Er hatte, als Caroline klein war, so elegant gewirkt. Jetzt sah er aus, als sollte er für einen Wohltätigkeitsbasar gestiftet werden.

»Ich habe an Amnesty International gedacht.« Sie saß in ihrem gesteppten Bademantel mit überkreuzten Beinen auf dem beigefarbenen Teppich von der Route 128.

»Nichts als Masochisten«, sagte ihr Vater, der einen wollenen, 119rotkarierten Morgenrock trug, von seinem mit Cordsamt bezogenen Sessel. »Die verbringen ihr Leben mit Diskussionen darüber, wie schrecklich Folter ist.«

»Aber Folter ist doch wohl auch schrecklich«, sagte Caroline.

»Aber wie kann man einen Beruf daraus machen, dem nachzugehen?«

»Aber das machst du doch auch, Vati – du verbringst deine Zeit damit, Leute zu retten.«

»Und du auch.«

»Ich habe nie behauptet, ich sei keine Masochistin.«

Er lächelte. »Also sind wir Masochisten? Kann schon sein. Aber ich könnte nicht mit mir selbst in Frieden leben, wenn ich nicht alles daransetzen würde, diese Welt ein bißchen weniger höllisch zu machen.« Er rieb die Narbe über seiner Augenbraue.

Caroline nickte. »Aber macht Amnesty nicht genau das?«

»Du hast wahrscheinlich recht.«

Jason kniete neben dem Baum auf dem Teppich und riß ein Geschenk auf, als würde er Mais enthülsen. Er hielt ein paar L. L. Bean-Stiefel in die Luft und sagte mißtrauisch: »Hm.«

»Ich habe sie bei einem Basar gekauft«, sagte Carolines Vater. »So gut wie neu. Es ist erstaunlich, was manche Leute weggeben.«

Caroline inspizierte sie. Es waren Jasons eigene Stiefel, aus denen er gerade herausgewachsen war. Seine Initialen waren mit Filzstift hineingeschrieben.

»Probier sie mal an«, sagte ihr Vater.

Jason zog sie mit verwirrter Miene an und ging zu seinem Großvater hinüber.

»Bei welchem Basar?« fragte Caroline.

»Beim Wohltätigkeitsbasar für die Boat People.« Er beugte sich vor und befühlte Jasons Fuß. »Sie passen genau.«

»Zu eng«, brummelte Jason und blickte fragend zu Jackie hinüber.

»Jawohl, junger Mann, genau richtig«, sagte Carolines Vater und klopfte Jason auf die Schulter.

Jason verzog das Gesicht und schaute Caroline an. Für sie war das nichts Neues. Sie und Jackson hatten unter einem Beerdigungszelt geheiratet, das ein Klient ihres Vaters aufgestellt hatte, der ein Bestattungsinstitut hatte. Die Jungen mußten sich eben mit ihrem Erbe vertraut machen. »Hast du dich bei Opa bedankt, Jason?«

120

»Danke schön, Opa«, sagte er mit bestürzter Stimme. Er kam zu Caroline und ließ sich auf ihren Schoß plumpsen. Sie nahm ihn in die Arme und spürte den warmen Flanellstoff seines Dr. Denton-Hemdes unter ihrer Hand.

»Bitte, gern geschehen, Jason. Ich hoffe, sie machen dir Freude.«

»Ach, übrigens, wie geht es dem armen Jackson?« fragte ihre Mutter. Sie schickte seinem Namen immer dieses Adjektiv voraus.

»Gut, soviel ich weiß. Er und seine Frau haben im letzten Herbst noch ein Baby bekommen.« Sie legte ihr Kinn auf Jasons Kopf, und ihr fiel ein, wie sie ihren Kopf in Hannahs Schoß hatte legen wollen. Sie schaute ihre Mutter an, die verschlossen in ihrem Satinmorgenmantel auf dem Sofa saß. Caroline konnte sich nicht erinnern, daß sie je ihren Kopf in den Schoß ihrer Mutter gelegt oder auf ihrem Schoß gesessen hätte, so wie Jason jetzt bei ihr.

»Wohnst du noch mit dieser Frau zusammen?« fragte ihre Mutter.

«Mit Diana. Ja.» Sie mußte sich zusammennehmen, um nicht zu sagen, daß sie nicht mehr ihre Geliebte sei. Es bestand kein Anlaß, eine tote Katze aus dem Sack zu lassen. Ob ihre Eltern wußten, daß sie ein Paar gewesen waren, das war nicht klar. Es war nie ein Thema gewesen. Genausowenig wie ihre Scheidung, wie David Michael oder Clea oder ihre Depressionen. Was bei ihren Besuchen erörtert wurde, war das Schicksal des Humanismus im 20. Jahrhundert; Messerstechereien zwischen Schülern verschiedener Rassen an der South Boston High School; die Bedrohung, die Killerbienen und Spraydosen bedeuteten; Hilfsaktionen für die Familien, die von dem Grubenunglück in West Virginia betroffen waren; die Hungersnot im Tschad und Überschwemmungen in Indien. Persönliches Unglück war im Vergleich dazu unbedeutend.

Ihre Mutter sah so unglücklich aus, weil die Namen von Jackson und Diana gefallen waren, daß Caroline das Gefühl hatte, sie müsse sie aufheitern. «Mutter, wie viele Therapeuten braucht man, um eine Glühbirne auszuwechseln?» Sie konnte das vielleicht als Einleitung dazu benutzen, ihnen von Hannah zu erzählen. Sie wollten doch bestimmt etwas von einer derart wichtigen Entwicklung erfahren. Aber vielleicht würde es sie beunruhigen, wenn sie hörten, daß sie unglücklich gewesen war?

«Einen, aber die Glühbirne muß es wirklich wollen.» Sie beobachtete 121mit Vergnügen, wie sich die Gesichter ihrer Eltern zu einem Lächeln entspannten.

«Wenn wir schon dabei sind – ich habe selbst eine Therapie angefangen.» Es fiel ihr zu spät ein, daß ihre Eltern von Therapie nichts hielten. Sie gehörten der Sich-selbst-aus-dem-Sumpf-Zieh-Schule an. Sie würden sie für einen Jammerlappen halten.

«Warum?» fragte ihr Vater und schaute auf.

«Ich war in letzter Zeit oft depressiv», sagte sie mit leiser Stimme.

«Depressiv?» sagte ihre Mutter. «Und wer ist nicht depressiv? Wie kann das auch anders sein, angesichts all der schrecklichen Sachen, die auf der Welt passieren? Hast du in der Zeitung gelesen, daß die vietnamesischen Truppen an der kambodschanischen Grenze aufmarschieren? Das könnte den dritten Weltkrieg bedeuten.»

Caroline saß schweigend da. Wie hatte sie die Ausflüge zur Heilsarmee vergessen können? Sie rückte ihr Pokergesicht zurecht. Dann merkte sie, was sie machte. Sie blickte sich nach den Zimmertüren um. In welchem Türrahmen hatte sie als Baby ähnlich schweigend gehangen?

«Leute wie wir haben kein Recht, unglücklich zu sein», sagte ihr Vater. «Wir haben zu essen, ein Dach über dem Kopf, Kleidung, wir sind gesund und leben in relativer Sicherheit.»

Caroline wußte, daß ihre Eltern recht hatten. Die Verzweiflung eines einzelnen Individuums war unwichtig gegen die Tatsache, daß die vietnamesischen Truppen entschlossen waren, in Kambodscha einzumarschieren. Wenn sie eine Kambodschanerin wäre, dann würde sie jetzt wahrscheinlich an Hunger leiden, hätte kein Heim, würde vergewaltigt oder umgebracht. Depressionen waren ein Luxus der amerikanischen Mittelschicht, genau wie David Michael immer behauptet hatte. Sie sollte dankbar sein, daß sie überhaupt die Zeit hatte, sich elend zu fühlen. Schuldgefühle wegen ihrer Undankbarkeit hüllten sie ein wie Draculas Umhang.

«Noch etwas», rief ihre Mutter den Jungen zu, als die sich auf den Weg ins Spielzimmer machten, um ihr Videospiel anzuschließen und die Kassetten, die Diana ihnen geschenkt hatte, auszuprobieren. «Wir haben uns dazu hinreißen lassen, mehr Leute einzuladen, als wir Essen haben. Könnte ich euch drei also bitten, kleine Portionen zu nehmen und auf den Nachtisch zu verzichten?» Sie nickten alle.

122

«Wer kommt alles?» fragte Caroline und dachte an frühere Festtagsessen, bei denen sich die Klienten ihrer Eltern gedrängt hatten. Es kam vor, daß ihr Vater am Weihnachtstag die Straßen nach Leuten absuchte, die nirgendwo hingehen konnten. Einmal brachte er einen Tramper namens Bradley mit, der sie damit unterhielt, daß er einen Löffel verschluckte – ein Talent, das er im Gefängnis erworben hatte. Dort verschluckte er einen Löffel, man brachte ihn dann immer sofort auf die Unfallstation, und er riß aus, wenn niemand ihn beobachtete. Wie er den Löffel wieder ans Tageslicht brachte, wurde nicht erläutert. Ein regelmäßiger Gast war Lionel, ein großer, trauriger Mann mit einem nervösen Zucken im Gesicht. Er hatte keine Familie, mit der er an Weihnachten essen konnte, weil er sie alle umgebracht hatte, indem er ihnen monatelang Abführmittel unters Essen mischte. Eine Frau namens Bertha saß immer auf dem Sofa und klappte den ganzen Nachmittag eine Schere auf und zu.

«Du kennst die meisten nicht», antwortete ihre Mutter.

«Was ist mit den Alten passiert?»

«Bertha kommt.»

«Spielt sie immer noch mit der Schere?»

«Nein, sie hat angefangen zu stricken.»

«Das ist wirklich großartig von dir, daß du das schon seit so vielen Jahren machst, Mutter. Jetzt als Erwachsene merke ich erst, wieviel Arbeit es ist.»

Ihre Mutter ließ ihre Schultern unter dem braunen Satinmorgenmantel hängen. «Ach ja, die armen Leute. Das Leben ist für niemanden leicht, aber für uns ist es leichter als für die meisten.»

 

Alle im Haus vorhandenen Stühle standen eng um den Mahagoni-Eßtisch. Caroline hatte auf jeder Seite einen Sohn, und ihre Eltern präsidierten an beiden Tischenden. Bertha hatte die ganze Mahlzeit über gestrickt, und zwar etwas, was so aussah, als sollte es entweder eine schmale Decke oder ein breiter Schal in verschiedenen Rot- und Brauntönen werden. Gelegentlich legte sie eine Nadel weg, um hastig einen Bissen in den Mund zu schieben, ohne jedoch die Augen von ihrer Handarbeit zu nehmen. Ein zerlumpter Mann, der irgendwo in der Park Street-U-Bahn-Station lebte, saß neben Bertha und versuchte vergeblich, mit ihr eine Unterhaltung anzufangen über die Leute, die vor seinen Augen durch den elektrischen 123Strom im dritten Gleis gestorben waren. Eine Frau aus dem Büro ihrer Mutter trug die Haare zu einem Dutt aufgesteckt, und sie hatte Stechpalmenzweige darum dekoriert, wie ein römischer Kaiser seinen Lorbeerkranz. Das Mädchen, das in der Bar unter dem Büro ihres Vaters arbeitete, schnippte immer wieder mit langen hellvioletten Fingernägeln gegen ihr Kristallglas, um dem glockenähnlichen Klang nachzulauschen. Caroline ertappte sich dabei, wie sie auf die lackierten Nägel starrte und dachte, die Fingerspitzen müßten abgeschnitten sein, wie bei dem Mann, der einmal ins Peter Bent Brigham-Krankenhaus eingeliefert wurde, als sie während ihrer Schwesternausbildung Dienst auf der Unfallstation machte.

Bradley, der Löffelschlucker, war durch Sidney ersetzt worden, der sich einbildete, er sei Zauberer. Er legte immer wieder seine Stoffserviette auf den Truthahn und murmelte Zaubersprüche. Jackie und Jason schauten mit großen Augen zu: sie befürchteten, der Truthahn könnte verschwinden, solange sie noch hungrig waren. Aber jedesmal, wenn Sidney seine Serviette wegzog, war er noch da. Sidney zog sich dann betrübt in sich selbst zurück, übte Zaubersprüche und versuchte herauszufinden, wo er einen Fehler gemacht hatte. Eine Mutter in hellblauem Pullover versuchte, ihren Sohn daran zu hindern, immer wieder seinen Schlegel obszön in die Halsöffnung des Truthahns hineinzustecken.

Caroline hatte Jackie und Jason noch nie so ruhig erlebt. Zum einen hatte der andere kleine Junge ihr Videospiel kaputtgemacht. Als er es nicht fertigbrachte, den Hebel zu betätigen, wie er es wollte, riß er ihn einfach heraus. Caroline erinnerte sich an ihr eigenes verwirrtes Erstaunen an Feiertagen, wenn man nie wußte, wer alles kommen würde – nur, daß diese Leute niemand anderen hatten und daß ihre Familie es sich leisten konnte, sie bei sich aufzunehmen, weil sie so gut dran waren.

Sie fragte sich, was Hannah wohl gerade machte. War ihr Haus ebenfalls voll heimatloser Seelen? Hatte Hannah recht, wenn sie meinte, daß ihre Eltern ihr Schmerz zufügten? Sie fühlte sich nicht besonders gut, aber das war bestimmt nicht die Schuld ihrer Eltern. Und sie konnte ja selbst sehen, wie die traurigen Menschen hier am Tisch ihre Eltern bewundernd anblickten. Ihre Eltern waren im Elternbeirat und im Stadtrat gewesen. Sie hatten bei der Herzkrankenhilfe mitgearbeitet. Sie hatten Geld für die Gemeindeambulanz gesammelt. Sie waren gute Menschen.

124

Ihre Mutter hatte recht: Es war nicht genug Essen da. Die Jungen waren Carolines Vorbild gefolgt und hatten sich nur eine dünne Scheibe Truthahn genommen, einen kleinen Löffel Kartoffelbrei und ein paar Erbsen. Die Brötchen waren weg, bevor der Teller zu ihnen kam, und die Kuchenstücke gingen genauso schnell weg. Diese Zurückhaltung kostete Caroline keine Mühe. Sie hatte keinen Hunger. Im Gegenteil, ihr war übel. Als sie den Tisch abräumte, begaben sich die Gäste ins Wohnzimmer, und ihr Vater begann, das Feuer im Kamin zu schüren.

«Wie wär's mit ein paar Weihnachtsliedern?» schlug ihre Mutter vor, als Caroline ins Wohnzimmer kam. Dies war einer der wenigen Anlässe, bei denen sie die heitere Seite ihrer Mutter zu Gesicht bekam. Normalerweise war sie erschöpft, weil sie den ganzen Tag damit verbracht hatte, bei der Arbeit heiter zu sein. Jason zog seine Großmutter am Arm und versuchte sie auf irgend etwas, was mit dem Videospiel zu tun hatte, aufmerksam zu machen. Sie schüttelte ihn ab und flüsterte: «Jetzt nicht, Jason. Ich bin beschäftigt.»

Jason ließ sich neben Caroline auf den Route-128-Teppich fallen und blickte sie durch seine absurd langen Wimpern an. «Mama, ich habe Hunger.» Er befreite sich aus seinem Blazer und warf ihn auf den Boden.

Sie streichelte ihn ohne Hoffnung. Er steckte den Daumen in den Mund. Er hatte seit Jahren nicht mehr am Daumen gelutscht.

«Jason, warum lutschst du am Daumen?» fragte Carolines Mutter, als sie ihm ein Gesangbuch reichte. «Du bist doch ein großer Junge.»

«Hunger», wimmerte er.

Caroline merkte, wie sich ihr Magen verkrampfte. Er wußte nicht, daß er so tun mußte, als sei alles in Ordnung, selbst wenn es nicht stimmte. Sie hatte ihn nicht richtig erzogen.

Ihre Eltern würden in ihr die schlechte Mutter sehen, die sie auch tatsächlich war.

«Hunger? Wir haben doch gerade gegessen.»

Jason starrte seine Großmutter über seine Faust hinweg an und lutschte mit wütendem Trotz an seinem Daumen.

«Schau dir Jackie an», sagte Carolines Mutter und deutete zum Kamin, neben dem ungelenk und schüchtern Jackie stand, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. «Er hat keinen Hunger, und er ist größer als du.»

125

Caroline sah, wie in Jasons rechtem Auge eine Träne schwoll. Warum konnte das Kind sich denn nicht an die Spielregeln halten und es hinter sich bringen?

«Immerhin frierst du nicht», sagte Carolines Vater, der sich zu ihnen gesellte. «Denk nur an die Millionen von Kindern überall auf der Welt, die jetzt gerade frieren und Hunger haben.»

«Immerhin hat er ein Zuhause und eine Familie», sagte Carolines Mutter zu Carolines Vater. «Im Gegensatz zu mehreren unserer Gäste heute abend.»

«Und er hat schöne neue Stiefel», sagte Carolines Vater zu Carolines Mutter. «Denk nur an die Kinder in Kentucky, die in diesem Augenblick barfuß herumlaufen müssen. Hoch in den Schneebergen.»

Carolines Eltern betrachteten Jason ratlos. Er sprang auf, raste zur Haustür, riß sie auf und rannte hinaus.

Caroline wußte, sie sollte irgend etwas unternehmen, aber es fiel ihr nichts ein. Sie war von einer überwältigenden Trägheit befallen. Sie wollte nur noch eines: sich mit dem Gesicht nach unten auf den Route-128-Teppich legen und die Ereignisse über sich hinweggehen lassen, wie Flutwellen über Treibgut. Statt dessen raffte sie sich auf und erhob sich, wie in Zeitlupe. Sie ging zur Tür hinaus und schaute über den Vorgarten, der durch bunte Weihnachtsglühbirnen erleuchtet war. Sie trabte ums Haus; ihre mütterlichen Instinkte funktionierten ganz automatisch. Kein Jason. Mein Gott, ihre Eltern mußten denken, sie ziehe kleine Barbaren heran. Als sie wieder ins Haus ging, um ihren Mantel zu holen, war es still im Zimmer, die Gäste blickten einander an und saßen angestrengt vorgebeugt auf ihren Stühlen. Bertha hatte sogar zu stricken aufgehört.

«Er ist weg», sagte Caroline. «Jackie, bitte, hilf mir.»

Sie suchten eine Viertelstunde lang in der Nachbarschaft, riefen im Dunkeln nach ihm. Verdammtes Kind. Warum mußte er sich so melodramatisch benehmen? Warum konnte er nicht einfach tun, was sich gehörte, ruhig und höflich sein und Weihnachtslieder singen, bis es Zeit war, ins Bett zu gehen? Schließlich stiegen sie ins Auto und fuhren Richtung Cleveland Circle. Sie fing an, sich wirklich Sorgen zu machen. Das Entsetzen, das sie als kleines Mädchen immer empfunden hatte, wenn sie Howard und Tommy aus den Augen verloren hatte, überkam sie. Alles mögliche konnte 126ihm zugestoßen sein. Die Städte waren voll mit unheimlichen Typen. Jason war so jung und verletzlich. Verdammt noch mal, wo war er?

Nach zwei Kilometern fanden sie Jason. Zitternd stand er bei einem Laternenpfahl, ohne Schuhe, ohne Mantel, am Daumen lutschend. Caroline stieg aus und nahm ihn in die Arme. Dann unterdrückte sie den Wunsch, ihn zu verprügeln, weil er sie derart in Angst versetzt hatte.

Als er ins Auto stieg, fragte er: «Mama, können wir jetzt wieder zu uns nach Hause? Oma und Opa können mich nicht leiden.»

Caroline sagte nichts.

Auf dem Weg zurück zum Haus ihrer Eltern kamen sie wieder an ihrer alten Schule vorbei. Caroline schaute zu dem dunklen, massigen alten Gebäude. Grauen überkam sie. Als sie Jason ins Haus führte, war ihr bewußt, daß ihre Eltern ihn kritisch betrachteten. Es war ein schlechterzogener kleiner Junge, und es war alles ihre Schuld.

«Was war eigentlich los?» wollte Carolines Vater von dem schnüffelnden Jason wissen, während Caroline seine erfrorenen Zehen rieb. Caroline wünschte sich nur noch, allein im Bett zu sein und so reglos wie möglich dazuliegen. Ein Grab wäre noch besser. Sie blickte zur Tür und stellte sich vor, wie sie still im Türrahmen hing – mit einer Schlinge um den Hals.

 

Caroline saß aufrecht in ihrem Mädchenbett, plötzlich hellwach. Ihre Haut brannte. Sie preßte ihren Nasenrücken und versuchte sich zu erinnern, was sie geträumt hatte. Irgend etwas von einem lecken Ruderboot, in dem sie mit Jackie und Jason ruderte, um einer radioaktiven Feuerkugel zu entkommen. Die Sonne war weißglühend, und das Wasser so bewegungslos wie Glas. Sie erreichten das Ufer, aber jedesmal, wenn das Boot landete, stieß ein Mann in schlechtsitzender Soldatenuniform sie wieder ins Meer hinaus und drohte, den Rumpf des Bootes mit einer blutigen Axt zu spalten.

Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und versuchte, ihre Angst zu unterdrücken. Sie hatte so lange in diesem Bett gelegen und sich mit Pink Blanky schützend zugedeckt. Aber wo war ihre rosarote Decke, wenn sie sie wirklich brauchte? Sie war dabei, sie endgültig zu verlieren. Sie versuchte sich zu 127erinnern, wo sie Hannahs Telefonnummer hatte. Sie konnte Hannah nicht mitten in der Nacht anrufen. Aber bei Tagesanbruch würde sie nicht mehr anrufen müssen, weil es ihr entweder besser ging oder weil sie sich umgebracht hatte.

Sie ging auf Zehenspitzen in Howards früheres Zimmer, um sich zu versichern, daß Jackie und Jason noch atmeten. Sie küßte sie und atmete ihren Geruch ein, den Geruch gesunder Jungen. Wie oft hatte sie die Interessen anderer Leute vor die Interessen ihrer Kinder gestellt. Sie stundenlang unbekannten Babysittern überlassen, während sie abends Spätdienst hatte. Ihre Bitten ignoriert, ihnen Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken, damit sie die Welt retten konnte. Sie rackerte sich ab für die leidende Menschheit, während ihre eigenen Söhne litten. Sie hatte das gleiche mit Diana gemacht – hatte abends länger gearbeitet, Verabredungen abgesagt, war mitten während einer intimen Mahlzeit weggelaufen – und hatte von ihr Verständnis dafür erwartet, daß die Bedürfnisse der Patienten Vorrang hatten, weil sie und Diana ja mit einer so reichen Liebe gesegnet waren. Aber vielleicht hatte Diana es nicht verstanden. Vielleicht war das der Grund, warum sie sich zurückgezogen hatte. Vielleicht war das der Grund, warum sie Caroline eine Egoistin nannte. Vielleicht gab Suzanne Diana den Vorrang vor der leidenden Menschheit. Caroline war eine miserable Mutter und eine noch schlechtere Geliebte. Diana hatte recht, sie zu verlassen. Ihr Magen krampfte sich rhythmisch zusammen, wie unter Wehen.

Sie dachte daran, daß Hannah gesagt hatte, sie sei freundlich und sanft. Aber was wußte Hannah schon? Sie wurde dafür bezahlt, so etwas zu sagen.

Sie ging wieder ins Bett und versuchte angestrengt, sich Hannah vorzustellen, ihre stille Stärke und Gelassenheit. Ihr ruhiges Gesicht, die ergrauenden Haare und die blauen Augen. Sie machte Hannahs Schulterzucken übertrieben nach. Letztes Wochenende hatte das funktioniert, um die Frau mit der Fehlgeburt im Motelzimmer aus ihren Gedanken zu vertreiben. Wenn sie sich bemühte, dann konnte sie sich selbst freimachen von dem Bild des kleinen Jason, barfuß und ohne Mantel, zitternd ganz allein in der Dunkelheit. Sie zuckte noch ein paarmal mit den Schultern und suchte verzweifelt nach der inneren Verfassung, die zu einer solchen Geste gehörte.

128

6

Hannahs Füße berührten den Teppich neben dem vierpfostigen Bett, in dem sie mit Arthur schlief. Sie faßte sich an die Kehle und rannte zur Schlafzimmertür. Als sie im Wohnzimmer ankam, war sie hellwach und imstande, sich zurückzuhalten und nicht die Tür zu Simons altem Zimmer aufzureißen und ihn wachzurütteln, wie sie es ab und zu gemacht hatte, als er ein Teenager war. Wenigstens würde er, wenn die Sturmtruppe käme, um ihn abzuholen, denken, es sei nur seine verrückte Mutter, die wieder einmal ihren bösen Traum hatte. Ihr fiel ein, daß Simon gar nicht zu Hause war. Er und Joanna waren am Weihnachtstag zu ihnen herausgekommen, aber sie waren nach dem Truthahnessen wieder in ihre eigene Wohnung gegangen.

Hannah sank auf das Ledersofa und zündete sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Sie atmete den Rauch tief ein, schloß die Augen und versuchte, sich in den Kissen, die sich durch ihr Nachthemd hindurch eiskalt anfühlten, zu entspannen.

Der Traum kam jetzt weniger häufig, aber er war nicht weniger eindringlich geworden. Darin erwachte sie mit einem schmerzenden Band um die Stirn. Sie stolperte ins Bad und übergab sich. Sie dachte, sie habe die Grippe, und auf dem Weg zurück ins Bett schaute sie nach den Kindern, wie sie es immer gemacht hatte, seit sie Babies waren, um sich zu versichern, daß sie noch atmeten. Und Nigel und Mona atmeten nicht. Ihre Gesicher waren kalt unter ihren panikerfüllten Fingerspitzen und sahen im Mondlicht leicht bläulich aus. Ungläubig rannte sie los und riß die Fenster auf. Als die eiskalte Luft durchs Haus heulte, wurde sie ohnmächtig. Als sie zu sich kam, erbrach sie sich auf dem Orientteppich im Wohnzimmer. Sie kroch zum Telefon, rief den Rettungsdienst an und verlor wieder das Bewußtsein.

Sie zog an ihrer Zigarette und atmete aus. Langsamer Selbstmord, diese Zigaretten. Aber beim Rauchen konnte sie wenigstens kontrollieren, wieviel Giftgase sie in sich aufnahm, und in dem von ihr selbst gewählten Tempo sterben. Der Wind, der vom See her blies, rüttelte an den Doppelfenstern. Sie hörte die Wellen gegen die grauen Uferfelsen schlagen. Sie atmete den frischen Duft der Balsamtanne in der Ecke ein, die ebenfalls still vor sich hinstarb.

Der Rettungswagen kam in jener Nacht und brachte die Kinder 129und sie auf die Unfallstation des Lloyd Harris-Krankenhauses. Und nur drei von fünf kamen lebend wieder heraus. Ein völlig absurder Unfall. Unmöglich, sagte der Heizungshändler. Der Ostwind hatte die Abgase den Kamin hinuntergetrieben. Die Sanitäter ließen die Tür unverschlossen, und ehe Arthur aus Des Moines von seiner Geschäftsreise zurückkommen konnte, waren die Antiquitäten gestohlen. Da das Leben ja immer nette Überraschungen bereithält, war sie darauf gefaßt, daß sie eines Tages zu jemandem in die Wohnung kommen und in einer Ecke ihren Schrank aus Kiefernholz entdecken würde.

Sie hätte – was? Sie fing an, mit besessener Genauigkeit ihre Reaktionen zu überdenken, und versuchte herauszufinden, wie sie das Unglück hätte verhindern können. Sie hätte die Abgase riechen müssen, hätte früher aufstehen sollen, hätte das Heizungssystem auf diese Gefahr hin überprüfen lassen sollen. Womit hatte sie das Unheil auf sich gezogen? Für welches Vergehen wurde sie bestraft? Sie hatte Arthurs erste Ehe zerbrochen. Mona und Nigel waren das Ergebnis davon. Deshalb mußten sie ihr wieder weggenommen werden …

Sie wußte, daß das verrückt war, daß Klienten wegen solcher Dinge zu ihr kamen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie irgend jemanden angerufen, so wie sie es jetzt ihren Klienten nahelegte, sie anzurufen – wenn sie jemanden gehabt hätte, den sie hätte anrufen können. Selbst Arthur – so sehr er um die Kinder trauerte, so oft er sie in den dumpfen Monaten, die folgten, tröstete – war in dieser Nacht nicht dagewesen. Seine Freunde und Kollegen schauten sie an, als sei sie der fliegende Holländer und wiege einen verwesenden Albatros in ihren Armen. Wenn sie versuchte, ganz nüchtern über den Unfall zu reden, schauten sie peinlich berührt oder mitleidig drein. Maggie brachte es noch am ehesten fertig, sie auszufragen; in ihrem Sprechzimmer in dem Haus am Lake Glass hatte sie in Hannahs Wunden herumgestochert. Sie zwang Hannah, die Ereignisse jener Nacht immer wieder durchzuspielen. «Beschreiben Sie, wie sie ausgesehen haben», forderte Maggie in ihrem gemusterten Ohrensessel. «Wie hat sich ihre Haut angefühlt, als Sie sie berührt haben?»

«Was sind Sie denn – ein blutsaugender Vampir?»

«Erzählen Sie mir noch mal, wie Sie zum Telefon gekrochen sind, Hannah.»

130

«Nein! Das mache ich nicht! Verdammt noch mal, Maggie!»

Einmal warf Hannah eine Schachtel Papiertaschentücher nach Maggie, und Maggie fing sie auf und warf sie zurück.

Als es dann vorbei war, hatten die Erinnerungen einiges von ihrem Schrecken verloren. Aber selbst Maggie hatte improvisiert. Ihre drei Kinder lebten und waren gesund, riefen jede Woche an und kamen an Feiertagen zu Besuch.

Niemanden anrufen zu können war kein unbekanntes Gefühl für Hannah. In dem Haus in Hampstead, als ihre Mutter schon im Grab und ihr Vater in Trinidad war, wachte sie oft aus bösen Träumen auf und tappte in das Zimmer ihrer Großmutter, um die alte Dame anzuschauen, wie sie mit schwarzen Augenklappen und Ohrenstöpseln dalag und schnarchte. Sie wollte sie aufwecken, hatte aber Angst davor. Verlust und Verlassenheit, Schuldgefühle und Schrecken. Die gleiche Uratmosphäre, in der auch ihre Klienten lebten. Das war wahrscheinlich der Grund, weshalb sie eine so gute Therapeutin war.

Sie horchte auf die brechenden Wellen und versuchte, ihre Emotionen abzustellen. Es war einfacher, sie zum Schweigen zu bringen, wenn sie das tun mußte, um ihre Arbeit machen zu können. Also begann sie, die Klienten von vergangener Woche durchzugehen. Ed, der Ingenieurstudent, hatte eine ältere Frau gefunden, nachdem seine Kampagne, Hannah zu verführen, gescheitert war. Er hängte das an die große Glocke, lümmelte breitbeinig auf dem Sofa herum und deutete an, daß er zur Zeit wenig Schlaf bekomme.

Hannah spürte, daß sich ihr verkrampfter Mund zu einem Anflug von Lächeln entspannte. Caroline war bei ihren Eltern in Boston. Sie hatte nicht angerufen, also kam sie wohl zurecht. Was sie nur für Eltern hatte! Eine solche Tochter zu haben und ihr nicht zu Füßen zu liegen. Ihr Lächeln wurde bitter, als ihr klar wurde, daß Mona, lebte sie noch, nur ein paar Jahre jünger wäre als Caroline. Dann sagte sie sich, daß Therapie wie ein Prozeß ist, bei dem nur ein Zeuge auftritt. Die Version von Carolines Eltern würde völlig anders klingen, was die Vorgänge in diesem Haus betraf; anders als Carolines Version, und bei ihrem Vater wieder anders als bei ihrer Mutter. Und sie würden alle die Wahrheit sagen – jeder seine oder ihre individuelle Wahrheit. Als Joanna eine Therapie machte, war Hannah die ganze Zeit über empört gewesen angesichts des Bildes, das Joanna von ihrer gemeinsamen Vergangenheit 131erstellte, wozu Vernachlässigung gehörte, an die sich Hannah absolut nicht erinnern konnte. Schließlich akzeptierte sie, daß Joanna sich nur so von zu Hause losmachen konnte.

Na ja, so etwas wie geeignete Eltern gab es sowieso nicht. Es war auch eine unmögliche Aufgabe. Waren ihre Eltern gegenwärtig gewesen, dann fühlten sich die Klienten von ihnen erstickt. Wenn sie nicht dagewesen waren, fühlten sich die Klienten vernachlässigt. Wie konnte ein fehlerhafter Sterblicher einen anderen vor all den grauenhaften Dingen beschützen, die diese Welt zu bieten hatte? Sie war nicht imstande gewesen, Mona und Nigel zu beschützen. Selbst wenn man seine Kinder beschützen konnte, erwies man ihnen damit vermutlich überhaupt keinen Dienst. Sie hatte das Gefühl, als sei diese Welt nicht dafür da, daß man sich gemütlich darin niederließ, wie in einem bequemen alten Sofa; die Welt war dafür da, daß man mit ihr seine Erfahrungen machte und sie dann wie eine leere Blechdose wegwarf.

Sie fragte sich, ob ihre Klienten ahnten, wie sehr sie es brauchte, aus ihnen gesunde, glückliche Erwachsene werden zu sehen; wie sehr sie es brauchte, alles zu tun, was sie konnte, um ihnen dabei zu helfen. Der Prozeß war bei Nigel und Mona unterbrochen worden, und sie war mit all diesen durchkreuzten Instinkten zurückgeblieben. Es war, wie mit einem toten Fötus schwanger zu sein. Irgendwie muß man ihn loswerden. Sie hatte kurz nach dieser furchtbaren Nacht versucht, schwanger zu werden, aus der kläglichen Vorstellung heraus, sie könnte das Unersetzliche ersetzen, aber es hatte nicht geklappt. Also hatte sie ein Diplom gemacht und sich der Erziehung erwachsener Kinder anderer Leute gewidmet. In letzter Zeit hatte sie sich zu fragen begonnen, wie lange es noch dauern würde, das aufzuarbeiten. Eines Tages würde sie zu etwas anderem übergehen. Aber wozu? Vermutlich zu einem Gehgerät aus Aluminium.

Sie saugte an ihrer Zigarette und beobachtete, wie die Spitze im Dunkeln aufleuchtete und Funken sprühte. Der Wind klagte in den Zedern auf den Klippen. Sie zitterte. Sie drückte die Zigarette aus, stand auf und ging zum Blumenfenster. Die Kälte hatte auf den Scheiben einen eisigen Wald prähistorischer Farne wachsen lassen. Im Mondlicht hob sich das Muster ab wie vor vielen, vielen Jahren der Rikscha ziehende Kuli auf der erleuchteten Kugellampe in jenem Haus auf der australischen Schafsfarm. Hannah saß damals 132oft auf dem Schoß ihrer Mutter, spielt mit ihrem goldenen Ehering und beobachtete, wie die Motten um das Kerzenlicht herumflatterten, das den Kuli erleuchtete; beobachtete, wie die Motten mit einem unangenehmen Geruch verbrannten. Ihre Mutter, Maggie, Mona und Nigel … Trauer durchschnitt sie wie ein Seziermesser.

Sie atmete bebend ein und preßte die Fingerspitzen gegen das Glas. Wenn es für die Eiskristalle auf den Fensterscheiben ein planvolles Muster gab, sagte sie sehr bestimmt zu sich selbst, wer war sie dann, daß sie sagen könnte, es gebe keines für die menschlichen Ereignisse, selbst wenn die Form in der Finsternis nicht immer zu erkennen war?

Als sie wieder im Bett lag, schmiegte sie sich an den schlafenden Arthur und wartete auf den Morgen, zufrieden darüber, daß sie die Verzweiflung vertrieben hatte. Manchmal bedurfte es dazu einer ganzen Reihe von Martinis und eines netten, langsamen Ficks.

 

Ach du lieber Gott, dachte Hannah, als sie Carolines Gesicht im Wartezimmer sah. Dumpf und aufgedunsen, die Augen zusammengekniffen vor Schmerz. Zurück zum Start. Als sie den dunklen Flur hinuntergingen, Caroline mit ihrem Anorak über dem Arm, bemerkte Hannah die Anspannung in Carolines Schultern unter der weißen Uniform und stellte sich auf einen Kampf mit Carolines Teufeln ein.

Caroline saß schweigend auf der Couch, überprüfte mit den Fingern einer Hand das Profil ihrer Stiefelsohle. Von Zeit zu Zeit blickte sie auf und öffnete den Mund, aber es kam kein Wort heraus.

«Sagen Sie irgend etwas», sagte Hannah. «Es muß ja gar nichts Sinnvolles sein.» Sie saßen weiterhin schweigend da. Hannah sah das kleine Kind vor sich, das reglos in seiner Babyhüpfschaukel saß und versuchte, keinen Anstoß zu erregen, indem es so tat, als sei es nicht vorhanden.

Schließlich blickte Caroline auf und sagte: «Ich habe es verloren. Letzte Woche ging es mir so gut. Und jetzt ist es weg.»

«Vielleicht ist es Ihnen verlorengegangen, aber Sie können es wiederfinden, wenn Sie wollen.» Hannah merkte, daß sie dankbar war für ihre eigenen Verzweiflungsanfälle wie den von gestern nacht, selbst wenn sie ihr nur als Bestätigung dafür dienten, daß die Techniken, die sie ihren Klienten anbot, etwas bewirken konnten.

133

«Wie Sie das sagen, klingt es so, als würde ich es genießen, daß es mir schlechtgeht.»

«Haben Sie mich das sagen hören?»

Caroline antwortete nicht. Sie fühlte sich heute zu beschissen, um Hannahs Wortspielereien mitzumachen. Zu ihrer Verzweiflung war noch ein neues Element hinzugekommen: Angst davor, daß Hannah herausfinden könnte, daß sie von ihr abhängig geworden war, daß sie ihr Bild und ihre Gesten heraufbeschwor, um sich besser zu fühlen, wenn sie in Angstschweiß gebadet erwachte. Hannah würde ihre Bedürftigkeit durchschauen, und das würde sie abstoßen. Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben. Caroline durfte Hannah nicht wissen lassen, wie wichtig sie für sie geworden war. Wenn sie sich völlig reglos und still verhielt, würde Hannah nichts merken.

«Was ist in Boston passiert? Wie haben Sie es verloren?»

Caroline seufzte und verschränkte die Hände vor ihrem Bauch. «Es ist viel zu langweilig.»

«Sie sehen nicht gelangweilt aus. Sie sehen aus, als hätten Sie Schmerzen. Wie fühlen Sie sich?»

Caroline schaute Hannahs blaue Augen an und fühlte sich erschöpft, ihr Pokergesicht rutschte weg, wie wenn bei jemandem der obere Teil von einem künstlichen Gebiß nicht mehr hält. «Nicht besonders gut.»

Hannah zuckte mit den Schultern, lehnte sich zurück und zündete eine Zigarette an. Meinetwegen, fühl dich elend, wenn du darauf bestehst, Kindchen. Sie wartete und beobachtete Caroline, die bewegungslos dasaß, wie eine Leiche. Sie konzentrierte sich darauf, ihr eigenes Wohlbefinden aufrechtzuerhalten, und war willens, das Caroline zu vermitteln. Manchmal dachte sie, daß alles, was hier in diesem Zimmer gesagt wurde, völlig irrelevant war. Was sie eigentlich anzubieten hatte, war eine Einstellung, die ihre Klienten, wenn überhaupt, durch Osmose aufnahmen.

Während sie Carolines Leiden beobachtete, kam Hannah zu dem Schluß, Eltern und erwachsene Kinder sollten ein Abkommen schließen, sich gegenseitig in Ruhe zu lassen. Sollten die Eltern doch in Ruhestand gehen und nach Fort Lauderdale ziehen und dort Karten spielen. Sollten die Kinder einen Hausstand gründen und die Fehler der Eltern wiederholen, bis sie so viel Verständnis dafür entwickelt hatten, wie schwierig es ist, Eltern zu sein, daß sie 134ihren eigenen Eltern verzeihen konnten. Sie sah Simon und Joanna nicht mehr häufig, obwohl sie alle am Lake Glass wohnten. Sie kamen regelmäßig vorbei, aber nie für längere Zeit. Das belastende Zerren der Vergangenheit war zu unwiderstehlich.

Caroline begann, mit monotoner Stimme von Weihnachten zu erzählen. Hannah hörte eine weitere Variante dessen, was sie über Mutter und Vati Kelley bereits wußte.

Was haftenblieb war das Bild eines gedemütigten kleinen Jungen, der barfuß durch die Winternacht rannte.

«Ist Ihnen klar, warum das, was passiert ist, für Sie so schlimm war?»

«Ich hatte eine Todesangst, Jason könnte etwas Furchtbares zugestoßen sein.»

«Und?»

«Ich dachte, meine Eltern würden denken, ich sei eine schlechte Mutter, weil ich ein ungezogenes Kind habe.»

«Und?»

Caroline runzelte die Stirn und rieb ihren Nasenrücken. Diese Sitzungen waren wie ein Fernsehquiz. Wenn Caroline die richtige Antwort fand, dann würde sie einen unhörbaren Summer hören.

Hannah zog die Augenbrauen hoch.

«So wie Jason sich fühlte, habe ich mich als Kind in dieser Familie gefühlt?» hörte Caroline sich selbst sagen.

Hannah spitzte die Lippen. Bingo. «Und stimmt das?»

Caroline war völlig überrascht von dem, was sie gerade gesagt hatte. Sie hatte eine glückliche, privilegierte Kindheit gehabt.

«Schauen Sie sich die Fotos noch mal an», sagte Hannah.

Caroline saß schweigend da und schaute aus dem Fenster auf Lake Glass. Hannah empfand einen gewissen Neid. Ihre Klienten konnten den See sehen. Sie konnte den Parkplatz sehen. Richtete man so ein Sprechzimmer ein?

«Sie haben jedes Recht, sauer zu sein, wissen Sie», sagte Hannah. «Ich wäre sauer gewesen. Blöde Geschenke, nicht genug zu essen, ein Haus voller Irrer.»

«Es sind gute Menschen.»

«Wenn Sie meinen.» Caroline würde ihre Wut nicht mit der Beißzange anfassen.

«Sie meinen es gut.»

«Aber das reicht nicht, oder?» Wenn Caroline nicht auf ihre 135Eltern wütend werden wollte, vielleicht würde sie dann auf Hannah wütend.

«Ich habe gemerkt, daß ich Jackie und Jason die ganzen Jahre über genauso behandelt habe.»

«Und von wem haben Sie das gelernt?»

«Ich bin eine furchtbare Mutter. Ich habe Jason nicht verteidigt – weder beim Geschenkeverteilen noch beim Essen, noch als das Videospiel kaputtging. Das einzige, was mich interessierte, war, ob meine Eltern in mir eine schlechte Mutter sehen.»

«Quatsch. Sie machen Ihre Sache sehr gut.» Anstatt die Mängel ihrer Eltern wirklich zu sehen, spielte sie lieber ihre eigenen hoch. In diesen Sphären der Seele ereignete sich alles gleichzeitig: Caroline war das kleine Kind und gleichzeitig die fünfunddreißigjährige Mutter.

«Wie können Sie das wissen? Sie wissen nur das, was ich Ihnen erzähle.»

«Meine Liebe, ich verbringe hier viele vergnügliche Stunden mit Leuten, die ihre Kinder mißhandeln. Wenn Kindesmißhandlung Ihr Ehrgeiz ist, dann befürchte ich, daß Sie jämmerlich versagt haben. Sehen Sie – immerhin war Ihr Sohn fähig, aus dem Haus zu laufen. Er hing nicht nur einfach in seiner Babyhüpfschaukel und versuchte, brav zu sein. Irgend etwas müssen Sie also richtig machen.»

Caroline empfand eine Spur von Dankbarkeit. Hannah beharrte immer darauf, ihr Versagen als Tugend zu sehen. Aber das war nichts als eine Technik. Und hatte etwas mit dieser Steinvenus zu tun. Ihr Blick ruhte auf der grauen Steinstatue auf dem Fensterbrett. Sie lächelte schwach.

«Was ist so komisch?» fragte Hannah.

Caroline deutete mit einer Kopfbewegung auf die Statue. «Ihr Ausdruck ist so ruhig und freundlich. Ich glaube, ich leide an Venusneid.»

Hannah lachte kurz auf. Ein Hauch von Farbe war in Carolines Wangen zurückgekehrt. Immer noch grinsend, fragte Hannah: «Was haben Ihrer Meinung nach Ihre Eltern davon, daß sie ihr Haus mit Irren anfüllen?» Sie wußte die Antwort, weil sie zu verschiedenen Zeiten sich selbst beobachtet hatte: Sie mußten den Kontakt mit der eigenen Familie vermeiden, und sie mußten sich vergleichsweise normal fühlen. Aber sie wollte herausfinden, wie weit Caroline schon war.

136

«Ich wollte, Sie würden aufhören, sie als Irre zu bezeichnen. Es sind traurige, geplagte Menschen, die kein Zuhause haben.»

Hannah zuckte mit den Schultern, froh darüber, daß es Caroline wenigstens so weit besser ging, daß sie sich irritiert fühlen konnte. Diese Leichennachahmung war entnervend. «Vielleicht sollten sie sich zusammentun und einen Fonds für die vernachlässigten Sprößlinge der Menschheitsdiener gründen. Das würde ihnen vielleicht das Gefühl geben, ihr Leben hätte einen Sinn.»

Carolines Gesicht begann zu zucken. Hannah versuchte, sich noch etwas Provozierenderes einfallen zu lassen. Was war nötig, um Caroline auf jemand anderen als sich selbst wütend zu machen? Sie fühlte sich wie ein Banderillero, der Pfeile in einen trägen Stier plaziert.

«Etwas ist mir gerade klargeworden», sagte Caroline. «Vielleicht bin nicht nur ich verrückt. Vielleicht sind sie es genauso.»

Bravo, rief Hannah schweigend. «Die Sündenböcke haben immer das Gefühl, daß alles, was schiefgeht, ihre Schuld ist.» Sie zog an ihrer Zigarette und wartete, ob Caroline dieses Etikett akzeptieren würde.

Caroline blinzelte. Sündenbock? Das kam ihr nicht richtig vor. Das waren die Leute, die gesteinigt oder gekreuzigt wurden oder was. Das Schlimmste, was ihr passiert war, war, daß sie nicht genug Truthahn bekommen hatte.

«Als meine zwei Kinder an Kohlenmonoxydvergiftung starben», sagte Hannah und senkte ihren Blick auf eine Teppichstelle, die feucht war von Carolines Stiefeln, «da haben sogar ein paar meiner Freunde angedeutet, es sei meine Schuld. Die Leute müssen an Ursache und Wirkung glauben. Beliebige, sinnlose Katastrophen sind zu beängstigend.» Sie beobachtete, wie diese Information ankam.

«Ihre zwei Kinder sind gestorben?» Caroline starrte die Fotos an der Pinnwand an, die blondköpfigen Kinder mit Zahnlücken und Hannahs Augen. Gott.

«Es ist einige Zeit her. Ein fehlerhafter Abzug in unserer Heizung.»

«Das tut mir leid.» Caroline fühlte sich plötzlich dümmlich. Sie lud ihre Sorgen bei jemandem ab, die so etwas mitgemacht hatte? Sie dachte an die Ausflüge zur Heilsarmee. Ihr denkt, ihr hättet Probleme? Sie schaute die Kinder an der Pinnwand an und hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie sie so sehr haßte.

137

«Danke. Aber worauf es mir ankommt, ist: Es passieren schreckliche Sachen. Darüber haben Sie keine Kontrolle. Aber Sie haben Kontrolle über Ihre Reaktion.» Mit viel Übung und Anstrengung, fügte sie schweigend hinzu und dachte an ihren Verzweiflungsanfall in der letzten Nacht und an all die Jahre der Dumpfheit und der Alpträume. Hannah rieb ihren Nasenrücken. Dann merkte sie, was sie tat – sie kopierte Carolines Stressgeste. Dieser Modellierungsprozeß funktionierte wechselseitig. Solange sie wenigstens nicht Unzucht mit kleinen Jungen oder Heroinsucht übernahm …

Caroline betrachtete Hannahs Gesicht, als sähe sie es das erste Mal – die Patina von Falten, wie eine im Feuer gebrannte Keramikscherbe, die lockigen grauen Haare und die durchdringenden blauen Augen. Wenn Hannah den Tod ihrer Kinder überwinden konnte, dann konnte Caroline sicherlich ein mißlungenes Abendessen mit ihren Eltern überwinden.

«Wie fühlen Sie sich?» Hannah wollte niemanden für eine Woche aus dem Haus schicken, wenn sie sich so elend fühlte, wie Caroline ausgesehen hatte, als sie hereinkam.

«Besser», sagte Caroline und merkte, daß es stimmte. Das Tief hatte sich gehoben wie der Deckel eines Sarges. Sie atmete tief durch, das erste Mal seit mehreren Tagen.

«Und eines Tages werden Sie nicht einmal mehr das Beispiel einer Frau brauchen, die mit mehr fertig werden mußte als Sie, um sich besser zu fühlen.»

II

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Brian führte Caroline in das Haus der Eliots, ein flaches Holzgebäude mit viel Glas und Möbeln, die aussahen wie die neuesten Zahnarztstühle. Chrom schimmerte in einer Beleuchtung, die zu hell erschien. Das Haus lag auf einem Hügel mit Blick über Lake Glass und hätte in House Beautiful vorgestellt werden können. Randy Eliot war der Besitzer einer Peugeothandlung an der Autobahn. Als Weihnachtsgeschenk für ihn hatte sich Connie, seine Frau, Silikonpolster in die Brüste einsetzen lassen. Connie trug ein tief ausgeschnittenes rotes Satingewand, das ihre vergrößerten Brüste darbot wie Käsekugeln. Caroline versuchte, nicht darauf zu starren, als Connie ihr die Hand schüttelte und den Mantel abnahm.

Caroline hatte sich den ganzen Tag Gedanken darüber gemacht, was sie anziehen und wie sie sich benehmen sollte. Es war Jahre her, seit sie das letzte Mal an einer Party teilgenommen hatte, auf der nicht nur Frauen in Jeans und Turnschuhen waren. Ganz hinten im Schrank hatte sie ein smaragdgrünes Cocktailkleid aus Samt gefunden, das aus ihrer Zeit mit Jackson stammte und so aus der Mode war, daß es gerade wieder chic wurde. Sie konnte sich nicht erklären, aus welch weiser Voraussicht heraus sie es aufbewahrt hatte. Sie zwängte sich hinein, in der Hoffnung, ihr Körper werde sich seiner Hülle anpassen und geziemendes Partyverhalten an den Tag legen.

Brian brachte ihr Scotch mit Wasser, und sie klingelte mit den Eiswürfeln in ihrem Glas und nickte, während er mit Randy Eliot und einem Versicherungsvertreter namens Curtis, der eine Fliege trug, die Flüssigkeitsmenge im Vergaser des neuen Peugeot-Modells erörterte. Randy, Curtis und Brian waren offensichtlich alle in 139der gleichen Racketball-Liga, und sie gingen in ihrer Konversation mühelos von Peugeots zum Dreiwandaufschlag über.

Ein großer Mann in rotem Blazer mit einem komplizierten College-Abzeichen auf der Tasche kam auf Caroline zu und murmelte ihr ins Ohr: «Tolles Kleid.» Auf dem Ansteckknopf an seinem Aufschlag stand «Biertrinker haben mehr Schaum».

«Danke.»

«Habe ich Sie nicht schon mal irgendwo gesehen?»

«Vermutlich habe ich dir einen Einlauf gegeben, als du das letzte Mal im Krankenhaus warst, dachte Caroline. «Ach, ja?»

«Jetzt fällt's mir ein.» Er blickte gedankenvoll in ihren Ausschnitt. «Waren Sie nicht beim Tenniswettbewerb im Club letzten Sommer im Finale?»

«Nein.» War das echt, oder war es Anmache? Sie wußte einfach nicht mehr, wie diese Spielchen gingen. Sie fühlte sich so draußen, als wäre sie ohne Dolmetscher in Tibet gestrandet.

«Ich hätte schwören können, das waren Sie. Im Semifinale beim Doppel, mit Betsy Burns.»

«Nee.»

«Seit Sie in den Raum gekommen sind, kann ich die Augen nicht von Ihnen nehmen», sagte er mit gedämpfter Stimme, mit einem schuldbewußten Blick in Randys Richtung.

«Was, von mir? Würden Sie mich bitte entschuldigen? Ich muß … äh, die Toilette finden.» Wußte dieser Mann, daß im Tschad eine Hungersnot herrschte? Daß gestern abend eine Frau auf die Unfallstation gebracht worden war, in deren Schenkel die Initialen der sechs Männer eingeritzt waren, die sie vergewaltigt hatten?

«Ihr Haus gefällt mir sehr», sagte Caroline zu Connie, als sie neben einem Tisch aus Chrom und Glas standen und Shrimps auf Zahnstocher spießten.

«Danke. Woher kennen Sie Brian?»

«Ich arbeite mit ihm im Krankenhaus zusammen.» Caroline konzentrierte sich darauf, Connie direkt in die Augen zu sehen und die Signale ihrer peripheren Wahrnehmung von Connies Weihnachtsgeschenken zu ignorieren, die aus dem roten Satinmieder herausquollen.

«Ach, dann sind Sie also Krankenschwester?»

«Stimmt. Ich arbeite auf der Unfallstation.»

«Wie interessant.»

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«Ja, es ist interessant.» Caroline suchte nach Gesprächsstoff. Sie hatte wirklich vergessen, wie man das machte.

«Randy und ich halten Brian für ausgesprochen sympathisch.»

«Ja, das finde ich auch.» Caroline spießte einen Shrimp auf und tauchte ihn in die Cocktailsauce.

«Wir feiern schon seit Jahren gemeinsam Parties.»

Caroline nickte, während sie den Shrimp zum Mund führte. Aber er fiel vom Zahnstocher herunter und landete auf Connies linker Brust; die Sauce spritzte quer über die glatte, gebräunte Haut. Caroline stand reglos da und hielte den Zahnstocher in die Luft, als würde sie mit einem Ministab eine Symphonie dirigieren.

«Entschuldigen Sie», murmelte Caroline schließlich doch. Sie streckte die Hand nach dem Shrimp aus, besann sich dann aber eines Besseren und zog ihre Hand zurück.

Connie pflückte die Garnele von ihrer Brust und steckte sie Caroline in den Mund.

«Äh, soll ich …» Caroline wedelte mit ihrer Cocktailserviette, auf der stand «Alte Matrosen sterben nicht, sie werden nur ausgebootet».

«Ich mach das schon.» Connie nahm die Serviette und tupfte ihre Brust ab. Dabei lächelte sie Caroline offen und belustigt an.

Caroline ermahnte sich, es sei nicht das angemessene Cocktailpartybenehmen für eine Frau, mit der Gastgeberin zu flirten. Sie konnte sich offensichtlich nicht auf ihre automatischen Impulse verlassen. Sie blickte sich nach Brian um und dachte, daß sie besser bald mit jemandem schlafen sollte, wenn sie nicht zu einer Bedrohung für die wohlerzogene Gesellschaft werden wollte. Sie murmelte etwas von Toilette und entfloh in den Flur.

Neben dem Badezimmer war ein großer Wandschrank. Ein blaßblaues Prinzeß-Telefon stand auf dem Tischchen zwischen den zwei Türen. Sie blickte sich kurz um, nahm das Telefon und zog sich in den Schrank zurück, schloß die Tür hinter sich und machte es sich zwischen den Stiefeln bequem, ein persischer Lammfellmantel hing ihr ins Gesicht. Sie überlegte, ob sie Hannah anrufen sollte, um sie um ein paar Tips zu bitten, wie sie wieder ein anständiges Leben führen könnte. Schließlich hatte sie Hannah nicht mitten in der Nacht von Boston aus angerufen, also hatte sie einen Anruf gut.

Statt dessen wählte sie Jennys Nummer.

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«Du liebe Zeit, ich glaube tatsächlich, das ist Sankt Zölibat», sagte Jenny. «Hör zu, ich kann im Moment nicht reden. Pam und ich sehen gerade ‹Dallas›. J. R. und Sue Ellen haben einen furchtbaren Krach. Kann ich dich zurückrufen?»

«Nein, das geht nicht», sagte Caroline und drehte den Kopf, um den Mantel aus dem Gesicht zu bekommen. «Ich sitze nämlich im Schrank eines Peugeothändlers.»

«Was?»

«Ich bin auf einer Party.»

«Bei einem Peugeothändler?»

«Ja.»

«Wie kommt denn das?»

«Dieser Kollege hat mich eingeladen, und das kam mir wie eine gute Idee vor. Aber ich habe in letzter Zeit wenig mit Leuten zu tun gehabt, die ein gemeinsames Bankkonto haben, und ich habe völlig vergessen, wie ich mich benehmen soll.»

Jenny antwortete nicht. Caroline konnte J. R. im Hintergrund herumschreien hören. Bedeutete Jennys Schweigen, daß sie den Peugeothändler mißbilligte oder daß sie in ‹Dallas› vertieft war?

«Wo ist Diana?» fragte Jenny und klang abgelenkt.

«Vermutlich in irgendeinem Hotelzimmer in New York und bumst ihre Kinderschwester.»

«Mein Gott, mit dir würde ich mich nicht anlegen. Um dich zu rächen, schreckst du ja vor nichts zurück.»

Caroline überlegte, ob sie deshalb auf dieser Party bei den Eliots war. Diana war wirklich empört gewesen. Aber Caroline mochte Brian auch. Er war ein netter Mann. Sie konnte nur bürgerliche heterosexuelle Parties nicht leiden. «Mach dir keine Sorgen. Ich muß bereits dafür büßen. Diese Leute sind völlig wahnsinnig.»

«Soll ich dich denn abholen kommen? Du könntest gerade noch den Schluß von ‹Dallas› mitkriegen.»

«Nein, danke, Jenny, ich will nur ein bißchen Anteilnahme.»

«Also von mir bekommst du jedenfalls keine, mein Schatz. Wenn eine Frau mit einem Mann ausgeht, obwohl sie es besser wissen müßte, dann verdient sie das, was sie kriegt.»

«Tausend Dank», lachte Caroline. «Es ist schön, eine Freundin zu haben, auf die ich in der Not zählen kann.»

«Du denkst, du hast Probleme? Du solltest mal sehen, in welchen Schlamassel J. R. sich hineingeritten hat.»

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«Bis bald, Jenny. Grüß Pam von mir. Und euch beiden ein fröhliches neues Jahr.»

«Tschüs, Süße. Und bleib weg von den Schränken. Die sind nichts für dich.»

Caroline tauchte wieder aus dem Schrank auf, als sich die Gäste gerade auf den Eßtisch zubewegten.

«Erzähl mir ein bißchen von deinen Söhnen», sagte Brian, während sie Lachs, Spinatcreme und überbackene Kartoffeln von Limoges-Porzellan aßen. Neben jedem Teller lag so viel Besteck, daß man eine Hysterektomie damit hätte vornehmen können.

Brian hatte Jackie und Jason kennengelernt, als er Caroline zu Hause abholte. Sie hatten den geknüpften Teppich aufgerollt, schlugen eine Hockeyscheibe quer durchs Wohnzimmer und ließen sie dabei an der Wand und an den Möbeln abprallen. Sie hielten inne, um Brian zu begutachten. Ein potentieller Gabriel Kotter?

«Da gibt es nicht viel zu sagen. Sie sind normale Jungen. Ich mag sie sehr.»

«Der ältere, Jackie, sieht dir ähnlich.» Mit delikaten Seziermesserbewegungen entfernte er die Schuppen von seinem Lachs.

«Das sagen alle.»

«Sieht Jason seinem Vater ähnlich?»

«Eher meinem Vater. Und was ist mit deinen Kindern? Siehst du sie oft?» Der Mann im roten Blazer, der rechts neben ihr saß, versuchte, Blickkontakt mit ihr aufzunehmen, also starrte sie entschlossen auf ihren Kristallkelch und hörte zu, wie Brian die Vereinbarung mit Irene beschrieb: Er hatte die Kinder jedes zweite Wochenende und während bestimmter Ferien. Seine Stimme klang leise und gequält.

Das könnte funktionieren, merkte Caroline. Brian mochte Kinder, ihre Söhne wollten einen Vater, sie könnte die Hilfe eines Ehemannes brauchen. Er war ein angenehmer Mann, sanft und nachdenklich. Warum nicht, zum Teufel? Ihre Hand zitterte, als sie ihr Weinglas zum Mund führte.

Kurz vor Mitternacht stellte Connie den Fernseher an, und sie schauten sich alle die Menschenmenge auf dem Times Square an. Um Mitternacht, als am Times Square Jubel ausbrach, legte Brian den Arm um sie und küßte sie auf die Lippen, und sie fühlte ein Ziehen im Bauch, das eindeutig Begierde war. Die anderen Gäste, die schon viele neue Jahre gemeinsam begrüßt hatten, umarmten 143und küßten sich im Überfluß. Die meisten gaben ihr ein Küßchen auf die Wange oder drückten ihren Arm. Mr. Rotblazer versuchte, seine Hüften gegen ihre zu drücken, aber sie bewegte sich zur Seite, und er torkelte in seinem eigenen Schwung nach vorn. Connie schloß Caroline in die Arme und rieb ihre großen Brüste gegen Carolines Busen. Aus der Andeutung von Verlangen, das Brians Kuß ausgelöst hatte, wurde mehr. Connies Augen verengten sich belustigt, als sei ihr völlig bewußt, was sie da tat. Aber vielleicht war das auch nur gutes Gastgeberinnenbenehmen. Caroline konnte sich nicht mehr erinnern, wie das zu jener Zeit gewesen war, als sie und Jackson solche Rollen gespielt hatten.

Als Brian die Babysitterin heimfuhr, sank Caroline auf das Sofa, schaute sich ihr hockeyringmäßiges Wohnzimmer an und versuchte zu entscheiden, was sie tun sollte. Die Jungen schliefen. Sharon war bei Dianas Mutter in Poughkeepsie. Diana war mit Suzanne in New York. Sie und Brian konnten nach oben gehen und in Dianas Bett miteinander schlafen, wenn Caroline so tief sinken wollte. Es war ein Luxus, jemanden zu haben, der die Babysitterin nach Hause fuhr. Wenn sie ihre Rolle richtig spielte, dann würde Brian hierbleiben, auf der Treppe Schnee schippen, die Dichtungsringe des Wasserhahns auswechseln, den Lohnsteuerjahresausgleich machen. Das Leben wäre einfacher mit einem Mann. Die Rollen wären genau festgelegt: Brian würde die Brötchen nach Hause bringen, und sie würde sie streichen. Jackie und Jason wären total begeistert, wenn sie einen Vater hätten, der bei ihnen wohnte. Ihre Eltern würden sich freuen. Mit zwei Gehältern hätten sie und Brian genug Geld für Reisen, hübsche Kleider und Peugeots.

Ihr wurde klar, daß sie keine Verhütungsmittel im Haus hatte. Seit Jahren hatte sie nicht mehr an Pillen, Spiralen, Schaum, Cremes und Diaphragmas gedacht. Außer, wenn sie auf der Unfallstation die Nebenwirkungen zu bereinigen hatte. Als sie gerade die Tage in ihrem Zyklus nachrechnete, kam Brian mit von der Kälte gerötetem Gesicht herein. Er stolperte über einen Hockeyschläger.

«Möchtest du einen Drink?» fragte sie mit gedämpfter Stimme, während Brian das Gleichgewicht wiederfand und seine pelzgefütterten Handschuhe auszog. «Oder eine Tasse Kaffee?»

Er setzte sich neben sie aufs Sofa. Caroline merkte, sie hätte ein Feuer machen sollen, wenn sie sich wirklich so für die Lebensweise interessierte, die sie sich gerade ausgemalt hatte.

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«Ich würde dich lieber küssen», antwortete er.

Er nahm sie zögernd in die Arme, in der Erwartung, abgewiesen zu werden. Mit einem Gefühl der Erleichterung lehnte sie sich an seine Brust. Sorg für mich, dachte sie. Sein Mund fand den ihren. Seine Hände, die bei Operationen mit solcher Präzision vorgingen, bewegten sich zart über ihren Hals und ihr Gesicht. Es wäre so leicht, es einfach geschehen zu lassen. Sie war vermutlich fruchtbar. Sie würde schwanger werden. Sie könnte ihren Job aufgeben, mit einem neuen Baby zu Hause bleiben, seine und ihre Kinder aufziehen, ihr Heim zu einem Zufluchtsort in einer bedrohlichen Welt machen …

Abrupt machte sie sich los und setzte sich aufrecht hin. Auf diesem Trip war sie bereits gewesen, mit Jackson. Es war das gleiche wie der Versuch, sich in das grünsamtene Cocktailkleid zu zwängen. Jeden Augenblick konnte dieses verdammte Ding aus den Nähten platzen. Brian sah bestürzt und verletzt aus. «Du bist sehr attraktiv, Brian. Aber es gibt so vieles, was du noch nicht von mir weißt.»

«Ich weiß alles, was ich wissen muß.»

«Nein, das stimmt nicht. Du weißt nicht, daß ich während der letzten fünf Jahre eine Frau als Geliebte hatte.»

Er runzelte die Stirn und blickte auf seine eleganten Hände.

«Ich hätte es dir eher sagen sollen. Ich glaube, ich wollte vielleicht, es wäre nicht so.»

«Aber du bist so attraktiv.» Er streckte seine Hände aus, mit den Handflächen nach oben, eine Geste der Verwirrung.

«Danke. Aber bitte, besteh nicht darauf, die falschen Sachen zu sagen, denn ich möchte dich gerne weiterhin gut leiden können.»

«Ich meine, vielleicht hast du einfach nie den richtigen Mann getroffen.»

«Vielleicht hast du nie den richtigen Mann getroffen», sagte sie und stand in ihrem zu engen Kleid auf, hoffend, es werde noch so lange zusammenhalten, bis sie ihn aus dem Haus hatte.

«Aber du wirkst so normal», sagte er. Er war ebenfalls aufgestanden.

«Glaub mir Brian: Ich bin's nicht.»

Er schaute sie an, als sähe er sie das erste Mal. «Entschuldige. Ich wollte dich nicht beleidigen.»

«Macht nichts. Ich bin daran gewöhnt.»

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«Sieh mal», sagte er und nahm ihre Hände in seine, «zwischen uns besteht eine starke Anziehung. Ich weiß, du spürst das auch. Ich gebe nicht auf.»

Caroline zog ihre Hände weg. Sie war nicht fähig zu entscheiden, ob das stimmte, und ging zur Tür. «Tu dir selbst einen Gefallen und such dir eine andere Frau.»

«Nein», sagte er und schob das Kinn trotzig vor. «Ich habe dich bedrängt. Du brauchst einfach mehr Zeit.»

«Wie du meinst», sagte sie mit einem Seufzer, öffnete die Tür und ließ einen eisigen Luftstrom herein. Sie schloß die Tür hinter ihm, lehnte sich dagegen und seufzte so tief, daß ein paar Stiche an den Seitennähten ihres Kleides platzten. Damit hatte es sich also mit ihrer bürgerlichen Respektabilität. In der Schule hatte sie einen irisch-katholischen Freund namens Kevin gehabt, mit dem sie jeden Samstagabend auf dem Balkon des RKO-Kinos und auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt herumschmuste. Vorgeschriebenes Verhalten für jedes Mitglied von Rorkies Clique, genauso wie Bass-Weejuns-Schuhe und Villager-Hemdblusenkleider. Aber sie brauchte sich nicht mehr auf obligatorischen Sex einzulassen, und Rorkie war längst passé. Und es mußte einfachere Mittel und Wege geben, um Diana zu quälen.

Ein Bild tauchte in ihrem Kopf auf: Dianas und Suzannes nackte Körper, auf einem Bett, schweißnasse Gliedmaßen ineinander verschlungen. Ihr Magen verkrampfte sich. Wie konnte sie, die sie buchstäblich aus allen Nähten platzte, mit einem neunzehnjährigen Körper konkurrieren?

Sie ging in ihr Zimmer, setzte sich an den Webstuhl und betrachtete ihren neuen Schal, der fast fertig war. Mit seinen weißen, grauen, blauen und violetten Streifen glich er tatsächlich dem Blick vom Hügel hinter ihrem Haus auf Lake Glass, die White Mountains und den Himmel. Sie drückte mit den Fingerspitzen gegen die Querfäden. Wie konnte eine fünf Jahre alte Romanze mit einer nagelneuen konkurrieren? Das ging nicht. Sie hatte es selbst mehrere Male erlebt, wie unvergleichlich spannend es ist, bei einer unbekannten Person die Barrieren einzureißen, eine nach der anderen – die Blicke, die Bemerkungen, die Berührungen, die Küsse, die Zärtlichkeiten, das Saugen und Sich-Winden und das Stoßen und Stöhnen.

Caroline griff nach dem Schiffchen und begann, die Pedale zu 146bedienen. Diana hatte eine neue Gespielin. Es war genauso schmerzlich wie damals, als Rorkie sie aus dem Mädchenclub hinauswarf und Mandy Carrigan zu ihrer Tischnachbarin beim Mittagessen erwählte.

Rechtzeitig fiel ihr ein, daß das Geräusch des Webstuhls die Jungen aufwecken würde. Sie stand auf und wand sich aus ihrem Cocktailkleid wie ein Tiefseetaucher aus seinem Taucheranzug. Sie zog ihr Flanellnachthemd über, kletterte ins Bett und nahm die Liste mit den Adjektiven für Hannah vom Nachttisch. Freundlich, sanft, großzügig, böse, pervers, hinterhältig … Sie nahm einen Bleistift und kritzelte «einsam». Dann «geil». Und «betrogen». Aber sie sollte die Liste ja eigentlich in Kategorien einteilen und nicht bis zur völligen Unverständlichkeit ausweiten. Sie drehte und wendete die Liste, um herauszufinden, welches Muster Hannah gesehen hatte. Schließlich knallte sie die Liste auf den Nachttisch und machte das Licht aus.

Während sie im Dunkeln liegend auf den Schlaf wartete, stellte sie sich Dianas zerwühlten Rotschopf zwischen Suzannes Beinen vor, wie sie mit grünen Augen über Suzannes Brüste hinweg zu ihrem Gesicht schaute, um ihre Reaktion zu beobachten. Caroline bemühte sich, dieses Bild durch Hannah und ihr Schulterzucken zu ersetzen. Aber Hannah erschien nicht.

Ach Gott, ja, ein fröhliches neues Jahr, sagte sie zu sich und führte ihre Hand unter dem Nachthemd nach oben.

 

Caroline reichte Hannah ihre ramponierte Liste und sagte: «Ich weiß nicht, ob Sie es gemerkt haben, aber ich habe das im letzten Monat nicht gemacht.» Es hatte sie die letzten beiden Tage gekostet. Sie hatte die Adjektive auf ein halbes Dutzend verschiedene Gruppen verteilt – positiv und negativ, männlich und weiblich. Gegensätze.

«Ich habe es gemerkt», sagte Hannah, die sich auf ihrem Schreibtischstuhl zurücklehnte und die Liste studierte.

«Waren Sie wütend?» Caroline setzte sich auf die Tweedcouch.

«Ich bin nicht sehr oft wütend, und ganz bestimmt nicht wegen so etwas.»

«Enttäuscht?» fragte Caroline. Sie beugte sich vor und spürte den Tweedstoff unter ihren Handflächen. Wenn sie schon Hannah nicht dazu bringen konnte, daß sie wollte, sie würde weiterhin kommen, 147und wenn sie sie nicht erfreuen konnte, indem sie ihre Hausaufgaben machte und Witze erzählte, vielleicht konnte sie sie dann zumindest ärgern.

Hannah blickte auf und betrachtete Caroline mit nachdenklich geneigtem Kopf. «Wenn eine Aufgabe hilfreich ist und eine Klientin sie machen möchte, in Ordnung. Aber wenn nicht, dann ist das auch in Ordnung. Ich bin keine Lehrerin.»

Caroline fühlte sich vernichtet, als Hannah ihr die Liste kommentarlos zurückgab und sich mit einem Bic-Feuerzeug eine braune Zigarette anzündete. Caroline lehnte sich zurück und schaute aus dem Fenster, an den anämischen Farnpflanzen vorbei zum Lake Glass, der über die Feiertage fest zugefroren war. Das Eis leuchtete wie ein undurchsichtiger Spiegel, und die Schlittschuhläufer und Eissegler hatten abwechslungsreiche Muster eingraviert. «Welche Kategorien haben Sie gesehen, als Sie gesagt haben, ich solle die Liste in Kategorien einteilen?» Wenn schon sonst nichts ging, dann konnte sie wenigstens Hannah dazu zwingen, sich ihr Geld zu verdienen.

«Dieselben wie Sie. Die Eigenschaften sind Gegensätze. Großzügig und besitzergreifend. Freundlich und böse.»

«Ja, sie heben sich so ziemlich gegenseitig auf.»

«Stimmt das?» Hannah hielt Nigels Stein in der Hand und betrachtete den Glimmer, der die Höhlung bedeckte.

«Etwa nicht? Zurückhaltend und intensiv. Welches davon bin ich?»

«Sie sind beides. Wir alle sind beides. Zurückhaltung schließt Intensität nicht aus. Und andere Leute interpretieren das, was Sie tun, so, wie ihre eigene Geschichte es ihnen erlaubt und wie sie sich im Moment gerade fühlen. Warum teilen Sie als nächstes nicht den verschiedenen Eigenschaften Prozentsätze zu, um zu bestimmen, in welchem Ausmaß jede auf Sie zutrifft?» Eine Klientin dazu zu bringen, ihr eigenes Selbstbild zu entwerfen, war das gleiche, wie der Versuch, ihre Kinder, als sie klein waren, dazu zu überreden, mit ihren Klötzen etwas zu bauen und sie nicht durchs Zimmer zu schmeißen.

Caroline schnitt eine Grimasse.

«Was war das?»

«Ich weiß nicht. Ein Stirnrunzeln, nehme ich an.»

«Weshalb?»

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«Mir hängt diese Scheißliste zum Hals heraus.» Caroline schaute Hannah an und zerriß die Liste in winzige Fetzen und warf sie dann wie Konfetti in die Luft. Entsetzt schaute sie zu, wie die Fetzen auf den Boden flatterten.

Sie klammerte sich am Sofabezug fest und wartete darauf, daß Hannah sie auffordern würde, zu gehen oder zumindest die Unordnung zu beseitigen.

Hannah sah zu, wie sich die Fetzen auf dem Teppich niederließen, wie Schuppen auf einem Mantelkragen. Es war immer eine Erleichterung, wenn die aufgestaute Aggression durch die Schicht der Fügsamkeit zu sickern begann, wie Eiter aus einem angestochenen Furunkel. «Die Putzfrau wird Sie hassen.» Hannah schaute auf ihr Baumrindengemälde an der Wand. Die Mimi-Geister mit ihren hohlen Augen und skelettartigen Gliedmaßen lebten in Felsenvorsprüngen und kamen nur nachts zum Vorschein, um wild zu tanzen, sich zu lieben und im Busch herumzutoben.

Caroline schaute auf den Mimi-Geist. «Das Ding da ist wirklich grauenhaft.» Sie traute ihren Ohren nicht. Wenn Hannah das Bild hier in ihrem Zimmer hatte, dann war es ihr vermutlich wichtig. Und man sagt den Leuten nicht, daß die Dinge, die sie schätzen, grauenhaft sind. Was war mit ihr los? Seit Weihnachten geriet ihr Benehmen immer mehr aus dem Gleis.

«Finden Sie? Mir gefällt es. Es ist aus Australien. Ich nehme an, es erinnert mich an meine Herkunft.»

«Entschuldigen Sie bitte.»

«Was? Entschuldigen Sie sich dafür, daß es Ihnen nicht gefällt?»

«Daß ich gesagt habe, es sei grauenhaft.»

Hannah lachte kurz auf. «Aber warum sollten Sie das nicht sagen? Daß es mir gefällt, ist noch lange kein Grund, daß es Ihnen auch gefallen muß.» Hannah lächelte immer noch erstaunt. Wie konnte jemand derart damit beschäftigt sein, andere zufriedenzustellen? «Worüber würden Sie heute gerne reden?»

Caroline betrachtete die Unordnung auf dem Teppich. Offensichtlich interessierte die Liste Hannah nicht wirklich. Oder die Tatsache, daß Caroline ihr Gemälde als widerlich bezeichnete. «Ich habe viel über die Schule nachgedacht.»

«In welcher Hinsicht?»

«Was für ein Alptraum das war.»

«Ach ja? Erzählen Sie.» Hannah hörte den Geschichten ihrer 149Klienten über das amerikanische Schulleben immer fasziniert zu, vermutlich mit derselben Faszination, die ihre Mutter empfunden hatte, wenn sie Eingeborenenrituale miterlebte.

Caroline redete über ihre Gruppe, die von einem Mädchen namens Melanie O'Rourke beherrscht wurde, die Rorkie genannt wurde. Hannah hatte bemerkt, daß die Königinnen normalerweise nach ihrem Nachnamen benannt wurden. Die «Yankee»-Mädchen, die ritten und im Sommer zum Ferienlager auf Cape Cod gingen, hatten Spitznamen wie Cricket oder Muffin oder Crumpet. «Yankee» war in England die Bezeichnung für alle Amerikaner. «Yankee» war bei den amerikanischen Südstaatlern die Bezeichnung für alle Nichtsüdstaatler. «Yankee» war hier in Neuengland die Bezeichnung für jemanden aus einer puritanisch-protestantischen Familie.

Rorkie war Cheerleader bei den Sportveranstaltungen, Schriftführerin in der Schülerselbstverwaltung, Verteidigerin im Basketballteam. Caroline schilderte die Hackordnung in der Schule: die jüdischen Intellektuellen und Aktivisten, die irischen Sportler und Politiker, die Yankee-Partybienen und Wohltäter. «Rorkie und ich wurden Freundinnen, als wir in der sechsten Klasse zusammen Aufgaben machten. Ich war begeistert, als sie anfing, Sachen von mir auszuborgen – Bleistifte, Papier, Unterrichtsnotizen. Dann begann sie, mir Zettelchen mit Tratsch über die Leute zuzuschieben, die mit uns Aufgaben machten. Dann forderte sie mich auf, in den Mädchenclub einzutreten, und ich dachte, ich sei gestorben und im Himmel angekommen. Der Mädchenclub organisierte vor allem Übernachtungsparties und Tanzveranstaltungen. Rorkie entschied darüber, wen der Club ächtete. Wenn sie gegen jemanden etwas hatte, ging der Club dahin, wo die Betreffende wohnte, und verstreute Klopapier im Garten. In der Schule heulte die Ausgestoßene dann und wollte wissen, warum Rorkie sie hasse, und Rorkie sagte es mir, und ich gab die Information weiter. Ich weiß nicht, was Rorkie in mir gesehen hat.» Caroline sah Rorkie vor sich, ein dunkler irischer Typ mit schwarzen Haaren, sahnefarbener Haut und grünen Augen. Sie stolzierte mehr in ihren mit Quasten geschmückten Bass Weejuns-Schuhen, als daß sie ging; ein Mafia-Don, umgeben von Günstlingen wie von einer Leibgarde.

«Vielleicht hatte sie Angst vor Ihnen, weil Sie nicht völlig unter ihrer Fuchtel waren», sagte Hannah und schaute aus dem Fenster, 150als gerade der orangefarbene Le Car vorbeifuhr. Wenn sie ihr Büro anders einrichtete, müßte sie dieses Fahrzeug nicht sehen.

«Ich wollte sehr wohl unter ihrer Fuchtel sein», sagte Caroline und fuhr mit der Hand durch ihren Afro.

«Was hat Sie daran gehindert?» Hannah streifte ihre Zigarette an dem hohlen Stein ab.

«Sie waren Iren. Mein Vater war Ire, aber meine Mutter war ein Yankee. Mein irischer Akzent war ziemlich schwach, und sie dachten, ich sei hochnäsig. In der Schule redete ich ihretwegen Bostoner Dialekt, und zu Hause redete ich meiner Mutter zuliebe Yankee. Ich hatte gute Noten, und sie verhauten alle Klassenarbeiten. Ich gehörte zur Episkopalkirche, und sie waren katholisch. Ich wollte auf die Uni, und sie waren auf der Suche nach einem Ehemann. Ich versuchte, das alles zu verbergen, aber ich glaube, ich war nicht besonders erfolgreich. Die anderen Mädchen akzeptierten mich, weil Rorkie sie dazu zwang. Und Rorkie akzeptierte mich, weil … Ich weiß auch nicht, warum.» Caroline fühlte einen Brechreiz bei dem Gedanken an die ständigen angsterfüllten Überlegungen, was sie tun, sagen und anziehen sollte.

«Weil Sie die einzige waren, die ihr gegenüber nicht klein beigab», sagte Hannah. Caroline weigerte sich, irgend etwas aufzunehmen, was mit ihrer Charakterstärke zu tun hatte. Was war mit der Seite ihrer Persönlichkeit, die auf den Stufen des Regierungsgebäudes den Abtreibungsgegnern entgegengetreten war, die Listen zerriß und in die Luft warf, die Witze erzählte, die selbst eine Leiche zum Lachen gebracht hätten, die so nebenbei mit der linken Hand zwei Söhne großzog, die jeden Tag bei der Arbeit mit Tod und schweren Verletzungen fertig wurde? Es war grotesk zu sehen, daß eine so starke Frau sich selbst als Ausgestoßene und Opfer sah. Hannah lachte fast laut heraus, wie Maggie es einmal bei ihr getan hatte, als sie ihr während einer schwierigen Phase ihrer Ehe erzählte, sie müsse bei Arthur bleiben, weil sie jemanden brauche, der für sie sorge.

«Weil ich ihr bei Referaten geholfen habe», erklärte Caroline. «Und sie das Auto meiner Eltern benutzen ließ. Ihr Geld lieh. Unser Haus gefiel ihr. Wir hatten im Keller einen Hobbyraum, wo der Mädchenclub Parties abhielt.»

«Sie haben also nette Sachen für sie gemacht?»

«Ja.»

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«Klingt das bekannt?»

«Was?» fragte Caroline und rieb ihren Nasenrücken mit zwei Fingern.

«Sie als Dienerin und Lakai.» Hannah sah Caroline als Kind vor sich, wie sie ihre Eltern bediente und deren Wünsche an die anderen Kinder weitergab.

Caroline runzelte die Stirn. Diese Zeitsprünge waren so verwirrend. Was hatte die Schule denn mit ihrer Familie zu tun?

«Sind Sie sich des Älteste-Tochter-Syndroms bewußt?»

«Das klingt wie eine Krankheit.»

Hannah lächelte. «Ist es auch, in gewisser Weise. Das älteste Mädchen in einer Familie wird oft zu einer kleinen Mutter für die anderen Kinder gemacht. Manchmal wird von ihr erwartet, daß sie ihre eigene Mutter bemuttert. Dann geht sie hinaus in die Welt und sucht die Fürsorge, die sie nicht bekommen hat, als sie sie hätte bekommen sollen. Aber wenn sie sie findet, dann weiß sie nicht, wie sie sie annehmen soll, weil sie so wenig daran gewöhnt ist.»

Caroline kniff ihren Nasenrücken. Da hatte sie sich also um Howard und Tommy gekümmert. Na und? Das war zwanzig Jahre her. «Ich hätte in Rorkies Clique gepaßt, wenn ich im Basketballteam gewesen wäre …»

Hannah zog die Augenbrauen hoch. Vielleicht ging ihre Einschätzung Caroline zu nahe, als daß sie sie akzeptieren konnte?

«... aber meine Mutter fand Basketball stillos. Sie bestand darauf, daß ich statt dessen in den Junior Service Club ging, der Geld für Universitätsstipendien für arme Schüler aus dem Stadtteil Roxbury sammelte. Aber ich war gut in Basketball. Ich bin sicher, ich wäre im ersten Team gewesen.»

Hannah zuckte mit den Schultern. «Es ist noch nicht zu spät für eine Karriere als Basketballstar. Warum machen Sie sich nicht auf und heuern eine Menge kleiner Leute an?»

Caroline lachte kurz auf.

Hannah lächelte. Ihre Augen begegneten Carolines. Elektrisch geladene Belustigung flackerte zwischen ihnen auf wie ein Hitzeblitz.

Caroline senkte die Augen auf die Schachtel mit Papiertaschentüchern, die auf der Kommode stand. Hannah nahm ihre Schwierigkeiten nicht ernst. Es war schmerzlich gewesen, zu beobachten, 152wie Rorkie und die andern nach der Schule zum Basketballtraining in die Turnhalle strömten …

Ihr fiel ein, daß sie einer Frau etwas vorjammerte, die zwei Kinder durch Kohlenmonoxyd verloren hatte. Ihr denkt, ihr hättet Probleme? Schuldgefühle überkamen sie, als sie die zahnlosen, blondköpfigen Kinder an Hannahs Pinnwand anschaute. Aber verdammt noch mal, sie hatte nicht darum gebeten, etwas über diese kleinen Monster zu erfahren.

«Hannah, wenn Sie nicht zurechtkommen», sagte Caroline mit leiser Stimme, «dann möchte ich das gar nicht wissen.»

Hannah betrachtete Caroline mit zusammengekniffenen Augen und versuchte, ihrem Gedankengang zu folgen. «Aber ich komme zurecht.» Normalerweise, fügte sie für sich selbst hinzu. Sie saßen lange schweigend da; Hannah war nicht sicher, was vor sich ging. Es hatte irgend etwas mit ihrem Witz zu tun, und dann der Moment der Kontaktaufnahme hinterher – aber was? Im Zweifelsfall ist es das Beste, einfach zu fragen, beschloß sie schließlich.

«Was denken Sie jetzt, Caroline?»

Caroline kam sich blöd vor und sagte gar nichts.

«Was ist los?»

«Ich weiß nicht, es kommt mir alles plötzlich so lächerlich vor. Menschen verhungern und sterben, und ich jammere über Basketball.»

Hannah schaute sie nachdenklich an, in ihrer weißen Uniform mit der Elfenbeinmöwe um den Hals. Wenn eine Klientin erst einmal angefangen hatte, dann hörte sie normalerweise nicht mehr auf, von all den Ungerechtigkeiten zu erzählen, die ihr widerfahren waren. Carolines Ansatz war erfrischend, aber war das Therapie? «Ihr Schmerz ist genauso real wie der aller anderen, gleichgültig, wie trivial die Auslöser scheinen. Schmälern Sie ihn nicht, sonst wird er Sie auch weiterhin in die Fresse schlagen.»

Caroline saß mit verblüffter Miene da und zerrte an ihrer Elfenbeinmöwe.

«Glauben Sie mir ruhig. Basketball ist im Moment wichtig. Es tut mir leid, wenn mein Witz Ihnen das Gefühl gegeben hat, dem sei nicht so. Was passierte also mit Rorkie?»

Durch Hannahs Entschuldigung zur Kooperation veranlaßt, versuchte Caroline angestrengt, sich zu erinnern. «Eines Tages bekam ich in der Schule den Citizenship-Preis, und am nächsten Tag 153rollten sie unseren Garten mit Klopapier aus. Als ich Rorkie fragte, warum, sagte sie, meine Weihnachtskarte sei zu protestantisch gewesen.» Ein Schneemann mit Zylinder, wie Caroline sich erinnerte.

«Vermutlich paßte ihr als Schulkönigin die Konkurrenz nicht.»

«Aber das war der einzige Preis, den ich je bekommen habe.»

«Sie hat ihn jedenfalls nicht bekommen, oder?»

«Ich dachte, sie würde sich für mich freuen.»

«Wie rührend. Hitler hatte Deutschland. Warum sollte er Frankreich haben wollen?» Hannah zog die Augenbrauen hoch.

«Hitler?»

«Jede Gruppe hat ihren Hitler. Und auch ihre Juden.»

Caroline saß lange schweigend da. Letzte Woche hatte Hannah sie einen Sündenbock genannt. Jetzt kam sie mit Hitler und den Juden. Was wollte sie damit sagen? Warum sagte sie es nicht einfach?

Caroline dachte an die Monate, nachdem Rorkie sie hatte fallenlassen, wie sie alleine im Speisesaal saß und Rorkie und ihre Anhängerinnen in ihren gestreiften Villager-Hemdblusenkleidern an ihrem üblichen Tisch beobachtete, während sie alle sorgfältig vermieden, Caroline anzusehen. Mandy Carrigan nahm jetzt Carolines früheren Stuhl zu Rorkies Rechten ein und erhielt das Privileg, Rorkies Viertelliter Milch aus dem Kühlschrank zu holen. Es war ein Gefühl, als wären ihr alle inneren Organe entfernt worden und nur eine ausgehöhlte Fleischhülle übriggeblieben, die tagsüber den erwarteten Funktionen nachkam und die ganze Nacht wach lag und einen zu schnell fahrenden Brotlaster herbeisehnte. Wenn es nur eine Möglichkeit gäbe, den Citizenship-Preis abzulehnen oder ihn statt dessen Rorkie zukommen zu lassen. Wenn sie nicht die Eva Braun zu Rorkies Hitler war, wer war sie dann? Niemand.

Eines Morgens ging sie mit Tommy zu Jordan Marsh, um ihm seinen ersten Hodenschützer für den Sportunterricht zu kaufen. Als sie danach zur U-Bahn gingen, sahen sie im Park ein paar Demonstranten, die gegen die Atombombe protestierten. Ein Mann mit einem Pfarrerkragen drückte ihr Lesematerial in die Hand, und als sie heimkam, las sie es in ihrem Zimmer. Die Menschheit war erledigt. Ihr Privatkummer wegen Rorkie war irrelevant. Die Welt ging ihrem Ende entgegen. Tobende Infernos würden die meisten Lebewesen in Asche verwandeln. Was übrigblieb, würde krank 154werden und sterben. Am nächsten Wochenende ging sie wieder zum Park und schloß sich den Demonstranten an. Es wurde bald klar, daß es ihre Pflicht gegenüber der Menschheit war, auf die Schwesternschule zu gehen. Wenn sie die Feuerstürme überlebte, dann konnte sie die Verstümmelten und Versengten pflegen …

Hannah rauchte und schaute hinaus auf den schmutzigen Schneewall ganz hinten auf dem Parkplatz. Warum das Zimmer nicht umräumen? Die Couch könnte da stehen, wo jetzt der Schreibtisch stand, und der Schreibtisch könnte an die gegenüberliegende Wand, so daß sie von ihrem Stuhl aus den See sehen konnte. Hervorragend. Warum war ihr das nicht schon vor fünfzehn Jahren eingefallen?

«Sie werden sich bestimmt freuen, wenn Sie hören, daß ich an Silvester mit einem Mann ausgegangen bin», sagte Caroline und schüttelte die Vergangenheit ab.

Hannah unterdrückte ihre erste Reaktion, ein ‹Es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie mir nicht sagen würden, wie ich mich fühle›. «Da Sie wissen, daß mir das Geschlecht der Person, mit der Sie ausgehen, gleichgültig ist», sagte sie statt dessen, «müssen wohl Sie sich darüber freuen?»

Caroline zuckte mit den Schultern. «Imerhin ärgert sich Diana.»

Hannah lächelte. «Dafür, daß Sie so versessen darauf sind, ein braves Mädchen zu sein, haben Sie ganz gute Methoden, jemandem etwas heimzuzahlen.»

Caroline lächelte. «Das kann ich gut, was?»

«Und wie verlief Ihr Rendezvous?»

«Ich bin schließlich in einem Wandschrank gelandet und habe mit einer Freundin telefoniert. Ich habe mir überlegt, ob ich Sie anrufen sollte. Aber ich dachte, Sie sind vermutlich weg und feiern.»

«Nein, ich war zu Hause. Vermutlich habe ich geschlafen. Diese Jahreszeit ist schwierig für mich. Meine Kinder sind um diese Zeit gestorben.» Es schien ihr angebracht, die große Desillusionierung voranzutreiben.

Caroline schaute sie an. Sie war nicht scharf darauf, das zu erfahren. Aber Hannah sah blaß und müde aus. Caroline hatte das Bedürfnis, sie aufzuheitern. Sie machte Tee für ihre Mutter, deckte sie mit einer Wolldecke zu, legte eine Opernplatte auf, paßte auf ihre Brüder auf. Sie erzählte ihrer Mutter amüsante Geschichten: «Am 155Ende des Abends habe ich dem Märchenprinzen erzählt, ich sei schwul.»

«Da war er bestimmt entzückt.»

«Ich glaube, das macht ihn an. Er ruft mich seither dauernd an und kommt bei der Arbeit vorbei. Ich glaube, er denkt, er könnte mich retten.»

«Wovor?»

«Vor einem einsamen Älterwerden.»

«Glauben Sie, das wird er tun?»

«Das einzige, was ich sicher weiß, ist, daß ich immer, wenn ich sage: ‹Das mache ich bestimmt nie›, schon im Begriff bin, genau das zu tun. Also lautet meine Antwort: Ich weiß es nicht. Aber ich bezweifle es.»

Hannah lachte. Sie mochte Carolines verschnörkelte Gedankensprünge.

Caroline freute sich darüber, wie Hannahs Gesicht sich gerade entspannt und aufgehellt hatte.

Als sich die Tür hinter Caroline schloß, stand Hannah auf und ging zur Tweedcouch. Hinter der Farnpflanze im Fenster erstreckte sich Lake Glass bis zu den Bergen am Horizont. Eindeutig eine schönere Aussicht als der Parkplatz. Sie mußte den Raum so eingerichtet haben, als sie noch zu mehr Selbstaufopferung bereit war. Aussichtstherapie oder so etwas.

Sie legte sich auf die Couch, den Kopf auf einem Kissen, die bloßen Füße auf der Armlehne, und gab sich selbst gegenüber zu, daß sie tatsächlich eine gewisse Genugtuung verspürt hatte, als sie hörte, daß Caroline mit einem Mann ausgegangen war. Theoretisch und prinzipiell war sie unvoreingenommen, aber in der Praxis wurde sie dauernd mit der Nase auf ihr eigenes Postulat gestoßen: Da sie glücklich war, sollten unglückliche Menschen leben wie sie.

Wie würde sie reagieren, wenn Joanna lesbisch wäre? Vielleicht war sie es. Sie hatte auf jeden Fall bis jetzt eine grauenhafte Sammlung von jungen Männern ausgewählt, ihre neueste Errungenschaft war ein Geiger von den Bostoner Symphonikern, der dauernd bei Proben oder auf Tournee war. Aber sie würde sich wahrscheinlich noch mehr Sorgen machen, wenn Joanna homosexuell wäre. Es kostete so viel Kraft, in dieser Kultur unkonventionell zu sein. Ihre homosexuellen Klienten verbrachten etwa die Hälfte ihrer Zeit damit, die ganze soziale Mißbilligung abzuwehren oder damit fertig zu werden.

156

Die Sprechstundenhilfe bediente den Summer. Chip war da. Die Show mußte weitergehen. Sie richtete sich auf, schaute auf Lake Glass hinaus, glatt und bewegungslos unter einem stahlgrauen Himmel. Sobald sie eine Gelegenheit hatte, würde sie das Zimmer umräumen.

 

Während Joanna und Hannah an einem kleinen Tisch in Maude's Corner Café gemeinsam eine Karaffe Wein tranken, versuchte Joanna, Hannah zu beraten, wie sie ihre Pension anlegen sollte. «Mutter, du kannst das Geld nicht einfach rumliegen lassen. Du mußt etwas damit machen.»

«Warum denn?» Als Joanna im Gymnasium war, beriet sie Hannah immer ähnlich verzweifelt wegen ihrer Garderobe.

«An jedem Tag, den das Geld auf diesem Festgeldkonto liegt, verlierst du den Profit, den du auf dem Markt machen könntest.»

Hannah lächelte diese ernsthafte junge Frau an, die Hannahs blaue Augen und spitzen Haaransatz hatte, aber Arthurs rötlichen Teint und seine langen Beine. Sie trug einen Hosenanzug aus Tweedstoff und einen Pulli mit Kapuze. «Ja, Liebes, und jetzt erzähl mir doch mal, wie's deinem Bostoner Geiger geht. Clark?»

Joanna runzelte die Stirn, genau so, wie sie es immer gemacht hatte, wenn die anderen Kinder die Bücher nicht rechtzeitig in Joannas Bibliothek zurückbrachten. «Mutter, das ist eine ernste Angelegenheit. Im Verlauf der Jahre wird aus den paar Dollar Zinsen, die du jede Woche verlierst, eine enorme Summe. Das ist dir doch sicher klar?»

Während Joanna mit den Händen gestikulierend Alternativen zu Festgeldkonten beschrieb, beobachtete Hannah ihr entrüstetes Gesicht und dachte an das Älteste-Tochter-Syndrom, das sie Caroline gerade erläutert hatte. Sie selbst hatte Simon und Nigel mehr verwöhnt. Sie erschienen ihr so zerbrechlich und verletzbar. Sie hatte Mitleid mit ihnen, weil sie wußte, daß sie sich in einer brutalen Welt beweisen mußten. Wohingegen Mona und Joanna mehr in sich selbst zu ruhen schienen. Selbst wenn sie nie von ihrer Gebärfähigkeit Gebrauch machen würden, sie hatten doch die ehrfurchterregende Gabe, neues Leben in sich zu tragen. Nichts, was die Jungen taten, konnte diesen Mangel für sie wettmachen, und ganz bestimmt nicht ihre witzigen kleinen Penisknubbel. Während der chaotischen Jahre hatte sie sich manchmal 157auf Joanna gestützt, die mit solcher Effizienz und Begeisterung reagierte, daß Hannah sich selbst daran erinnern mußte, daß auch Joanna Zuwendung und Verwöhnung brauchte. Sie hatte ihr vermutlich nicht genug Zärtlichkeit gegeben. Daher ihre Sprödigkeit.

«Was soll das denn, Schätzchen?» fragte Hannah schließlich. «Meine Pension ist ganz in Ordnung, so wie sie ist. Wie läuft dein Kurs in modernem Tanz?»

«Gut. Aber Mutter, jemand muß sich doch um dich kümmern.» Joanna goß etwas Wein in das fast volle Glas ihrer Mutter.

Hannah lächelte entzückt. Alle anderen sahen sie als Brunhild. Nach Nigels und Monas Tod verbrachte Hannah viel Zeit damit, Joanna zu überzeugen, daß der Unfall nicht ihre Schuld war. Als sie eines Tages während Joannas Therapie beim Essen an dem großen Eichentisch saßen, schrie Joanna: «Es war nicht meine Schuld, daß deine wunderbare Mona gestorben ist, Mutter.»

«Das hat auch nie jemand behauptet», sagte Hannah und wurde blaß.

«Ich habe gut für die beiden gesorgt.»

«Ja, das stimmt.»

«Ich weiß, du wolltest, ich wäre es gewesen und nicht Mona.»

«Sei nicht albern, Joanna», bat Hannah. Schweiß brach auf ihrer Oberlippe aus …

«Dein Vater sorgt normalerweise sehr gut für mich», sagte Hannah.

«Er wird nicht immer …» Joanna unterbrach sich und senkte den Blick, um mit der Fingerspitze die Maserung des Kiefernholztisches nachzuzeichnen.

«Er wird nicht immer dasein? Das stimmt. Und ich auch nicht. Vielleicht kommen weder du noch ich lebend aus diesem Restaurant heraus. Warum sich also deswegen den Kopf zerbrechen?»

Joanna blickte auf und seufzte tief. «Du hast auf alles eine Antwort, Mutter, oder?»

«Ich weiß deine Sorge um meine Pension zu schätzen, Joanna. Es tut mir leid, daß ich sie nicht teile. Ich bin sicher, du hast recht.»

«Na ja, es sind deine verlorenen Zinsen.»

«Das stimmt.» Sie und Joanna endeten oft in einer solchen Sackgasse, was keine von beiden um diese Zeit, so nahe am Jahrestag des Unfalls, wollte. Normalerweise waren sie klug genug, sich 158bis zum Februar aus dem Weg zu gehen. «Apropos dein Vater – ich muß nach Hause.»

Joanna zuckte mit den Schultern und starrte in ihren Wein.

«Paß gut auf dich auf.» Hannah stand auf und klopfte auf Joannas gepolsterte Schulter.

«Du auch, Mutter.» Joanna blickte mit einem angestrengten Lächeln auf.

«Du weißt, daß ich dich liebe.»

«Ja, ich weiß, Mutter. Ich dich auch.» Sie schauten sich hilflos an.

Als Hannah das Seeufer entlangfuhr, ging ihr durch den Kopf, wieviel einfacher es doch war, mit Ersatztöchtern umzugehen. Sie waren nur eine oder zwei Stunden in ihrem Büro, und sie konnte sie als Fehlschläge hinauswerfen, wenn sie sich nicht öffneten.

Mit einem Schulterzucken begann sie dann, über die bizarren Bräuche an amerikanischen High Schools nachzudenken. Caroline redete von jenen Jahren, als sei es dauernd um Leben und Tod gegangen – diese Angst, ob sie nun bei diesem tyrannischen Teenager namens Rorkie gut angeschrieben war, ein Umstand, der durch ständig wechselnde Zeichen wie Kleidung, Frisuren, Akzente und Weihnachtskarten festgelegt wurde. Vielleicht hatte Hannah diese Art von Druck nie erfahren, weil sie sowieso nirgends so richtig dazugehörte. Nicht als weiße Australierin unter ihren eingeborenen Spielkameraden, nicht als Australierin unter ihren englischen Mitschülerinnen und jetzt nicht als Hiob unter den Schlemmern. Sie fühlte sich ganz wohl als Außenseiterin. Es war sogar so, daß sie sich unwohl zu fühlen begann, wenn sie auch nur andeutungsweise dazugehörte.

Im Internat in Sussex war es Vorschrift, daß die Mädchen die gleichen Turnhosen, gestreiften Krawatten und dunkelblauen Blazer trugen. Hannah band ihre Krawatte nie. Die meisten der Mädchen, die Namen wie Phillipa, Nicola und Phoebe hatten, trugen Kopftücher um den Hals geknotet. Sie lachten, indem sie die Oberlippe hochzogen, um die Zähne zu entblößen, und warfen dabei den Kopf zurück wie wiehernde Pferde. Hannah ging immer mit unbedecktem Kopf durch den Nieselregen in Sussex. Sie übertrieb ihren australischen Akzent. Die anderen Mädchen gingen ihr höflich aus dem Weg, außer ihrer Freundin Carla, die aus Kenia stammte und ähnliche Probleme hatte.

Sie verfolgte dieses Muster bis zur Gegenwart, wie Gretel, die 159den Brotkrumen aus dem Wald folgt – bis zur Institutssitzung heute morgen. Sie saßen alle um den großen, viereckigen Tisch aus Walnußholz herum, in dem sonnigen Konferenzzimmer, und alle anderen bemühten sich, Wege zu finden, um eine besser zusammenhängende Gruppe zu bilden. Sylvia, die alle verrückt machte, indem sie dauernd an ihrem Perlenarmband herumfingerte, schlug Gruppenmeditation vor, damit sie sich harmonischer fühlten. Mary Beth ließ ihr sprödes Lächeln aufleuchten und regte an, sie könnten einmal im Monat gemeinsam zu Abend essen, und zwar mit Ehepartnern. Louis, in seinen unvermeidlichen Armeetarnhosen und Fallschirmspringerstiefeln, wollte, daß sie gegenseitig ihre Wahrnehmung der Schwächen der anderen offenlegten, um sich auf diese Weise näherzukommen. Jonathan machte seinem Ärger darüber Luft, daß auf dem Eis auf dem Parkplatz zu wenig Salz gestreut werde, und die andern sagten, sie hörten, was er sage, und unterstützten ihn darin, daß er seinen Ärger zuließ, und sie wüßten es zu schätzen, daß er sie daran teilhaben lasse.

Louis beugte sich vor, lehnte sich über den Walnußtisch und sagte zu Sylvia, die im Begriff war zu heiraten: «Ich spüre bei dir einen Mangel an emotionaler Begeisterung, was die Art und Weise betrifft, wie du mit dieser Heirat umgehst, Sylvia, und ich finde es schwierig, das zu akzeptieren. Ich weiß, du bist voll Hoffnung – aber ist ein Teil von dir auch freudig erregt?»

Hannah entschuldigte sich und sagte, sie müsse auf die Toilette. Sie stand dann aber nur im Flur und grinste. Beim Bogenschießen im Internat hatten die Mädchen gefragt: «Wieviel Gewicht zieht der Bogen, mit dem du schießt?» In dem Hundezwinger, wo sie und Arthur ihren Collie gekauft hatten, sagte der Besitzer: «Manchmal zeigt der Vater dieses Hundes unerwünschte Charaktermerkmale.» All diese kleinen Welten, jede mit ihrer eigenen Sprache, und sie paßte in keine davon. Aber es war kaum zu glauben, daß ein Zimmer voll mit Therapeuten, deren Beruf es war, die Privatsprache der Welt ihrer Klienten zu entschlüsseln, sich selbst ihrer Sprache so wenig bewußt sein konnten, daß sie sich ihrer mit ernsthaften Gesichtern bedienten. Warum sollte ich mit einer Versammlung von Schwachköpfen harmonieren, überlegte sie. Sie nahm sich zusammen und ging in den Sitzungsraum zurück.

Als ihr Wagen über ein Schlagloch fuhr und wie ein New Yorker Taxi klapperte, kam sie zu dem Schluß, daß man diese eingefahrenen 160alten Muster nie los wird. Man fängt nur einfach an, sie zu erkennen, wenn sie auftauchen. Manche davon schätzt man, so wie sie ihre Unfähigkeit, sich in eine Gruppe einzufügen. Vielleicht brächte sie es fertig, der aktuellen Entsprechung zur Hitlerjugend nicht beizutreten. Die unangenehmeren Verhaltensmuster, wie zum Beispiel ihre Überzeugung, daß alle Leute, auf die sie sich einließ, fortgehen oder sterben werden, die lernte man die meiste Zeit über zu ignorieren. Man konnte die Schlaglöcher auffüllen, bis sie aussahen wie die übrige Straße, aber die Wunden im Asphalt waren noch da und konnten beim nächsten schweren Frost jederzeit wieder aufbrechen.

Als sie in die Einfahrt einbog, sah sie Arthur in seiner Mr. Chips-Jacke am Blumenfenster stehen und einen Golfball in das Plastikloch auf dem Teppich schlagen, das jedesmal, wenn er traf, den Ball zu ihm zurückflippte. Er war gerade in den Ruhestand getreten; deshalb hatte er angefangen, jeden Abend zu kochen. Sie spürte ein Gefühl in sich hochsteigen, das halb angenehm und halb schmerzlich war. Jetzt, nachdem er sie endlich – nach nur achtunddreißigjähriger Anstrengung – davon überzeugt hatte, daß er nicht weggehen würde wie all die andern, würde er gegen seinen Willen weggehen; eines Tages, bald. Joanna hatte recht. Aber es war nicht fair. Er mußte alles vor ihr durchmachen – Ruhestand, Zahnwurzelbehandlung, Rentenzahlung, Tod. Ihre Überzeugung, daß Menschen, die sie liebte, verschwanden – diese Überzeugung basierte auf der Wirklichkeit. Es war nur so, daß es manchmal fünfzig Jahre dauern konnte.

Als sie zur Tür hereinkam, stand Arthur am Herd und rührte mit einem Löffel in etwas herum. «Ich sehe, ich habe dich genau dahin gekriegt, wo ich dich haben will, Arthur», sagte sie. «Barfuß und in der Küche.»

«Aber Gott sei Dank nicht schwanger», sagte er, legte den Löffel weg und nahm ihren Martini vom Kühlschrank. «Wie war dein Tag?» Er reichte ihr den Martini und legte den Arm um sie.

«Nicht viel anders als die andern, danke. Wie war's bei dir?» Sie schlenderten von der Küche ins Wohnzimmer.

«Wunderbar. Ich habe den ganzen Morgen im Bett gelegen und gelesen.»

«Du Scheißkerl.» Sie ließen sich auf dem Ledersofa nieder. Es war immer noch ein Schock, nach der Arbeit nach Hause zu 161kommen und ein aufgeräumtes, ruhiges Haus mitsamt einem fertig gekochten Abendessen vorzufinden. Sie hatte ein Gefühl, als schwänze sie die Schule.

«Du bist auch bald soweit, mein Schatz.»

«Ja, aber werde ich noch am Leben sein und es wirklich genießen können?» Sie nippte an ihrem Martini und schaute Arthur über den Rand ihres Glases hinweg an.

«Ich würde sagen, du hast noch ein paar gute Jahre vor dir, altes Mädchen.» Er tätschelte ihren Schenkel.

«Was soll das denn mit diesem ‹alten Mädchen›?» Der Himmel hinter dem dschungelartigen Blumenfenster leuchtete korallenrot.

«Ich habe den Ausdruck letzte Woche in einem britischen Roman gelesen. Ich dachte, es würde dir helfen, weniger Heimweh nach deinem Vaterland zu haben.»

«Es ist etwa dreißig Jahre her, daß ich dieses Land das letzte Mal vermißt habe. Inzwischen bin ich genauso wie der Rest von euch heimatlosen amerikanischen Gesellen.»

«Wenn wir heimatlosen amerikanischen Gesellen nicht gewesen wären», sagte Arthur, «dann spräche dein Volk jetzt deutsch.»

Sie lachte und trank ihren Gin, während dunkelviolette Streifen sich strahlenförmig über dem korallenroten Himmel ausbreiteten.

«Ich habe mich gerade mit Joanna auf ein Glas Wein getroffen.»

«Wie geht es ihr?»

«Gut, glaube ich. Sie erzählt mir sowieso nichts. Außer, wie ich meine Pension anlegen soll.»

«Kein Grund zur Klage.»

«Aber ich will den Tratsch hören.»

«Da mußt du wohl auf deine Klienten zurückgreifen.»

«Aber wozu hat man erwachsene Kinder, wenn sie einem nicht den ganzen Schmus erzählen?»

Arthur lachte. «Hast du deswegen Kinder bekommen? Da wäre es billiger gewesen, den National Enquirer zu abonnieren.»

Hannah lächelte gequält und nahm seine Hände in die ihren. «Nein, deswegen habe ich sie nicht bekommen.» Sie betrachtete Arthurs sommersprossige Hand und dachte daran, wie sanft er jedes neugeborene Kind hielt, eine Hand unter dem Kopf und den Schultern, die andere unter dem Po und den Schenkeln, und wie er voll staunender Bewunderung in die dunkelblauen Augen schaute. Er nahm die Babies mit in die Badewanne, seine großen Hände 162wiegten die winzigen Körper und bewegten sie zart im Wasser hin und her. Sie war manchmal plötzlich eifersüchtig, wenn sie den zärtlichen Ausdruck auf seinem Gesicht sah. Er hatte bei seiner ersten Produktion so viel verpaßt – mit seinem Beruf beschäftigt, weg im Krieg, heimlich mit Hannah unterwegs – und war entschlossen, es beim zweitenmal richtig zu machen.

Während sie seine Hand streichelte, überlegte sie, wie viele ihrer Klienten dachten, alles wäre in Ordnung, wenn sie nur den richtigen Partner finden könnten. Man mußte eine ganze Weile mit dem richtigen Partner zusammensein, um herauszufinden, daß damit die Schlacht erst halb gewonnen war. Als nächstes mußte man lernen, wie man ihn gehen ließ, wenn die Zeit dazu kam. Sie war in dieser Hinsicht noch im Kindergarten.

2

«Ich habe Linsensuppe und Roggenbrot gemacht», ließ Caroline von ihrer Wohnung aus Diana telefonisch wissen. «Möchtest du was?» Sie hatten sich kaum gesehen, seit Diana aus Poughkeepsie zurück war. Außer, um spröde, feindselige Nachfragen nach dem jeweiligen Silvesterabend auszutauschen. Bei Diana war er offensichtlich ein Erfolg gewesen, und Caroline war sicher, daß dies ein New Yorker Hotelzimmer einschloß. Sie stellte ihren Abend mit Brian als ähnlichen Erfolg dar. Und Brians Telefonanrufe und seine Umwege über die Unfallstation an ihrem Schreibtisch vorbei schienen ihre Geschichte zu bestätigen. Heute erschien er in hellblauem Operationskittel und überreichte ihr wortlos eine einzelne gelbe Rose in einer Urinflasche. Diana, die ebenfalls hinter dem Schreibtisch saß, bemerkte es ganz betont nicht.

Diana zögerte. «Meinst du, wir sollten?»

«Haben wir nicht lange genug eine Radikalkur gemacht?»

Caroline setzte sich auf den graukarierten Sessel neben dem Telefontischchen und trank einen Schluck von ihrem Wein.

«Mein Gott, ich könnte es nicht aushalten, wenn wir wieder mit dem ganzen alten Mist anfangen würden.»

«Ich auch nicht. Aber gehen wir mal davon aus, daß wir das nicht 163tun.» Sie hatten versucht, alles füreinander zu tun, und jetzt waren sie dazu übergegangen, nichts mehr füreinander zu tun. Es mußte doch einen goldenen Mittelweg geben. Sie hatten seit Wochen nicht mehr gemeinsam gegessen.

«Also gut. Ich komme runter. Aber nur, wenn ich den Salat mitbringen kann.»

«Genehmigt, Schätzchen.»

Die Jungen und Sharon tunkten ihr Roggenbrot in die Suppe und schufen einen Morast auf dem rostfarbenen Tischtuch, das Caroline gewoben hatte, als sie mit David Michael in der Somerville-Kommune lebte. Brians gelbe Rose stand in ihrer Urinflasche mitten auf dem Tisch, flankiert von zwei Bienenwachskerzen. Diana vermied es sorgfältig, die Existenz dieser Rose anzuerkennen.

«In meinem Kühlschrank ist Schokoladeneis», sagte Diana zu den Kindern. Sie trug einen grauen Trainingsanzug und ein grünes Stirnband aus Frottee: Sie war gerade von einer Racketballniederlage gegen Suzanne zurück. Ihre roten Haare waren stachelig von verklebtem Schweiß.

«Mensch, Klasse!» sagte Jason. Sie rasten nach oben mit einem Getöse, das wie ein kleineres Erdbeben klang.

«Ich tue alles, damit sie nur nicht im gleichen Zimmer sind wie ich», sagte Diana, schob ihren Stuhl zurück und streckte die Beine aus.

«Meine Güte», sagte Caroline, stützte den Ellbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Hand. «Es ist, als hätte man eine ganze Kuhherde im Haus.»

Diana lächelte säuerlich. «Du bist guter Laune. Ich wette, du warst heute bei Hannah?»

«Stimmt.» Caroline ignorierte den unangenehmen Unterton in Dianas Stimme. «Möchtest du einen Kaffee?»

«Ich mache welchen.» Diana stand auf.

«Ich mache welchen. Du bist hier zu Gast.»

«Ich dachte, wir wollten dieses Theater nicht wieder anfangen.»

«Meinetwegen, mach du welchen.» Caroline ließ sich in ihren Stuhl mit der Holzlehne zurücksinken.

«Was gibt's Neues, schöne Unbekannte?» Diana maß die Kaffeebohnen ab.

«Zeugnisse. Hast du sie gesehen?»

164

«Ja, ziemlich schlecht. Aber wenn wir ihnen Hausarrest geben, dann sind sie uns nur noch mehr im Weg, und wir sind selbst auch eingesperrt.»

Caroline lächelte. «Warum sagt einem vorher kein Mensch, was es wirklich heißt, Eltern zu sein?»

«Die Gattung wäre vom Aussterben bedroht.» Diana mahlte die Kaffeebohnen mit der Handmühle.

«Hannah und ich haben heute über Rorkie gesprochen, meine Freundin von der High School.» Der Kessel begann zu pfeifen, wie eine Fabrik um zwölf Uhr mittags.

«Von der habe ich noch nie etwas gehört», sagte Diana und goß Wasser in den Filter.

«Sie hatte mich längst abblitzen lassen, als ich dich kennengelernt habe.»

«Dich abblitzen lassen?» Diana reichte ihr einen braunen Becher mit Katzen drauf.

«Ja, ja, meine Weihnachtskarte war zu protestantisch, also haben sie und ihre Freundinnen unseren Garten mit Klopapier überzogen.»

Diana verschluckte sich an ihrem Kaffee. Caroline grinste. Aber sie hatte es nicht lustig gefunden, als sie an jenem Morgen aus ihrem Schlafzimmerfenster schaute und das Klopapier in den knospentreibenden Ulmenzweigen sah. Auf dem Rasen vor dem Haus war mit Klopapier CITIZENSHIT-PREIS geschrieben. «Rorkie hat Caroline ausgerollt», summte es durch die Flure im Schulhaus. Caroline überzeugte die Schulschwester davon, daß sie krank sei. Sie ging zu Fuß nach Hause und verbrachte den Nachmittag damit, das Klopapier aus den Bäumen zu zerren. Es kam ihr vor wie das Ende der Welt. Nur langsam wurde ihr klar, daß die Welt nicht so ohne weiteres zu Ende ging.

«Was denkst du, wo sie jetzt steckt?» Diana legte das Kinn auf die Faust und schaute Caroline mit ihren grünen Augen an.

«Sie hatte vermutlich zwölf Kinder und eine Hysterektomie.»

«Vielleicht hat sie die Klopapierverteilung für alle Bostoner Toiletten unter sich.»

«Hoffen wir jedenfalls, daß sie unglücklich ist.» Es klang, als würde Sharon oben Jasons Kopf auf den Hirtenteppich schlagen. Er schrie Ausdrücke, die Caroline noch nie gehört hatte.

«Wie könnte jemand wie sie auch glücklich sein? Stell dir mal 165vor, wie es in ihrem Kopf aussehen muß, wenn es ihr solches Vergnügen macht, andere zu quälen.»

«Ja. Ich nehme an, Bosheit ist ihre eigene Strafe.» Caroline verschränkte die Arme vor dem Bauch und dachte daran, wie Rorkie eines Nachmittags mit einem riesigen veilchenblauen Mal auf der Backe beim Aufgabenmachen gesessen hatte. Caroline schob ihr einen Zettel zu mit der Frage: «Was ist mit deinem Gesicht passiert?» Rorkies Antwort lautete: «Mein Vater hat mich mit einer Whiskyflasche geschlagen.» Nach einer Weile schob ihr Caroline einen Zettel zu, auf dem stand: «Das tut mir leid.» Rorkies Antwort: «Ich bin daran gewöhnt.» Caroline wandte Hannahs Formel an und merkte, daß Rorkie ihre Klassenkameraden so behandelte, wie sie selbst behandelt worden war.

«Ich bekomme langsam das Gefühl, daß es meine Schuld war, weil ich so privilegiert war und sie nicht.»

«Das ist die verdrehteste Logik, die ich je gehört habe. Du mußt für Hannah eine echte Herausforderung sein.»

«Vermutlich.» Da war wieder dieser angespannte Unterton in Dianas Stimme. Diana sagte, sie sei eifersüchtig, weil Hannah Caroline aufheiterte. Aber Diana wollte doch bestimmt nicht, daß es ihr weiterhin schlechtging, nur damit sie nicht eifersüchtig sein mußte? Caroline begann zu überlegen, was Hannah von ihr hielt – daß sie eine arme Irre sei? Mochte Hannah sie als Mensch, oder machte sie eben ihre Arbeit?

«Erinnerst du dich, wie wir uns das allererste Mal gesehen haben?» fragte Diana, als Caroline aufstand, um Kaffee nachzugießen.

«Ja, wir schauten zu, wie Arlene eine Patientin im Bett wusch, oder? Und sie sagte, wenn ein männlicher Patient dabei eine Erektion bekäme, dann sollten wir mit einem Löffel draufhauen.» Caroline lachte in sich hinein und stellte sich Arlene vor, groß und kompakt wie ein Elefantenbein, mit einem dicken Haarzopf, der zu einem Dutt gewunden war und auf ihrem Kopf saß wie ein Kuhfladen.

«Ja, und du und ich, wir platzten heraus vor Lachen, und alle anderen schauten uns an, als seien wir Verbrecher.»

Caroline erinnerte sich daran, wie Diana damals ihren Rotschopf zurückwarf, die Augen schloß und ein heiseres Lachen von sich gab. Und Caroline wußte, daß sie ihre Freundin sein wollte. Nach 166dem Unterricht hingen beide auf dem Flur herum, in der Absicht, eine Begegnung zu inszenieren. Sie gingen zum Mittagessen, und Caroline verschüttete ihren Kaffee auf dem Resopaltisch in der Cafeteria, vor Belustigung über das Bettbad. Diana hielt grüne Weintrauben in der Hand wie einen Schlagball. Ab und zu führte sie die ganze Traube zum Mund und nahm eine einzelne Beere zwischen die Lippen. Caroline war entzückt, denn sie hatte noch nie jemanden Trauben auf diese Art essen sehen. «Ich habe dich wahrscheinlich gleich von diesem Mittagessen an geliebt.»

«Und das war gegenseitig. Aber du warst völlig verrückt nach Arlene, vergiß das nicht. Du hast fast deine ganze Freizeit damit verbracht, ihr Auto zu polieren, wenn ich mich recht entsinne.»

Oben wurde eine Tür so stark zugeschlagen, daß das ganze Haus zitterte. Jason schrie: «Das erzähl ich Mama!»

«Bitte nicht», sagte Caroline und schloß flehend die Augen. Sie und Diana tauschten verständnisvolle Blicke aus. Was hätte sie all die Jahre über getan, ohne Diana als Mit-Mutter?

«Ich war verrückt nach Arlene. Aber anders als nach dir – zum einen, Arlene lachte nicht oft.»

«Allerdings. ‹Meine Damen, Sie haben eine Mission.› Erinnerst du dich? Aber ich war immer wahnsinnig eifersüchtig. Auf euch beide wahrscheinlich.»

«Na ja, die Mühe hättest du dir sparen können.» Caroline sah Arlene vor sich, ihr Volumen und ihren Dutt, ihren grimmigen Mund, der sich wie eine Schnittwunde öffnete, um in breitem Boston-irischem Akzent zu verkünden: «Meine Damen, Sie haben eine Mission: menschliches Leiden zu lindern. Meine Mission ist es, Ihnen zu zeigen, wie.» Caroline schwebte durch die Tage des Nachttöpfeleerens, Verbändewechselns und Bettenmachens auf Flügeln der Berufung: Wenn sie selbst die Atomkatastrophe überlebte, dann würde sie zu den wenigen Menschen der postnuklearen Welt gehören, die wußten, wie man andere rettete. Sie würde ihre Verbrennungen salben, ihre klaffenden Wunden nähen, ihnen den Schweiß von der Stirn wischen, während sie an der Strahlenkrankheit zugrunde gingen.

Dann fiel ihr wieder ein, wie sie das letzte Mal mit Arlene gesprochen hatte, in einem Café bei einem Pastrami-Sandwich. Arlene sagte: «Ich weiß nicht, was Sie von mir wollen, Caroline, aber Sie müssen es anderswo suchen. Ich habe sehr viel zu tun.»

167

Das warme Gefühl, das Caroline von dem Essen mit Diana hatte, begann zu schwinden, wie wenn der Kiefer von einer Zahnarztspritze langsam taub wird.

«Ich wüßte gerne, was sie jetzt so treibt», sagte Diana, und ihre grünen Augen ließen sich endlich wie zwei Fliegen auf Brians gelber Rose nieder.

«Weiß der Himmel. Vermutlich zieht sie immer noch junge Missionarinnen heran.»

«Du klingst so bitter.»

«Das wollte ich nicht. Sie war nett zu mir. Jedenfalls bis es aufhörte.» Caroline betrachtete ihre Hände. Sie mußte sich die Nägel schneiden. Nein, das mußte sie nicht. Sie schnitt sie kurz, um Diana nicht weh zu tun, wenn sie sich liebten. Aber das taten sie ja nicht mehr. Sie konnte ihre Nägel so lang wachsen lassen wie Brieföffner. Das taube Gefühl breitete sich über ihr Gesicht aus. Ihr Magen verkrampfte sich zu einer Faust.

Es ist vorüber, sagte Caroline zu sich selbst. Wie Marshas Lächeln, wie Rorkies Klopapier, so war Arlene längst vorbei. Die Liebe mit Diana war zu Ende. Nach Hannahs Ansicht setzte sie jedoch diese schmerzlichen Erinnerungen ein, um sich in der Gegenwart elend zu fühlen. Entschlossen schickte sie Arlene mit ihren weißen Strümpfen und ihrer sich bauschenden weißen Uniform weg, wie auch jene Diana, die im Bett nackt auf dem Rücken lag und die Hand nach Caroline ausstreckte. Statt dessen beschwor sie das Bild von heute nachmittag herauf, als ihre und Hannahs Augen sich in Belustigung begegneten. Sie lächelte schwach, und das taube Gefühl hielt in seinem Vormarsch inne. Wie eine dösende Autofahrerin, die sich aufwecken will, schüttelte sie abrupt den Kopf.

«Was ist so lustig?» fragte Diana.

«Heute nachmittag habe ich mich bei Hannah darüber geklagt, daß ich in der Schule nicht im Basketballteam war. Und sie sagte: ‹Es ist noch nicht zu spät für eine Karriere als Basketballstar. Warum heuern Sie nicht eine Menge kleiner Leute an?›»

Diana lächelte. «Sie ist wohl ziemlich witzig.»

«Habe ich dir erzählt, daß zwei ihrer Kinder im Schlaf an Kohlenmonoxydvergiftung gestorben sind?»

«Mein Gott, wie entsetzlich.» Diana löste ein Stück Wachs von einer Kerze ab und schmolz es in der Flamme. «Ich kann mir nicht vorstellen, wie eine Mutter so was überlebt.»

168

Von oben kam ein lautes Krachen und das Geräusch rennender Füße. «Ich könnt's dir vormachen», brummelte Caroline.

«Du bist unmöglich.» Diana versuchte, nicht zu lächeln. Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf Brians Rose. «Drängt sie dich dazu, mit Männern auszugehen?»

Caroline schaute Diana an. «Sie drängt mich zu überhaupt nichts. Außer dazu, mich besser zu fühlen.»

«Bist du schon in sie verliebt?»

Caroline sagte nichts und machte ein ausdrucksloses Gesicht.

«Komm, ich habe auch eine Therapie gemacht. Ich weiß, wie das funktioniert. Du verliebst dich in die Therapeutin und machst jede ihrer Bewegungen nach.»

«Was geht dich das überhaupt an? Ich dachte, wir hätten keine solche Beziehung mehr. Ich dachte, du hättest eine neue Kindsbraut.» Sie knallte den Katzenbecher lauter als beabsichtigt auf den Tisch und verschwappte den Kaffee auf das rostfarbene Tischtuch.

Diana senkte die Augen, dann versuchte sie, mit den Schultern zu zucken. «Na ja, es geht mich eigentlich wirklich nichts an. Ich kann es nur nicht ausstehen mitzuerleben, wie du diesen armen Mann an der Nase herumführst. Schließlich bin ich schon mit dir ins Bett gegangen, Caroline. Und du bist keine Heterofrau.»

«Ich bin sicher, Brian wüßte deine plötzliche Anteilnahme zu schätzen.» Caroline hielt eine Kerze schräg, um Wachs an der Seite heruntertropfen zu lassen.

«Jetzt wirst du sarkastisch. Aber du solltest dir schon Gedanken darüber machen. Weil du nämlich nicht fair zu ihm bist. Du gebrauchst ihn nur, während du versuchst, Hannah zu parodieren.» Diana hielt ihre Kerze ebenfalls schräg und formte das Wachs zu einer kleinen Kugel. «Was findest du überhaupt an ihm?»

«Er ist nett, Diana. Er ist sanft, nachdenklich und attraktiv.»

Diana schaute sie ironisch an. «Er ist ein Mann, oder?»

Caroline senkte den Kopf, die Arme auf dem rostbraunen Tischtuch ausgebreitet. «Es ist einfacher, Diana. Ich werde älter. Ich bin nicht sicher, ob ich die Belastung, die Gesellschaft herauszufordern, noch aushalten kann.» Ihre Stimme klang müde.

«Ist es einfacher, dein wahres Ich zu verleugnen? Ist es das, was Hannah dir beibringt?»

«Wer sagt, daß mein wahres Ich schwul ist?» Caroline blickte auf, die Augen verengt vor Schmerz.

169

Diana starrte sie an. «Hör zu, Schätzchen, du hast mich da reingezogen.»

«Ja, und du mußtest erst noch lange überredet werden.» Caroline starrte zurück und dachte daran, wie sie sich das erste Mal geliebt hatten – auf dem Hirtenteppich in Dianas Wohnzimmer, spät abends nach zwei Flaschen Wein, nachdem sie sich wochenlang bemüht hatten, die Hände voneinander zu lassen. Morgen früh können wir alles auf den Wein schieben, hatte Caroline damals gedacht, als sie ihre Zunge in Diana begrub und spürte, wie Dianas Hände ihren Kopf festhielten, um sie daran zu hindern, es sich anders zu überlegen. Aber Diana hatte recht. Sie hatte mehr Erfahrung gehabt. Sie hatte vermutlich eine gewisse Verantwortung. Aber verdammt noch mal, Diana stand jetzt auf eigenen Füßen.

«Weißt du», sagte Caroline, «jedesmal, wenn du Hannahs Namen aussprichst, ist eine gewisse Spannung in deiner Stimme. Ich frage mich oft, ob du wirklich willst, daß es mir besser geht.»

Ein langes Schweigen trat ein, nur durch Jackies Nachahmung eines Maschinengewehrs oben unterbrochen. Diana hatte noch mehr Wachs gesammelt und formte es zu verschieden großen Kugeln. Sie schaute auf, ihre grünen Augen funkelten im Kerzenlicht. «Merkst du denn nicht, daß ich Angst habe?»

«Wovor?»

«Wenn Hannah dir hilft, daß du siehst, was für eine tolle Frau du bist, warum solltest du dann noch mit mir zusammensein wollen?»

Caroline wurde von Gefühlen überflutet. «Weil ich dich liebe, Diana.» Sie sahen sich mit der gleichen Intensität in die Augen, wie wenn sie sich liebten. Diana streckte beide Hände aus und ergriff eine von Carolines Händen.

«Du kannst dir nicht vorstellen, daß ich mit dir zusammensein will, es sei denn, ich brauche dich?» fragte Caroline.

Diana schüttelte langsam den Kopf.

«Da haben wir mal wieder die Krankenschwester», sagte Caroline sanft und legte ihre andere Hand zu der Ansammlung auf dem Tisch. «Diana, glaubst du, daß wir wieder miteinander schlafen werden?»

Diana sah beunruhigt aus. «Bei uns würde mich nichts mehr wundern. Wir haben alle erdenkbaren Wandlungen durchgemacht.»

«Also, ich würde es gerne», sagte Caroline. «Mich öden diese 170Spielchen an.» Da. Sie hatte es gesagt. Sie spürte, wie sich ihre Schultern verspannten. Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben.

«Damit steht das Abstimmungsergebnis zwei zu null.» Diana sah erfreut aus. «Wenn jetzt nur unsere Gehirne still wären und unsere Körper tun ließen, was sie so gut können.» Sie fügte hinzu: «Bitte, schreib mich nicht ab, Liebling. Die Sache mit Suzanne geht vorüber.»

«Ich würde dich abschreiben, wenn ich es könnte», sagte Caroline und schaute in die Kerzenflamme. «Aber offensichtlich wirst du mich nicht los.»

«Gut.»

«Für wen?» Sie schaute Diana plötzlich kampflustig an.

«Sieh mal, du hast Hannah, an die du dich anlehnen kannst. Wen habe ich denn?»

«Suzanne, wie es scheint.»

«Sie ist jung. Sie wird sich auf die Socken machen.»

«Ach, wie schön. Und dann kann ich dich wiederhaben?»

«Keine Versprechungen.»

«Du kannst mich mal.» Caroline stand auf, um das Geschirr abzuwaschen. War das wirklich alles, überlegte sie, als sie Wasser in das Spülbecken laufen ließ und Dianas Versuch, die Teller abzukratzen, abwehrte. Um das zu bitten, was du möchtest? Es schien zu einfach. Was wäre, wenn Diana gesagt hätte: Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben? Aber das hatte sie nicht gesagt, merkte Caroline, und ein Lächeln breitete sich über ihrem Gesicht aus und vertrieb die restliche Taubheit.

 

Hannah saß auf ihrem Stuhl, die Füße in Strümpfen auf dem Fußschemel, als Caroline hereinkam und ihr einen Laib Roggenbrot überreichte, in Plastikfolie eingewickelt. Hannah schaute das Brot an.

«Ich habe es gebacken.»

«Danke», sagte Hannah und warf es hinter sich auf den Schreibtisch, zu den Büchern, Papieren und Kaffeetassen. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, daß sie nicht wärmer auf dieses Brot reagierte, das so gut aussah. «Setzen Sie sich.»

Caroline setzte sich. Es hatte drei Stunden gedauert, das Brot zu backen. Sie hatte Hannah den vollkommensten der Laibe gegeben.

171

«Was gibt's Neues?» Hannah faltete die Hände hinter dem Kopf, die Ellbogen nach außen.

«Nicht viel.» Caroline verschränkte die Arme vor der Brust. Sie ärgerte sich, daß sie sich die Mühe mit dem verdammten Brot gemacht hatte. Im Tschad verhungerten Kinder, und Hannah schob es beiseite, ohne es eines zweiten Blickes zu würdigen. Sie war nichts als eine verwöhnte Amerikanerin. Abgesehen davon, daß sie Engländerin war …

«Wie war Ihre Woche?» fragte Hannah.

«Ganz gut.»

Hannah beugte sich vor, um sich eine Zigarette anzuzünden, inhalierte tief, dann betrachtete sie die dünne braune Zigarette. All die Mühe, die sie darauf verwendete, ihren Klienten zu helfen, ihre Gewohnheiten zu durchbrechen, wie zum Beispiel bei Caroline die Gewohnheit, daß sie versuchte, Leute zu kontrollieren, indem sie für sie sorgte. Und warum schaffte sie es bei sich selbst nicht?

Caroline schaute auf den Sofabezug aus Tweedstoff, betrachtete das Webmuster und fühlte sich gedemütigt. Vielleicht buk Hannah selbst Tag und Nacht Brot. Vielleicht ertrank sie in altem, verschimmeltem Brot von anderen Klienten. Vielleicht war sie allergisch gegen Roggen.

«Was ist los?» fragte Hannah und dachte daran, wie sie Maggie einmal ein Sandwich mitgebracht hatte. Roastbeef auf Vollkornbrot, mit russischer Salatsauce, grünem Salat und Zwiebeln. Sie hatte stundenlang versucht zu entscheiden, was Maggie wohl gerne mochte. Maggie schaute das Sandwich lange an. Dann setzte sie ihre Brille auf, die sie an einer Kette um den Hals trug, schaute auf und fragte: «Und was soll ich damit machen?» Hannah war genauso perplex gewesen, wie Caroline jetzt aussah.

«Essen Sie nicht gerne Roggenbrot?»

«Ich darf es nicht essen. Ich halte Diät. Aber Arthur ißt es bestimmt sehr gerne.»

«Wer ist Arthur?»

«Mein Mann.»

Caroline starrte sie an. Sie hatte das Brot nicht für irgendeinen Widerling von Mann gebacken. Mein Gott, was für schlechte Manieren. Sie könnte wenigstens so tun, als würde sie sich freuen.

«Was haben Sie gedacht, daß ich sagen würde?»

«Ich dachte, Sie würden sich freuen.»

172

Hannah zuckte mit den Schultern. «Und jetzt sind Sie empört, weil ich mich nicht freue?»

«Wer ist empört?» Sie studierte aufmerksam ihre Handfläche und betrachtete den Punkt, an dem ihre Lebenslinie geheimnisvoll in verschiedene Richtungen auseinanderlief.

«Sie.» Hannah lachte. «Sie sollten Ihren Gesichtsausdruck sehen. Sie sehen aus, als hätte Ihnen jemand Ihren Lutscher weggenommen.»

Caroline schaute auf. Sie war 35 Jahre alt, verdammt noch mal. Hannah fand, sie sei kindisch? Wie erwachsen war es denn, so unhöflich zu sein? Sie betrachtete Hannahs Gesicht – freundlich, mit einem leicht ironischen Lächeln – und dachte daran, daß Hannah ja die Absicht hatte, ihr zu helfen. «Ich komme mir vor wie ein Idiot.»

«Sie kommen sich idiotisch vor, weil ich nicht so reagiert habe, wie Sie wollten. Sie wollen meine Reaktion kontrollieren, damit Sie mit sich selbst zufrieden sein können. Wäre es nicht einfacher, mich einfach auszulassen und mit sich zufrieden zu sein, ohne Bezug auf das, was ich mache oder nicht mache?»

«Scheiße noch mal, Hannah! Warum müssen Sie alles immer so aufbauschen? Ich wollte nur was Nettes tun.»

«Oh, oh, so wie Sie und Diana nett zueinander sind? Versuchen, einander durch Nettigkeit auszustechen?»

Caroline klammerte sich an der Couch fest und sah aus, als wollte sie gleich das ganze Zimmer zerfetzen. Hannah war beeindruckt. Was war aus der schwachen Frau geworden, die ihr all die Wochen gegenübergesessen hatte? «Sehen Sie – Sie bringen mir einen Laib Brot mit. Dann bringe ich Ihnen einen Schweinebraten. Dann bringen Sie mir eine Schwarzwälder Kirschtorte, und ich bringe Ihnen einen englischen Pudding …»

Caroline lächelte zögernd. «Okay, ich verstehe, was Sie meinen.»

«Aber danke schön für das Brot.» Hannah griff hinter sich und tätschelte den Laib liebevoll.

«Bitte schön. Lassen Sie es sich gut schmecken, denn Sie bekommen keines mehr.»

Sie lachten. Hannah stellte den steinernen Aschenbecher auf ihren Schoß. Caroline hielt sich nicht mehr so krampfhaft an der Couch fest und streckte ihre Levis-Beine aus. Ihre Snowboots wirkten so schwerfällig wie die eines Astronauten.

173

«Was haben Sie die Woche über gemacht, außer Teig kneten?» fragte Hannah und zog an ihrer Zigarette.

«Ich habe viel über eine Lehrerin an der Schwesternschule nachgedacht. Sie hieß Arlene.» Caroline schaute aus dem Fenster und konnte durch den wirbelnden Schnee Lake Glass kaum sehen. Es war, als würde sie in einen Papierbeschwerer schauen.

«Ach ja?»

«Ich nehme an, man könnte sie meine Mentorin nennen. Ich fand sie phantastisch – als Krankenschwester und als Mensch. Ich dachte, wenn ich sie nachmachte, dann wäre ich auch phantastisch. Sie war riesig – groß, grobknochig, entschlossen, mit einem enormen Dutt auf dem Kopf. Sie sagte immer: ‹Meine Damen, Sie haben eine Mission.›»

«Hatten Sie eine Beziehung mit ihr?»

Caroline zögerte. «Sie meinen, eine sexuelle?»

Hannah nickte.

«Ach, nein. Ich meine, sie war zwanzig Jahre älter als ich.»

Na und? dachte Hannah.

Hannah ja auch, merkte Caroline. Und sie hatte sich gewünscht, ihren Kopf an Hannahs Brust zu legen, Hannahs Arme um sich zu spüren. Sie erinnerte sich daran, wie sie es darauf anlegte, während der Übungsstunden in Arlenes Nähe zu stehen; sie dachte an die prickelnde Aufregung, wenn Arlenes Hände die ihren korrigierten, wenn sie einen Verband wechselte.

Caroline sagte mit benommener Stimme: «Jetzt, da Sie es erwähnen – ich wäre mit ihr ins Bett gegangen. Aber ich war damals nicht lesbisch. Und sie auch nicht, soviel ich weiß.» Daß sie gerne mit Arlene geschlafen hätte, lag so fern, daß es ihr bisher nicht einmal in den Sinn gekommen war. Es hätte ihr bei dieser bürgerlichen, Bridge spielenden Nicht-Lesbe noch ferner vorkommen sollen.

«Was passierte also?»

Caroline beschrieb ihre Abschlußprüfung und Arlenes offensichtliche Freude darüber, daß Caroline einen Job am Massachusetts General Hospital bekommen hatte. Zuerst machte sich Caroline Sorgen, Arlene würde vielleicht das Interesse an ihr verlieren, wenn sie nicht mehr da war, um Arlenes VW zu polieren und ihre Bleistifte zu spitzen. Die Schwesternschule lag auf dem Weg zwischen Carolines Wohnung und dem Krankenhaus, also besuchte sie Arlene jede Woche oder alle vierzehn Tage in ihrem Büro in dem 174alten Sandsteingebäude in der Commonwealth Avenue. Meistens war eine mürrische junge Frau namens Dusty da, zwei Ausbildungsjahrgänge unter Caroline; manchmal spitzte sie gerade die Bleistifte. Caroline und Arlene unterhielten sich eine Weile und verabschiedeten sich dann mit dem Versprechen, bald einmal gemeinsam essen zu gehen. Caroline machte ihren Job gut. Sie fühlte sich wie eine Karatemeisterin, bereit, mit allen Schrecken fertig zu werden, die durch die Türen der Unfallstation hereinrollten. Gute Übung für einen Atomkrieg. Sie wurde schnell befördert. Sie fuhr bei Arlene vorbei, um es ihr zu erzählen und um eine Zeit und einen Ort für das lang geplante Essen vorzuschlagen, denn sie fühlte sich mutig, weil sie ja jetzt Kolleginnen waren und der Aufgabe, menschliches Leiden zu lindern, gemeinsam nachkamen.

Sie trafen sich eines Nachmittags nach der Arbeit in einem Café in der Nähe des Krankenhauses. Arlene ließ ihr riesiges Knochengestell auf einem kleinen Bentwood-Stuhl nieder und spielte mit Fingern, die wie Würstchen aussahen, mit ihrer Gabel. «Sehen Sie, Caroline, ich weiß nicht, was Sie von mir wollen», sagte sie. «Aber Sie müssen es anderswo suchen. Ich habe sehr viel zu tun.»

Caroline starrte sie an.

«Sehen Sie mich nicht so an.» Arlene tätschelte ihren riesigen Dutt, zog ein paar Haarnadeln heraus und steckte sie wieder in die Haare.

«Wie?» fragte Caroline mit matter Stimme. Sie hatte recht: Wenn sie nichts für Arlene tat, konnte Arlene sie nicht brauchen.

«Sie haben aus dieser Beziehung einiges herausgeholt. Sie haben diesen tollen Job am Mass General.»

«Das war bestimmt sehr schmerzlich», sagte Hannah.

Caroline spürte, wie sie starr wurde. Sie konnte sich nicht erinnern, überhaupt etwas gefühlt zu haben.

«Caroline, wer sonst in Ihrem Leben hat immer gesagt: ‹Ich habe sehr viel zu tun›?»

Caroline runzelte die Stirn.

Hannah wollte ihr gerne einen kleinen Hinweis geben, als spielten sie «Ich seh etwas, was du nicht siehst …».

«Ich geb auf», sagte Caroline mit flacher Stimme.

Hannah seufzte. Warum dauerte das alles so lange? «Ich habe den Eindruck, als wäre das die Botschaft, die Ihnen Ihre Eltern immer vermittelt haben.»

175

Caroline runzelte wieder die Stirn.

«Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, daß Sie Leute auswählen, weil sie diese Botschaft vermitteln? Und wenn sie es nicht tun, daß Sie dann versuchen, die Leute dahingehend zu manipulieren?»

«Was?»

Hannah merkte, daß sie zu schnell vorging, und überlegte, wie sie einen Rückzieher machen könnte.

«Aber mir war dieser Job doch scheißegal», sagte Caroline und ersparte Hannah damit die Mühe. «Ich hatte das alles nur gemacht, um ihre Freundschaft wirklich zu verdienen. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie das nicht wußte.»

«Haben Sie gehört, was Sie gerade gesagt haben?» Hannah setzte sich anders hin und stützte eine Hand auf die Armlehne auf.

«Ja. Ich meine, nein. Was?» Caroline kniff vor Konzentration die Augen zusammen.

«Sie haben das Gefühl, Sie müssen herausfinden, was die Leute wollen, und es dann tun, damit die andern Sie mögen.»

«Habe ich das gesagt?»

«So hat es für mich geklungen.»

«Vielleicht.»

«Sehen Sie, wo das herkommt?» Sie konnte es doch nicht noch länger nicht merken? Ungeduldig zündete Hannah sich noch eine Zigarette an.

«Von meinen Eltern?»

Hannah nickte zustimmend. Sie merkte, daß sie, wenn Caroline eine falsche Vermutung geäußert hätte, keine Reaktion gezeigt hätte, was in sich ja schon eine Reaktion war. «Sie sagen, daß Sie in der Schwesternschule und bei Ihrem Job gut waren, nur um Arlene eine Freude zu machen. Aber ich habe den Verdacht, daß Sie auch Ihre eigenen Gründe hatten. Mein Eindruck ist, daß Sie schon immer kompetent und durchsetzungsfähig gewesen sind.» Caroline blinzelte. Diese Einschätzung paßte eindeutig nicht in das Bild, das sie von sich selbst hatte, in das Bild einer chaotischen Versagerin. «Haben Sie das dann mit Arlene so belassen?»

«Ich sagte: ‹Aber ich dachte, wir könnten Freundinnen sein, wenn ich einmal nicht mehr Ihre Schülerin wäre.› Und sie sagte: ‹Das Verhältnis zwischen uns beiden ist schon seit langem schlecht.› Das war mir völlig neu. Mein Gott, ich habe diese Frau angebetet. Wir aßen unsere Pastrami-Sandwiches auf. Draußen auf der Straße 176sagte ich: ‹Danke für all Ihre Hilfe.› Sie sagte: ‹Keine Ursache.› Und stieg in den Bus. Ich übergab mich in den Gully und ging zu Fuß nach Hause. Das war das letzte Mal, daß wir miteinander gesprochen haben.»

Caroline schaute zu den Papiertaschentüchern auf der Kommode. Wieder eine neue Schachtel. Hier wurde offensichtlich viel geweint. Caroline würde sich hüten zu weinen. Sie beschrieb Hannah, wie sie mehrere Wochen lang jeden Tag nach der Arbeit gegenüber von Arlenes Bürofenster im zweiten Stock in einem Hauseingang stand und Arlene hinter ihrem Schreibtisch beobachtete, während Schwesternschülerinnen kamen und gingen. An einem Abend machte sich Caroline – die Augen immer auf Arlene in ihrem Büro gerichtet – an Arlenes VW heran und schaute hinein. Auf dem Sitz stand eine Schachtel mit gelben Papiertaschentüchern. Die Tür war offen, also packte Caroline die Schachtel und verschwand wieder in dem Hauseingang. Arlene stand auf und ging zum Fenster. Als sie so in die Dämmerung hinausblickte, über den Berufsverkehr auf der Commonwealth Avenue hinweg, sah sie müde und traurig aus. Sie verschränkte die Arme vor dem Bauch. Sie ließ die Schultern und den Kopf hängen. Vielleicht vermißte sie Caroline genauso sehr, wie Caroline sie vermißte? Caroline unterdrückte das Verlangen, nach oben zu laufen und ihr Witze zu erzählen.

Arlene schien leicht zusammenzuzucken. Ihre Arme fielen herunter. Ihr Rücken und ihr Kopf richteten sich gerade auf. Sie lächelte. Dusty erschien neben ihr, aufgeregt gestikulierend. Sie drehten sich um und verließen das Büro. Kurz darauf kamen sie aus dem Gebäude und gingen zum VW; Dusty redete und gestikulierte, Arlene lächelte. Als sie wegfuhren, zog Caroline ein gelbes Taschentuch aus Arlenes Schachtel und versuchte zu weinen. Aber die Tränen kamen nicht. Am nächsten Tag stahl sie ein paar Pillenflaschen aus dem Vorratsschrank des Mass General. Sie stellte sie auf der Kommode in ihrer Wohnung auf und starrte sie jeden Morgen an, um zu entscheiden, ob sie noch einen Tag weiterleben sollte. Wenn sie nicht der Papagei zu Arlenes Florence Nightingale war, wer war sie dann? Niemand.

Während Hannah zuhörte, den Ellbogen auf die Armlehne gestützt, das Kinn auf der Faust, überprüfte sie die Dynamik der Zurückweisung, und sie wußte, daß sie selbst als nächste dran war. 177Mama, Pink Blanky, Marsha, Rorkie, Arlene, ein paar Männer, Diana … Gott weiß wer noch alles. Wenn es Caroline weiterhin besser ging, dann würde sie an einem bestimmten Punkt versuchen, Hannah dazu zu bringen, sie ebenfalls zurückzuweisen, damit sie zu etwas anderem übergehen konnte, frei von der Abhängigkeit. Hannah war nicht sicher, wie. Sie selbst hatte bei Maggie alle nur erdenkbaren Tricks ausprobiert – sie kam nicht zu den vereinbarten Sitzungen, sie ging mittendrin zu einer anderen Therapeutin, sie warf Maggie vor, sie plane, in den Ruhestand zu gehen.

Sie versuchte, sich Arlenes Version vorzustellen, um ein paar Einblicke in Carolines Taktik zu gewinnen: «Ich habe diesem Mädchen alles beigebracht, was ich wußte, und das war immer noch nicht genug. Sie kam immer wieder angelaufen. Ich konnte nicht herausbekommen, was sie eigentlich wollte. Sie hatte schon einen guten Job geangelt und verdiente mehr als ich. Immer wieder deutete sie an, ich würde nicht genug tun …» Hannah hatte das immer wieder bei Paartherapien beobachtet. Die Darstellungen, die zwei Menschen von einem Ereignis gaben, waren kaum wiederzuerkennen. Der Mann meinte, er hätte angeboten, den Müll hinauszutragen, und die Frau meinte, er habe ihre Haushaltsführung kritisiert.

«Haben Sie mehr verdient als Arlene?»

«Ich glaube, ja. Ich habe nie darüber nachgedacht.»

«Wären Sie nicht stinksauer, wenn so ein Grünschnabel, die gerade mal ein paar Monate gearbeitet hat, mehr verdienen würde als Sie selbst, die Sie schon seit zwanzig Jahren arbeiten?»

Hannahs Sprache machte Caroline betroffen. Sie redete wie eine Animierdame, aber in diesem schicken britischen Akzent. «Aber das war nicht meine Schuld.»

«Nichts davon ist irgend jemandes Schuld. Aber so ist es eben auf der Welt. Die Menschen können vornehm und großzügig sein, aber wir können auch kleinlich sein. Man muß sich vor der Kleinlichkeit anderer in acht nehmen.»

Caroline sagte nichts. Arlene eifersüchtig auf ihren Erfolg? Welche groteske Vorstellung. Arlene war eine große, starke, kompetente Frau.

«Sehen Sie irgendwelche Parallelen?» fragte Hannah.

«Wozu?»

Hannah zog die Augenbrauen hoch.

178

«Zu meiner Familie?»

Hannah lächelte. Hochgezogene Augenbrauen bedeuteten inzwischen ihre Familie. Wie einer von Pawlows Hunden reagierte Caroline auf subtile Hinweise, die Bestätigung signalisierten. «Wie alt waren Sie, als Ihr Bruder geboren wurde?»

«Etwa vier, glaube ich.» Neun Monate, nachdem ihr Vater aus dem Pazifik zurückgekehrt war, um genau zu sein.

«Sie hatten also angefangen, zu gehen, zu reden, Zähne zu bekommen, aufs Klo zu gehen, zum Spielen wegzugehen, selbständig zu essen und sich ohne Hilfe anzuziehen. Und Mama ersetzt Sie durch ein bezauberndes und hilfloses kleines Baby. Da müssen Sie doch den Wunsch haben, all diese Errungenschaften so schnell wie möglich wieder abzulegen.»

Caroline runzelte die Stirn. Das hatte sie allerdings empfunden: daß sie wieder Arlenes Schülerin sein wollte und nicht Stationsschwester am Mass General. Aber hatte sie dieses Gefühl ihrer Mutter gegenüber gehabt? Sie konnte sich nicht erinnern.

«Was für Gefühle haben Sie Ihren Brüdern gegenüber?»

«Ich mochte sie sehr. Immer noch. Ich habe für sie gesorgt.» Aber ihre Mutter erzählte, ein paar Tage, nachdem Howard aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen sei, habe sie alle seine Kleidungsstücke und Spielsachen auf einen Haufen zusammengetragen und gefragt: «Können wir ihn jetzt wieder ins Krankenhaus bringen, Mama?»

«Aber ich glaube, ich war manchmal gemein zu ihnen», sagte Caroline. «Ich habe öfter Howards Teddybär gelyncht. Und die Luft aus seinen Fahrradreifen herausgelassen, damit er mir nicht folgen konnte.»

Hannah lachte. «Na ja, es war auch bestimmt nicht einfach, wenn erwartet wird, daß Sie für jemanden sorgen, der Sie ersetzt hat. Immerhin bedeutete er mehr Arbeit und weniger Aufmerksamkeit für Sie. Da haben Sie jedes Recht, ihn nicht zu mögen.» Jedes ihrer Kinder hatte sich in ein Ungeheuer verwandelt, wenn das nächste aus dem Krankenhaus nach Hause kam – ins Bett gemacht, gestottert, vergessen, wie man die Schuhe bindet, am Daumen gelutscht, versucht, wieder an der Brust zu trinken. Arme kleine Irren.

«Aber das habe ich nicht gemacht. Ich war ganz wild nach Howard. Bin ich immer noch.»

«Gut», sagte Hannah und sah, wie sich eine Seite von Carolines 179Gesicht zu einer Grimasse verzog, die ihren Worten widersprach. «Und was ist gerade mit Diana los? Haben Sie nicht gesagt, sie flirte mit einer neuen, jungen Frau? Gerade jetzt, wo Sie anfangen, sich glücklicher und stärker zu fühlen?»

Caroline lächelte benommen und schaute auf ihre Fingernägel. «Ich weiß nicht, das kommt mir weit hergeholt vor.» Aber was hatte Diana neulich abends gesagt? Wenn du merkst, wie toll du bist, warum solltest du dann noch mit mir zusammensein wollen?

«Das stimmt.» Hannah fand es immer noch erstaunlich, selbst nach all den Jahren, während derer sie Klienten geholfen hatte, ihre Verhaltensmuster auszugraben, und ihre eigenen Muster dabei beobachtet hatte. «Wenn Sie sich sexuell zu Arlene hingezogen gefühlt haben, hat sie das vermutlich auch empfunden», sagte Hannah in dem Versuch, aus Carolines Verwirrung möglichst viel herauszuholen. «Und viele Heterosexuelle haben maßlos Angst vor ihren homosexuellen Impulsen.»

Caroline blickte von ihren Fingernägeln auf. «Wollen Sie damit sagen, daß alle Leute homosexuell sind?»

«Eine meiner Klientinnen sagte immer, sie sei pansexuell – sie würde alles Sexuelle ausprobieren.» Hannah dachte daran, daß sie zu bestimmten Zeiten alles gevögelt hätte – Bäume, Hunde, Gemüse. Es hatte sehr viel mit dem Hormonhaushalt und sehr wenig mit wahrer Liebe zu tun.

Caroline lachte. Dann hörte sie abrupt auf. Hannah war nicht nur nicht bürgerlich, sie war ja geradezu verwegen. Caroline betrachtete verwirrt ihre bloßen Füße.

«Ich glaube, wir sind alle bisexuell», sagte Hannah, «und treffen Entscheidungen auf Grund von sozialem Druck und der Dynamik innerhalb der Familie.»

«Entscheidungen?»

«Das ist der Inhalt des Lebens.»

«Lesbisch zu werden kam mir aber überhaupt nicht wie eine Entscheidung vor.» Sie betrachtete Hannah in ihrem schmucken Blazer und der grauen Flanellhose. Diese bürgerliche, mittelalterliche Frau gab offensichtlich ihre eigene Bisexualität zu. Aber hatte sie je das Verlangen nach einer Frau verspürt, so stark, daß sie nicht essen, nicht schlafen, sich nicht konzentrieren konnte, so allumfassend, daß sie selbst im Traum an nichts anderes denken konnte als daran, einen nackten Frauenkörper zu streicheln? Wie Caroline bei 180Clea und Diana. Hannah wirkte immer so kühl und gelassen. Caroline versuchte, sich ihr Gesicht vorzustellen, glühend vor Leidenschaft, ihre scharfen blauen Augen verschwommen vor Verlangen. Schlagartig wurde ihr klar, daß sie gerne mit Hannah ins Bett gehen und sie dazu bringen würde, daß es ihr wichtig wäre, ob Caroline zu ihrem nächsten Termin kam; sie wollte sie dazu bringen, eine sexuelle Besessenheit zu empfinden, die so stark war, daß sie gezwungen wäre, ihre neutralen Überzeugungen, die «Entscheidungen» betreffend, in Zweifel zu ziehen.

Caroline senkte die Augen. Mein Gott. Hannah sagte, Arlene hätte gespürt, daß Caroline sich von ihr angezogen fühlte. Bedeutete das, daß Hannah es auch merkte?

«Caroline, ist Ihnen klar, daß Sie versuchen werden, mich dazu zu bringen, Sie zurückzuweisen?» Manchmal reichte es, das auszusprechen, um den Zwang zu durchbrechen. Andere Klienten wiederum wären selbst durch den Weltuntergang nicht davon abzubringen.

«Warum sollte ich das tun?»

«Weil Sie daran gewöhnt sind, weil Sie darauf ausgerichtet sind. Weil Sie es brauchen, um zu etwas anderem übergehen zu können.»

«Aber das ist so etwa das letzte, was ich will, und ich dachte, es sei alles eine Frage der Entscheidung», warf Caroline spöttisch ein.

Hannah schaute sie eine Weile an, dann lächelte sie schwach. «Bewußte Entscheidungen stimmen nicht immer mit den unbewußten überein. Deshalb versuchen wir, die unbewußten ans Tageslicht zu bringen und sie auszulüften. Um zu sehen, ob sie das sind, was Sie wirklich wollen.» Sie zog an ihrer Zigarette und klopfte die Asche an dem hohlen Stein ab und dachte dabei, daß es eigentlich noch komplizierter war.

«Diana glaubt, Sie hätten mich dazu angehalten, mit dem Märchenprinzen auszugehen», sagte Caroline, um das Schweigen zu brechen.

«Mir ist es gleichgültig, mit wem oder was Sie ausgehen.»

«Das habe ich ihr auch gesagt.»

«Hat der Märchenprinz einen richtigen Namen?»

«Brian Stone.»

Hannah nickte und sagte nichts. Er und seine Frau waren bei ihr zur Beratung gewesen, als sie sich gerade trennten. Ein netter Mann, seinem Beruf sehr zugetan, aber reserviert und arbeitssüchtig. 181Caroline steuerte zielsicher wieder auf Papa zu, wie eine Brieftaube. Und sie war zweifellos dabei, in diesem Prozeß Diana abzuschütteln.

«Und Diana freut sich nicht besonders darüber?»

«Nee», sagte Caroline grinsend. Falls Diana es sich anders überlegen sollte, dann ließ sie sich dafür offensichtlich Zeit. Sie war gestern abend mit Suzanne weggewesen und erst frühmorgens heimgekommen, um zu duschen und sich vor der Arbeit umzuziehen.

«Wen wollen Sie?»

«Ich weiß nicht. Beide vielleicht.» Caroline schob trotzig das Kinn vor.

Hannah lächelte und gestikulierte mit der Zigarette in der Hand. «Dann mal los.»

Caroline schaute sie an. Das meinte sie doch nicht ernst! Sie redete so liberal daher, aber sie war seit 38 Jahren oder so mit demselben Mann verheiratet. Gleichgültig wie sie redete, sie war ein Exempel der Bürgerlichkeit. Wenn Caroline darauf eingehen und sie anmachen würde, dann würde sie durchdrehen.

Hannah beobachtete, wie Caroline sie abschätzend beobachtete. Die Frage, ob sie mit Arlene ein Verhältnis gehabt habe, hatte sie vermutlich auf Gedanken gebracht. Vielleicht war die Frage ein Fehler gewesen? Sie erinnerte sich an ihr eigenes Entsetzen, als sie gemerkt hatte, daß sie sich während ihrer Therapie zu Maggie hingezogen fühlte. Sie sagte sich, es sei widerlich: sie, eine Mutter in den mittleren Jahren, und Maggie, eine Großmutter. Aber die Gefühle tauchten immer wieder auf. Eines Tages fragte Maggie aus heiterem Himmel: «Ist es denn wirklich so schlimm, daß Sie einem Menschen, der Ihnen wichtig ist, nahe sein wollen, Hannah?»

«Wie?» fragte Hannah vorsichtig. Sie saß auf der Couch in Maggies Sprechzimmer und studierte das Muster des weinrot-blauen Orientteppichs.

«Sehen Sie, ich weiß, was Sie für mich empfinden, und das ist völlig in Ordnung. Es ist normal bei einer Therapie. Es ist immer normal, wenn Menschen sich einander öffnen. Normal, und nicht besonders wichtig. Nur weil wir das Pech haben, in einer Kultur zu leben, die behauptet, es sei nicht normal, heißt das noch lange nicht, daß das stimmt.»

Nach und nach schwand das Gefühl der Dringlichkeit, und das 182Thema wurde während der folgenden fünfzehnjährigen engen Freundschaft nie wieder angesprochen. Maggie war als Therapeutin immer gerne gleich an die Schlagader gegangen. Sie behauptete, in New York habe sich einmal auf der Straße ein Mann im Regenmantel ihr gegenüber entblößt. Sie habe ihn am Arm gepackt und gesagt: «Machen Sie sich nicht lächerlich. Damit erreichen Sie gar nichts.» Und schleppte ihn nach oben in ihr Büro, um eine Stunde Therapie mit ihm zu machen. Als Engländerin tendierte Hannah dazu, weniger direkt vorzugehen. Also lächelte sie Caroline freundlich an und ermöglichte ihr zu gehen, immer noch im Bann all dieser beunruhigenden und aufschlußreichen Gefühle.

 

Caroline ging den Gehweg entlang. Im Gras saß ein kleiner Junge mit einer wilden Drossel in der Hand. Er warf sie in die Luft. Der Vogel flatterte aufgeregt mit den Flügeln. Der Junge hatte eine Schnur um die Beine des Vogels gebunden, mit der er ihn immer wieder zurückholte. Caroline ging zu ihm hin. «Ist das dein Vogel?»

«Ja.»

«Wo hast du ihn her?»

«Mit einer Vogelfalle gefangen.» Er packte ihn mit einer Faust. Caroline war klar, daß er die Faust zudrücken würde, wenn sie ihn ärgerte.

«Meinst du nicht, du solltest ihn fliegen lassen?»

«Nee.»

Caroline sah sich nach seinen Eltern oder nach einem Polizisten um.

Hannah kam daher und schrie: «Laß den Vogel fliegen, du kleines Miststück!»

Erschrocken tat er es: das Bein des Vogels zog im Flug die Schnur hinter sich her. Hannah schaute Caroline mit hochgezogenen Augenbrauen an.

Sonnenstrahlen auf Carolines Gesicht stupsten sie vorsichtig wach, wie eine Katzenpfote. Sie versuchte, sich an ihren Traum zu erinnern. Er hatte ein hoffnungsvolles Gefühl hinterlassen. Irgend etwas mit einem Vogel. Als sie sich streckte, merkte sie, daß sie in die mittleren Jahre kam. Während der letzten fünfzehn Jahre hatte sie es normalerweise fertiggebracht, neben jemandem aufzuwachen, aber in der letzten Zeit wachte sie tatsächlich lieber allein auf. Du konntest dich strecken, ohne deine Bettgenossin, deinen Bettgenossen 183zu stören. Du konntest auf den Schwingen deiner Träume dahingleiten, ohne in jemandes beharrlich irdische Arme zu rollen. Du konntest spüren, wie das Sonnenlicht über die Bettdecke kroch und warme Flecken hinterließ, ohne in Worte fassen zu müssen, wie bauschig die Wolken draußen vor dem Fenster aussahen, wie stürmisch der Wind war, der an dem Fenster neben dem Webstuhl rüttelte. Neben jemandem aufzuwachen war die höchste Stufe der Intimität. Sie erinnerte sich an Leute, bei denen sie das Gefühl gehabt hatte: Wenn dir nach Sex mit mir zumute ist, in Ordnung; aber wenn du morgens neben mir aufwachen möchtest, dann vergiß es.

Caroline konnte hören, wie Diana und Suzanne oben kicherten. Sie könnte jetzt mit Brian kichern, wenn sie ebenfalls die Moral eines Stinktiers hätte. Sie waren gestern in einem alten Steingasthaus am anderen Ende der Stadt essen gewesen. Als sie hereinkamen, über breite Fußbodenplanken aus Kiefernholz, entdeckte Caroline Hannah an einem Tisch in der Ecke, in Begleitung eines distinguiert aussehenden Mannes mit sich lichtenden weißen Haaren. Hannah trug ein Schneiderkostüm mit Nadelstreifen und eine korallenrote Seidenbluse. Sie beugte sich gerade vor und lächelte dem Mann in die Augen.

Caroline griff krampfhaft nach Brians Arm. «Stimmt was nicht?» fragte er.

«Ich habe gerade eine Frau gesehen, mit der ich nicht reden will.» Die Melodie von ‹I only have eyes for you› ging ihr durch den Kopf. Nur stimmte das leider nicht. Hannah wandte ihre strahlend blauen Augen einer Unmenge anderer Leute zu. Caroline wurde von Eifersucht überschwemmt. Das ist lächerlich, sagte sie sich, als die Kellnerin sie in einen anderen Raum führte, mit einer niedrigen Decke, handbehauenen Balken und einem riesigen steinernen Kamin, eingerahmt von Zinngeschirr und Bierseideln.

Während Caroline einen Manhattan trank und mit Brian über die Operationen plauderte, die er während des Tages gemacht hatte, fand sie ihre Fassung wieder. Mitten während einer Hysterektomie sah sie, daß Hannah und ihr Mann am Fenster neben ihrem Tisch vorbei zu Hannahs kupferfarbenem Mercury gingen. Der Mann schloß die Tür auf und öffnete sie. Als Hannah sich zum Einsteigen wandte, kniff er sie in den Hintern. Sie lachte und puffte ihn mit dem Ellbogen in die Rippen. Caroline schaute empört zu. Wie 184konnte er es wagen, sie so zu erniedrigen? Wie konnte sie es wagen, das zu genießen?

« … wenn du keine Eierstöcke hast, brauchst du auch keine Gebärmutter», sagte Brian gerade, «also nehme ich gleich den ganzen Apparat heraus.»

«Ich verstehe», sagte Caroline, ganz mit dem abfahrenden Mercury beschäftigt. Die Ehe, diese groteske Institution, für die Caroline so viel Verachtung empfand, funktionierte für Hannah und ihren Mann. Caroline konnte an ihren Gesichtern und ihren Gesten ablesen, daß sie glücklich waren. Sie saß da, schockiert und ungläubig, und spielte mit der Maraschino-Kirsche in ihrem Cocktail.

« … auf diese Weise mußt du nicht ein paar Jahre später wiederkommen und dir eine Gebärmutter wegen Krebs herausnehmen lassen.»

«Was?» fragte Caroline. «O ja, ich verstehe.» Sie dachte an ihre eigene Ehe mit Jackson. Sie bestand fast ausschließlich aus Warten. Warten neben dem Telefon, in der Hoffnung, er würde zurückrufen; warten, daß die Jungen von ihrem Mittagsschlaf aufwachten, damit sie jemanden zum Reden hatte; mit dem Essen im Backofen warten, um zu sehen, ob er nach Hause kam; mit dem Ins-Bett-Gehen warten, falls er aufkreuzte und noch eine späte Mahlzeit wollte; im Bett auf ihn warten, falls er nicht zu müde war, um mit ihr zu schlafen; warten in der sanftgrauen Morgendämmerung in Newton, die Arme um ein großes Kissen geschlungen, bis er zurückkam, nachdem er mitten in der Nacht zu einem Notfall gerast war; warten, daß der Mann, der sie mit Geschick und Begeisterung umworben hatte, wieder auftauchen würde. Sie war eine Expertin in Sachen Warten geworden, bis sie nicht mehr warten konnte und aus dem Haus ging.

«Und was gibt's bei dir?» fragte Brian und zerschnitt seinen Schinken.

«Wie bitte?»

«Ich sagte, was gibt's bei dir?» Er führte ein Stück Fleisch mit der Gabel zum Mund.

«Was gibt's bei mir?»

«Wie war dein Tag?»

«Ganz gut, danke. Nichts Besonderes.» Sie hatte gedacht, das sei das Wesen der Ehe. Aber Hannahs Ehe war nicht so.

«Erzähl mir doch mal von deinem Exmann.»

185

Caroline dachte, Brian müsse telepathische Fähigkeiten haben, und sagte: «Da gibt es nicht viel zu erzählen. Wir haben uns kennengelernt, als ich am Mass General arbeitete. Er war einer der Ärzte dort. Das Übliche: Wir sind miteinander ausgegangen, haben gevögelt, geheiratet, Kinder bekommen und uns scheiden lassen, in der Reihenfolge.» Sie stocherte mit der Gabel in ihrer Melone herum und dachte daran, wie sie Jackson das erste Mal gesehen hatte, bei der Aufnahme in der Unfallstation, in seinem weißen Labormantel, mit Krawatte. Die dunklen Haare fielen ihm in die Augen. Er schaute auf ihr Namensschild und nannte sie Miss Kelley, wirbelte herum und verteilte mit lebhafter Effizienz Befehle. Caroline nahm seine Anordnungen auf und dachte bei sich: Das ist schon in Ordnung, mit diesem Typen werde ich fertig. Als er den Flur hinunter davoneilte, sagte die Schwester, die neben ihr stand, mit leiser Stimme: «Ich frage mich, ob sich dieser Mann je die Zeit nimmt, eine Muschi zu küssen.»

Caroline war an einem der vielen Tiefpunkte ihres Lebens. Ohne Arlene hatte sie keine Zauberkraft. Wenn die blutüberströmten Opfer von Autounfällen oder Messerstechereien durch die Türen der Unfallstation rollten, wollte sie in die entgegengesetzte Richtung rennen. Eines Morgens starb in der Dämmerung ein kleines Mädchen mit Hirnhautentzündung in ihren Armen. Sie wußte nicht, wem sie eigentlich etwas vormachte, wenn sie sich als Heilende ausgab. Sie bekam einen Ausschlag am ganzen Körper und fing an, in ihrer verdunkelten Wohnung herumzuliegen und nicht zur Arbeit zu gehen. Ihre Kolleginnen bemerkten ihre teilnahmslose Geistesabwesenheit und fragten sie immer wieder, ob denn alles in Ordnung sei. Die Pillenflaschen neben sich aufgereiht, sah sie in ihrer Wohnung Abend für Abend in den Nachrichten, wie eine amerikanische Stadt nach der anderen in den Flammen der Rassenspannungen aufging. Bald würden die Weißen die Schwarzen auf der Straße abschlachten, die Rinnsteine würden voller Blut sein. Es würde nicht aufhören, bevor die schwarze Rasse ausgelöscht war. Es war Sommer, und nach den Nachrichten lag sie in einer Schweißlache auf dem Teppich, während durch das offene Fenster die Geräusche von Autounfällen auf der Route 9 und die Schreie von Überfallopfern drangen. Aber sie konnte nichts anderes tun, als die Pillenflaschen anstarren.

Im Krankenhaus fielen Jackson und sie mehrere Male fast übereinander, 186wenn sie um die Ecke bogen. Schließlich tauschte er bei einem dieser Zusammenstöße einen oder zwei Sätze mit ihr. Und eines Abends saßen sie spät noch auf einer Tragbahre vor dem Röntgenzimmer und redeten eine Weile. Caroline fand heraus, daß er in einem Reihenhaus in Springfield aufgewachsen war, wo sein Vater in der Smith and Wesson-Fabrik arbeitete, daß er sich mit Stipendien und Teilzeitjobs durch die Universität gebracht hatte, daß er allein in einer Back Bay-Wohnung lebte. Er sah beunruhigt aus, als er sich sagen hörte, er wolle sie am Wochenende zu einem Abendessen in Jimmy's Harborside einladen.

Während sie Casino-Muscheln und Hummer mit Caesar-Salat aßen und Château Lafitte tranken, blickten sie hinaus auf den Hafen, wo Möwen kreischten und zwischen den Masten der verankerten Segelyachten hin und her schossen. Jackson redete von seinen Plänen, eines Tages eine Yacht zu kaufen. Caroline konnte den Fischmarkt sehen, wo sie ihre ganze Kindheit über ihrem Vater geholfen hatte, den Fang vom Vortag zu kaufen. Bald war sie so damit beschäftigt, sich umwerben zu lassen, daß sie keine Zeit mehr hatte, in Walter Cronkites Sendung Städte in Flammen aufgehen zu sehen …

Brian lächelte. «Deine Ehe war kein besonderes Vergnügen, sehe ich das recht?»

«Solange wir miteinander ausgingen, da war es Narzissen und Schokoladeneis, das Bostoner Symphonieorchester, Jimmy's Harborside, leidenschaftliche Wochenenden in Hyannis am Meer. Wir lasen Emerson und Thoreau und redeten darüber, wir hörten gemeinsam Bach-Fugen. Aber nachdem wir geheiratet hatten, löste sich dieser Mann in Luft auf. Jackson wurde ein Phantom. Ich ging allein schlafen und wachte allein auf. Das einzige, woran ich merkte, daß er dagewesen war, war ein Haufen schmutziger Kleider auf dem Fußboden. Ich kam mir vor wie ein Möbelstück. Ich konnte nicht herausfinden, wo ich versagt hatte. Ich kochte gut, sorgte dafür, daß das Haus ordentlich und einladend war, ich bügelte seine Hemden so, wie er es wollte, putzte seine Schuhe, schlief immer mit ihm, wenn er es wollte. Sorgfältig gekleidet, Gymnastik in einem Fitness-Center, der Mund gespült. Es war fast so, als wollte Jackson ein Haus mit einer Frau, mit Kindern und der übrigen Einrichtung ausstatten, um zum nächsten Projekt übergehen zu können.»

«Was war das?»

187

«Ich habe keine Ahnung. Ich habe den Mann nie gesehen.» Ihr Appetit war verschwunden. Sie stocherte lustlos in ihrem Roastbeef herum.

«Ich frage mich, ob Irene dasselbe sagen würde.» Brian stützte den Ellbogen auf den Tisch und sein Kinn auf die Faust.

«War deine Ehe auch so?»

«Ich habe es nie so gesehen, aber vielleicht schon. Vielleicht ist das einfach so mit der Ehe.»

«Kann schon sein», sagte Caroline und dachte an Hannah und ihren Mann.

«Aber vielleicht muß es nicht so sein.» Brian inspizierte sie wie ein Börsenmakler den Dow Jones-Index in Wall Street nach dem Zusammenbruch.

Als sie zum Haus zurückkamen, stand neben Carolines Subaru und Dianas Chevette auch Suzannes Toyota in der Einfahrt.

«Das sieht ja aus wie bei einem Gebrauchtwagenhändler», sagte Brian, die behandschuhten Hände am Lenkrad; der Motor lief noch, und Brian wartete darauf, hereingebeten zu werden.

Caroline erwog es, denn wenn er annahm, dann würde er sicher die Nacht über bleiben. Aber Rache an Diana schien nicht Grund genug für eine derart weitreichende Entscheidung. Es wäre Brian gegenüber nicht fair, und sie merkte, daß sie anfing, sich um sein Wohlergehen Gedanken zu machen. «Ich würde dich hereinbitten», sagte sie, «aber ich glaube nicht, daß das im Moment eine besonders gute Idee wäre.»

«Ich verstehe», sagte er und nahm ihre Hand. «Du brauchst mehr Zeit. Und ich wahrscheinlich auch.» Er nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und küßte sie.

Das könnte funktionieren, flüsterte ihr Herz, als sie seinen Kuß erwiderte. Wenn ich Hannah nicht haben kann, vielleicht kann ich Hannah sein …

Noch mehr Kicherkaskaden von oben. Als Caroline an ihrem Webstuhl vorbei zu dem leuchtend blauen Himmel draußen schaute, merkte sie, daß sie ihre Ode auf das Allein-Aufwachen nur sang, weil sie es nicht anders haben konnte. Es gab nichts, was mithalten konnte mit dem Vergnügen, im frühen Morgenlicht das schlafende Gesicht eines Menschen anzuschauen, der einem am Herzen lag. Sie erinnerte sich an das Gefühl leicht benommenen Staunens, als sie das zum erstenmal erlebte – mit Jackson in seiner 188Back Bay-Wohnung. Sie richtete sich auf und stützte sich auf den Ellbogen, betrachtete sein stoppeliges Kinn, seine dunklen, zerzausten Haare, die krausen Haare auf der Brust. Sie streckte die Hand aus und berührte mit den Fingerspitzen seine Lippen, fest und glatt. Er lächelte, ohne die Augen zu öffnen, und liebkoste ihre Fingerspitzen mit seiner Zungenspitze.

Dann ging sein Piepser los. Er sprang auf, raste ins Krankenhaus und überließ es ihr, das fleckige Bettuch zu wechseln, eingehüllt in einen Nebel von Lebenssinn und Wohlbefinden. Sie würde ihn heiraten, seine Kinder bekommen, ihr Leben darauf ausrichten, sein Heim zu einem tröstlichen Zufluchtsort zu machen, zu dem er von seinen Wohltätigkeitsmissionen heimkehren konnte. Arlene, die vor wenigen Monaten ohne einen Blick zurück aus ihrem Leben verschwunden war, hatte sich geirrt. Carolines Mission war es, Jacksons Mission zu unterstützen.

Vor Jackson hatte sie schon andere Freunde gehabt, allerdings hatte sie keinen von ihnen in der Morgendämmerung gesehen. Kevin in der Schule, mit dem sie im Kino und auf dem Parkplatz hinter dem Supermarkt herummachte. Während der Schwesternschule ging sie mit einem Mann von Harvard namens Ned Rollins III aus, den sie bei einem Tanzabend kennengelernt hatte. Eines Abends nahm er sie mit auf sein Zimmer im Adams House. Sie wollte nur eines: mit ihm auf dem Teppich in seinem Wohnzimmer herumrollen. Aber er bestand darauf, daß sie ‹On Liberty› von John Stuart Mill las. Dann diskutierten sie darüber, daß jeder Mensch das Recht habe, seinem Vergnügen nachzugehen, solange er nicht anderen Menschen Schaden zufüge. An den folgenden Abenden, während draußen immer mehr Schnee fiel, brachte er sie dazu, Malthus, D. H. Lawrence und Simone de Beauvoir zu lesen. Nach mehreren mühseligen Wochen rollten sie endlich auf dem Teppich herum. Und als sie ihn dazu überredete, sie von ihrer Jungfräulichkeit zu befreien, schrieb er ihren Enthusiasmus dem System emanzipierter Ideen zu, das durch seine Leseliste errichtet worden war. Sie ihrerseits verstand zum erstenmal die Weltbevölkerungskrise, die ihre Eltern jahrelang beim Abendessen erläutert hatten: das bedauerliche Nebenprodukt eines Aktes, der mehr Vergnügen bereitete als irgend etwas anderes, was sie bisher entdeckt hatte.

Während sie im Bett lag und zuhörte, wie Diana und Suzanne kicherten, überprüfte Caroline den neuen Schal auf ihrem Webstuhl. 189Angeregt durch den blau-violetten Lake Glass-Schal, der jetzt über dem Webstuhl an der Wand hing, hatte sie einen zweiten Schal angefangen, nach der Aussicht auf den Wintersonnenuntergang über Lake Glass. Es waren Streifen in Orange-, Violett- und Rottönen, die auf entsprechend gefärbten Längsfäden ineinander übergingen. Bisher hatte sie meistens mit erdfarbenen Schattierungen gearbeitet. Diese neuen Farben waren so leuchtend, daß sie manchmal früher als sonst aufhören mußte zu arbeiten, um ihre empörten Augen auszuruhen.

Vielleicht könnte sie diesen neuen Schal Hannah mitbringen. Nein, falsch. Sie sollte Hannah ja keine Geschenke mitbringen. Hannah wäre sowieso nicht beeindruckt. Sie verbrachte ihre Zeit damit, Leute vor dem Selbstmord zu retten. Kunsthandwerk käme ihr bestimmt trivial vor.

Liebe. War sie in Hannah verliebt, fragte Diana. Vermutlich. Marsha, Rorkie, Arlene, Rollins, Jackson, David Michael – sie war in sie alle verliebt gewesen. Mit jedem Atemzug seufzte sie den Namen dessen, der gerade dran war. Manchmal verlor sie den Überblick und seufzte den falschen Namen. Bei jedem und jeder war sie sicher gewesen, es sei für immer und ewig. Und jetzt saß sie hier mit einer ganzen Parade von Leuten, aufbewahrt im Wachsmuseum ihrer Erinnerung. Warum waren denn diese Lieben nicht von Dauer gewesen? Hannah und ihr Mann waren seit dem Goldrausch zusammen. Sie sah Hannah vor sich, wie sie gestern abend im Restaurant ihren Mann anlächelte, wie sie ihn spielerisch mit dem Ellbogen anstieß. Aber alle Leute hatten ihre Probleme. Nur Hannah vielleicht nicht. Sie wirkte so gelassen. Trotz des Todes ihrer Kinder.

Vielleicht könnte es mit ihr und Brian auch gutgehen. Aber bei ihr hatte es noch nie geklappt. Irgend etwas mußte mit ihr nicht stimmen. Sie begann, ihre Fehler aufzulisten. Sie hatte die Fugen zwischen den Kacheln im Badezimmer nicht geschrubbt, als sie mit Jackson zusammenlebte. Sie wollte zu viel Sex von David Michael. Oder zu wenig? Zu viel mit ihm, zu wenig mit Rollins? Oder umgekehrt? Was sollte all die Leidenschaft und der Schmerz, was sollten all die Schwüre und Versprechungen, wenn sie sich jetzt nicht einmal mehr daran erinnern konnte, wem sie was versprochen hatte? Mit Diana würde es auch bald so weit sein. Und mit Brian zweifellos auch, wenn sie weitermachten. Sinnlos. Es war alles 190sinnlos. Sie war allein, sie war schon immer allein gewesen und würde es immer sein. Zusammensein war eine Fata Morgana. Die Wirklichkeit, das war dieses nagende Alleinsein. Warum sich etwas vormachen?

Oben quietschten Suzanne und Diana vor Lachen. Sie balgten sich bestimmt nackt auf dem Bett, wie sie und Diana es immer getan hatten; inmitten zerwühlter Decken und überall im Zimmer verstreuter Kissen. Caroline hatte die Überdecke auf Dianas Bett gewoben – zwei miteinander verbundene Frauensymbole mit lachenden Gesichtern. Es hatte Wochen gedauert. Sie hatte Lust, nach oben zu stapfen und die Decke vom Bett zu reißen. Und den Paradies-Wandbehang von der Wand über dem Sofa im Wohnzimmer auch.

Caroline schlang die Arme um ihr Kissen und wiegte sich hin und her. Sie dachte an die Pillenflaschen im Schrank. Jackie und Jason waren schon fast Teenager. Sie würden sie jetzt nicht mehr so stark vermissen wie als kleine Kinder …

Ein gefiederter roter Kopf erschien vor Carolines Fenster. Er gehörte zu einem langen schwarz-weißen Körper, der den knorrigen Baumstamm der Akazie hinaufmarschierte, wie ein Bergsteiger mit einem roten Filzhut. Auf halber Höhe des Fensters hielt er inne, untersuchte die Rinde und begann zu trommeln. Sein Kopf vibrierte wie ein Preßlufthammer. Caroline schaute voll Erstaunen zu, als Holzsplitter in alle Richtungen flogen.

3

Während Hannah im Drugstore in der Einkaufspassage auf ein Rezept gegen Arthurs Angina wartete, nahm sie einen Kriminalroman mit dem Titel ‹Never Say Die› vom Regal. Nachdem sie die ersten paar Seiten gelesen hatte, vermutete sie, daß der adoptierte Sohn der Mörder war, dann las sie den Schluß. Sie hatte recht. Sie stellte das Buch zurück und nahm ein anderes. Sie brachte es nicht fertig, einen Krimi richtig durchzulesen, weil sie Spannung haßte. Das wirkliche Leben enthielt schon mehr Spannung, als ihr lieb war. Würde Erwin, der Bankier, diese Woche wieder seinen Sohn 191vergewaltigen? Wie würde Caroline ihren Zurückweisungsversuch lancieren?

Sie schaute sich in dem hellerleuchteten Geschäft um, wo mehrere durchschnittlich aussehende Leute in Winterkleidung sich Glückwunschkarten, Zeitschriften und Toilettenartikel anschauten und wie sie auf Rezepte warteten. Durchschnittlich aussehende Leute, genau wie die, die in ihr Sprechzimmer kamen. Und wie sie verbarg jeder hier im Geschäft ganze Geysire nicht angezapfter Raserei und «Perversität» unter einem nichtssagenden Äußeren. Genau wie in den Krimis war jede der anwesenden Personen fähig, einen Mord zu begehen, sie selbst eingeschlossen. Heute spürte sie das so deutlich, daß es verlockend war, mit dem armen Arthur, der mit seinem entzündeten Hals weder sprechen noch schlucken konnte, unter der Bettdecke zu bleiben.

Als sie den National Enquirer mit dem Bild von Dolly Parton vorne drauf nahm und einen Artikel mit der Überschrift «Ist Ihr Haustier ein Wesen aus dem All?» zu lesen begann, schienen ganz plötzlich die vier Wände des Geschäfts auf sie einzustürzen. Sie war in einem schrumpfenden Raum gefangen, wie eine Figur bei James Bond. Sie gab der Verkäuferin an der Kasse das Geld für den Enquirer und eilte hinaus auf den Parkplatz. Gegen die Außenwand des Geschäfts gelehnt, atmete sie ein paarmal tief durch und fächelte sich mit der Zeitschrift Luft zu. Die Wechseljahre waren wahrhaftig ein Hochgenuß. Wer würde irgend jemandem einen Körper wünschen? Sie machte die Haken ihres Berberumhangs auf, den Maggie ihr aus Nordafrika mitgebracht hatte, und legte ihn zusammengefaltet über den Arm.

Als die Klaustrophobie nachließ, atmete Hannah tief ein und schlug im Enquirer einen Artikel mit der Überschrift «Mädchengruppe von Killerbienenschwarm attackiert» auf. Ein Wunder, daß überhaupt jemand lange genug lebt, um in die Wechseljahre zu kommen, dachte sie.

Sie kehrte an ihren Posten neben dem Rezeptschalter zurück und ging ihre Klienten für den bevorstehenden Nachmittag durch. Caroline hatte einen Termin gleich nach dem Mittagessen. Was würde wohl heute passieren, fragte sich Hannah. Wie Caroline versuchte, eine Elternfigur für sich einzunehmen, wurde deutlicher durch das, was sie von dieser Lehrerin an der Schwesternschule erzählt hatte, und durch ihr Verhalten Hannah gegenüber. Sie 192machte sich zur Sklavin, tat lauter nette Sachen, bewunderte einen, stimmte einem zu. Es war ausgesprochen verführerisch. Gib's zu, meine Liebe: Es macht dir Spaß, angebetet zu werden. Wenn Hannah nur nicht so genau wüßte, daß Caroline, wie alle Sklaven, so viel Wut in sich hineingefressen hatte, daß sie aus allen Poren drang. Aber wie sie versuchen würde, Hannah dazu zu bringen, sie zurückzuweisen, das blieb noch unklar.

Die Apothekerin rief ihren Namen auf. Sie stellte den Scheck aus und beschloß, dem nächsten, der sie fragen würde, welche therapeutische Richtung sie vertrete, zu antworten, sie sei eine Vertreterin der Kriminalromanschule. Sie ging bei der Therapie so vor wie das Spiel, das ihre Kinder an kalten Winterabenden auf dem Teppich vor dem offenen Kamin gespielt hatten – «Indiz»: auf Grund gesammelter Indizien vermuteten sie, wer den Mord begangen hatte, wo und mit welchen Mitteln.

Als sie durch den starken Verkehr im Stadtzentrum fuhr, um sich mit Simon zum Mittagessen zu treffen, dachte sie zum erstenmal seit Jahren an Mrs. Abner, die Hausmutter in dem Internat in Sussex. Ihre Großmutter hatte sie in dem neugotischen Schlafsaal abgeliefert, mitten in einer Horde verängstigter halbwüchsiger Mädchen, sie flüchtig umarmt und gesagt: «Also dann, Kopf hoch.» Hannah warf einen Blick auf Mrs. Abners weißen Kopf und wußte, sie waren Kumpel. Mrs. Abner trug eine Kameebrosche am Halsausschnitt ihres hochgeschlossenen Seidenkleides und war genauso reserviert wie ihre Großmutter. Die anderen Mädchen hatten Angst vor ihrer spitzen Zunge und stritten sich, wer bei den Mahlzeiten bei ihr am Tisch sitzen mußte, aber Hannah betete sie an. Sie wußte, daß Mrs. Abner, bei aller kurzangebundenen Tüchtigkeit, sie beschützte.

Dieser Mythos hielt sich, bis eines Nachmittags zwei Jahre später die Zimmer inspiziert wurden. Hannah hatte das Borkengemälde ihrer Mutter aus Hampstead mitgebracht. Sie bewahrte es in ihrem Schrank auf und holte es heraus, wenn sie Heimweh hatte. An jenem Nachmittag hatte sie vergessen, es zurückzutun. Es stand auf ihrem Eichenschreibtisch.

Mrs. Abner schaute es an und zog die weißen Augenbrauen hoch. «Das ist das barbarischste Bild, das ich je gesehen habe.»

«Es ist nicht barbarisch», sagte Hannah. «Es ist aus Australien.»

193

Mrs. Abners Augenbrauen bebten. «Und du bist auch aus Australien, junge Dame?»

«Ja.» Sie dachte, Mrs. Abner wisse das, wisse überhaupt alles über sie.

«Und was würdest du davon halten, wieder nach Australien zurückzugehen?»

Hannah blickte auf den Boden.

«Dieses Zimmer sieht entsetzlich aus», sagte Mrs. Abner. «Wir hatten noch nie eine Schülerin aus den Kolonien, die wußte, wie man ein Zimmer in anständigem Zustand hält. Das muß wohl an diesen Lehmhütten liegen, in denen ihr aufwachst.»

Hannah biß die Zähne zusammen.

«Kein Nachtisch beim Essen, bis du eine Ebene persönlicher Zivilisiertheit erreicht hast, die einem britischen Untertanen angemessen ist. Und schaff diesen widerlichen Gegenstand aus dem Haus, meine Liebe.»

Über Nacht verwandelte sich Hannahs Verehrung für diese Frau in Haß. Bei ihr gab es kein monatelanges stummes Leiden vor Mrs. Abners Fenster. Sie war von ihren Eltern verlassen worden, als sie noch klein war, und hatte gelernt, Leute ganz abrupt abzuschreiben. Sie begann, die «britische Zivilisation» mit Augen zu betrachten, die viel zu zynisch waren für ihr Alter. War es zivilisiert, die Gemälde anderer Leute als barbarisch zu bezeichnen? War es zivilisiert, Kinder auf Internate zu schicken, in denen Hexen regierten? Sie lag auf ihrem schmalen, durchgelegenen Bett und dachte über das nach, was sie von der moosbewachsenen Gartenmauer aus durch die Fenster der Nachbarn an britischer Zivilisation kennengelernt hatte. Der Honourable Montgomery James trank jeden Nachmittag Sherry, bis er bewußtlos auf seinem Orientteppich zusammenbrach. Sir Freddy Munson, der sie anschrie, weil sie beim Spielen ihren Ball gegen seine Garagentür warf, hatte eine zurückgebliebene Tochter, die Lieferanten ins Gartenhaus mitnahm. Lady Austin-Stanforth masturbierte mit einer elfenbeinfarbenen Kerze aus dem verzierten Silberkandelaber auf ihrem Sheraton-Eßtisch aus Mahagoniholz. Einmal merkte sie, daß Hannah sie beobachtete. Sie ging zu Hannahs Großmutter und beschuldigte Hannah, sie habe ihrem Au-pair-Mädchen Schmuck gestohlen. In Hampstead und Sussex lernte Hannah, nicht auf das zu achten, was die Leute über sich sagten, und statt dessen zu beobachten, wie sie sich verhielten.

194

Mrs. Abner und Hannahs Mitschülerinnen im Internat wußten, wann sie beim Essen ein Fischmesser benutzen mußten. Sie wußten, wo ein Porzellanuntersetzer hingehörte, wenn sie den Tisch deckten. Hannah wußte diese Dinge nicht, weil sie sich weigerte aufzupassen, wenn ihre Großmutter versuchte, es ihr beizubringen. Die andern waren zivilisiert, sie war barbarisch. Auch gut. Sie hängte das Borkengemälde in ihrem Zimmer an die Wand. Und wenn sie an Mrs. Abners Tisch saß, dann putzte sie sich mit der Stoffserviette die Nase. Sie fing an, spät abends in den Schuppen im Garten zu schleichen, um sich mit einem Jungen aus der Küche namens Colin zu treffen, den der richtige Platz für Fischmesser wenig interessierte. Colin, blond und helläugig, war im Londoner East End aufgewachsen und war nach Sussex gekommen, um das Schreinerhandwerk zu lernen, dank der Großzügigkeit eines Internatsverwalters, für den seine Eltern als Bedienstete arbeiteten. Nachdem Hannah und Colin erst einmal beim Geschlechtsverkehr angekommen waren, verbrachten sie auf dem Steinfußboden zwischen Rechen und Hacken Stunden damit. Bis Colin dann keuchte: «Verdammt noch mal, Schatz, ich kann einfach nicht mehr.» Er machte ihr eine schöne Tischuhr aus Walnußholz, die sie auf ihren Internatsschreibtisch stellte und täglich abstaubte.

 

Als Hannah die Stufen zu dem von Simon gewählten Restaurant im zweiten Stock hinaufging, einem schwedischen Lokal in der Haupteinkaufsstraße, überkam sie plötzlich die Angst, sie könnte rückwärts die Treppen hinunterfallen. Sie stützte sich mit den Händen an der Wand ab und sagte sich, es seien ja «nur» die Wechseljahre. Simon saß unter einer Hängepflanze und trank einen Tequila Sunrise. Normalerweise war er sehr gepflegt, aber heute sah er unrasiert und ungepflegt aus, seine blonden Haare waren wirr, und die Weste seines Anzugs war nicht zugeknöpft. Helena, seine Frau, hatte ihn wegen eines anderen Mannes verlassen. Hannah betrachtete ihn voll Zuneigung, als sie sich setzte. Er war ein herrischer kleiner Junge und ein aufsässiger Teenager gewesen, daran gewöhnt, daß die Dinge so liefen, wie er es sich vorstellte. Vermutlich mußte er an einem bestimmten Punkt eins auf den Deckel bekommen; für seine Seele konnte das nur gut sein, aber es war trotzdem schmerzlich, das beim eigenen Kind mitzuerleben. Sie erinnerte sich, wie er als kleiner Junge gelitten hatte, wenn sie seine Decke waschen mußte, 195wie aufgeregt und besorgt er während des ganzen Waschprogrammes neben der Maschine stand und am Daumen lutschte. Als die die Decke einmal in die Schleuder steckte, quälte ihn die Vorstellung, welche Schmerzen seine Decke durchmachen mußte, so sehr, daß er versuchte, sie zu retten – und brachte dabei aus Versehen seinen eigenen Arm in die Schleuder.

Als Helena ihn verließ, versuchte Hannah herauszufinden, ob es ihre Schuld war. Sie hatte einen Mann geheiratet, der im Krieg fiel, als Simon kaum ein Jahr alt war. Sie war einem anderen Mann über den Atlantik gefolgt, mit Simon im Schlepptau. Er hatte einen Bruder und eine Schwester verloren und wäre selbst beinahe gestorben. Er hatte sein Teil an Unruhe und Unsicherheit abbekommen. Aber wer hatte das nicht. Es gab keine Möglichkeit, Kinder vor dem Schmerz des Verlustes zu bewahren, wie sehr man sich das auch wünschen mochte.

«Wie geht's dir so?» fragte sie mit einem Blick auf die Getränkekarte. Das einzige, was half, wenn ihre Hormone sie so tyrannisierten, war Gin, aber wenn sie zu viel Gin trank, dann träumte sie schlecht und bekam mitten in der Nacht Angstanfälle.

«Gut», sagte er kurz angebunden und warf den Kopf zurück, um die blonden Haare aus den Augen zu bekommen. Von seinen beiden britischen Eltern hatte er den Anspruch geerbt, immer Haltung zu zeigen, der arme Kerl. Aber er rief öfter an, seit Helena weg war, verabredete sich mit ihr zum Mittagessen, kam zum Abendessen vorbei und brachte seine Wäsche mit.

Der Kellner erschien, und Hannah bestellte einen Gin mit Eis. «Was gibt's Neues? Oder besser, wen gibt's Neues?»

Er lächelte gequält. «Nichts und niemanden, Mutter.» Seine Augen waren leicht gerötet.

Sie streichelte seine Hand. «Nur Mut, mein Junge. Das geht auch vorbei.» Sie wußte nicht, wie sie ihm helfen sollte. Vielleicht konnte man keine Distanz gewinnen, bis man die Einstellung hatte, die nur die fünfzigjährige Beobachtung von Liebesaffären, Ehen und Scheidungen vermittelte: daß es ein Leben nach der Liebe gab. Während ihrer eigenen Therapie, zu einer Zeit, als sie Wut auf Arthur verspürt hatte, weil er in der Nacht des Unfalls nicht dagewesen war, beschrieb sie Maggie den Flirt, den sie mit Allen Sullivan hatte – angeblich, um Arthur zu bestrafen.

Maggie schaute sie kühl an und sagte: «Ich bin jetzt eine alte 196Frau, und ich habe wichtigere Probleme, als darüber nachzudenken, ob Hannah Burke den besten Freund ihres Mannes verführt. Und das gleiche sollte für Sie gelten, meine Liebe.»

Simon wirkte irritiert. «Ich habe gesagt, es geht mir gut.»

Hannah nickte. Sie sollte sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern. «Na ja – Arthur geht es nicht gut. Er hat Angina.»

«Wie ärgerlich. Paß nur auf, daß du dich nicht ansteckst.»

«Ich bin unverwüstlich.» Sie trank einen Schluck Gin, in der Hoffnung, das Gefühl loszuwerden, die Wände würden auf sie einstürzen.

«Ich weiß. Ich kann mich kaum entsinnen, daß du mal krank warst. Wir andern konnten alle auf dem Rücken liegen, und du hast uns Tabletts gebracht und Geschichten vorgelesen.» Er hielt sich mit beiden Händen an dem Glas fest, das vor ihm auf dem Tisch stand, und schaute in die orangefarbene Mischung mit den roten Streifen wie Sokrates, der kurz davor ist, seinen Schierlingsbecher zu trinken.

Hannah lächelte. Er idealisierte sie, seit Helena weg war. Helena war jetzt die Böse, Mama die Gute. Ihr gefiel das, aber sie wußte, es würde nur so lange andauern, bis er eine neue Frau gefunden hatte, dann würde sie wieder auf Eis gelegt, wie ein Nerzmantel im Sommer.

Sie betrachtete ihn, während er ihre Vorzüge aufzählte. Er gehörte einer andern Generation an. Die ihre, traumatisiert durch die Wirtschaftskrise und durch Hitler, wollte Stabilität, Komfort und Sicherheit, gleichgültig, was dabei an Spontaneität verlorenging. Seine Generation, die die Dürre im Leben der meisten Eltern beobachtet hatte, verachtete all das. Sie folgten ihren Gefühlen, und also waren sie immer entweder selig oder zutiefst verzweifelt. Sie begriffen nicht, daß die langweiligen alten Formen einem manchmal über das Chaos hinweghelfen und einen zu den fernen Ufern der Zufriedenheit tragen konnten. Mehrere Male hatte Arthur während der 38 Jahre ihres Zusammenlebens gedroht, er werde weggehen. Weil sie vor ihrer Periode schlecht gelaunt war. Weil sie ewig flirtete. Weil die Kinder ihn wahnsinnig machten. Mehrere Male hatte sie gedroht, ihn zu verlassen. Weil er so oft fort war. Weil sie nicht wußte, mit wem er während all der einsamen Nächte in fremden Städten schlief. Weil sie keine Lust mehr hatte, seine Socken zu waschen oder am Wochenende sein unrasiertes Gesicht 197am Frühstückstisch zu sehen. Jedesmal erschien ihnen das verstrickte Gewebe von Besitz, Verantwortung, gemeinsamen sozialen Verpflichtungen, Freunden und wechselseitigem Interesse zu dicht, um es zu durchtrennen, also standen sie ihre Krise durch. Und da waren sie nun, an der Schwelle des Alters, verliebter noch als während jener ersten verrückten Tage in dem viktorianischen Bett. Mit jemandem das ganze Leben verbracht zu haben, all seine Schwächen und Fehler zu kennen, einander all die grauenhaften Dinge angetan zu haben, die zwei Menschen einander antun können, und trotzdem immer noch zusammen zu sein – das war ein Genuß, der in Hannahs Erfahrung unübertroffen war. Es war subtiler als die ersten wilden Vögeleien, und manchmal verschlug es ihr fast den Atem, wenn sie Arthur im Lampenlicht sitzen und sein Wall Street Journal lesen sah, in seiner mottenzerfressenen Mr. Chips-Jacke, und wenn sie sich klarmachte, was sie erreicht hatten – eine Liebe fürs Leben.

Als sie wieder in ihr Sprechzimmer kam, fand sie dort Mary Beth in ihrer gerüschten Bluse und ihren chinesischen Stoffschuhen verkrampft auf der Couch sitzen, die sie und Arthur am Tag zuvor so hingestellt hatten, daß Hannah nun die Aussicht auf den See hatte.

«Ist alles in Ordnung?» fragte Hannah und zog ihren Umhang aus. Eigentlich wollte sie nichts hören, falls die Antwort ein Nein war.

«Ich bin mir nicht sicher.»

«Was ist das Problem?» Eine Therapeutin zu therapieren hatte etwas Demoralisierendes an sich. Wenn deine Techniken dir nichts halfen, warum sollten sie dann einem anderen helfen?

«Mich hat gerade ein Klient gefragt, ob ich mit ihm ins Bett gehen will. Als ich nein gesagt habe, hat er mir die schlimmsten Schimpfnamen, die man sich vorstellen kann, an den Kopf geworfen und ist gegangen.»

«Was ist daran so furchtbar?» Sie erinnerte sich an all die Male, die sie während ihrer ersten Jahre als Therapeutin zu Maggie gerannt war.

Mary Beth schaute sie überrascht an. «Ich muß falsche Erwartungen geweckt haben. Oder vielleicht bin ich mit seinen Annäherungsversuchen nicht richtig umgegangen.»

«Mir scheint, du hast es ganz richtig gemacht. Entweder er 198kommt zurück – oder nicht. Ich glaube, du nimmst das ein bißchen zu ernst, Mary Beth. Du bist nichts weiter als eine Technikerin. Du findest heraus, welche Verhaltensmuster sich in der frühen Kindheit entwickelt haben, und dann versuchst du, auf ihr Wiederauftreten hinzuweisen.»

Mary Beth nickte ungeduldig, als wisse sie das alles. Aber sie wußte es offensichtlich nicht, sonst wäre sie jetzt nicht so durcheinander. Hannah dachte an die ständige ängstliche Nervosität und an das Verantwortungsgefühl, das sie immer gehabt hatte. Das Leben war einfacher geworden, als sie einmal begriffen hatte, daß ihre Macht zu helfen oder zu verletzen begrenzt war. Eine Therapeutin war im besten Fall ein Placebo. Diese Erkenntnis kam ihr, als ein Klient in einem Anfall tiefer Depression eine Packung Schlaftabletten schluckte und in seine Kühltruhe kroch. Sie ging in Maggies Büro an der Universität und klagte, das sei alles ihre Schuld. Maggie setzte ihre Brille auf, blickte von irgendwelchen Papieren auf ihrem Schreibtisch auf und fuhr sie an: «Was soll denn das, Hannah? Wessen Leben ist es? Nicht deines. Es war sein Leben, und er konnte damit machen, was er glaubte, tun zu müssen. Es ist eine Tragödie, aber seine, nicht deine. Also hör auf, dich selbst zu bemitleiden.» Das Unerwartete an Maggies Reaktionen faszinierte Hannah immer. Wenn man ihre Falten und ihre grauen Haare anschaute, erwartete man Güte. Aber statt dessen bekam man meistens genau das, was man brauchte.

Die Sprechstundenhilfe drückte auf den Summer. Caroline war gekommen. Als Mary Beth aufstand und zur Tür schlich, sagte Hannah freundlich: «Nimm nicht das ganze Gewicht des menschlichen Leidens auf einmal auf deine Schultern, Mary Beth. Es bricht dir das Rückgrat.»

 

Caroline mußte zweimal hinschauen, als sie in Hannahs Sprechzimmer kam. Der Schreibtisch und der Stuhl hatten mit der Couch den Platz getauscht.

«Ich habe fünfzehn Jahre lang den Parkplatz angeschaut», erklärte Hannah. «Das hing mir schließlich zum Hals heraus.»

«Aber ich habe gerne auf den See hinausgeschaut.» Caroline warf ihren dunkelblauen Anorak auf die Couch.

«Es ist auch ein schöner Blick», sagte Hannah und schaute aus dem Fenster auf die weite silberne Fläche des gefrorenen Sees. Den 199ganzen Morgen über waren die Klienten wegen der neuen Anordnung der Möbel ausgeflippt. Bei ihnen war so viel in Bewegung, daß Hannah und ihre Umgebung statisch zu bleiben hatten. Aber die Klienten würden sich erholen, und sie hatte dann die schöne Aussicht.

Caroline lief in ihrer weißen Uniform im Zimmer herum, wie ein sibirischer Schlittenhund, der sich nicht hinlegen kann. «Ich sehe, daß es Sie durcheinanderbringt», sagte Hannah. Caroline konnte es inzwischen ertragen, daß Hannah nicht nur aus Vorhersehbarkeit bestand. Sie dazu zu bringen, das zu akzeptieren, war Teil der großen Desillusionierung.

«Ich hätte lieber die Aussicht auf den See.»

«Na, hören Sie mal. Mir gefällt der See auch. Und ich sitze den ganzen Tag hier fest.» Caroline sagte tatsächlich, was sie wollte, und duldete nicht nur stoisch – Hannah war entzückt.

Caroline hörte zu ihrem eigenen Erstaunen, wie sie sich beschwerte. «Na ja, es ist Ihr Büro.» Zum Teufel, sie hatte Glück, daß sie überhaupt ein Sofa hatte, auf dem sie sitzen konnte, und daß sie die Zeit dazu hatte. Was bedeutete schon die Aussicht? Als sie auf der Couch saß, blickte sie sich genau um. Vor dem gegenüberliegenden Fenster waren ein schmieriger Wall von aufgehäuftem Schnee und mehrere geparkte Autos. «Mein Gott, ich kann verstehen, warum Sie tauschen wollten.»

Hannah lächelte. «Was haben Sie so gemacht?»

«Ich habe gerade mit einer Freundin in Maude's Café zu Mittag gegessen. Da war eine ganz alte Frau, fünfundachtzig oder neunzig, die starrte sich selbst in der Toilette im Spiegel an. Sie schaute mich an und sagte: ‹Wissen Sie, wenn ich in den Spiegel schaue, dann bekomme ich Angst. Manchmal frage ich mich, was das alles überhaupt soll.›»

«Was haben Sie gesagt?»

«Ich habe gesagt: ‹Dann schauen Sie nicht in den Spiegel.›»

Sie lachten.

«Ist das etwas, was Sie beschäftigt?» fragte Hannah. «Was das alles überhaupt soll?»

«Natürlich beschäftigt mich das.» Eines der Autos draußen hatte einen Aufkleber, auf dem stand: «Eßt mehr Lamm. 50 000 Kojoten können sich nicht irren.» Vielleicht war die neue Aussicht doch nicht so trostlos. «Geht das nicht allen Leuten so?»

200

«Sie würden sich wundern.» Sie selbst war erstaunt über die Anzahl von Klienten, die annahmen, es sei der Sinn des Lebens, das Darlehen für ihr Haus abzubezahlen. «Und zu welchen Schlußfolgerungen kommen Sie?»

«Wenn es einen Gott gibt, dann ist er völlig bekloppt.»

«Und wir sind hier, wegen eines komplizierten chemischen Zufalls?» Weil sie beim Mittagessen mit Simon einen Obstsalat gegessen hatte, wußte Hannah, daß es einen Gott gab. Es bedürfte eines Genies wie Gott, um die Erdbeeren zu erfinden.

«Genau. Denn sonst müßte man Gott für einen Sadisten halten.» Was war das, Therapie oder Kindergottesdienst?

«Tun Sie das?»

«Wie wollen Sie sonst die ganze Brutalität und das Leiden auf der Welt erklären?»

«Wie wollen Sie den Schwarzspecht letzten Monat erklären?» Oder diesen unglaublichen See, fügte Hannah für sich hinzu, sie wollte ihr Argument nicht überstrapazieren. Sie kniff leicht die Augen zusammen, weil das Eis so blendete.

Caroline lächelte und freute sich darüber, daß Hannah sich an etwas erinnerte, was sie vor so langer Zeit gesagt hatte. «Ich habe ihn an diesem Wochenende wieder gesehen. Er kletterte einen Baum vor meinem Fenster hinauf, als ich im Bett lag.»

«Ach ja? Und wie erklären Sie sich seine Existenz in dieser fürchterlichen Welt?»

«Eine Vorrichtung, die sich entwickelt hat, um die Zahl der Insekten niedrig zu halten.»

Hannah lächelte. «Warum brauchen wir Hunderte von verschiedenen Sorten?»

«Für die Hunderte von verschiedenen Insekten.»

«Was ich nicht begreifen kann», sagte Hannah und zündete sich eine braune Zigarette an, «ist, warum Sie, wenn Sie diese Welt so sehr hassen, nicht einfach aufhören, darüber zu reden. Statt dessen lassen Sie sich über den Horror mit derartiger Detailverliebtheit aus.»

«Ich sitze hier fest, oder?»

«Nein. Wie üblich, ist es Ihre Entscheidung.»

«Sie meinen Selbstmord? Das habe ich einmal versucht.» Sie schlug die Beine übereinander und legte die gefalteten Hände um ihr Knie.

201

«Ach ja?»

«Ich war mit diesem Arzt in Newton verheiratet. Jackson. Ich machte den Gasherd an und steckte den Kopf hinein. Er war so verdreckt, daß ich beschloß, ihn erst einmal zu putzen. Als ich damit fertig war, waren die Jungen von ihrem Mittagsschlaf aufgewacht.»

Hannah lächelte. «Stimmt das wirklich? Oder versuchen Sie wieder, mich zu unterhalten?»

Caroline grinste. «Das werden Sie nie herausfinden, was?»

Hannah zuckte mit den Schultern. «Wenn Sie mich meine Arbeit nicht tun lassen, dann brauchen Sie sich nicht zu wundern, wenn sie nicht gemacht wird.» Sie dachte an ihren eigenen gescheiterten Selbstmordversuch. Ein paar Monate, nachdem die Kinder gestorben waren, ging sie davon, quer über den zugefrorenen See. Sie hatte für Arthur einen Abschiedsbrief hinterlassen. Nachdem sie ein paar Stunden neben einer Schneeverwehung vor Kälte gezittert hatte und er nicht gekommen war, um es ihr auszureden, schleppte sie sich nach Hause. Arthur schaute gerade die Nachrichten an, während Simon, Joanna und der Hund im Spielzimmer eine laute Balgerei veranstalteten. Ihr Brief stand noch an eine Ginflasche gelehnt in der Kiefernholzbütte. Er hatte ihn nicht gesehen, weil er nichts getrunken hatte. Sie gab ihn ihm. Er las ihn und schaute sie an. «Ich wäre dir nachgegangen», sagte er. Sie zuckte mit den Schultern, mixte Martinis und legte noch ein Stück Holz aufs Feuer.

Caroline war verärgert. Warum weigerte sich Hannah so konsequent, von ihr unterhalten zu werden? Sie seufzte und begann zu reden: «Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten. Die Jungen waren klein, und Jackson war dauernd im Krankenhaus. Ich hatte nicht viele Freunde oder Interessen. Ich hatte meinen Job am Mass General aufgegeben. Mein einziges Lebensziel war, Jackson zu helfen, die Welt zu retten.»

«Kommt Ihnen das bekannt vor?»

Caroline zögerte. «Meine Eltern, meinen Sie?» Sie dachte daran, wie sie wartete, bis sie abends nach Hause kamen, genau wie bei Jackson. Wie sie das Badewasser für sie einlaufen ließ, wie sie ihnen die Schläfen massierte, ihnen Tee brachte. Genau wie bei Jackson. Sie war eine verdammte Maschine.

«Erzählen Sie weiter. Warum haben Sie beschlossen, sich umzubringen?» Scheiße, gerade kam wieder eine Hitzewelle, die an ihrem 202Körper leckte wie ein Präriefeuer. Sie zitterte, weil sie sich so anstrengen mußte, ruhig zu sitzen, während der Schweiß die Brust hinunterrann. Das Zimmer schwankte und wich zurück.

« … um Gesellschaft zu haben, hörte ich immer diese Sendungen im Radio, bei denen die Leute anrufen können», sagte Caroline gerade. War sie nur höflich, überlegte sich Hannah, oder merkte sie wirklich nicht, daß ihre Therapeutin in einer Schweißlache saß? Normalerweise waren die Klienten viel zu sehr mit ihren eigenen inneren Dramen beschäftigt, um darauf zu achten, ob sie gerade auf dem Schreibtisch einen Handstand machte. Ihr Gesicht mußte feuerrot sein.

« … und an dem Tag redeten sie gerade über Sex im Büro. Ich fing an zu überlegen, ob Jackson vielleicht nebenher etwas mit den Schwestern hatte. Das kam am Mass General die ganze Zeit vor. Auf diese Art hatte es zwischen ihm und mir angefangen – an den späten Abenden, die wir damit verbrachten, menschliches Leiden zu lindern. Also überlegte ich, ob er deswegen kaum zu Hause war. Ein Pfarrer rief an und sagte, er wolle sich eine flotte Zeit machen, aber seine Frau habe kein Interesse, und ob es eine Sünde sei, es heimlich zu tun. Dann war die Sendung vorbei, und es kamen Nachrichten. Über unsere Panzer, die nach Kambodscha rollten, über das Morden und die Hungersnot. Ich hatte einen Moment der Klarheit: Hier war ich, in diesem riesigen Haus im Neo-Tudor-Stil, umgeben von diesen ganzen Luxusgegenständen; ich verbrachte meine Zeit damit, diesen Kram zu kaufen und zu pflegen; ich dachte darüber nach, ob mein Mann Affären hatte – und gleichzeitig litt ein großer Teil der Welt an Hunger und hatte kein Dach über dem Kopf. Ich ging zu einem Fenster, von dem man auf ein marmornes Vogelbad schaute. Die Vorhänge waren aus Plattstichstickerei, handgemacht in Indien. Ich nahm das Ende eines der Vorhänge zwischen die Finger und betrachtete all die winzigen Stiche, und mir wurde klar, daß eine hungernde Frau vermutlich blind wurde, während sie für ein paar Pfennige in der Stunde diese Stickerei machte. Und die Leute kamen hier ins Haus und bestaunten diese Vorhänge. Ich wußte, ich hatte ausverkauft. Ich habe tatsächlich den Herd inspiziert, aber die Jungen wachten vom Mittagsschlaf auf.» Sie fügte nicht hinzu, daß sie damals angefangen hatte zu weben, gleichsam zur Buße. Sie nahm an einem Kurs an der Kunstgewerbeschule teil, in der Absicht, Decken für die Heilsarmee zu 203weben. Aber ihre Lehrerin ließ ihre Arbeiten bei einer Kunstgewerbe-Ausstellung zeigen, ohne es ihr zu sagen, und sie gewann den zweiten Preis. Alles, was sie machte, wollte irgend jemand kaufen. Und als sie dann Jackson verließ, brauchte sie das Geld. Weben machte ihr Spaß, und so wurde selbst ihr Bußversuch ein Ausverkauf.

«Haben Sie Jackson erzählt, wie unglücklich Sie waren?» fragte Hannah. Sie fröstelte und fühlte sich feuchtkalt.

«Ich habe es versucht. Er sagte zu mir, ich sei zu intensiv, und was mit all den Patienten im Krankenhaus sei, die echte Probleme hätten.»

«Erinnern Sie sich an die Ausflüge zur Heilsarmee? Erinnern Sie sich an Jason jetzt an Weihnachten?» Hannah zog ihre Jacke aus und hoffte, ihre Bluse würde trocknen.

Caroline preßte ihren Nasenrücken zusammen und staunte über Hannahs Gedächtnis. Sie schaute auf. «Und Sie glauben, daß wir nicht nur Maschinen sind, die sich ewig im Kreis drehen?»

«Es kann mehr an uns sein als das. Sind Sie sicher, daß nur die dritte Welt leidet und hungert?»

Sie saßen lange schweigend da. Caroline studierte die Reifenspuren auf der dünnen Neuschneedecke auf dem Parkplatz. Randy Eliot könnte wahrscheinlich die Reifenmarke identifizieren. Sie und Brian hatten vor ein paar Tagen bei Randy und Connie in ihrem Haus mit Blick über den See zu Abend gegessen. Caroline beschloß, daß sie die beiden mochte, trotz ihrer leidenschaftlichen Neigung, von allem und jedem, worüber gesprochen wurde, den Preis wissen zu wollen.

«Nächste Woche sind Schulferien, oder?» fragte Hannah und griff nach ihrem Terminkalender. «Fahren Sie und Ihre Söhne irgendwohin?»

«Ich bringe sie nach Newton, und sie bleiben die Woche über bei ihrem Vater.»

«Kommen sie gut mit ihm aus?» Sie schlug den Kalender auf und schaute nach einem freien Termin für nächste Woche.

«Sie vergöttern ihn. Aber er ist sehr beschäftigt und hat nicht viel Zeit für sie. Sie kommen normalerweise wütend und enttäuscht nach Hause.»

«Es ist traurig, was manche Eltern tun, um sich von ihren Kindern fernzuhalten.»

204

Caroline prüfte diese Bemerkung. Es stimmte: Nur weil Jackson behauptete, er sei eine Geisel der Bedürfnisse seiner Patienten, hieß das noch lange nicht, daß es so war. Galt das auch für ihre Eltern?

«Wie ist Jacksons Mutter?» fragte Hannah.

«Sie ist ein absoluter Alptraum. Er kann ihr nichts rechtmachen. Sie ißt unglaublich gern Pfirsicheis, und ich weiß noch, als wir sie einmal in Springfield besucht haben, kaufte Jackson in einem wirklich erstklassigen Geschäft in Boston ein paar Pfund von diesem Zeug und packte es in die Kühltasche. Sie aß einen Löffel davon und verkündete: ‹Das ist ja ekelhaft, Jackson. Die Pfirsiche sind gefroren.› Ich wollte ihr den Rest über den Kopf schütten.»

«Können Sie sehen, warum er Angst vor Nähe hatte und warum er zu Ihnen und den Jungen Distanz gehalten hat?»

«Wie?»

«Wir agieren alle nach Drehbüchern, die für uns geschrieben worden sind, als wir Kleinkinder waren. Die meiste Zeit über haben wir keine Ahnung, wie andere Leute wirklich sind. Sie, ich, Jackson. Wir müssen schonend und freundlich miteinander umgehen, weil wir alle an ähnlichen Gebrechen leiden.»

Caroline betrachtete Hannah, in Hemdsärmeln, den Bleistift über dem Terminkalender gezückt. Sie gab zu, daß sie ihre Gebrechen hatte. Caroline wollte nichts davon hören. Warum sahen ihre Haare so feucht aus? «Der Märchenprinz und ich waren am Samstag abend im Converse Inn. Ich habe Sie dort gesehen.»

«Ach ja? Ich habe Sie nicht gesehen. Es ist ein nettes Restaurant, nicht wahr?»

«Ja. War das Ihr Mann?»

«Arthur. Ja.» Sie fuhr sich mit den Fingern einer Hand durch die Haare, um sie etwas aufzulockern, damit sie schneller trockneten.

«Er sieht nett aus.»

«Er ist nett.»

«Ich habe gedacht, ich könnte versuchen, ob es mit Brian Stone klappt.»

«Ach ja?»

«Ja. Das Leben kommt mir einfacher vor mit einem Mann. Er wirft die Speere, und ich sammle Wurzeln und Beeren.»

Hannah lächelte.

«Außerdem fangen meine Freundinnen an, mich Sankt Zölibat zu nennen. Ich finde, das geht ein bißchen zu weit.»

205

Hannah wußte, sie sollte es Caroline nicht durchgehen lassen, sich so mit einem Witz aus der Affäre zu ziehen. Aber die Stunde war vorüber, und Hannah war erschöpft von der fliegenden Hitze. Nächste Woche würde sie sich mehr einsetzen. «Wie Sie meinen, Caroline.» Sie winkte mit dem Stift in der Hand und fragte sich, ob sie sich tatsächlich so neutral fühlte, wie sie klang. Caroline würde wahrscheinlich einen ruhigeren Kurs steuern, wenn sie bürgerlich würde. Aber Brian Stone war Vati und Jackson in Grün. Sich ihn als Partner auszuwählen, war, als würde sich jemand Zsa Zsa Gabor als Eheberaterin auswählen.

 

Hannah drehte die Scheren ihres gekochten Hummers ab und schaute aus dem Restaurantfenster auf den Ozean, der um verwitterte Holzpfosten, die so groß wie Elefantenbeine waren, wogte und brandete.

«Der einzige Ort, der mir besser gefällt als Lake Glass», sagte sie zu Arthur, «ist der hier.»

«Ach? Warum diese Wasserbesessenheit, frage ich mich?» Sie hatten beide Plastiklätze umgebunden, mit einem Bild von einem roten Hummer darauf.

«Das muß wahrscheinlich so kommen, wenn man in Australien im Hinterland aufwächst. Genau wie die Araber in fließende Brunnen verliebt sind.»

«Ich weiß noch, wie du von London nach Georgetown kamst», sagte Arthur und stach mit einem silbernen Hummerpick in eine Hummerschere. «Du hast dich aufgeführt, als hättest du noch nie die Sonne gesehen. Jedesmal, wenn sie herauskam, ranntest du in den Garten und lagst einfach da. Ich fing an zu denken, ich hätte eine Eidechse geheiratet.»

Hannah lächelte.

Als sie ein Stück Hummer in die geschmolzene Zitronenbutter tauchte, dachte sie plötzlich: War das nicht genau das, was ihre Klienten machten? Überkompensieren für das, was ihnen als Kind gefehlt hatte? Partner suchen, die dasselbe Geschlecht hatten wie der Elternteil, der am wenigsten erreichbar für sie gewesen war? Im Kopf ging sie die Lebensgeschichten von verschiedenen Klienten durch. Väter waren kaum je erreichbar. Vielleicht war das der Grund, weshalb so viele Frauen heterosexuell waren und so viele Männer versteckte Homosexuelle?

206

«Ich wüßte jetzt zu gerne, was du gerade denkst», sagte Arthur, während er den Schwanz des Hummers spaltete.

«Ich bringe es noch nicht so ganz zusammen.» Sie kaute an einem winzigen Hummerbein. Sie wußte, daß es kein Problem war, ihren Gedanken schweigend weiter nachzugehen. Nach all den Jahren waren Worte zwischen ihr und Arthur unwichtig geworden. Sie konnten jeweils die Stimmung des anderen an den kleinsten Bewegungen ablesen. Und wenn einer von beiden redete, dann waren es oft die Worte, die der andere gerade dachte.

Alle paar Jahre fügten sich die Hunderte von Stunden an Mitteilungen von Klienten zu einem Muster zusammen, das sie zuvor nicht gesehen hatte. Leblose Lehrbuchtheorien, bei denen sie an der Universität intellektuell zustimmend genickt hatte, bekamen plötzlich, eingekleidet in die Erfahrungen ihrer Klienten, ein anschauliches neues Leben. Das konnte zu allen möglichen Zeiten passieren – während der Therapie, aber noch öfter beim Einkaufen, oder während sie an der Küste von Maine Hummer in geschmolzene Butter tauchte. Es war ein Gefühl wie etwas, das sie einmal am Lake Glass beobachtet hatte: Während des Tauwetters im Frühling brach die ganze Eisdecke mit einem donnerartigen Krachen auf, die Stücke segelten hoch in den Himmel.

Während sie mit beiden Händen den Schwanz des Hummers abbrach, überprüfte sie ihre Idee von verschiedenen Blickwinkeln, wie ein Goldgräber, der Erz inspiziert, um herauszufinden, ob es sich um falsches oder um echtes Gold handelt. Sie nickte sich selbst zu. Arthur schaute sie an und lächelte. Er aß mit der Gabel Krautsalat aus einem kleinen Plastikbecher. Gleichgültig, was sie im Lauf der Jahre behauptet hatte – sie war gegenüber Homosexuellen voreingenommen gewesen. Sie hatte Homosexualität als angemessene Reaktion auf bestimmte Kindheitsfaktoren akzeptiert, privat jedoch hatte sie ihre monogame Ehe mit einem Mann als «normaler» angesehen. Aber Caroline beispielsweise war nicht weniger «normal» als irgendeine heterosexuelle Klientin oder als Hannah selbst. Sie war klug, freundlich, kompetent, attraktiv und witzig. Selbst wenn man sich die größte Mühe gab, man konnte sie nicht als Trauerkloß oder Sonderling abtun.

Hannah reinigte sich die Finger sorgfältig an einem Tuch und nahm ihren Plastiklatz ab. Dabei erinnerte sie sich, wie sie während der Therapie Maggies Gesicht mit den Fingerspitzen hatte berühren 207wollen, wie sie ihr Gesicht zwischen Maggies Brüsten vergraben und Maggies Hände auf ihrer Haut hatte spüren wollen. Und jetzt saßen alle diese gesunden jungen Lesbierinnen in ihrem Sprechzimmer, beschrieben ihr Liebesleben in sämtlichen Details und wollten sie sexuell als Ersatz für die Mama, ob sie sich dessen bewußt waren oder nicht. Sie müßte körperlos sein, um sich nicht zu einigen von ihnen körperlich hingezogen zu fühlen. Vor allem gegen Ende, wenn es ihnen besser ging und sie das ihr zuschrieben. Bildhauer hatten einer vollendeten Statue gegenüber vermutlich dasselbe Gefühl wie sie gegenüber Klienten, kurz vor Beendigung der Therapie: unglaublichen Stolz darauf, diese heitere Erscheinung vor sich zu sehen, die aus einem kalten grauen Block des Elends entstanden war. Aber sie war dieser Anziehung nie gefolgt. Caroline hatte Liebhaber und Ehemänner gehabt, und doch suchte sie Frauen. Worin bestand der Unterschied zwischen ihnen?

Einmal darin, daß Hannah als Einzelkind von ihrer Mutter angebetet worden war. Sie wußte das aus den Briefen, die ihre Mutter an ihre Großmutter geschrieben hatte. Ihre Großmutter hatte auf ihre reservierte Art ebenfalls für sie geschwärmt. Aber ihr Vater hatte sie im Stich gelassen und war nach Trinidad gegangen, und ihr Großvater war die ganze Zeit in der City von London gewesen, so daß sie sich kaum erinnern konnte, wie er überhaupt ausgesehen hatte. Daher ihr Verlangen nach einem Mann; das sehr früh eingesetzt hatte, im Gärtnerschuppen in Sussex mit Colin.

Als sie und Arthur in Pullover und Anoraks eingehüllt einen Klippenweg über den brechenden Wellen entlanggingen und die eiskalte Gischt sie ins Gesicht stach, da dachte sie an Colin mit seinen blaßblauen Augen und seinem teigigen Teint. Als sie von ihren Aktivitäten auf dem Steinfußboden schwanger wurde, heiratete er sie pflichtbewußt und nahm sie zum Entsetzen aller, die sie kannte, mit nach Bow im Londoner East End. Er arbeitete im Hafen, und sie richtete ihr kleines, schäbiges viktorianisches Reihenhaus her, in einer Querstraße zur Roman Road. Hannah kannte das East End bis dahin nur von den Busfahrten, die sie als Mädchen unternommen hatte. Nach Hampstead und Sussex war es, als würde sie in einem fremden Land leben. In Hampstead gab es in den Geschäften Papayas und Mangos, Bocksbart und Kohlrabi, Spezialitäten aus jedem Winkel jenes Weltreiches, in dem die Sonne nie unterging. (Glücklicherweise, denn die Sonne ließ sich in England 208selbst nie sehen.) In Bow gab es Kohl, Rosenkohl, Kartoffeln und Äpfel. In den Bäckereien in Hampstead gab es Sahnekuchen und Rosinenbrötchen, Croissants und Dutzende verschiedener Brotsorten. In Bow gab es Weißbrot und teigigen Apfelkuchen. In Hampstead gab es kleine Spezialgeschäfte, deren Besitzer sich mit singender Stimme nach dem Befinden der Großeltern erkundigten. In Bow gab es heisere Straßenmärkte, wo die Leute lachten und schrien, stritten und handelten und sich gegenseitig Ducki, Darling, Luv und Girlie nannten. In Hampstead lebten die Engländer. In Bow lebte der Abschaum des Empires – Cockneys und eine verlorene Australierin, über deren Zwitterakzent sie sich lustig machten.

Das gefiel ihr anfangs, nachdem sie sich von dem Schrecken einer unerwünschten Schwangerschaft und einer erzwungenen Ehe erholt hatte – und von dem Zorn ihrer Großmutter über beides. Sie hängte den Mimi-Geist in der Küche auf, und er schien nach Bow besser zu passen als nach Hampstead oder Sussex. Nach Simons Geburt verbrachte sie lange, träge Nachmittage damit, ihn neben dem Kohleofen im Wohnzimmer zu stillen. An warmen Nachmittagen stellte sie ihn im Kinderwagen in den winzigen Garten, während sie Unkraut jätete und den Blumen gut zuredete. Oder sie schob ihn im Kinderwagen zum Victoria Park, wo sie den anderen Müttern freundlich zunickte und sich Mühe gab, nicht den Mund aufzumachen, damit sie nicht merkten, wie wenig sie zu ihnen gehörte.

Aber Simon hatte Koliken und schrie viel, und Colin fing bald an, abends in den Duke of Chicester Pub an der Ecke zu gehen. Hannah begann, an ihm herumzunörgeln, weil sie das Bedürfnis hatte, mit jemandem zu reden, nachdem sie den ganzen Tag mit einem winzigen Baby verbracht hatte. Colin fing an, sich nach einer Frau zu sehnen, die nicht nörgelte. Er fand eine, oder mehrere, und war noch öfter weg. Also war Hannah noch einsamer und nörgelte noch mehr. Das Durchschnittsdrama auf beiden Seiten des Atlantiks, das Hannah seither von so vielen Klienten zu hören bekommen hatte. Obwohl ihr damals – von Colin zurückgewiesen, von den Nachbarn isoliert, von ihren Freunden in Hampstead und Sussex verachtet – ihr Elend einmalig vorkam.

Hannah suchte Trost bei Simon, der ihre Nervosität und Angst spürte und noch lauter schrie. Also war Colin schließlich kaum 209mehr zu Hause. Und wenn er da war, dann nur deswegen, um einen Klotz nach dem brüllenden Simon zu werfen, der nur knapp die weiche Stelle an seinem Kopf, wo sein Puls schlug, verfehlte. Als sie Colin eines Abends anflehte, er solle doch zu Hause bleiben, packte er die Walnußtischuhr, die er in Sussex für sie gemacht hatte, warf sie auf den Boden und zerhackte sie mit einer Axt in kleine Stücke. Später in der Nacht wachte Hannah auf, als Colin ihr gerade die Bettdecke wegzog und einen seiner Trinkkumpane aufforderte, er solle doch die «feine Nutte vögeln».

Es war ein Segen, daß der Krieg ausbrach und vielen solcher häuslichen Tragödien überall in Europa ein Ende setzte. Colin gehörte zu den ersten, die sich meldeten, um gegen die Nazis zu kämpfen, und zu den ersten, die in einem flachen Grab an der Maas vermoderten. Alle Leute, selbst ihre hitzige Großmutter, hatten Mitleid mit ihr: allein mit einem kleinen Kind, der Mann im Krieg gefallen. Sie lobten sie für ihren Mut. Sie sprach mit niemandem darüber, wie erleichtert sie war, daß sie ihn los war.

Sie hatte dieses friedliche Alter verdient, sagte sie sich, hakte sich bei Arthur unter und drückte seinen Arm. Mit ein bißchen Glück und mit viel Ausdauer.

«Bist du fertig mit Denken?» fragte Arthur, und sie blieben auf dem engen, zerklüfteten Klippenpfad stehen.

Sie nickte.

«Gut.» Er wandte sich um und küßte sie, während kreischende Möwen in dem verstrickten Seegras unter ihnen herumpickten.

4

Caroline lieferte die Jungen bei Jacksons Frau in seinem Haus in Newton ab, diesem Monstrum im Neo-Tudor-Stil mit seinem falschen Fachwerk. Er hatte das Haus vor vielen Jahren für Caroline gekauft, und es war spannend gewesen, den Stoff für die Möbelbezüge auf die Teppiche abzustimmen, sich zu überlegen, wie viele verschiedene Möbelstile man in einem Zimmer mischen konnte, so daß es bewußt zusammengestellt und nicht einfach unordentlich aussah. Jackson war genauso begeistert gewesen wie sie, daß er sich 210all diesen Luxus leisten konnte, den er nicht gehabt hatte, als er in dieser Fabrikstadt aufwuchs.

«Wir freuen uns so, daß Jackie und Jason kommen», sagte Deirdre an der Tür.

Caroline betrachtete Deirdres wohlfrisierten kastanienbraunen Kopf und überlegte sich, ob sie ihn wohl schon einmal in den Backofen gesteckt hatte. Deirdre würde die Woche damit verbringen, mit den Jungen ins Kindermuseum, ins Naturwissenschaftliche Museum, ins Marionettentheater und ins Kino zu gehen. Jackson ging vielleicht mit ihnen in den Durgin Park und zu einem Eishockeyspiel. Ansonsten war er bestimmt im Krankenhaus. Ihre Koffer in der Hand, machten die Jungen höfliche und erwartungsvolle Gesichter. Vielleicht würde sich ihr Vater diesmal in Gabriel Kotter verwandeln. Gegen Ende der Woche würden sie sich gegenseitig windelweich prügeln aus Frustration darüber, daß Jackson immer noch Jackson war.

«Ich bin wirklich froh, daß sie zu euch kommen können, Deirdre», sagte Caroline und küßte beide Jungen auf den Kopf. «Wie immer.»

Als sie auf der Route 9 durch den spärlichen Abendverkehr Richtung Boston fuhr, dachte sie an Jacksons Schock, als sie ihm mitgeteilt hatte, sie gehe fort. Sie segelten gerade auf ihrer Segelyacht durch den Bostoner Hafen.

«Aber Caroline, ich verstehe das einfach nicht», sagte er und zog die Krempe seiner dunkelblauen griechischen Fischermütze herunter. «Was willst du denn eigentlich?»

«Ich weiß nicht.»

«Aber habe ich dir nicht immer alles gegeben, was du wolltest? Das Haus, Möbel, Kleider, Autos, alles?»

«Ja, das stimmt, Jackson.» Sie saß auf einem Kapitänsstuhl und trank Gin und Tonic. Er hatte recht. Der Mercedes, das Neo-Tudor-Haus, die Yacht. Das war toll gewesen nach all den Jahren, die sie mit ihrem Vater verschrumpelte Kartoffeln gesammelt hatte.

«Also, was ist dann los?»

«Ich weiß nicht.» Jackson hatte mit Schwung die Brötchen nach Hause gebracht, aber sie wollte die ganze Bäckerei.

«Sag, was du willst, und es gehört dir. Möchtest du ein neues Haus bauen? Noch ein Kind haben? Nach Abaco reisen? Was du möchtest, Caroline.»

211

«Aber ich möchte gar nichts.» Sie war genauso verwirrt wie er. Wie wäre es mit einem De Luxe-Küchengerät und einer vollständigen Ausgabe von Julia Childs Kochbüchern? Nein, dieser ganze Schrott hing ihr meilenweit zum Hals heraus. Sie würde es alles nach Kambodscha schicken, wenn es dort etwas nützen würde.

«Wieso ist dann das, was du hast, nicht genug? Liegt es am Sex? Du scheinst doch ganz zufrieden mit unserem Liebesleben zu sein.»

«Nein, es liegt nicht am Sex.» Sie biß sich auf die Zunge. Vielleicht lag es doch am Sex. Es machte ihr immer noch Spaß mit Jackson, bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen es stattfand, aber wenn sie ehrlich war, fand sie es viel spannender mit David Michael. Aber möglicherweise deswegen, weil es verboten war und sich an Orten wie dem Vorratsraum am Mass General ereignete, wo sie seit neuestem wieder an zwei Nachmittagen in der Woche ohne Bezahlung arbeitete, als ein Versuch, ihre Schuldgefühle wegen der Invasion in Kambodscha zu lindern.

«Was ist es dann? Zum Teufel, ich habe dich sogar diesen Webereikurs und die unbezahlte Arbeit machen lassen. Obwohl du manchmal nicht zu Hause bist, wenn ich da bin. Vielleicht solltest du aufhören. Was willst du denn wirklich?»

«Ich weiß es nicht.» Sie hatte nur ein unbestimmtes Gefühl, daß sie, wenn sie nicht ginge, im Backofen landen würde. «Ich möchte etwas Richtiges machen.» Etwas, was die wühlende Unruhe in ihrem Bauch aufhören ließe, die sie immer empfand, wenn sie abends allein dasaß und auf Jackson wartete und das Grauen in den Abendnachrichten anschaute. Weben war nichts Richtiges, es machte Spaß. Unbezahlte Arbeit war auch nichts Richtiges. Sie machte die Drecksarbeit, die die anderen Krankenschwestern nicht tun wollten, aber sie hatte eine Ausbildung und Erfahrungen, die brachlagen.

«Etwas Richtiges! Was ist richtiger als zwei Söhne, die dich brauchen? Als ein Ehemann, der dich liebt?»

Sie wußte, daß er recht hatte. Eine Zeitlang waren seine Bewegungen in ihr genug gewesen, die Erinnerung an vergangene Begegnungen, die Erwartung zukünftiger. Eine Zeitlang war es genug gewesen, ihre Söhne an die Brust zu nehmen und zu beobachten, wie ihre blassen Bäuche von ihrer Milch anschwollen wie aufblasbare Kissen. Eine Zeitlang war es genug gewesen, Topflappen und Geschirrtücher aufeinander abzustimmen. Aber Jackson 212war jetzt nie zu Hause. Die Babies waren kleine Jungen, und alles, was sie von ihnen zu Gesicht bekam, war der Staub, den ihre Dreiräder aufwirbelten, wenn sie davonfuhren. Die Tapeten, die sie vor acht Jahren so sorgfältig ausgewählt hatte, sahen inzwischen schäbig aus und blätterten ab, aber sie hatte kein Interesse daran, sie zu ersetzen. Es war Zeit, zu etwas Neuem überzugehen. Sie hatte ihr Gefühl von Sinn und Zweck verloren. Sie brauchte es wieder. Und David Michael bot ihr das.

«Vielleicht sollte ich bei Dr. Sauerman einen Termin für dich ausmachen. Er könnte dir Antidepressiva verschreiben.»

«Es ist zu spät, Jackson. Ich bin schon weg.»

«Was redest du denn, Caroline? Du sitzt hier auf meinem verdammten Boot. Mußt du denn die ganze Zeit so intensiv sein? Hör zu, wenn du denkst, du hättest Probleme, dann solltest du mal die Patienten im Krankenhaus sehen, mit denen ich jeden Tag zu tun habe …» Sein Piepser begann zu piepen, und er drehte sich auf seinem drehbaren Sitz herum, um den Motor für den Spurt zur nächsten Telefonzelle auf Hochtouren zu bringen.

Als sie auf dem stampfenden Deck saß und sich an den Armlehnen ihres Kapitänstuhls festklammerte und dabei Jacksons ernstes Kapitän-Ahab-Profil betrachtete, sein entschlossenes Kinn und die unerbittlichen Augen, war Caroline gelähmt vor Angst. Was tat sie da überhaupt? Gab es irgendeine Möglichkeit, zurückzunehmen, was sie gerade gesagt hatte? Sie würde David Michael sausen lassen, ihre unbezahlte Arbeit aufgeben, den Webstuhl im Kamin verfeuern. Es war ihre Schuld, daß diese Ehe so mies war. Kein Wunder, daß Jackson nie nach Hause kam. Was hatte sie ihm zu Hause schon zu bieten – eine langweilige, trostlose, depressive Niete. Sie wollte sich vor seinen weißen Tennisschuhen und Mannschaftssocken auf die Knie werfen und um Verzeihung bitten, während er wild das Steuerrad von einer Seite zur anderen warf, um dem Kielwasser der anderen Boote auszuweichen. Wenn Jackson nicht mehr Teil ihres Lebens war, würde keiner dasein, der sie als langweilige, trostlose, depressive Niete von Hausfrau und Mutter sah. Und wenn sie das nicht war, wer war sie dann?

 

In Boston ging Caroline in eine Sauna, von der Pam ihr erzählt hatte, im Kellergeschoß eines steinernen Bürogebäudes in der Nähe des Prudential Center. Sie verstaute ihre Kleider in dem Umkleideraum 213mit grauem Teppichboden im Schließfach, duschte und tauchte in die leere Sauna aus Zedernholz. Als sie in dem matten Licht mit geschlossenen Augen auf ihrem Handtuch auf dem oberen Brett lag, dachte sie an den Tag, als sie aus dem Haus in Newton wegging und die Jungen und mehrere Koffer in David Michaels Bus lud, auf dessen Rückfenster eine Szene von Maos Langem Marsch abgebildet war. Jackson stand verstört im Hauseingang. Er hatte sie angefleht zu bleiben. Der Piepser an seinem Gürtel piepte, und er bemerkte es nicht einmal. David Michael legte den Arm um ihre Schulter, um ihr beim Einsteigen behilflich zu sein, und beäugte Jackson am anderen Ende der Auffahrt wie einen rivalisierenden Hirsch. Als sie wegfuhren, fragte sie sich immer wieder, was sie da eigentlich machte: Sie verließ ein schickes Haus, voll mit allen Dingen, die man sich nur wünschen konnte, und mit vielen Dingen, die kein Mensch wollen konnte. Es ist nicht genug, sagte sie sich und wußte nicht, was sie damit meinte. Dort, wo sie hinging, gab es so viel weniger, jedenfalls an Komfort. David Michael lebte in einer verdreckten Kommune in einem riesigen weißen Haus in Somerville, mit einem Dutzend anderer Leute, für die sautierte Bambussprossen der Inbegriff eines guten Essens waren.

Als sie David Michael das erste Mal sah, «befreite» er gerade Medikamente für die People's Free Clinic aus dem Vorratsraum des Mass General, in hellgrüner Krankenhauskleidung als Angestellter verkleidet; seinen Pferdeschwanz hatte er unter eine Operationsmütze gestopft, sein Fu-Mandschu-Schnurrbart war feucht von nervösem Schweiß. Er packte sie an den Schultern und beschrieb seine Klinik mit großer Eindringlichkeit, um sie davon abzubringen, ihn zu melden; und er gebrauchte Ausdrücke wie «die Entfremdung der Menschen vom Gesundheitssystem». Er redete von dem Mangel an menschlicher Anteilnahme auf seiten des medizinischen Establishments; er sagte, dessen Mitglieder dienten nur einer Hierarchie, die ihren Vorteil sicherte. Alles, was er vorbrachte, war eine Anklage gegen Jackson. Gelähmt von den Händen auf ihren Schultern und den wildfunkelnden dunklen Augen, die in die ihren blickten, stand Caroline da. Am Ende seines Vortrags willigte sie ein, ihm zu helfen.

Woche für Woche tauchte David Michael an den Nachmittagen, an denen sie arbeitete, in seiner grünen Krankenhauskleidung auf. Sie ließ ihn in den Vorratsraum, während er nervös den Korridor 214hinauf- und hinunterblickte, mit feuchtem und bebendem Schnurrbart. Sie bewachte die Tür, und er füllte seinen Sportsack. Danach saßen sie manchmal auf dem Vordersitz seines waldgrünen Busses auf dem Parkplatz und redeten. Sie erfuhr, daß er aus einer wohlhabenden Familie in Marblehead stammte und daß er St. Paul's, Harvard, und dann die medizinische Fakultät in Harvard besucht hatte. Inzwischen hatte er seine Klassenprivilegien abgelegt, die er seiner Meinung nach einem kapitalistischen Räuberbaron von Großvater verdankte, der sie als Textilindustrieller in Neuengland auf Kosten von Tausenden von Arbeitern an sich gerissen hatte. Dadurch, daß er in den Slums von Somerville kostenlose ärztliche Versorgung anbot, versuchte David Michael wiedergutzumachen, was sich seine Familie in einem Jahrhundert hatte zuschulden kommen lassen. Sein Vorbild waren die barfüßigen Ärzte von Maos Revolution.

Seine Familie hielt ihn für übergeschnappt. Caroline fand ihn wunderbar. Wenn sie ihn so intensiv und hingebungsvoll sprechen hörte, dann regte sich tief in ihr etwas, ihr Idealismus, der während all der Jahre blindwütiger Anschaffungen in Jacksons Neo-Tudor-Palast geschlummert hatte.

Eines Nachmittags brachte David Michael sie mit dem Bus zur People's Free Clinic in einer Ladenwohnung in einer Einkaufsstraße in Somerville. Die Wände waren mit Postern von Kambodscha, Südafrika, Zimbabwe und Chile bedeckt. Hungernde Kinder mit glanzlosen Augen und aufgedunsenen Bäuchen schauten von Fotos herab. Die Reihe von Klappstühlen war besetzt mit Pennern, Landstreicherinnen, Sozialhilfemüttern, die kleine Kinder im Arm hielten. Caroline hatte das Gefühl, sie sei nach Hause gekommen. «Das ist phantastisch», sagte sie, als David Michael ihr die Untersuchungszimmer zeigte. Er stellte sie einer Krankenschwester namens Clea vor, deren lange blonde Haare ihr über den Rücken hingen wie ein Umhang aus Satin.

Clea sagte: «David Michael hat uns von dir erzählt. Willst du vielleicht bei uns mitmachen? Wir könnten deine Hilfe gut brauchen.»

Caroline schaute David Michael an. Bisher war ihr nicht bewußt gewesen, daß er Pläne für sie hatte. Sie war nicht abgeneigt. Sie fühlte sich eindeutig zu Leuten hingezogen, die von sich selbst per «wir» redeten.

215

Danach nahm David Michael sie in sein Eckzimmer hinten im zweiten Stock der Kommune mit. Sie betraten das Zimmer durch das Fenster, nachdem sie eine Feuertreppe hinaufgeklettert waren. In dem dunklen, vollgestopften Kämmerchen rauchten sie einen Joint, dann liebten sie sich auf dem ungemachten Bett, einer Matratze auf dem Fußboden. David Michael nahm sich Zeit – lange, langsame Stöße, die ihr den Atem raubten. Mit jedem Stoß ging er beinahe wieder heraus, bevor er dann erneut in sie eindrang, bis sie schließlich seine Hüften festhielt, um ihn drin zu behalten. Er grinste zu ihr herunter.

Später, als die spätnachmittägliche Sonne durch die amerikanischen Flaggen drang, die die Fenster bedeckten, als ihr Schweiß trocknete und sie frösteln ließ, wurde Caroline sich bewußt, daß dies ihre ganze Ehe auf den Mond schießen könnte. Und sie war froh.

Als David Michael das nächste Mal ins Mass General kam, schob er einen Stuhl unter die Türklinke, damit man die Tür nicht öffnen konnte. Nachdem er seine Tasche mit Medikamenten vollgestopft hatte, drängte er sie in eine Ecke, zog ihr das Höschen herunter und drang stehend in sie ein. Sie wurde fast ohnmächtig vor Lust, so daß sie sich nicht auf den Füßen halten konnte, also ließ er sich auf einen Stuhl fallen, und sie saß rittlings auf ihm und bewegte sich auf und ab.

Nachdem sie in ein Zimmer in der Kommune gezogen war, mit Jackie und Jason im Zimmer nebenan, unterstützte David Michael nicht nur ihren Wunsch, Sinn und Zweck wiederzufinden, er bestand sogar darauf. Als sie sich in ihrer ersten Nacht dort auf der Matratze auf dem Fußboden in seinem Zimmer in den Armen hielten und die amerikanischen Flaggen an den Fenstern sich im Luftzug hin und her bewegten, erläuterte er ihr, ihre Beziehung, ihre Mahlzeiten, ihre Wohngelegenheit seien nur wichtig, um ihnen die Kraft zu geben, für alle Menschen zu arbeiten. Eine gewisse Anzahl von Orgasmen in der Woche sei unentbehrlich, um sich von körperlichen Ansprüchen zu befreien. Eine gewisse Anzahl von Joints und Quaaludes sei unentbehrlich, um den Seelenfrieden zu erhalten, der ihnen ermöglichte, wirksam zu heilen. Caroline war begeistert. Sie war nicht mehr eine langweilige, trostlose, depressive Niete. Wie Clea war sie jetzt eine Heilerin, die wußte, was sie tat, eine Dienerin der Menschheit, eine Clara Barton, die ihren Bürgerkrieg gefunden hatte …

216

Caroline stand auf und goß eine Kelle Wasser auf die heißen Steine in der Ecke der Zedernholzsauna. Das Wasser zischte und stieg als Dampfwolke auf. Sie legte sich wieder hin, inhalierte den heißen Dunst und dachte daran, wie gerne sie anfangs in der People's Free Clinic gearbeitet hatte. Ihr Gefühl der Sinnlosigkeit schwand dahin angesichts der Mühen, die Miete und die Medikamente für die Klinik zusammenzukratzen, die Miete und das Essen für die Kommune. Wenn sie nicht in der Klinik war, dann webte sie in ihrem Zimmer oder versuchte, das Gewobene zu verkaufen. Oder sie kochte und putzte. Oder sie organisierte Medikamente aus dem Krankenhaus oder Lebensmittel aus den Mülltonnen des Supermarkts. Oder sie traf sich wegen gewisser Patienten mit Sozialarbeitern. Oder sie liebte sich mit David Michael und hörte sich seine Pläne an, eine Kette von Kliniken überall in Boston und dann im ganzen Land zu schaffen. Auf Jackie und Jason paßte auf, wer gerade da war. Manchmal gingen sie in eine Kindertagesstätte in der Nähe. Carolines Leben wurde eine einzige lange Sitzung – Haussitzungen; Mitarbeitersitzungen; Kindertagesstättensitzungen; Sitzungen, auf denen Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg und Mietstreiks gegen Hausbesitzer organisiert wurden; Sitzungen, auf denen Alternativen zur Kleinfamilie diskutiert wurden, Alternativen zum Gesundheitssystem, Alternativen zum Kapitalismus, Alternativen zur Monogamie, Alternativen zu Alternativen. Sie, Clea, David Michael und die andern waren eine große, glückliche Familie. Wieder einmal hatte sie die Leere gefüllt.

Unglücklicherweise gehörten zu David Michaels Verfahren, sich von körperlichen Ansprüchen zu befreien, mit der Zeit auch Orgasmen mit anderen Frauen. Caroline erstarrte und verstummte abends, wenn sie ihn und Clea die Treppe zu seinem Zimmer hinaufsteigen sah. Wer mit wem schlafe, sei unwichtig angesichts der Trockenheit in der Subsahara, meinte er. Und da Caroline das nicht leugnen konnte, versuchte sie, es zu akzeptieren. Sie und Clea fingen an, sich mit Sandra zu treffen, einer anderen Frau aus der Kommune, die sich anbot zu vermitteln, während sie ihre Feindseligkeiten austrugen. Caroline warf Clea vor, sie habe ihr den Mann weggenommen. Clea warf Caroline bürgerliches Besitzdenken vor. Caroline warf Clea intellektuelles Elitedenken vor. Als ihnen dann die Vorwürfe ausgingen, saßen sie angespannt und schweigend da, und Caroline begriff langsam, warum David Michael mit Clea ins 217Bett gehen wollte. Sie fing an, glühende Träume von nackten Frauenkörpern mit langen goldenen Haaren und großen, weichen Brüsten zu haben. Wenn sie und David Michael sich liebten, stellte sie sich manchmal vor, er hätte Brüste und sein Penis sei Cleas Hand.

Nach mehreren stummen Sitzungen sagte Clea eines Nachmittags: «Komm, Caroline, liegt dir wirklich so viel an diesem narzißtischen Idioten?» Caroline lächelte erleichtert, und sie gingen Hand in Hand nach oben in Carolines Zimmer, und Sandra nickte ihnen von dem Autositz im Wohnzimmer zustimmend nach …

Caroline kletterte in den gekachelten Whirlpool, ließ sich langsam in das heiße Wasser sinken und legte ihre Füße auf den gegenüberliegenden Sitz. Während das sprudelnde Wasser über ihre Brust wirbelte, schloß sie die Augen und dachte daran, was für ein Gefühl es gewesen war, Cleas Brüste anzufassen, weich, schwer und glatt wie Brotteig …

Als sie die Augen öffnete, stieg gerade eine Frau mit kurzen hellbraunen Haaren ins Becken. Sie sah aus wie Carolines Gruppenleiterin aus dem Ferienarbeitslager in New York State, das von den Quäkern organisiert worden war und an dem sie als Mädchen teilgenommen hatte. Sie halfen Algonkin-Indianern, ein Freizeitzentrum zu bauen. Joyce unterrichtete Holzwerken. Alle nannten sie Jo-Jo. Sie war groß, schlank, gesund und freundlich und trug blendend weiße Blusen mit langen Ärmeln, die sie zweimal umschlug, um ihre dunkel gebräunte Haut und die gebleichten Haare auf ihren Unterarmen zu zeigen. Caroline hatte mit rasender Konzentration Knoten gemacht und Dreifüße gebunden, um Jo-Jos Anerkennung zu erringen.

Die Frau lächelte und nickte Caroline zu, als sie sich hinsetzte. Sie hatte einen hervorragenden Kieferorthopäden gehabt, und ihre Augen waren feuchtbraun wie die von Arnold. Schäumendes Wasser spülte über die hohen, festen Brüste der Frau und ließ die braunen Brustwarzen steif werden. Caroline fühlte einen scharfen Stich des Verlangens. Die Leute kamen und gingen, aber auf ihre Lust konnte sie sich immer verlassen. Sie war das einzige verläßliche Element in ihrem Leben gewesen. Caroline konnte jede Menge an Mißbrauch aushalten, solange die sexuelle Verbindung mit jemandem intakt war. Aber wenn die verschwand, dann verschwand sie selbst. Sie erinnerte sich an den Abend, als sie David Michael 218erzählte, sie ziehe in Dianas Haus in New Hampshire. Er atmete mit einem zischenden Geräusch den Rauch von seinem Joint aus. Sie lagen auf seiner Matratze, im Licht einer Straßenlaterne. Die amerikanischen Flaggen an den Fenstern flatterten im Frühlingswind wie an Fahnenstangen.

«Ich wußte, du würdest es nicht durchhalten, Baby, ohne dein schickes Haus und das Boot und den Mercedes», sagte David Michael und reichte ihr den Joint.

«Das hat nichts damit zu tun.» Sie hielt den restlichen Zentimeter von Joint zwischen Daumen und Zeigefinger und versuchte, daran zu ziehen, ohne sich die Finger zu versengen.

«Natürlich hat es was damit zu tun.»

«Aber das stimmt nicht.»

«Womit hat es dann etwas zu tun?» Sie gab ihm das feuchte Stückchen glimmendes Papier zurück.

«Ich weiß nicht genau.» Daß er mit Clea schlief, hatte etwas damit zu tun. Daß sie mit Clea schlief, hatte auch etwas damit zu tun. Wenn Clea nicht darauf beharrte, daß die Nächte, die sie und Caroline gemeinsam verbrachten, reiner Zufall waren, dann tat es Caroline. Die große, glückliche Familie war dabei, auseinanderzubrechen. Diana hatte aus New Hampshire geschrieben, daß Mike aufgebrochen sei, um seinem Stern zu folgen, und daß sie jemanden brauche, mit der sie zusammenleben und an deren Schulter sie sich ausweinen könne. Also griff Caroline auf eine alte Lösung zurück: dumpfer Rückzug; und das Schlachtfeld überließ sie Clea und David Michael.

«Weißt du es nicht, oder willst du es nicht zugeben?» sagte David Michael und reichte ihr den Joint, der nicht einmal mehr einen halben Zentimeter lang war und den er zwischen den Fingernägeln hielt. Es war wie beim Schwarzen Peter: Du willst nicht als letzte mit dem Joint in der Hand dasitzen. «Willst du nicht zugeben, daß du deinen Luxus vermißt? Daß du nur eine langweilige, kleine, bourgeoise Hausfrau bist, die sich als Revolutionärin aufspielt?»

«Wie du meinst, David Michael.» Es stimmte vermutlich. Sie hatte aufgehört, an David Michaels Revolution zu glauben. Zu ihren vielen Sitzungen gehörten auch welche mit den Krankenschwestern an der Klinik. Selbst wenn sie sonst wenig zustande brachten, so wurde ihnen doch schließlich klar, daß die Wunden, die sie tagaus, tagein versorgten – von Vergewaltigungen, Messerstechereien, 219Prügeleien und Raubüberfällen -, fast ausschließlich von Männern zugefügt worden waren. Der Kapitalismus war nicht das Problem. Der Rassismus auch nicht. Der Nationalismus auch nicht. Die Männer waren es. Caroline wollte immer weniger mit ihnen zu tun haben, vor allem mit diesem Mann, der da neben ihr lag. Sie zerdrückte die Überreste des Joints in der Radkappe eines Lincoln Continental, die David Michael beim Marsch auf Washington von der Limousine irgendeines Pentagonbeamten gestohlen hatte.

«Verdammt noch mal, verschwende den Stoff nicht! Nicht alle Leute können es sich leisten, herumzulaufen und halbgerauchte Joints auszumachen.»

«Soll das heißen, ich kann es mir leisten?» fragte sie. «Das verdammte Ding gab es ja schon fast nicht mehr.»

«Man muß Opfer bringen, wenn man eine bessere Welt aufbauen will. Und das ist etwas, wovon du keine Ahnung hast, mein Schatz. Ich, ich habe eine lukrative Vorstadtpraxis geopfert.»

«Das ist kein Opfer.» Sie betrachtete seinen Körper – bleich, knochig und haarig in dem wechselnden Licht. Sein Penis glich einer Weinbergschnecke. Welch ein Kontrast zu Cleas festen Formen und weichen Kurven. Sie konnte sich kaum erinnern, was an ihm sie dazu inspiriert hatte, Jackson zu verlassen.

«Okay, dann erzähl du mir mal was von Opfern, Caroline. Du mit deiner Yacht und deinem Mercedes.»

«Ich rede nicht von Yachten. Die sind mir scheißegal. Ich glaube nicht, daß der Aufbau einer besseren Welt irgend etwas mit Yachten zu tun hat.» Womit er zu tun hatte, das wußte sie nicht mehr. Jedenfalls nicht damit, daß man Afterwunden versorgte, während der eigene Liebhaber im Hinterzimmer die beste Freundin durchvögelte.

«Mach, was du willst.» Er stand auf und zog seine hellgrüne Krankenhauskleidung über. «Ich habe sowieso im Moment mehr Mösen, als ich brauchen kann.»

Als sie ihn hinausgehen sah, hatte sie das Bedürfnis, ihre Arme weit auszubreiten, um ihn zurückzurufen. Wenn sie nicht Maid Marion zu David Michaels Robin Hood war, wer war sie dann? Eine langweilige, kleine, bourgeoise Hausfrau, sagte er, aber das war sie schon einmal gewesen, und einen überwachsenen Pfad konnte man nicht wiederfinden …

220

Caroline öffnete die Augen und merkte, daß die Augen der anderen Frau auf ihren Brüsten ruhten. Sie erwiderte den Blick einen Augenblick lang, dann konzentrierte sie sich auf den Wasserstrahl, der gegen ihren Rücken pulsierte. Warum hatten sich ihre Geliebten immer zurückgezogen? Sie hatte ihnen nicht gegeben, was sie brauchten, also suchten sie es anderswo? Aber sie hatte sich immer solche Mühe gegeben. Was wollten sie denn? Diana sagte, sie sei eine Egoistin. Jackson sagte, sie sei zu intensiv. David Michael sagte, sie sei eine langweilige, bourgeoise Hausfrau.

Hannahs Bild tauchte in ihrem Kopf auf, lächelte ihr zu, mochte sie, sagte ihr, sie sei freundlich, sanft und großzügig. Daß es das Problem der anderen sei, wie sie sie sahen, eine Projektion ihrer eigenen Hoffnungen und Ängste. Sie seufzte und spürte, wie die Spannung in ihren Schultern nachließ.

Dann schaute sie sich an, was sie gerade gemacht hatte. Sie hatte Hannah benutzt, um sich besser zu fühlen. Sie war völlig abhängig von ihr geworden. Aber Hannah konnte sterben, wegziehen, von Carolines Bedürftigkeit genug kriegen. Ihre Schultern verspannten sich wieder, und die Spannung breitete sich über ihren Rücken aus.

Sie kletterte aus dem Becken und ging in das Dampfbad, das einer riesigen Duschkabine glich. Sie legte sich auf eine Holzbank, atmete tief und spürte, wie die heiße Luft durch ihre Nase und in ihre Lungen drang. Eine großgewachsene, schlanke weibliche Silhouette stand vor der wolkigen Glastür. Die Tür ging auf, Dampf strömte hinaus, und herein kam die Frau vom Becken. Sie legte sich auf das andere Ende von Carolines Bank. Ihre Füße stießen zusammen. Beide murmelten: «Entschuldigung.»

Mit geschlossenen Augen stellte Caroline sich vor, die Frau würde herüberkommen und neben ihr knien, ihre Brüste streicheln und ihre Brustwarzen küssen. Sie sprang auf, ging hinaus und duschte eiskalt, bis sie völlig gefühllos war. Dann ging sie zu dem obersten Brett in der Sauna zurück.

Die Frau kam herein und streckte sich auf dem untersten Brett aus. Caroline schaute hinunter, auf die langen, gutgeformten Beine und das helle Dreieck der Schamhaare, wo die Beine zusammentrafen. Die Frau öffnete die Augen und begegnete Carolines Blick. Caroline schaute schnell auf die Fugen der Zedernholztäfelung an der gegenüberliegenden Wand und versuchte herauszufinden, ob 221die Frau ihr absichtlich folgte. Eine Frau, die so gesund aussah, war doch bestimmt nicht auf Anmache.

Sie trockneten sich Seite an Seite vor den hellerleuchteten Spiegeln die Haare. Während Caroline ihre Haare mit einer Afrobürste frisierte, betrachtete sie aus dem Augenwinkel die Frau in ihrem beige BH und Slip. Caroline wollte gerne mit der Hand die Kurven der Frau an der Seite entlangfahren und dann die Mulde in ihrem Rücken hoch. Das war alles. Gar nichts Besonderes.

Im Gleichtakt zogen sie auf dem grauen Teppich eifrig ihre Hemden, Jeans, Stiefel über. Die Frau machte den Reißverschluß ihres Anoraks zu und ging zur Tür. Die Klinke in der Hand, drehte sie sich um. «Du mußt entschuldigen, wenn ich das falsch verstanden habe. Ich mache das sonst nie. Aber würdest du gerne mit mir in meine Wohnung kommen?»

Carolines Herz schlug schnell, und ihre Handflächen wurden feucht. «Äh, wie weit?» Als ob es darauf ankäme.

«Ein paar hundert Meter.»

«Klar. Gut.»

Während sie schweigend die Boylston Street entlanggingen, an dunklen Geschäften und lauten Restaurants vorbei, fragte sich Caroline, ob sie sich nicht entschuldigen und sagen sollte, sie habe einen Fehler gemacht. Aber David Michael tat das die ganze Zeit. Viele Männer taten das. Frauen auch, soweit sie wußte. Die Tatsache, daß sie sich den Leuten, mit denen sie sexuellen Kontakt hatte, immer mit Leib und Seele verschrieb, war noch lange kein Grund anzunehmen, daß es so sein mußte. Aber was würde Diana sagen? Ach, Scheiße, wenn Diana sie nicht wollte – andere Frauen wollten sie. Außerdem, wer sagte, daß sie es ihr erzählen mußte? Sie hatten keine solche Beziehung mehr.

Was war mit Brian? Um Himmels willen, was war schon mit Brian? Sie war ein paarmal mit ihm ausgegangen. Sie hatte noch nicht einmal mit ihm geschlafen. Sollte er sich doch um sich selbst kümmern. Sie hatte ihn gewarnt und gesagt, er solle sich eine Frau suchen, die nicht pervers sei. Sie war schlicht und einfach nicht für ihn verantwortlich, wie einsam und verwirrt er sein mochte.

Was war mit Hannah? Ihr Schritt stockte. Was war, wenn Hannah ihr Verhalten abstoßend fand und sie hinauswarf? Hannah war seit Jahrzehnten verheiratet. Aber wer sagte, daß sie monogam war? Aber sie war es bestimmt, sie wirkte so bürgerlich. Aber die 222Freizeitleiterin, die mit den Händen in den Anoraktaschen neben ihr ging, sah ebenfalls bürgerlich aus. Was hatte Hannah überhaupt damit zu tun? Wenn es sie störte, daß Caroline mit jemandem ins Bett ging, dann sollte sie doch selbst mit Caroline ins Bett gehen. Es mußte doch einen Weg geben, diese verdammte Frau aus ihrem Kopf zu kriegen.

Die Wohnung war ein großer Raum im vierten Stock, mit einer Küche in einer Ecke, einem Eßtisch mit Bentwood-Stühlen in der anderen und einem Bett mit vielen Kissen in der dritten. Der Fußboden war aus blankem Eichenholz, auf dem ein paar Teppiche lagen, Pflanzen hingen an Fenstern mit kunstvollen Rahmen, die sich an zwei Wänden von der Decke bis zum Fußboden erstreckten.

«Was für ein gemütlicher Raum», sagte Caroline und zog ihre Frye-Stiefel am Fußabstreifer aus.

«Danke. Für mich ist er ideal. So groß, daß ich mich ausbreiten kann, aber so klein, daß ich nicht viel putzen muß. Möchtest du einen Kaffee oder einen Brandy oder sonst etwas?»

Sie saßen mit überkreuzten Beinen zwischen den Kissen und tranken Brandy aus Schwenkern, während draußen auf dem nassen Pflaster zischend Autos vorbeifuhren. Caroline hatte nicht viel Lust zu reden. Sie wußten beide, warum sie hier waren – nicht, um sich kennenzulernen. Aber gute Manieren waren gute Manieren.

«Gehst du oft da hin?» fragte Caroline.

«Ja. Sehr oft. Und du?»

«Ich war das erste Mal da. Es hat mir gut gefallen.»

«Ja, es ist schön da.» Sie stellte ihren Brandy-Schwenker auf den Fußboden. Caroline tat dasselbe. Sie schauten einander an und warfen langsam alle Kissen vom Bett. Als sie sich ausgezogen hatten, krochen sie unter die handgesponnene Decke. Caroline rieb sie zwischen Daumen und Zeigefinger, automatisch die Webqualität überprüfend.

«Also, wie hast du's gern?» fragte Caroline frisch. Sie wußte nicht, wie das ging.

«Von allem viel», sagte die Frau mit ihrem gesunden Lächeln und streckte ihren langen, schlanken Körper neben Caroline aus. Ihr Körper fühlte sich bereits vertraut an, als Caroline ihn vorsichtig berührte, weil sie ihn von allen Seiten beäugt hatte.

Einen kurzen Augenblick empfand Caroline Panik. Es wäre wahrscheinlich besser, wenn sie jetzt gehen und den Rest ihres 223Lebens darüber phantasieren würde, wie es wohl geworden wäre, als sich darauf einzulassen und die Wirklichkeit peinlich und langweilig zu finden. Es war schon so viele Jahre her, daß sie jemand anderes als Diana berührt hatte. Sie wußte nicht, was sie machen sollte.

Die Frau lächelte ihr Freizeitleiterinnenlächeln, dann gab sie Caroline einen entschieden «ungesunden» Kuß. Caroline fiel ein, daß sie wahrscheinlich herausfinden konnte, was sie machen sollte. Bei allen bisherigen Geliebten war der Sex ein Abbild der ganzen Beziehung gewesen. Alle Belastungen und Erwartungen außerhalb des Bettes waren im Bett in stilisierter Form wieder aufgetaucht, wie in einem balinesischen Tanz. Wie jemand liebte, war ein Modell seiner oder ihrer Persönlichkeit. Der allzeit effiziente Jackson beendete die Sache so schnell wie möglich. David Michael neckte, spottete, entzog sich und hielt zurück. Diana schenkte Vergnügen ohne Rückhalt, nahm es aber manchmal nur zögernd entgegen. Aber Caroline und diese Frau neben ihr, die sie so geübt küßte, hatten keine gemeinsame Vergangenheit und keine gemeinsame Zukunft. Es gab nur den gegenwärtigen Augenblick und zwei gesunde weibliche Lebewesen, die begonnen hatten, einander mit Mund und Händen zu erforschen, wie Schürfer, die sich verirrt haben und in der Wüste auf ein Wasserloch stoßen.

Um die Brustwarzen der Frau waren silberne Streifen, bemerkte Caroline, als sie daran saugte und knabberte. Sie hatte ein Kind, oder mehrere. Aber die Wohnung bestand nur aus einem Zimmer, und es lagen keine Spielsachen herum. Das Kind war erwachsen, fort, tot? Caroline merkte, daß sie es nicht wissen wollte. Daß sie nicht auf das Kind aufpassen wollte, daß sie nicht mit ihr um das Fürsorgerecht kämpfen wollte, daß sie nur körperlichen Genuß geben und bekommen wollte, nur für diesen Augenblick.

Schließlich lagen sie da, ihre Münder, Zungen und Brüste aneinander reibend und ihre Hände ineinander bewegend. Wie eine Blinde, die Blindenschrift entziffert, spürte Caroline mit ihren Fingerspitzen, wie sich das Gewebe der Vagina der Frau von Samt in Cordsamt verwandelte. Sie verstärkte ihre Bewegungen und fühlte, wie sich die Vagina der Frau krampfartig um ihre Finger schloß. Und ihre eigene Laufbahn als Sankt Zölibat endete abrupt in langsamen, bebenden Wogen, die dem Rhythmus der Hand der Frau gehorchten.

224

Später lag Caroline da, die Frau in ihren Armen, und beobachtete, wie von der Straße her die Scheinwerfer durch das Zimmer fegten. So also lösten Frauen das Problem, wer zuerst kommen solle – gemeinsamer Orgasmus? Diana würde das sicher gerne erfahren. Sie dachte mit Genugtuung daran, wie sauer Diana in Wirklichkeit wäre. Aber wahrscheinlich würde sie es ihr gar nicht erzählen. Caroline brauchte ein paar Geheimnisse, um diesen Kampf durchzuhalten.

«Wenn es so im Ferienlager gewesen wäre», murmelte Caroline, «dann wäre ich jeden Sommer gegangen.»

«Wie bitte?» Die Frau stützte sich auf einen Ellbogen auf und schaute fragend auf Caroline herab.

«Hast du eine Ahnung, wie unglaublich gesund du aussiehst?»

«Ja, das habe ich schon öfter gehört», antwortete sie und lächelte mit ihren weißen Zähnen.

Caroline schob die Hände unter den Kopf und genoß es, daß sie nicht wußte und daß es sie nicht interessierte, wer der Frau das gesagt hatte. Sie mußten nicht ihre Mütter kennenlernen oder herausfinden, wieviel Zucker die andere im Kaffee wollte. Sie würden sich nie wieder sehen. Aber sie merkte, wenn sie noch länger bleiben würde, dann würde sie am nächsten Morgen neben der Frau aufwachen, und das gehörte nicht zur Vereinbarung. «Ich fürchte, ich muß gehen.»

Die Frau schien erleichtert zu sein. «Du brauchst dich nicht zu beeilen.»

«Ich werde erwartet», log Caroline. «Was hältst du davon, wenn wir keine Telefonnummern austauschen?»

Die Frau lächelte. «In Ordnung. In meinem Leben gibt es gewisse … Komplikationen.»

«Das ist wahrscheinlich bei uns allen so.»

«Du bist eine wunderbare Liebhaberin. Danke.»

«Danke dir. Es war toll. Laß es dir gutgehen.»

Caroline ging die fast menschenleere Straße zu ihrem Subaru und fühlte sich phantastisch. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß man mit Leuten ins Bett gehen konnte, ohne ihre Schulden zu übernehmen, sie ins Testament aufzunehmen, ihre Kinder zu adoptieren, Salbe auf ihre Hämorrhoiden zu streichen. Sie hatte keine Ahnung gehabt, daß Verantwortungslosigkeit ein derart angenehmes Gefühl sein konnte. Sie begann zu pfeifen: ‹Will you still love me tomorrow?

 

225

Caroline setzte sich und studierte die neue Aussicht auf den Parkplatz. An der Wand neben dem Fenster hing ein Foto, das sie von ihrem normalen Platz aus nie bemerkt hatte. Schwarz und weiß, abstrakt. Sie konnte nicht sagen, was es darstellte.

«Was gibt's Neues bei Ihnen?» fragte Hannah und blickte von ihrem Terminkalender auf. Sie dachte, daß es etwas Neues geben mußte, denn Caroline war seit ihrer letzten Sitzung richtig aufgeblüht – wie eine Kartoffelpflanze, nachdem man alle Kartoffelkäfer abgelesen hat.

«Nicht viel.»

Hannah lehnte sich zurück und zündete eine Zigarette an. «Sie sehen wirklich gut aus heute.» Caroline trug eine Cordsamthose und ein Flanellhemd und hatte ihren Afro schneiden lassen. Die dunklen Ringe unter ihren Augen waren weniger auffallend als sonst.

«Danke. Sie auch.» Hannah hatte Farbe im Gesicht, und sie sah ausgeruht aus.

«Ich war übers Wochenende in Maine. Hummer essen, lesen, ausschlafen, Seeluft atmen. Wunderbar.» Es war auch wunderbar, zurückzukommen und Klienten vorzufinden, denen es in ihrer Abwesenheit gutgegangen war.

Caroline betrachtete sie. Es kam ihr seltsam vor, daß sie dieses ausgefüllte Leben hatte, von dem Caroline so gut wie nichts wußte. Seltsam, bedrohlich. Wenn Caroline keine Macht über sie hatte, dann konnte Hannah kommen und gehen, wie es ihr paßte, selbst wenn Caroline sie gerade brauchte. Sie wünschte, sie könnte sie in eine Gefriertruhe packen und sie nur bei Bedarf auftauen. Dann merkte sie, daß sie Hannahs Bild heraufbeschwören konnte, wann immer sie das wollte, und daß sie das ja auch tat. Hannahs körperlicher Aufenthaltsort spielte keine Rolle. Im Gegensatz zu Pink Blanky konnte ihr Hannahs Bild niemand wegnehmen, nicht einmal Hannah selbst.

Mit einem leichten, zufriedenen Lächeln sagte Caroline: «Ich war in Boston, um die Jungen zu ihrem Vater zu bringen.» Sie hatten gestern abend angerufen, begeistert, weil Jackson Karten für ein Basketballspiel mit den Celtics besorgt hatte. Jackson kam ans Telefon und klang so effizient wie üblich. Weder er noch Deirdre konnten die Jungen am Sonntag nach Hause fahren. Deirdre würde sie am Park Square in den Bus setzen, und Caroline konnte sie hier abholen. Sie mußten nicht umsteigen. Sie würden das schon schaffen.

226

Caroline kämpfte gegen ihre Mutterängste an: Der Bus konnte verunglücken; unterwegs würde jemand sie belästigen und mißbrauchen; sie könnten an einer Raststätte aussteigen und dann in den falschen Bus einsteigen; Jackson war ein fürchterlicher Vater und wurde jedes Jahr schlimmer. Sie horchte auf diese Gedanken. Auf Grund ihrer Sitzungen mit Hannah war ihr klar, daß sie innerlich über Jackson wegen all der Jahre herzog, in denen sie sich von ihm vernachlässigt gefühlt hatte, und das wiederum hatte in gewisser Weise mit ihrem abwesenden Vater zu tun. Die Jungen würden zurechtkommen. «In Ordnung», sagte sie.

«Was?» fragte Jackson, hörbar mit all den Waffen gerüstet, die er gegen ihren Angriff bereit hatte.

«Ich habe gesagt, in Ordnung.» Sie wollte nicht mehr die Rolle seiner ewig kritisierenden Mutter übernehmen.

«Sind Sie in Boston geblieben?» fragte Hannah.

Caroline sagte nichts, dann nahm sie ihren Mut zusammen. «Nur lange genug, um mich vögeln zu lassen.» Sie kam sich vor wie eine Katze, die ihrer Besitzerin eine tote Maus vor die Füße legt. Würde Hannah sie loben odersie hinauswerfen? Ihre Kehle wurde eng vor Angst. Warum hatte sie ihr das erzählt? Hannah mußte doch entsetzt sein. Sie hatte ihre elende Ehe.

«Von wem?»

Carolines Handflächen wurden feucht. Ihre Kopfhaut juckte unter ihrem Afro. «Von einer Frau, die ich in einer Sauna aufgetan habe», sagte sie mit leiser Stimme und betrachtete prüfend die Sohle ihres Snowboot.

«Hat es Spaß gemacht?»

Caroline blickte auf. Hannah lächelte leicht ironisch, offensichtlich nicht entsetzt. Wie war das möglich?

«Ja.»

Hannah zuckte mit den Schultern. «Wie schön.»

Caroline saß schweigend da.

«Worüber sollen wir heute reden?» fragte Hannah. Sie schaute aus dem Fenster und dachte, was für ein Vergnügen es doch war, den orangefarbenen Le Car nicht mehr sehen zu müssen.

Caroline wurde es heiß im Gesicht. Wenn Hannah das so beiläufig übergehen konnte, dann hatte sie bestimmt nicht richtig verstanden. «Das Angenehmste daran war, daß ich danach einfach weggegangen bin. Ich weiß nicht einmal, wie sie heißt.»

227

«Und so verhalten Sie sich normalerweise nicht?»

Caroline war erstaunt. Hannah war es also klar, daß es andere Verhaltensweisen als eine monogame Ehe gab. «Ich verhalte mich normalerweise so, daß ich meinen Geliebten Geschenke kaufe, ihre Pflanzen gieße, ihre Hunde ausführe, für sie Münzen in die Parkuhr werfe.»

«Damit sie dableiben?»

Caroline sagte nichts. War das der Grund, warum sie es getan hatte? Nicht, weil sie eben ein netter Mensch war? Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, irgend etwas anderes zu tun. «Ja, damit sie dableiben.»

«Sie hatten das Gefühl, Sie müßten etwas Nettes tun, damit die anderen Sie liebten?»

«Äh, ich glaube, ja.» Sie schaute sich nach den Papiertaschentüchern um. Wo stand denn diese verdammte Kommode jetzt? Schmerz stieg in ihrer Kehle hoch, wie ein Bach, der über die Ufer tritt. Die Kommode stand direkt neben ihr. Sie legte die Hand auf die vertraute, glänzende Holzoberfläche.

«Merken Sie, wo das herkommt?» fragte Hannah und beobachtete Caroline.

Caroline schloß die Augen und nickte. Sie griff nach einem Taschentuch, während ihr eine Träne die Wange hinunterrollte. «Verdammt noch mal», brummelte sie mit zusammengebissenen Zähnen und tupfte die Träne weg. Ihre Kehle schmerzte von den zurückgehaltenen Tränen.

«Das ist ganz in Ordnung. Weinen Sie, wenn Sie wollen.» Während Caroline ihre Nase putzte, dachte Hannah darüber nach, auf welch verschiedene Arten die Klienten das taten. Manche benützten das gleiche Taschentuch immer wieder. Andere nahmen für jeden Ausbruch ein neues. Manche hörten nicht mehr auf, wenn sie einmal angefangen hatten, und setzten die Tränen dafür ein, den Problemen aus dem Weg zu gehen. Manche brachen auf der Couch zusammen und schluchzten laut; andere suchten Trost bei ihr. Fast so erhellend wie ein Rorschachtest. Manche bissen wie Caroline die Zähne zusammen und kämpften gegen jede Träne, als wäre sie ein Tropfen ätzender Säure.

«Was haben Sie durch diese Frau in Boston gelernt?» fragte Hannah.

Caroline schaute mit roten, verschwollenen Augen auf. «Was?» 228Sie erwartete ein bißchen Sympathie für ihre Tränen, aber Hannah saß nur mit ihrer irritierend geduldigen Miene da.

«Ich glaube, ob eine Erfahrung der Mühe wert war, kann man danach beurteilen, was man daraus Neues lernt.» Sie schaute aus dem Fenster auf den See, vollkommen bewegungslos in seiner Zwangsjacke aus Eis.

Caroline versuchte zu entscheiden, ob sie irgend etwas gelernt hatte. Vor allem war es einfach ein wunderbares Gefühl gewesen, nach so vielen Monaten von einem anderen menschlichen Wesen berührt zu werden. «Ich glaube, ich habe gelernt, daß ich nicht unbedingt will, daß jemand dableibt. Und ich habe außerdem gelernt, daß ich nicht für die Leute die Wäsche waschen muß, damit sie mich wollen. Die Frau sagte, ich sei eine wunderbare Liebhaberin.» Sie warf den letzten Satz hin wie einen Fehdehandschuh.

Hannah lächelte, während sie sich noch eine Zigarette anzündete. Sie freute sich, wenn sie ihre wilden, halbstarken Hörner spürten, die sie vorher nie ausprobiert hatten, weil sie zu sehr damit beschäftigt waren, «brav» zu sein. Caroline schaute sie an und erwartete eine Antwort. Hannah hatte keine Ahnung, was sie sagen würde, atmete den Rauch aus, öffnete den Mund und hörte sich selbst sagen: «Na ja, ich habe ja keine Möglichkeit, das zu überprüfen, oder?»

Caroline schaute sie nachdenklich an. Könntest du schon haben, dachte sie. Hannah hatte einen netten Mann. Aber sie gab bisexuelle Gefühle zu. Vielleicht war sie nur aus Versehen monogam? Vielleicht hatte sie in letzter Zeit sonst niemand gefragt …

O Gott, dachte Hannah. Jeden Augenblick würde Caroline ihr jetzt einen Antrag machen. Sie schaute Hannah starr in die Augen. Hannah mochte es, wenn sie sich gut fühlten, aber nicht so gut. Sie sollte Caroline besser rechtzeitig ablenken. «Hat irgend jemand in Ihrer Familie blaue Augen?»

Caroline sah verblüfft aus. «Äh, ich weiß nicht. Ja, ich glaube, meine Mutter.»

Hannah nickte. «Es ist Ihnen bewußt, daß Sie immer in meine Augen starren?»

«Was?»

«Wie haben Ihre Eltern reagiert, als Sie angefangen haben, mit Männern auszugehen?»

Caroline runzelte die Stirn und begann dann mit verwirrter 229Stimme zu reden: «Sie schauten zum Schlafzimmerfenster hinaus, wenn jemand mich nach Hause brachte. Wenn wir uns an der Tür küßten, dann erwarteten sie mich oben an der Treppe mit einer Vorlesung über Karrieremöglichkeiten in sozialen Berufen. Wenn wir zu lange im Auto saßen, schalteten sie das Licht vor der Haustür an. Als ich auf der Schwesternschule war, kamen sie zu jeder Tages- und Nachtzeit im Wohnheim vorbei. Sie machten sich immer über meine Verehrer lustig, außer über ein paar, die höflich und langweilig waren …»

«Und geschlechtslos?»

«Was?»

«Merken Sie, was hier drin vor sich geht?»

Caroline blinzelte.

«Fast Ihr ganzes Leben über haben Sie diese Seiten Ihrer Persönlichkeit mit einem Dämpfer versehen, in dem Versuch, akzeptierbar zu sein. Und die sind nun in letzter Zeit an die Oberfläche gekommen, und ich bin hier, um Ihnen zu sagen, daß das völlig in Ordnung ist. Sie sind völlig in Ordnung – manchmal traurig und verletzt und mit dem Wunsch, versorgt zu werden, manchmal witzig und charmant, manchmal sexy, manchmal aggressiv, manchmal wütend. Das alles sind Sie, und das ist alles in Ordnung. Nur weil es in den Augen mancher Leute, die in Ihrer Kindheit wichtig waren, nicht in Ordnung war, heißt das noch lange nicht, daß irgend etwas mit Ihnen nicht stimmt.»

Ihre Stimme klang heftig und spiegelte den Zorn wider, den sie gegenüber den Tyrannen empfand, die herumrannten und kleinen Kindern beibrachten, wie sie Anerkennung finden konnten. Viele ihrer Klienten hatten in der ersten Sitzung praktisch keine Persönlichkeit. Ausdruckslose Roboter, identisch, die Antennen nur darauf ausgerichtet, die Wünsche anderer aufzunehmen und zu befolgen. Bis die unterdrückten Emotionen sie krank machten oder über alle Leute explodierten.

Sie dachte an das Blumenbeet unten bei ihrem Haus, an die Dutzende von verschiedenen Blumensorten, jede mit ihrem eigenen Geruch, ihrer eigenen Farbe und Gestalt. Gemeinsam formten sie ein Bild, das so berauschend war, daß man nur mit tiefem Erstaunen erfüllt sein konnte angesichts einer Welt, in der eine solche Variationsfülle und solche Feinheiten nicht nur möglich, sondern überall zu finden waren, wohin man nur schaute. Sie war 230sicher, daß die Menschen über mindestens genausoviel Potential verfügten.

Als Nigel drei war, pflanzte sie in dem Seitenbeet oberhalb des Sees Blumenzwiebeln – Osterglocken und gelbe Tulpen. Sie und Nigel lagen in der Frühlingssonne zwischen den Blumen, rochen an ihnen, berührten sie und redeten über sie. Später in jenem Frühling kam Nigel jammernd zu ihr gestolpert. Er hielt eine violette Hyazinthe in seiner kleinen Faust. Zwischen empörten Schluchzern erklärte er: «Mama, Blumen sind gelb. Böse Blume!» Er warf sie auf den Boden und trampelte darauf herum …

«Sind Sie monogam?» fragte Caroline und schob trotzig das Kinn vor.

Hannah fuhr zusammen und ließ fast ihre Zigarette fallen. «Was? Oh. Ja.» Mußte das denn wirklich zu ihrem Job gehören?

Caroline spürte, wie sich ihre Schultern verkrampften. Gleichgültig, was Hannah sagte – sie war Carolines Promiskuität gegenüber kritisch eingestellt.

Hannah beobachtete, wie Caroline düster vor sich hin starrte. Offensichtlich war sie fest entschlossen, sich bestraft zu fühlen. Wie oft schon war ihr diese Rolle der strafenden Mutter zugewiesen worden, von ihren eigenen Kindern und von Hunderten von Klienten? Was Hannah anging, konnte Caroline es mit der Königin-Mutter und der Königlichen Wache treiben. «Nicht aus tiefer moralischer Überzeugung. Es ist nur einfacher. Und ich bin an einem Punkt in meinem Leben, wo mir an Einfachheit viel liegt. Ich habe viele andere Sachen, über die ich nachdenken muß. Außerdem bekomme ich die exotischen Eskapaden meiner Klienten zu hören.» Sie lächelte verschmitzt.

«Sie sind also eine Voyeurin?»

«Sehr wahrscheinlich.» Sie lachte. Wenn man sich nicht auf die blöden Gehässigkeiten der Klienten einließ, dann fielen sie manchmal einfach weg, wie der abgestoßene Teil einer gestarteten Rakete. «Wissen Sie, ich komme nicht mehr mit bei Ihnen, Caroline. Das letzte, was ich gehört habe, war, daß Sie hinter einem Mann her waren.»

Caroline runzelte die Stirn. «Wer sagt, daß ich das nicht bin?» Brian hatte am vergangenen Abend angerufen, nach den Jungen. Sie war für Samstag mit ihm verabredet. Die Jungen waren dann noch in Boston. Sie hatte die Frage, ob sie mit ihm ins Bett gehen 231sollte, zu einer Entscheidung über Leben und Tod hochstilisiert. Warum sollte sie es nicht einfach um des Vergnügens willen tun, so wie mit der Frau in Boston? Es hieß ja nicht, daß sie den Rest des Lebens miteinander verbringen mußten.

«Okay», sagte Hannah und gestikulierte wie ein Straßenarbeiter, der versucht, mit einer Flagge den Verkehr auf der Autobahn zum Langsamfahren zu bringen. «Ich wollte es nur wissen.» Nach der Theorie, die sie beim Hummeressen in Maine entwickelt hatte, müßte Caroline sowohl Männer als auch Frauen begehren, weil es so aussah, als hätte sie mit beiden Eltern wenig Kontakt gehabt: erst Vati im Krieg und Mama voller Verzweiflung, und danach waren beide damit beschäftigt, die Welt zu retten.

«Die Sache in Boston war ganz unbedeutend. Das hat mit nichts etwas zu tun.»

«Ja, aber warum haben Sie sich für diese unbedeutende Sache eine Frau ausgesucht?» fragte Hannah.

«Warum nicht?» fragte Caroline und schob das Kinn vor.

Hannah lächelte. «Natürlich. Ich werte nicht, Caroline. Ich bin nur neugierig.» Jetzt, da sie die Aussicht auf den See hatte, überlegte sie, ob sie es sich leisten könnte, statt ihres Schreibtischstuhls einen Liegesitz aufzustellen. Würde es ihre Autorität untergraben, wenn sie in halb liegender Stellung und mit geschlossenen Augen ihre Beobachtungen zum besten gab?

«Ich ziehe, ästhetisch gesehen, weibliche Körper vor», hörte Caroline sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen. Sie merkte, daß es stimmte, denn sie dachte mit Widerwillen an all die Haare und die harten Muskeln bei Jackson und David Michael und an diese lächerlichen Hörner, auf die sie so stolz waren und mit denen sie dich stießen. Im Gegensatz zu den glatten, weichen Kurven und Formen, den warmen, feuchten Mulden des Körpers der Freizeitleiterin vom Freitagabend.

«Wer nicht? Warum glauben Sie, daß so viel Pornographie und so viele Kunstwerke weibliche Körper zeigen?»

Caroline schaute Hannah an. «Wenn Sie das wirklich meinen, warum sind Sie dann mit einem Mann zusammen?»

«Weil ich Arthur liebe.»

Caroline blinzelte, dann errötete sie, dann studierte sie ihre Stiefel. «Ich verstehe.»

«Entscheidungen.»

232

«Warum sich entscheiden?» fragte Caroline. «Warum nicht alles haben?»

Hannah schüttelte den Kopf. «Dazu braucht man mehr Zeit und Energie, als ich sie habe, mehr kann ich dazu nicht sagen, Caroline.»

 

Caroline wurde durch das Klingeln des Telefons aus dem Tiefschlaf geholt. Sie streckte den Arm zum Nachttisch aus und fand den Hörer. «Hallo?»

Eine männliche Stimme sagte: «Hallo, Schätzchen. Ich höre, du hast es gern, wenn man dir einen steifen Schwanz tief in deine nasse Muschi schiebt.»

«Irrtum.»

Nach einem verwirrten Schweigen legte der Mann auf.

«Wer war das?» fragte Diana, legte den Arm um Caroline und formte ihre Brust mit der Hand.

«Irgendein Typ, der gehört hat, ich hätte steife Schwänze gern.»

«Ach Gott.» Sie lachte ihr heiseres Lachen, dessentwegen Caroline sich bei Arlenes Waschdemonstration in sie verliebt hatte. «Und du hast gesagt ‹Irrtum›?»

«Aus dem Tiefschlaf. Ohne auch nur einen Augenblick zu zögern.»

«Meine Güte, du bist ja so eine Lesbe.» Sie knabberte an Carolines Schulter.

«Das glaube ich auch.» Caroline dachte an die ersten Monate hier im Haus, nachdem sie aus Somerville gekommen war, als sie und Diana sich im schlimmsten Kneipenjargon davon zu überzeugen versuchten, daß sie beide einen steifen Schwanz wollten. Von der nicht zugegebenen Spannung zwischen ihnen hätten sämtliche Sicherungen im Haus durchbrennen können. Die verletzlichen Teile ihres Körpers einem Angehörigen der Gattung Mann auszusetzen – die, wie sie kürzlich herausgefunden hatte, die Gewalttaten verübte, mit deren Folgen sie sich beruflich beschäftigen mußte -, das erschien Caroline so verlockend, wie eine Klapperschlange zu säugen. Sie und Diana hatten genug von den Männern und machten viele Stunden Dienst in der Abtreibungsvermittlungsstelle, angewidert bis zum Erbrechen, weil sie mit ansehen mußten, wie Frauen die ganze Last der männlichen Lust und Gewalttätigkeit zu tragen hatten. Pam, Jenny und mehrere andere Mitarbeiterinnen waren lesbisch. Caroline und Diana beäugten sie unbehaglich, wenn sie bei 233Sitzungen zu nahe bei ihnen saßen. «Ich bin nicht so», sagte Caroline einmal zu Pam, als die sie liebevoll umarmte.

«Erzähl mal», sagte Pam amüsiert.

Einmal aßen sie und Diana mit Pam und Jenny in Maude's Café zu Mittag. Pam bestellte Pfirsichkuchen zum Nachtisch. Als er kam, nahm Pam den Teller und tauchte ihr Gesicht in die Schlagsahne. Dann wandte sie sich Jenny zu, die die ganze Sahne langsam ableckte und dabei in Pams Hundeaugen schaute. Unbehaglich beobachteten Diana und Caroline die beiden, einander und die entsetzten Nachbarn.

An einem Abend saßen sie bei einer Flasche Wein in Dianas Wohnzimmer, und Diana sagte: «Weißt du, ich kann es wirklich nicht leiden, daß Pam und Jenny meinen, jede Frau, die sie kennenlernen, sei lesbisch.»

Caroline nickte. «Ja. Ich finde, es kann dir bewußt sein, daß du dich zu Frauen hingezogen fühlst, ohne daß du deswegen was machen willst.»

«Genau.»

Caroline machte noch eine Flasche Rotwein auf. «Was hältst du von dem neuen Abtreibungsgesetz, das verabschiedet werden soll?» fragte sie Diana und füllte ihre Gläser zum sechstenmal.

«Der Typ aus Nashua, der das Gesetz einbringen will, ist ein richtiger Schrank», antwortete Diana. «An den sollte man sich ranmachen.»

Caroline schaute lange in ihren Wein und bewegte ihn hin und her, als wollte sie Teeblätter lesen. «Wenn ich mich an irgend jemanden ranmachen sollte», sagte Caroline, «dann wärst das du.»

«Was?»

«Du hast schon verstanden.» Sie blickte zu Diana auf, die purpurrot wurde.

«Ich glaube, ja.»

Caroline begann, ihr Flanellhemd aufzuknöpfen.

«Was machst du denn da?» fragte Diana mit panikerfüllter Stimme.

«Du weißt genau, was ich mache.» Caroline starrte kampflustig in Dianas grüne Augen.

«Ja, stimmt eigentlich.» Diana begann, ihr eigenes Hemd aufzuknöpfen. «Warum haben wir daran nicht schon früher gedacht?»

«Ich habe sehr wohl daran gedacht.»

 

234

Caroline seufzte zufrieden unter ihrer Daunendecke und preßte ihren Rücken und ihren Hintern enger an Diana. Steife Schwänze, meine Güte.

«Wie hält es eine Frau bloß eine Minute ohne Sex aus, geschweige denn monatelang?»

«Weil sie bescheuert ist», sagte Diana.

Diana war einfach am Abend in Carolines Bett erschienen, ein Geschenk der Nacht. Als Caroline eine Bemerkung über ihre Anwesenheit machen wollte, legte ihr Diana die Hand auf den Mund und sagte: «Laß uns nicht darüber reden. Laß es uns einfach machen.» Danach wirkte jede Diskussion überflüssig. Obwohl sie Diana nichts von der Frau in der Sauna erzählt hatte, sah es so aus, als hätte Diana gemerkt, daß Caroline ihr entgleiten könnte, wenn es nicht einen Anreiz zum Bleiben gäbe. Was immer Dianas Gründe waren – Caroline gefiel das Resultat. Am Morgen würde sie Brian anrufen und ihre Verabredung absagen. Es war nicht fair, ihn hinzuhalten, wenn sie eindeutig eine wilde Lesbe war.

Sie entschlossen sich zu schlafen. Aus dem Fenster hinter dem Webstuhl konnte Caroline die feine Sichel des Neumonds sehen, die über dem See hing wie ein leuchtender abgeschnittener Fingernagel. Sie fing an, über steife Schwänze nachzudenken und wieviel Ärger sie verursachten. Sie hatte Tausende von Windeln gewechselt, bei Howard und Tommy, bei Jackie und Jason. Ihre winzigen Penisse bespritzten sie überall. Ihr Ziel war es, sie so schnell wie möglich wieder einzupacken. Daß Freud und die meisten Männer annahmen, Frauen hätten auch gern welche, hatte sie schon immer gewundert. Vermutlich war es für eine ältere Schwester von Brüdern oder für eine Mütter von Söhnen unmöglich, Männer ernst zu nehmen. Man brauchte sehr viel Phantasie, um danach einen Penis noch erotisch zu finden. Vermutlich war sie deswegen so eine Lesbe. Aber die Männer nimmst du besser ernst, sonst findest du dich mit einem Messer an der Kehle oder mit einem Schwanz im Arsch wieder. Kriege wurden darum geführt, welcher Schwanz wo reingeschoben wurde. Atomraketen waren von Männern in die Luft geschossen worden, die nichts anderes hochbringen konnten.

David Michael hatte erzählt, seine Mutter habe ihm als Kind immer gedroht, sein Schwanz werde abfallen, wenn er damit spiele. Caroline erinnerte sich, wie sie dieses Genie von einer Mutter in 235ihrer düsteren Villa am Meer in Marblehead kennengelernt hatte. Sie glich einem Mitglied der geisterhaften Addams-Familie und strahlte etwa genausoviel Wärme aus.

Plötzlich begriff Caroline, daß David Michael als Erwachsener sein ganzes Leben damit verbracht hatte, seinen Schwanz in jedes Loch zu stecken, das er finden konnte, um zu beweisen, daß er noch da war. Wir müssen schonend und freundlich miteinander umgehen, weil wir alle an ähnlichen Gebrechen leiden. Sie fühlte einen Stich der Reue darüber, daß sie David Michael so abrupt verlassen und mit Jackie, Jason und einem halben Dutzend Koffern einfach ein Taxi zum Bahnhof genommen hatte, ohne ihm auch nur auf Wiedersehen zu sagen.

Als sie einschlief, träumte sie von David Michael mit seiner grünen Krankenhauskleidung und seinem Fu-Mandschu-Schnurrbart. Er und sie standen in seinem vollgestopften Zimmer in der Somerville-Kommune, die amerikanischen Flaggen flatterten am Fenster. Er schrie: «Ihr Frauen seid alle gleich. Ihr wollt nichts als einen steifen Schwanz.» Sie schaute ihn an. Dann nahm sie eine Handvoll Asche aus der Lincoln-Continental-Radkappe und rieb sie ihm über den Mund und das ganze Gesicht. Sein Bart kratzte sie dabei wie rauhes Sandpapier. Er sah verletzt und verwirrt aus. Caroline fühlte sich entsetzlich. Sie kippte die Asche in seine Hand, kniete vor ihm nieder und flehte ihn an, sie ihr ins Gesicht zu reiben.

Caroline schrak aus dem Schlaf hoch. Was zum Teufel bedeutete das? Plötzlich traurig und einsam, küßte sie Diana wach und begrub ihr Gesicht zwischen Dianas großen Brüsten.

Am nächsten Morgen wurde Caroline vor Diana wach, stand auf, machte Toast und Kaffee und brachte alles auf einem Tablett ins Schlafzimmer. Diana lag unter der Bettdecke, so daß nur ihr zerwühlter roter Haarschopf zu sehen war, und sie lächelte, ohne die Augen zu öffnen. «Du hast mich geschlagen.»

«Um dich in meinem Bett zu behalten, mache ich alles», sagte Caroline und häufte die Kissen auf.

«Aber ich muß in ein paar Minuten aufstehen.»

Caroline hielt inne, um sie anzusehen. Sie hatte sich einen Morgen im Bett vorgestellt, wie früher, wenn Zeitschriften, Bücher, Essen und dreckiges Geschirr, Katzen, Hunde und Kinder langsam das Zimmer bevölkert hatten. Amelia, die Katze, lag schon schnurrend 236am Fußende, in einem Nest in der Bettdecke. «Hast du heute Dienst?»

«Nein, ich gehe mit Suzanne einkaufen.» Sie vermied es, Caroline anzusehen.

Caroline kletterte ins Bett und stellte das Servierbrett auf ihren Schoß. «Dann sag ab.»

Diana richtete sich auf und zog ihr Nachthemd über. «Sie möchte, daß ich ihr helfe, was zum Anziehen für die Hochzeit ihrer Schwester nächste Woche zu finden.»

«Sie ist doch selber groß. Ich bin sicher, sie kann sich selbst Kleider kaufen. Sag ihr, du seist beschäftigt.»

«Suzanne rechnet darauf, daß ich ihr helfe.»

«Na ja, und ich rechne darauf, daß du mit mir vögelst», sagte Caroline grinsend.

«Das haben wir schon gemacht», lachte Diana. «Ziemlich ausführlich, wenn ich mich recht erinnere.»

«Was soll dann dieses charmante kleine Zwischenspiel bedeuten?»

«Was willst du damit sagen?» Diana nahm eine Scheibe Toast.

«Du kommst mitten in der Nacht hier reingeweht, verführst mich, und jetzt rennst du weg zu deiner Kindsbraut. Was machst du eigentlich, in drei Teufels Namen?»

Diana schaute sie überrascht an, den Toast halb im Mund. «Ich wollte dich. Und du wolltest mich, offensichtlich. Wir haben einander gehabt. Und jetzt geht das Leben weiter.»

«Ich verstehe.» Carolines Herz zog sich in seine Schale zurück, wie der Kopf einer Schildkröte. Das war eine unbedeutende Sache, nicht eine Versöhnung und ein Neuanfang.

Diana trank ihren Kaffee und rollte aus dem Bett.

«Viel Spaß», knurrte Caroline.

«Danke.»

«Laß heute abend die Lichter an. Ich gehe mit Brian aus und komme vielleicht spät nach Hause.»

«Warum mit einem Mann?» fragte Diana und hob ihren Frotteemorgenmantel vom Boden auf, wo sie ihn gestern abend hingeworfen hatte.

«Warum mit einem Teenager?» Caroline trank einen Schluck Kaffee. Diana wirbelte herum und stolzierte hinaus. Caroline rief: «Und ruf bitte nächstes Mal an, bevor du in meinem Bett erscheinst. Es könnte sein, daß ich nicht allein bin.»

237

Diana kam zur Tür zurück, lehnte sich gegen den Türrahmen und schaute Caroline an. «Die Therapie verändert dich ganz entschieden, und ich bin nicht sicher, ob mir die Veränderungen gefallen.»

«Wie schade.» Innerlich war Caroline gelähmt vor Angst. Wenn Diana die Veränderungen nicht gefielen, dann würde sie nicht dableiben, nicht einmal in dieser verminderten Form. Aber es war sowieso nie jemand dageblieben. Sie haben das Gefühl, daß Sie nette Sachen tun müssen, damit die Leute dableiben? Vielleicht, aber es hatte nicht funktioniert. Sie hatte sich abgemüht und nette Sachen gemacht, und wo waren all die Empfänger heute? Das Anziehendste an Brian war, daß er vielleicht dableiben würde. Er zeigte alle Anzeichen, daß er bereit war, sich ihr ganz zu widmen. Vielleicht konnte sie sich ihm gegenüber zu einer ähnlichen Form der Hingabe aufschwingen. Die Jungen hätten einen Vater; sie hätte einen Ehemann; sie wäre wieder bürgerlich und angesehen; gemeinsam hätten sie viel Geld, trotz der Zahlungen an seine Frau. Das einzige, was fehlte, war der Begeisterungsfunke, der alle ihre anderen Beziehungen entzündet hatte. Sie war Miss Kitty zu Jacksons Matt Dillon gewesen; Maid Marion zu David Michaels Robin Hood; Cherry Ames, Krankenschwester auf dem Lande, gemeinsam mit Diana. Aber Brian inspirierte sie nicht. Aber vielleicht gehörte das einfach zum Älterwerden. Vielleicht konnte sie sich nicht mehr weismachen, daß irgendein Sterblicher den Texten jener Schlager entsprechen konnte, die sie hinter dem Supermarkt im Autoradio gehört hatte: ‹You are my special angel, sent from up above …› Aber vielleicht könnten sie und Brian eine reife Liebe leben, so wie Hannah und ihr Mann. Wenn es mit dem sexuellen Kontakt klappte, vielleicht würde dann auch alles andere gehen – wie Güterwagen, die hinter einer Lokomotive herrollen.

Sie sprang aus dem Bett und rannte los, um Zutaten für ein Abendessen einzukaufen. Lammbraten, überbackene Kartoffeln, Spinatsalat, Aprikosensoufflé, ein guter Wein. Sie kochte und putzte den ganzen Tag, dann zog sie sorgfältig die Kleider an, in denen sie am wenigsten wie eine Lesbe aussah: eine Seidenbluse und einen Tweedrock. Sie besprühte sich mit Chanel No. 5 und nicht mit dem üblichen Eau Sauvage, das Diana so gerne mochte. Sie stahl ein bißchen Make-up aus Sharons Zimmer und versuchte sich zu erinnern, wie man damit umging.

238

Als Brian gerötet von der Kälte an der Tür stand, verkündete sie: «Ich habe Abendessen gemacht. Ich dachte, wir könnten vielleicht heute abend hierbleiben.»

«Phantastisch», sagte er und schaute sie nachdenklich an. «Es riecht hervorragend. Oder bist du das?»

Er hatte während der Schulferien die Kinder bei sich gehabt. Sie waren gerade zu Irene nach Boston zurückgefahren. Er hatte sich ein paar Tage freigenommen, um mit ihnen in North Conway Ski fahren zu gehen, und er erzählte von ihren Fortschritten auf den Skihängen, während er und Caroline auf dem Sofa am offenen Kamin vor dem Essen einen Scotch tranken. Er war ein attraktiver Mann, vor allem jetzt mit seiner Skibräune, wodurch seine weißen Zähne noch deutlicher sichtbar wurden.

«Ich vermisse sie schrecklich», sagte er. «Wenn ich mir vorstelle, daß sie aufwachsen, ohne daß ich dabei bin und es miterlebe – das bringt mich um.»

«Ich kann es mir vorstellen.» Es fiel ihr auf, wie sehr sich Brians Interesse an seinen Kindern von Jacksons wohlwollender Vernachlässigung unterschied. «Ich wollte, meinem Mann ginge es auch so.»

«Möchte er denn deine Söhne nicht um sich haben?»

«Er lädt sie ein paarmal im Jahr zu sich ein. Aber dann ist es seine Frau, die sich tatsächlich um sie kümmert.»

«Jungen brauchen einen Vater», sagte Brian und blickte ins Feuer.

«Das finde ich auch.» Caroline betrachtete Brians traurige Augen und seine sich lichtenden Haare. Sie fragte sich, ob sie ihre freundlichen Gefühle ihm gegenüber nicht zu einer Flamme anheizen könnte. Wenn nur Diana sie nicht gestern nacht um ihren Verstand gebracht hätte.

«Und ein Mann braucht eine Frau», fügte er hinzu und schaute sie mit großer Dringlichkeit an.

Weil Caroline keine Erwiderung einfiel, breitete sie die Arme aus. Er hielt ihr Gesicht in seinen delikaten Händen und küßte sie hungrig.

Als Caroline ihn in ihr Schlafzimmer führte, spürte sie, wie ihr Gesicht zuckte. Es war so lange her, seit sie das letzte Mal mit einem Mann zusammengewesen war, und ihre abschließenden Erfahrungen mit David Michael waren schmerzlich und erniedrigend gewesen. 239Aber vielleicht würde es ja gutgehen. Und wenn, dann könnte ihr Leben eine neue Einfachheit, Stabilität und Integrität bekommen.

«Ich weiß nicht mehr ganz genau, wie es geht», sagte sie, als sie und Brian sich nackt nebeneinander ausstreckten. Sie erinnerte sich allerdings an steife Schwänze, und einer davon drückte jetzt auf ihrem Bauch herum, wie ein Arzt, der nach einem Geschwür tastet.

«Ich glaube, das wird dir alles wieder einfallen», sagte Brian, legte einen Arm um ihre Taille und zog sie an sich.

Und so war es auch. Mit der Liebe war es offensichtlich wie mit dem Schwimmen: Man verlernte es nicht, gleichgültig, wie lange man es nicht ausübte. Als Brian langsam in sie eindrang und ein paar Augenblicke still dalag, erinnerte sie sich an das Sicherheit vermittelnde Gefühl, ihre Öffnungen von einem Mann gefüllt zu haben. Wenn wieder ein Mann bei ihr wäre, vielleicht gäbe es dann keine Leere mehr.

«Ist alles in Ordnung?» fragte er mit bebender Stimme.

«Ja», stöhnte sie. «Mach weiter.»

«Möchtest du etwas essen?» murmelte Caroline danach, und sie konnte riechen, wie der Lammbraten im Backofen verbrannte. Brian schüttelte den Kopf, hielt sie fest in seinen Armen und begrub seinen Kopf an ihrem Hals.

Am nächsten Morgen warf sie die verkohlte Lammkeule für Arnold vor die Tür und dachte schuldbewußt an Howard, der im Tschad die Hungersnot bekämpfte. Dann brachte sie Brian Eier mit Speck und Toast auf einem Tablett und empfand bösartiges Vergnügen dabei, mit ihm eines von ihren und Dianas Ritualen zu teilen. Dianas Chevrolet stand in der Einfahrt, neben Carolines Subaru und Brians Pontiac; Suzannes Toyota fehlte. Caroline hoffte, daß Diana oben am Fenster stand und auf diesen veränderten Wagenpark herabstarrte.

«Es war wunderschön», sagte Brian an der Tür zu ihr, als er ging, um Visite zu machen. «Für dich auch, hoffentlich?»

«Ja, sehr.» Caroline nahm seine Hand und küßte seine Finger, die in der vergangenen Nacht mit genausoviel Feingefühl und Kunstfertigkeit vorgegangen waren wie am Operationstisch. Einmal ganz abgesehen von steifen Schwänzen – vielleicht könnte sie sich in einen Mann mit solchen Händen verlieben, dachte sie. Und warum auch nicht? Sie hatte sich praktisch in alle anderen Leute verliebt.

240

«Ich ruf dich heute abend an», sagte er.

«Gut. Ich freu mich drauf. Ich wünsch dir einen angenehmen Tag, du liebenswerter Mann.»

Das Telefon klingelte, als Brian aus der Einfahrt fuhr. «Das war ja sehr prompt», sagte Diana.

«Oh? Findest du? Es sollte nicht prompt sein, es sollte Spaß machen. Und das hat es auch.»

«Was machst du da bloß, in drei Teufels Namen?»

«Ich lebe mein Leben weiter. Genau wie du gestern gesagt hast.»

«Wie kannst du das diesem netten Mann antun?»

«Warum kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Kram, Diana?»

«Genau das mache ich ja, und ich will keine Männer in meinem Haus.»

Verblüfftes Schweigen. Seit sie miteinander schliefen, war es immer ihr gemeinsames Haus gewesen.

«Du willst, daß ich ausziehe?» fragte Caroline schließlich.

«Nein, natürlich will ich das nicht. Ich möchte nur, daß du dein Leben in Ordnung bringst.»

«Und dein Leben ist selbstverständlich ein Musterbeispiel an Konsequenz und Ordnung.» Caroline stand in ihrem gefütterten Morgenmantel da und wickelte die Telefonschnur um ihren Arm.

«Immerhin mache ich nicht mit Männern rum.»

«Was ist, wenn ich nicht mit Brian rummache, Diana? Was ist, wenn ich es ernst meine?»

«Wenn das wahr ist, dann will ich allerdings, daß du hier ausziehst.»

«Gut.» Caroline knallte den Hörer hin und renkte sich mit der verwickelten Schnur fast den Arm aus.

 

Der Bus aus Boston kam pünktlich an, Jackie und Jason stiegen wohlbehütet und unbelästigt aus, und beide hielten ein Luftgewehr in der Hand, wie ein Geiger eine Stradivari.

«Was ist denn das, um Himmels willen?» fragte Caroline und versuchte, sie um die Gewehre herum zu umarmen.

«Gewehre, was denn sonst?» sagte Jason, mit einem Ausdruck gelassener Überlegenheit à la Robert Mitchum.

«Vati hat sie uns geschenkt», sagte Jackie. «Sind die nicht toll? Er 241konnte nicht mit uns zum Basketballspiel mit den Celtics gehen, also hat er uns statt dessen die Gewehre geschenkt.»

«Wunderbar», sagte Caroline und nahm das Gewehr, das Jackie ihr reichte, als wäre es mit Strontium 90 verseucht. «Warum konnte er nicht mit euch zu den Celtics gehen?»

«Er hatte einen dringenden Fall», antwortete Jason und zielte mit seinem Gewehr auf den Papierkorb.

«Ich hätte es mir denken können. Na ja, ich mag Gewehre nicht, ihr zwei. Ich möchte, daß ihr sie zu eurem Vater zurückschickt. Ihr könnt damit spielen, wenn ihr dort seid.»

«Ach, Mama!» heulten sie einstimmig.

«Meinetwegen. Reden wir später drüber.» Im Augenblick gab es dringendere Probleme, wie zum Beispiel, wo sie demnächst wohnen sollten.

Als sie die Seestraße entlang aus der Stadt herausfuhren, Jackie auf dem Rücksitz und Jason auf seinem Gewehr reitend, erzählten die Jungen munter von ihren Bostoner Unternehmungen mit Deirdre. «Weißt du, was wir gesehen haben, Mama?» sagte Jason und richtete sein Gewehr auf ein paar Holsteinkühe, die vor einem Stall darauf warteten, gemolken zu werden. «Im Park, als wir die Schwanboote angeschaut haben. Zwei Lessies, die sich an der Hand hielten.»

«Es war unmöglich», sagte Jackie und lehnte sich gegen den Vordersitz. Was glaubten sie, war all die Jahre um sie herum vorgegangen? «Was sind Lessies?» fragte Caroline, um sicherzugehen.

«Schwule Mädchen», sagte Jackie und ließ sich auf seinen Sitz zurückfallen.

«Warum ist das unmöglich?» fragte Caroline. «Männer und Frauen gehen dauernd Hand in Hand.»

«Ja, aber die sollen das ja auch», sagte Jason.

Caroline spürte, wie ihr die Wut in der Kehle hochstieg – über die Kultur, die solche Vorstellungen in die Köpfe ihrer kleinen Jungen gepackt hatte. «Und Frauen, die sich gut leiden können, sollen es nicht tun?» Die Jungen waren plötzlich still, Jason streichelte den Lauf seines Luftgewehrs. Caroline schaute sie an. Jahrelang hatte sie sich abgemüht – und es würden doch Männer aus ihnen werden, und sie würden durch die Wälder und über die Schlachtfelder stolzieren mit ihren Vernichtungsmaschinen.

242

«Hört zu», sagte sie mit leiser, unentschlossener Stimme, «die nettesten Leute, die ihr kennt, sind lesbisch.»

Sie sagten lange nichts. Schließlich fragte Jason: «Wer zum Beispiel?»

«Zum Beispiel Jenny. Zum Beispiel Pam. Zum Beispiel Brenda. Zum Beispiel Barb. Zum Beispiel Diana.»

«Zum Beispiel du, Mama?» fragte Jason und schaute sie an. Jackie saß still auf dem Rücksitz. Ausblicke auf den See sausten am Fenster vorbei.

Caroline fuhr schweigend weiter und überlegte, was die ehrliche Antwort auf diese Frage war. Sie holte tief Luft und sagte dann: «Ja, zum Beispiel ich.»

«Ach, Mama, mußt du denn eine Lessie sein?» fragte Jason und zielte mit seinem Gewehrlauf auf eine tote Katze auf der Straße. «Päng!» schrie er und ließ sich auf den Sitz zurückfallen.

Caroline dachte darüber nach und antwortete dann: «Ich weiß nicht.»

Als sie zur Tür hereinkamen, klingelte das Telefon. Es war Brian. «Ich habe die ganze Zeit versucht, dich zu erreichen. Wo warst du?»

Was geht das dich an? dachte sie. Dann erinnerte sie sich, daß sie in der vergangenen Nacht miteinander geschlafen hatten. Sie war sein Schatz. «Die Jungen sind aus Boston zurückgekommen. Ich habe sie vom Bus abgeholt.»

«Wir sollten uns mit unseren Ex-Ehepartnern zusammentun und das koordinieren. Die Kinder könnten gemeinsam von Boston hierherfahren. Sich kennenlernen.»

«Gute Idee.» Er fing schon an, die Sachen in die Hand zu nehmen. Das hatte sie sich gewünscht; aber jetzt, da es eintrat, fühlte sie sich kolonisiert. Reichte es denn nicht, daß sie ihn in ihren Körper ließ? Mußte er gleich auch den Rest ihres Lebens übernehmen? Aber sie brauchte eine neue Wohnung, und er erwähnte immer wieder sein großes, leeres, einsames Haus.

«Wann kann ich dich wiedersehen? Wie wär's mit morgen abend?»

«Ich brauche ein bißchen Zeit für die Jungen, Brian. Sie waren die ganze Woche weg.»

«Ich verstehe. Aber wir könnten alle gemeinsam etwas unternehmen. Alle vier.»

243

«Ich glaube, das ist im Augenblick noch keine so gute Idee, Brian. Ich glaube, sie brauchen mich für sich allein.»

«Wie wär's mit Donnerstag abend?»

«In Ordnung. Schön.» Nachdem sie aufgelegt hatte, stand sie noch eine Weile mit der Hand auf dem Hörer da und versuchte herauszufinden, was sie eigentlich machte. Drei Geliebte innerhalb einer Woche, nach Monaten ohne, das schien ihr Gehirn durcheinanderzubringen. Sie wollte das Telefon nehmen, Hannah anrufen und sie fragen, was sie tun sollte. Aber sie konnte sich schon vorstellen, wie Hannah mit den Schultern zuckte, leicht ironisch lächelte und sagte: «Entscheidungen, Caroline.» Aber um zu entscheiden, mußte sie zuerst einmal wissen, was sie wollte.

5

Simons neue Freundin, Estelle, war attraktiv, nahm Hannah an, wenn man den Farrah Fawcett-Typ mochte. Kaskaden von blonden Haaren; so geschminkt, daß es aussah, als wäre sie nicht geschminkt; gut angezogen in plissierten Hosen und einer Seidenbluse, auf der Paradiesvögel abgebildet waren. Hannah beobachtete sie verstohlen, während sie im Lichtkegel der Tiffany-Lampe über dem Eichentisch von dem Wedgewood-Geschirr von Arthurs Mutter Roastbeef und Yorkshirepudding aßen. Estelle wirkte klug und ausgeglichen und schien nett zu Simon zu sein. Obwohl sie natürlich gerade erst angefangen hatten. Es war spannend, herauszufinden, inwiefern jede von Simons Freundinnen ihr glich, weil das vermutlich der Grund war, weshalb er sie auswählte. Sie waren immer attraktiv, was Hannah als Kompliment ansah. Meistens intelligent und kompetent. Und ein kleines bißchen schnippisch, und da wußte Hannah nicht so recht, wie sie das auffassen sollte.

Simon saß auf der anderen Tischseite, an dem Platz, wo er als Junge den Vorsitz geführt und die jüngeren Kinder aufgezogen und herumkommandiert hatte. Er hatte den glasigen Ausdruck des ersten Rausches sexueller Leidenschaft, wie die Katze, die gerade den Kanarienvogel verschluckt hat. Mit Belustigung stellte Hannah bei sich selbst eine Spur von unangenehmen Gefühlen fest. 244Unangebracht, denn Simon war inzwischen fast in den mittleren Jahren, aber offensichtlich waren diese Gefühle immer noch wirksam. Eifersucht, weil eine andere Frau sie ersetzte. Neid auf alle, die sich in diesem Wahnzustand einfältiger Verliebtheit befanden, in dem nichts auch nur existierte, was sich nicht in den Augen der Geliebten widerspiegelte. Es war Wut, daß Simon Estelle hierhergebracht hatte, um das alles seiner alternden Mutter vorzuführen, die während der vergangenen qualvollen Monate viel Zeit damit verbracht hatte, lieb zu ihm zu sein. Schmerz, weil er sich nach diesen Monaten der Nähe nun wieder von ihr zurückzog. Wer glaubte, Sex bringe die Menschen einander nahe, lag völlig daneben. Simon und Estelle konnten im Augenblick niemanden wahrnehmen außer einander, und auch das nicht sehr klar.

«Wo arbeiten Sie?» fragte sie Estelle. Arthur verfolgte mit belustigtem Augenausdruck das Drama, das da eine Wellenlänge über der Schallfrequenz vor ihm aufgeführt wurde.

Währende Estelle etwas von Mietbeihilfeschecks erzählte, die sie ausstellte, und mit der Hand eine Seite ihrer Haare zurückwarf, betrachtete Hannah ihren gutaussehenden, schrecklichen Sohn in seiner Wildlederweste und dem Tweedjackett, und sie dachte an seine erste ernsthafte Freundin, als er siebzehn gewesen war. Penny trug eine Zahnklammer, Halbschuhe, einen Pferdeschwanz und Simons Klassenring an einer Kette um den Hals. Er führte sie so ähnlich vor wie jetzt Estelle und signalisierte seiner Mutter, sie solle zurücktreten. Abend für Abend blieb er mit Hannahs Auto lange aus. Einmal ließ er ein gebrauchtes Präservativ hinten auf dem Boden liegen. Sie und Arthur murrten, so wie das von ihnen erwartet wurde. Von Hannahs Seite geschah das allerdings mit wenig Überzeugung, denn sie erinnerte sich nur zu genau an das, was sie in Simons Alter mit Colin im Gartenschuppen getrieben hatte. Simon ereiferte sich lautstark, sie würden ihn unterdrücken und ersticken, wie das von ihm erwartet wurde. Sie dachte sich, wenn er seinen Sturm und Drang an ihr und Arthur auslebte, dann würde er nicht in ein paar Jahren irgendeinen armen Therapeuten plagen oder ein ganzes Leben lang irgendeine arme Ehefrau. Aber obwohl sie ja eigentlich viel Übung darin hatte, Leute loszulassen, die ihr lieb waren, war es bei Simon schwierig gewesen. Und noch schwieriger, als er emotional wieder heimkommen wollte, nachdem er Penny fallengelassen hatte. Seither war er mehrere Male gekommen 245und gegangen, aber es war immer noch nicht einfach. Jedesmal, wenn jemand, der ihr wichtig war, sich zurückzog, rief das Erinnerungen an all die anderen hervor, die weggegangen und nicht zurückgekommen waren – ihre Eltern, ihre Großeltern, Maggie, Colin, Nigel und Mona. Was Hannah betraf, so war intime Nähe eine Erfahrung, die – angesichts der unvermeidlichen Folgen – eindeutig überschätzt wurde.

«Und wo kommen Sie her?» fragte Arthur.

Hannah warf ihm einen dankbaren Blick zu, weil er die Unterhaltung am Laufen hielt. Simon half überhaupt nicht, der Idiot. Er benahm sich genau wie ein Klient. Sie klammerten sich an sie, solange sie sich von einer Trennung erholten. Aber wenn sie eine neue wahre Liebe fanden, dann erfanden sie einen Grund, die Therapie abzubrechen. Bis die neue Beziehung in die Brüche ging. Unglücklicherweise hatte sie mehr zu bieten als einen Trennungshilfsdienst. Sie freute sich, wenn jemand dablieb, um herauszufinden, was auf der anderen Seite der Leidenschaft zu finden war – und nicht den Kopf im wechselnden Sand des Sex begrub, wozu Simon wild entschlossen schien. Natürlich gab es einiges, wovor er sich verstecken mußte. Jahrelang hatte er das Gefühl gehabt, der Tod von Mona und Nigel sei seine Schuld, weil er im Haus gewesen war, als es passierte, wenn auch bewußtlos und selbst beinahe tot.

«Warum tut er mir das an?» fragte sie Arthur, als Simon und Estelle mit der leicht verlegenen Entschuldigung, sie wollten es nicht zu spät werden lassen, gegangen waren.

«Du bist seine Mutter», sagte Arthur und räumte das Geschirr ab.

«Ja, aber er hätte ein paar Wochen warten können, bis der Glanz ein bißchen matter geworden ist.» Sie sammelte die schmutzigen Servietten ein.

«Aber genau das ist es doch. Du weißt das.»

Natürlich wußte sie das. Sie wußte, daß Simon sie zurückstoßen mußte, weil sie sich so nahe gewesen waren, seit Helena ihn verlassen hatte. Allerdings hätte er sie etwas feinfühliger zurückstoßen können. Sie erinnerte sich daran, wie Mona mit sieben Jahren eines Tages, als sie versuchte, am See Steine hüpfen zu lassen, zu ihr sagte: «Mama, ich hasse dich.»

«Ach ja? Warum?» fragte Hannah und blickte von ihrem Buch auf.

«Weil ich dich liebe.»

Als Hannah die Reste in eine Plastikschüssel kratzte, dachte sie 246über die seltsame Mischung aus Anziehung und Abwehr innerhalb einer Familie nach. Wie die konkurrierenden Energien in einem Atom, die die Elektronen miteinander verbanden, sie jedoch daran hinderten, zusammenzustürzen und ein schwarzes Loch zu bilden.

«Wenn ich es weiß und du es weißt», sagte sie und wischte die Anrichte mit einem Schwamm ab, «warum weiß er es dann nicht?»

«Er weiß es vermutlich auf einer bestimmten Ebene.» Arthur wusch das Geschirr ab, die Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt.

«Du solltest Therapeut sein, Liebling.»

«War ich ja, auf meine Art. Was glaubst du, das ich den ganzen Tag über gemacht habe? Scheidungen, tätliche Angriffe, der ganze Kram. Das gleiche wie du.»

«Komisch, ich habe das nie so gesehen. Fehlt es dir?»

Er lachte. «Überhaupt nicht. Ich habe mein Teil für die leidende Menschheit getan. Jetzt sollen das Simon und Joanna machen. Ich möchte mit einem Lächeln auf dem Gesicht und einem guten Spielstand abtreten.»

«Simon und Joanna können es nicht machen. Sie haben keine Zeit. Sie sind zu sehr damit beschäftigt, sich das Herz brechen und reparieren zu lassen.» Sie fragte sich, wie es sich wohl anfühlen würde, nicht mehr gebraucht zu werden, nachdem man ein Leben lang gebraucht worden war. Vermutlich großartig. Sie sollte es einmal ausprobieren. Oder würde sie sich verloren fühlen, wie eine alte Steinmauer, von der man den Efeu entfernt hat, der sie zusammengehalten hat? An Tagen, an denen sie schlechter Laune war, munterte Therapie sie auf jeden Fall auf. Falls sie vorzeitig in den Ruhestand treten sollte, mußte sie vielleicht die satirische Zeitschrift Punch oder etwas Ähnliches abonnieren.

«Ich frage mich, wie sich die arme junge Frau bei dem Ganzen gefühlt hat», sagte Arthur, setzte sich aufs Sofa und griff nach der Zeitung.

«Ich bezweifle, daß sie den ganzen Abend über irgend etwas anderes wahrgenommen hat als die Beule in Simons Hose.» Hannah setzte sich neben ihn und zündete sich eine Zigarette an.

«Na ja, ich fand sie charmant.»

Hannah schaute ihn kurz an. «Du findest jedes weibliche Wesen unter Vierzig charmant.»

«Wer hat was von unter Vierzig gesagt?»

247

«Aber du warst schon immer hinter jungen Küken her, mein Lieber.»

«Nur einmal. Und das war das Klügste, was ich je in meinem Leben gemacht habe.»

Hannah lächelte und legte ihre Hand auf den breitgerippten Cordsamt, der seinen Schenkel bedeckte. «Na ja, ich konnte Estelle nicht leiden.»

Arthur lächelte. «Das ist immer so bei dir, meine Liebe. Aber das hat Simon bisher nicht abgehalten.»

«Ich bin vorhersehbar, oder?»

«Du bist eben eine Löwin, die nicht akzeptieren kann, daß ihre Jungen inzwischen größer sind als sie selbst.»

«Ich akzeptiere es schon. Ich kann es nur manchmal nicht leiden.»

Lächelnd schlug Arthur die Zeitung auf. Hannah blickte in das offene Feuer im Kamin und hörte den Wellen zu, die gegen das Seeufer schlugen. Sie dachte daran, wie sie in einem Liegestuhl gesessen hatte, das schlafende Baby Simon in den Armen, während der Seegang auf dem Nordatlantik das graue Truppenschiff bis zum Himmel hochtrug. Der Wind zerrte an ihrem Kopftuch. Sie saß da und wußte, daß jeden Augenblick ein Geschoß von einem deutschen U-Boot sie mit auf den Meeresgrund befördern konnte. Auf dem teilnahmslosen grauen Meer, das sie von allen Seiten umschließen würde, bliebe nicht mehr von ihr zurück als ein paar Luftblasen. Als sie sich so in Gedanken auf Hitler, Torpedos und auf den mit Schiffswracks übersäten Meeresboden konzentrierte, wurde sie von Angst überflutet. Und wenn sie das lange genug machte, dann würde Simon aufwachen, ihre Angst in sich aufnehmen und Schreikrämpfe bekommen. Ganz bewußt konzentrierte sie sich auf Arthurs lächelndes Gesicht, auf die Flasche Wein, die sie bald teilen würden, und auf das Gefühl, seinen Körper beharrlich in dem ihren zu spüren. Die Panik verwandelte sich nach und nach in warmes Wohlbefinden. Dann löschte sie Arthur von der Tafel in ihrem Kopf und behielt die tröstliche Wärme. In dieser Verfassung bedeutete es ihr nicht viel, ob sie auf dem Meeresboden oder im Hafen von Bayonne, New Jersey, landen würden.

Als Arthur die Zeitung umblätterte, beugte er sich zu ihr herüber und küßte sie seitlich auf den Hals. Sie streichelte seinen Schenkel und merkte, daß sie das ihren Klienten zu vermitteln versuchte: daß sie Hannah benutzen konnten, um Gelassenheit zu erreichen, aber 248daß sie dann erkennen mußten, daß es ihre eigene Leistung war. Ein Gipsverband konnte einem gebrochenen Knochen beim Heilungsprozeß behilflich sein, aber wenn man ihn zu lange dranließ, dann bildete sich die Beinmuskulatur zurück.

Sie atmete den Rauch aus und dachte daran, daß sie es bis nach Bayonne geschafft hatte. Alles kam so, wie sie es sich vorgestellt hatte – der Wein und der Körper und die Lust an beidem. Was nicht so war, wie sie es sich vorgestellt hatte, war Washington, D.C., wo Arthurs Freunde und seine ehemalige Frau sie schnitten. Seine Kinder haßten sie. Seine Exfrau hatte einen theatralischen Nervenzusammenbruch, für den sich Hannah und Arthur verantwortlich fühlten. Seine Kollegen mißbilligten die ganze Angelegenheit.

Arthur kündigte seine Stelle beim Kriegsministerium und eröffnete eine Anwaltspraxis in Lake Glass, seiner Heimatstadt in New Hampshire. Seine Eltern gaben sich Mühe, verständnisvoll zu wirken, obwohl sie nicht verstehen konnten, wie ihr heißgeliebter Sohn sich so schlecht benehmen konnte. Arthur führte sie ihnen vor, genau wie Simon Estelle vorgeführt hatte. In einer Orgie von Einsamkeit begann Hannah ihre Karriere als Kinderproduzentin; dazu kamen zwischen den Schwangerschaften heftige Cocktailpartyflirts mit Arthurs alten Freunden. Nach all den Horror- und Heldengeschichten: sie hatte Colin im Krieg verloren, sie hatte die Luftwaffe über Hampstead Heath gesehen, sie war den Torpedos im Nordatlantik entkommen, sie hatte es ertragen müssen, von sämtlichen Diplomaten der USA geächtet zu werden – nach all dem erschien es ihr untragbar, einfach einen Mann zu lieben und mit ihm in heiterer Waldesruhe zu leben. Was für ein Dummkopf sie gewesen war, dachte sie. Und doch nicht anders als die meisten Leute. Die Menschen waren problemlösende Geschöpfe, und wo es keine Probleme gab, da schufen sie sich welche, damit ihr vielgerühmtes Hirn etwas zu lösen hatte. Denn wenn sie das nicht hatten, dann war sie mit der widerhallenden Stille unter all dem Tamtam konfrontiert, die erschrecken war, da ungewohnt. Sie sah zuerst einmal nach Leere aus. Erst nach und nach merkte man, daß diese Stille alles war.

Arthur legte die Zeitung weg und lächelte. Manchmal kam sie sich wie ein Heißluftballon vor, der zum Himmel strebt. Alle Stricke waren durchschnitten, bis auf einen – und das war dieser weißhaarige Mann neben ihr auf dem Ledersofa, der gerade ihre 249Hand ergriffen hatte. Wenn er nicht mehr da war, was konnte sie dann hoch hier halten?

«Zeit, sich aufs Ohr zu legen?» fragte Arthur.

«Klingt gut.» Sie warf die Zigarette ins Feuer und stand auf.

 

Caroline saß auf der Tweedcouch und schaute auf den Parkplatz hinaus, die Arme vor der Brust verschränkt und einen Knöchel auf dem Knie. Hannah beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, gespannt, was heute wohl passieren würde. Ihr Job verlangte, daß sie alles annahm, was ein Klient auftischte. Die Klienten merkten in der Regel nicht, daß Hannah die Köchin war.

Caroline war eine Halbwüchsige in voller Blüte, darauf aus, herauszufinden, wie sie Hannah kontrollieren konnte. Mit Brotlaiben hatte es nicht funktioniert. Wie eine Ärztin, die den Bauch nach schmerzempfindlichen Stellen abtastet, suchte Caroline jetzt nach Mitteln und Wegen, um Mamas Mißfallen zu erregen. Gelegenheitssex war ein Reinfall gewesen. Was kam als nächstes? Hannah hoffte, daß es an einem bestimmten Punkt zu einem wütenden Zusammenstoß kommen würde. Vielleicht heute. Die Art, wie Caroline ihr Kinn vorschob und ihre Schultern hielt, verriet Aufsässigkeit.

«Was gibt's Neues?» fragte Hannah, legte ihre bestrumpften Füße hoch und ließ ihre Arme auf den Stuhllehnen ruhen.

«Diana und ich sind am Freitagabend miteinander ins Bett gegangen», verkündete Caroline. Sie wußte nicht, ob sie die Neuigkeit über Brian gleich auch noch hinzufügen sollte.

«Ach ja? War es schön?»

«Für uns, ja.»

«Was heißt das?»

«Was?»

«Für uns

«Na ja, ich weiß, für Sie ist es unverständlich, daß Frauen einander Männern vorziehen können.»

Hannah lächelte leicht. «Es ist nicht im entferntesten unverstänlich für mich. Es hat mehrere Frauen gegeben, denen ich mich sehr nahe gefühlt habe.» Wenn sie 30 Jahre jünger wäre und Arthur nicht kennengelernt hätte, vielleicht hätte sie dann selbst Carolines Weg eingeschlagen. Wer konnte das wissen?

Caroline schaute sie ironisch an. Sie redete liberal daher, aber sie 250lebte ein sicheres, bürgerliches Leben. Sie wußte nicht, wovon sie redete, wenn es um sexuelle Leidenschaft zwischen Frauen ging. Wenn du sie einmal in ihrer ganzen brennenden Heftigkeit empfunden hattest, konntest du dir nur schwer vorstellen, wie du ohne sie auskommen könntest, gleichgültig, welchen Preis du dafür zahlen mußtest. Könnte sie selbst ohne diese Leidenschaft auskommen – das war die Frage, die sie sich die ganze Woche über gestellt hatte.

«Wollen Sie heute über diese Beziehung reden?»

«Das ist kein Thema, das ich mit einer Heterosexuellen besprechen möchte.» Es wurde immer so getan, als erwiesen die Heteros dir einen Gefallen, wenn sie dich trotz deiner Schwäche akzeptierten. Die konnten sie doch alle mal. Sie wollte nicht, daß ihre Liebe zu Frauen als ein neurotisches Symptom abgestempelt wurde, das der Behandlung bedurfte.

Hannah zuckte mit den Schultern und legte das Kinn auf die Brust. Sie dachte, was für eingebildete Pedanten Klienten doch sein konnten. Caroline kämpfte mit dem Teil ihrer selbst, der mißbilligte, daß sie lesbisch war, und sie nannte diesen Teil «Hannah». Sorgfältig konzentrierte sich Hannah in Gedanken auf Caroline, so wie sie in ein paar Monaten sein würde, wenn sie einmal die ganzen verlorenen schwarzen Schafe ihrer Persönlichkeit eingesammelt hatte. Wenn Hannah es schaffte, sie nicht vorher umzubringen.

«Wie werden denn Ihre Söhne mit all dem fertig?»

«Was heißt: all dem?»

«Na ja, Ihr Liebesleben scheint in letzter Zeit ziemlich unbeständig. Geht ihnen das nicht auf die Nerven?»

«Meinen Söhnen geht es gut. Laden Sie nicht Ihre eigenen Probleme bei mir ab.» Caroline blickte zu den blauäugigen Kindern an der Pinnwand.

Treffer, dachte Hannah und merkte, daß sie leicht blaß wurde.

«Vielleicht machen Sie sich Sorgen um meine Kinder», fuhr Caroline fort, «weil Sie das Gefühl haben, Sie hätten als Mutter versagt.»

Eine lange Pause trat ein. «Sie können recht haben, Caroline. Ich bin, weiß Gott, nicht vollkommen. Wenn Sie Löcher in mich bohren wollen, können wir den ganzen Tag damit zubringen. Oder wir könnten das tun, weshalb wir hier sind: darüber reden, was bei Ihnen vor sich geht.»

251

«Wie können Sie mir helfen, wenn Sie Ihre eigenen Probleme haben?»

Hannah fing an, sich zu erhitzen, was immer passierte, wenn sich wichtige Ereignisse ankündigten. «Ich habe meine schwachen Stellen, wie alle anderen auch.»

«Und es paßt Ihnen nicht, wenn ich sie herausfinde, oder?»

Hannah lachte. «Nicht besonders. Aber was Sie sagen, hat vielleicht seine Richtigkeit. Und wollen Sie jetzt heute etwas tun oder nicht?»

«Jetzt sind Sie wütend», sagte Caroline hoffnungsvoll.

«Perplex vielleicht. Nicht wütend.» Sie war tatsächlich ein bißchen aufgeregt und bemühte sich, es nicht zu zeigen. Es war ein gutes Vorzeichen, wenn eine schwache Klientin sich in ein kleines Aas verwandelte.

«Ich hätte heute fast abgesagt.» Als sie mit Brian in der Krankenhauscafeteria zu Mittag aß und Diana am anderen Ende des Raumes saß und mit Suzanne herumlachte, da war der Druck, für ihr Leben eine sinnvolle Ordnung zu finden, zu groß gewesen. Aber das Hannah zu erklären war unmöglich.

«Es ist noch nicht zu spät.»

«Wenn ich schon mal hier bin, kann ich auch bleiben.»

«Wie Sie wollen.» Hannah schaute aus dem Fenster auf den zugefrorenen See, der eine dicke Neuschneedecke hatte, die in der Sonne glitzerte.

Caroline starrte sie an. «Ich würde gerne noch mehr über Jackson reden. Und über David Michael, den Mann, dessentwegen ich ihn verlassen habe.» Wenn sie herausfinden konnte, was bei ihnen schiefgelaufen war, vielleicht wüßte sie dann, ob es mit Brian klappen konnte. Und ob sie überhaupt wollte, daß es klappte. Die Anziehungskraft, die von Sicherheit, Einfachheit und Bürgerlichkeit ausging, war stark. Vor allem, wenn Diana ihre launenhaften Manöver unbegrenzt weiterführen sollte. Die Anziehungskraft von Brians leerem Haus war sogar noch stärker, falls sie wirklich eine neue Bleibe suchen mußte.

«Schön. Schießen Sie los», sagte Hannah mit einer Handbewegung.

«Die Jungen sind übrigens gerade von Jackson zurückgekommen.»

«Wie ging's?»

252

«Wie üblich. Er hatte Karten für ein Basketballspiel mit den Celtics, aber in letzter Minute kam ein Notruf.»

«Klingt das bekannt?»

«Wie mein eigener Vater, meinen Sie? Ja, das wird mir langsam klar.»

«Gut.» Hannah nickte.

«Wissen Sie, was er getan hat, um es wiedergutzumachen? Er hat ihnen Luftgewehre gekauft. Gestern hat Jason die Katze angeschossen. Ich war so wütend, daß ich Jackson angerufen und gesagt habe: ‹Da verbringst du nun dein halbes Leben damit, den Leuten Kugeln aus der Brust herauszuoperieren, und dann schenkst du deinen Söhnen Gewehre?› Und er hat gesagt: ‹Wirklich, Caroline, mußt du immer gleich so hysterisch sein?›»

«Erzählen Sie mir mehr von Ihrem Leben mit ihm.»

Während Caroline ihre Durchschnittsehe beschrieb und das alternative Durchschnittswirrwarr einer Affäre, achtete Hannah weniger auf die vorhersagbaren Details als auf Carolines gekränkten Tonfall. Diese beiden Männer hatten sie auf all die üblichen Arten ignoriert, vernachlässigt und betrogen. Aber Carolines Tonfall wies darauf hin, daß eine komplizierte Interaktion stattgefunden hatte, daß die betreffenden Männer eine andere Version vorzubringen hätten. Je näher die Darstellung eines Klienten an die «Objektivität» heranreichte, desto distanzierter der Tonfall.

« … Ich habe mich in letzter Zeit so viel mit dieser ganzen Scheiße beschäftigt», sagte Caroline, «und es ist wie ein Ausflug zum Leichenschauhaus, um Leichen zu identifizieren. Ich habe mein Leben damit vergeudet, wegen irgendwelcher Idioten unglücklich zu sein.»

«Aber wie angenehm», sagte Hannah, «den Rest des Lebens vor sich zu haben, ohne Idioten. Und ohne Unglück.»

Caroline blickte von ihrer Stiefelsohlenuntersuchung auf.

«Sie haben jahrelange Erfahrungen mit Unglück. Jetzt können Sie die Erfahrung machen, was Freude bedeutet, indem Sie einfach den ganzen Mist fallen lassen, an dem Sie festgehalten haben, um sich weiterhin beschissen zu fühlen.»

«Sie glauben, es sei meine Entscheidung, die ganzen Jahre damit zu vergeuden, mich beschissen zu fühlen?» Caroline starrte sie an.

«Ja, das glaube ich. Nicht, daß Sie das gewußt hätten. Sich beschissen zu fühlen war bequem. Sie waren daran gewöhnt. Es war 253ein vertrautes Gefühl. Aber können Sie jetzt dem Schrecken, sich wohl zu fühlen, ins Auge sehen?»

Carolines Mundwinkel zuckten.

«Sie reden immer davon, wie all diese schrecklichen Leute Sie im Stich gelassen haben», sagte Hannah. «Ihre rosarote Decke wurde vernichtet, und Marsha wurde von einem Lastwagen überfahren. Aber mir kommt es so vor, als hätten Sie die anderen verlassen. Die anderen taten Dinge, die Sie als Zurückweisung und Betrug ansehen wollten, aber Sie waren so weit, daß Sie weggehen wollten. Sie entwickelten eine neue Stärke, und die anderen konnten damit nicht umgehen, weil sie eine Caroline wollten, die sie dominieren konnten. Die andern haben Sie im Stich gelassen. Aber von deren Standpunkt aus gesehen haben Sie sie im Stich gelassen: Sie sind nicht unterwürfig und voller Bewunderung geblieben.» Hannah liebte es, die Katastrophen ihrer Klienten von einer anderen Perspektive aus zusammenzufassen. Ein Judotrick, bei dem sie den eigenen Schwung der Klienten dazu einsetzte, den Spieß umzudrehen. «Den Leichenhaufen, von dem Sie reden», fuhr sie fort, «könnten Sie statt dessen auch als Komposthaufen ansehen. Überlegen Sie sich, was Sie von jeder einzelnen Person gelernt haben, wodurch es Ihnen möglich wurde, sich zu der phantastischen Frau zu entwickeln, die Sie heute sind. Ihre Eltern haben Ihnen Ihre Sensibilität gegenüber menschlichem Leid gegeben. Arlene hat Ihnen geholfen, Ihre Arbeit gut zu machen. Jackson hat Ihnen Kinder und Besitztümer gegeben. David Michael hat Ihnen politisches Wissen vermittelt …» Worauf es eigentlich ankam, so schien es ihr, war, herauszufinden, daß nichts von all dem ausreichte, dem Leben einen Sinn zu geben.

«Freude?» sagte Caroline spöttisch, bei der dieses Wort endlich angekommen war.

Hannah merkte, daß ihre ganze Rede unbeachtet über Caroline hinweggegangen war. Sie war noch nicht so weit, in sich etwas anderes zu sehen als ein bemitleidenswertes, ungerecht behandeltes Opfer.

«Ja. Freude.» Schnee rutschte vom Dach herunter, verdunkelte einen Augenblick lang die Sonne hinter dem Fenster und landete mit einem dumpfen Geräusch auf der Erde.

«Freude? Während Millionen von Menschen verhungern?» Caroline entkreuzte abrupt ihre Beine und beugte sich vor.

254

«Ach, um Gottes willen. Sehen Sie, das Leben ist wie ein Diamant auf schwarzem Samt. Ein Aspekt bedingt den anderen. Sie kennen den schwarzen Samt aus jedem Blickwinkel. Gestehen Sie sich jetzt einmal zu, den Diamanten zu sehen.»

«Diamant? Quatsch! Sie reden nichts als elitären Mist. Wieviel Freude empfindet Ihrer Meinung nach jemand, der in Chile im Gefängnis sitzt? Und was ist mit dem Baby, das ich gestern auf der Unfallstation gesehen habe? Die Mutter hat das Mädchen in einen dieser Straßenbriefkästen auf dem Land gesteckt, weil sie sich kein Kind leisten konnte. Freude!» Caroline merkte, daß sie wieder ausverkauft hatte, indem sie hier saß und sich von dieser biederen Matrone dazu verleiten ließ, passiv den Status quo zu akzeptieren, während die Welt unaufhaltsam der Zerstörung entgegentrieb. Indem sie Hannahs Beispiel nachahmen und mit Brian Stone in häuslichem Glück versinken wollte, während die Chinesen Vietnam überschwemmten. Während in Utah ganze Städte infolge der Atomversuche in den fünfziger Jahren an Leukämie zugrunde gingen.

Hannah zuckte mit den Schultern und betrachtete ihren Mimi-Geist. Man konnte aus einem Felsenvorsprung einen Mimi-Geist hervorlocken. Aber es war noch einmal etwas anderes, ihm beizubringen, wie man tanzt und liebt, statt alles in Stücke zu reißen. Es herrschte eine ungeheure Spannung im Raum. Hannah fühlte sich sehr gereizt. Um Carolines Feuer zu schüren, sagte sie mit ausdrucksloser Stimme: «Ist Ihnen bewußt, daß Sie immer, wenn Sie sich bedroht fühlen, diese kosmische Nummer anbringen?»

Caroline starrte sie an und ließ einen Redeschwall über den Hunger in der Welt los, wobei sie Statistiken heraussprudelte wie die Luftblasen eines Fisches, der an der Angel hängt: « … jede Minute verhungern irgendwo auf der Welt einundzwanzig Kinder …»

Hannah fühlte ihren eigenen Ärger aufflammen, wie Kohlen auf einem eingedämmten Feuer. Meine liebe junge Frau, sagte sie schweigend, du scheinst anzunehmen, daß ich nie aus meinem Hinterhof herausgekommen bin. Kannst du dir ein Leben, das sich über drei Erdteile und fast sechs Jahrzehnte erstreckt, überhaupt vorstellen? Glaubst du denn, ich bin mir dessen, was du da erzählst, nicht bewußt?

Sie ermahnte sich. Wenn sie sich auf diese Ebene einließ, war sie 255geliefert. Eigentlich ging es darum, daß Caroline – wie Simon, als er Estelle neulich abends vorführte – sich von ihrem Gefühl der Abhängigkeit losmachen mußte. Und daß sie einen Angriffspunkt für die ganze Wut brauchte, die sich im Verlauf ihres Lebens aufgestaut hatte. Die kosmische Nummer war ihre wichtigste Verteidigungsstrategie, und es war eine sehr wirkungsvolle Methode, weil alles, was sie sagte, unwiderlegbar stimmte.

Caroline belehrte Hannah jetzt über Folter. Sie hatte das dringende Bedürfnis, dieser selbstgefälligen Frau in ihrem Hosenanzug aus Polyester zu vermitteln, daß die Wirklichkeit nicht so war, wie sie ihr vom Fenster ihres behaglichen Landhauses erschien. «Hannah, Ihr bequemes Wohlstandsleben ist aufgebaut auf den gekrümmten Rücken von Millionen von leidenden Menschen. Hier sitzen wir, in einem faschistischen Staat, der die Welt ausplündert, und gratulieren einander dazu, was für nette Menschen wir doch sind. Es ist obszön. Sie sind nichts als eine kleinbürgerliche Kompromißlerin!»

Hannah gestattete sich nur, die Augenbrauen hochzuziehen. Man schlug nicht auf Verwundete ein, wie provozierend sie sich auch aufführten. Und Carolines große Predigt klang sowieso wie das Todesröcheln dieses Tonbandes. Es war kurz davor, gelöscht zu werden, und deshalb schnarrte es so blindwütig.

« … neunzig Prozent aller Gewaltverbrechen werden von Männern begangen», sagte Caroline. «Den ganzen Tag über verbinde ich Frauen und Kinder, die von Männern vergewaltigt worden sind, mit Messerstichen verletzt, geschlagen, angeschossen, gewürgt. Und Sie, Sie leben mit einem dieser Ärsche zusammen, Hannah. Sie sagen, Sie lieben ihn. Sie ruhen sich aus im Schatten der Vorteile, die seine Privilegien als weißer männlicher Amerikaner mit sich bringen – auf Kosten von uns anderen. Versuchen Sie doch mal, sich ohne einen Mann durchzuschlagen, der Sie vor der Gewalt der anderen Männer beschützt. Dann werden Sie sehen, ob Sie mir was von Freude erzählen können!»

Hannah mußte an sich halten, um nicht «Bravo!» zu rufen. Caroline glaubte, sie sei in einen Zweikampf mit Hannah verwickelt. Aber sie wußte fast nichts über Hannah. Sie führte in Wirklichkeit einen Kampf mit dem Teil ihrer selbst, der sich nach Brian Stones zweifelhaftem Schutz sehnte.

«Meine Stunde ist um.» Caroline stand abrupt auf und knallte 256einen Scheck auf Hannahs Schreibtisch. Als sie zur Tür marschierte, merkte sie, daß alles aus war. Sie hatte gerade Hannahs Leiche mit auf den Haufen gelegt. Nie wieder würde sie hier in diesem vollgestopften Sprechzimmer sitzen und die durchdringenden blauen Augen nach Hinweisen darauf überprüfen, wie sie in einer so widerwärtigen Welt leben sollte. Sie empfand eine rasende Mischung aus Schmerz, Verlustgefühlen, Übelkeit – und Erleichterung.

«Bis nächste Woche», sagte Hannah.

Caroline schaute sich noch einmal um. Hannah unterdrückte ein Lächeln. In dem Vergnügen, das sie daraus gewann, die Erwartungen ihrer Klienten zu durchkreuzen, lag eine gewisse Feindseligkeit. Das ermöglichte ihr, nicht zu irgendwelchen anderen Vergeltungsmaßnahmen zu greifen. Außerdem brauchte jeder Beruf seine kleinen Nebenvergünstigungen. Sie füllte eine Terminkarte aus und reichte sie der verdutzten Caroline, die kurz darauf schaute und sie dann in die Hosentasche steckte.

Hannah zündete eine Zigarette an und atmete den Rauch aus, mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung, daß Caroline weg war. Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück und setzte ihre Kenntnisse, die sie beim Krimilesen im Drugstore erworben hatte, dafür ein, vorherzusagen, was Caroline als nächstes tun würde. Chip setzte eine ähnliche Diskussion über mehrere mühselige Sitzungen fort. Andere Klienten waren nach solchen Szenen zu verlegen und kamen eine Weile nicht wieder. Aber Carolines Hauptproblem waren Depressionen. An Weihnachten hatte sie auf ihre Eltern mit Depressionen reagiert. Vermutlich würde sie in Depressionen verfallen. Würde versuchen, sich für Mama wieder annehmbar zu machen, indem sie alle diese bösen Emotionen auslöschte, indem sie reglos und still in ihrer Babyhüpfschaukel hing. Und was dann? Sie könnte versuchen, sich umzubringen. Sie sagte, das habe sie schon einmal gemacht. Die Feindseligkeit mußte irgendwo hin. Sie würde entsetzt sein, daß sie ihre Feindseligkeit gegen Mama gewandt hatte. Sie würde sie gegen sich selbst richten. Aber vielleicht hatte Caroline inzwischen genug Vertrauen zu ihr, daß sie um Bestätigung und Beruhigung bitten würde?

Hannah klopfte ihre Zigarette an Nigels Stein ab und nahm noch einen Zug. Apropos Selbstmord – sie war dabei, sich mit diesen verdammten Dingern umzubringen. Wann würde sie genug Charakterstärke aufbringen und endlich aufhören?

257

Sie fragte sich, ob sie diesen Mist mit Caroline aushalten könnte, wenn andere Leute nicht für sie dasselbe getan hätten. Mit großer Würde hatte ihre Großmutter Hannahs endlose Wut darüber ertragen, daß ihre Eltern sie verlassen hatten. Hannah war durch die engen, gewundenen Straßen in Hampstead gesaust und hatte ihr Bestes getan, Verwüstung anzurichten. Und Arthur ertrug ihre Wut gegen das All wegen Monas und Nigels Tod. Noch Jahre danach war sie auf ihn wütend – wegen des Heizsystems, das er ausgesucht hatte; weil er in jener Nacht nicht dagewesen war; weil er nicht rechtzeitig heimgekommen war, um die Antiquitäten zu retten. Aber sie war vor allem deswegen wütend, wie er den Rasen mähte oder weil sie immer die neue Klopapierrolle auf den Halter tun mußte. Arthur brachte es irgendwie fertig, nie auf Hannahs Ebene der Bitterkeit herabzusteigen. Manchmal ging er weg. Manchmal fragte er kühl: «Bist du jetzt fertig?» Ein paarmal hielt er sie an den Armen fest, um sie daran zu hindern, auf ihn einzuprügeln. Schließlich schlug er vor, sie solle etwas Sinnvolles zu tun finden und anderen Leuten mit Problemen helfen, statt den ganzen Tag in einem unordentlichen, verdunkelten Haus herumzusitzen und sich selbst zu bemitleiden. Was sie dann auch tat, indem sie wieder auf die Universität ging, um ein Diplom zu machen.

Während dieser Zeit lernte sie Maggie kennen, die in ihrem Ohrensessel auf dem weinroten und blauen Orientteppich neben dem Lorbeerbaumtopf saß und die in Hannahs entzündeten Wunden herumstocherte und drückte, bis sie wieder aufbrachen und wieder bluteten. Maggie überzeugte sie schließlich, Fotos von den vier Kindern zu nehmen und sie einem Porträtmaler hier in der Gegend zu geben. Sie hatte die vier fertigen Porträts mehrere Monate lang im Kofferraum ihres Autos gelassen, ohne sie auch nur auszupacken. Als Maggie sie schließlich überredete, sie in ihrem Schlafzimmer an die Wand zu hängen, weinte sie und warf den Hammer quer durchs Zimmer und schlug mit dem Kopf gegen die Wand. Dann sammelte sie das Packpapier ein, verbrannte es im Franklin-Ofen, machte sich einen Martini, und als Arthur nach Hause kam, sprach sie mit ihm darüber, wie gut die Porträts doch geworden seien.

Und hier saß sie nun, zog an Zigaretten und nahm von unglücklichen Menschen wie Caroline genau das entgegen, was sie selbst ihrer Großmutter, Arthur und Maggie aufgetischt hatte. Es war 258wahrscheinlich der einzige Weg, diese Art von Schulden zurückzuzahlen.

Im Zimmer nebenan schrie Mary Beth: «Herrgott noch mal, Nathan, nehmen Sie sich zusammen, oder gehen Sie!»

Hannah war leicht beunruhigt. Mary Beth wirkte außerhalb ihres Sprechzimmers so betont ruhig, fast verkniffen in ihren hochgeschlossenen, gerüschten Blusen. Hannah schrie ihre Klienten nie an, so nahe ihr das manchmal lag. Die Klienten brüllten sie an. Aber Mary Beth kam frisch von der Universität. Vielleicht war das eine neue Technik – Konfrontationstherapie oder so etwas.

Hannah erinnerte sich an ihren ersten Ausbruch bei Maggie – wegen Maggies Ankündigung, sie werde Urlaub machen. Augenblicklich amputierte Hannah ihre Bewunderung für die Frau und knallte die Tür zu dem Verlies ihres Herzens zu. Sie sagte Maggie, sie sei sowieso mit der Therapie fertig und brauche keine Termine mehr. Maggie lächelte säuerlich, setzte die Brille auf und sagte: «Meine liebe Hannah, ich befürchte, Sie haben kaum angefangen.»

«Ich habe so viel gemacht, wie ich machen will.»

Als die Stunde zu Ende war, hatte Hannah geschluchzt, geschrien, Maggie angefleht, sie solle nicht weggehen – und angefangen, einige Hinweise zu bekommen, was ihren Schmerz betraf, wenn sie von Leuten, die sie liebte, verlassen wurde.

Hannah suchte ein paar Bücher und Papiere zusammen, zog ihren Berberumhang um und verließ das Büro. Die Sonne ging glühend über dem See unter, die dicke Neuschneedecke schien blutrot. Na und. In ein paar Minuten würde alles stockdunkel sein. Diese verdammten, ungreifbaren Sonnenuntergänge. Hinter dem Scheibenwischer ihres Mercury steckte ein zusammengefalteter Zettel, wie ein Strafzettel, auf dem stand: «Hannah, bitte kommen Sie doch nach der Arbeit auf einen Drink zu Dooley's. Ich warte dort auf Sie, bis sie zumachen. Ich muß mit Ihnen über unsere Beziehung sprechen. Liebe Grüße, Harold (Mortimer). PS. Ihr neues Auto gefällt mir.» Hannah biß die Zähne zusammen, zerknüllte den Zettel zu einer Kugel und warf ihn in die Abfalltüte in ihrem Auto. Beziehung? Welche Beziehung?

Nach einem Abendessen mit Huhn Kiew à la Arthur saßen Hannah und er bei Kaffee und Cognac auf dem Ledersofa und sahen Nachrichten – eine Qual, die Hannah nur ein paarmal in der Woche über sich ergehen ließ. Walter Cronkite berichtete, eine Gruppe argentinischer 259Bauern hätte ein dreizehnjähriges Mädchen gekidnappt, sie einer nach dem andern vergewaltigt, ihr den Bauch aufgeschlitzt und einen Menschenkopf in sie eingenäht. Hannah stellte ihren Kaffee auf das Tischchen, neben einen Stapel eselsohriger Liebesromane, und bedeckte ihre Augen mit der Hand. Sie spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Hatte Caroline recht? War sie eine naive Optimistin, die sich weigerte, das Grauen wahrzunehmen?

Mit Abscheu betrachtete sie Arthur, der mit gerunzelter Stirn auf den Fernseher schaute. Es muß peinlich sein, ein Mann zu sein, beschloß sie. All diese widerlichen Dinge, die dein Geschlecht vollbringt. Immer wenn in den Nachrichten von einer Greueltat berichtet wurde, hatte Maggie die Augen geschlossen und gemurmelt: «Lieber Gott, mach, daß es kein Jude ist.» Aber Männern wurde selten der Luxus zuteil, daß sie entdeckten, daß der Täter irgendeines grauenvollen Verbrechens kein Mann war. Neunzig Prozent aller Gewaltverbrechen werden von Männern begangen …

Dann kam eine Werbung für Silhouette-Liebesromane: Ein dunkler, attraktiver Mann trug eine Frau in einem knappen Badeanzug aus den Wellen des Ozeans in eine Strohhütte. Hannah blickte auf den Stapel von Liebesromanen auf dem Tischchen neben ihrer Kaffeetasse. Der Einband des obenauf liegenden Buches zeigte eine Frau in einem enganliegenden Kleid an Deck eines brennenden Schiffes. Ihr Retter, ein Soldat mit Federbusch und goldenen Litzen, parierte den Schwerthieb eines Piraten, der mit Augenklappe, Stirnband und goldenem Ohrreifen ausgestattet war. Es war obszön, Frauen durch Gehirnwäsche dahin zu bringen, ihre Vergewaltiger und Mörder als Beschützer anzusehen. Versuchen Sie mal, sich ohne einen Mann durchzuschlagen, der Sie vor der Gewalt der anderen Männer beschützt. Sie sprang auf, packte die Bücher und warf sie ins Feuer. Die Flammen knabberten gierig an den Seiten.

«Was machst du denn da?» fragte Arthur.

Sie wirbelte herum und starrte ihn an. Er nippte an seinem Cognac. «Liebling», sagte sie bissig, «könntest du mir bitte mal erklären, warum Männer Vergewaltigung als gelungenen Zeitvertreib betrachten?»

Er zog die Augenbrauen hoch und spitzte die Lippen. «Vielleicht müssen wir das Gefühl haben, daß alles unter unserer Kontrolle ist, um unser wertvolles Organ einem so gefährlichen Platz wie der Vagina anzuvertrauen.»

260

«Wie rührend», fuhr sie ihn an und ließ sich aufs Sofa fallen. «Ihr bestimmt ja nur über die ganze gottverdammte Welt. Was wollt ihr eigentlich noch?» Ein ernsthafter junger Mann erklärte auf dem Fernsehschirm, warum er für seine Hämorrhoiden nie etwas anderes als das Präparat H nehmen würde. Hannah versuchte, sich daran zu erinnern, daß Arthur nie jemanden vergewaltigt hatte. Soweit sie wußte. Mit einem Mann zusammenzusein, bedeutete, eine eingebaute Distanz zu haben. Sie gehörten einer anderen Gattung an. Wie wäre wohl das Leben zusammen mit einer anderen Frau, dem eigenen Ebenbild? Einen Augenblick lang beneidete sie Caroline um die Möglichkeit, das herauszufinden.

«Das Gute am Krieg ist, daß ihr Männer dann von der Straße weg seid.»

Arthur lächelte grimmig und trank seinen Kaffee. «Was kann ich dazu sagen, Hannah? Ich befürchte, die meisten Männer sind moralisch zurückgeblieben.»

Hannah nickte. «Ich fürchte, du hast recht.» Entschlossen tilgte sie das Bild des verstümmelten Mädchens aus ihrem Kopf. Wenn diese Schwachköpfe die Leistungsfähigkeit wohlmeinender Menschen, die in den Nachrichten von ihnen hörten, untergruben, dann hatten sie gesiegt. Lerne Benimm von denen, die sich nicht zu benehmen wissen, hatte ihre Großmutter, die Hände unter ihrem enormen korsettierten Busen gefaltet, immer gepredigt.

Hannah nahm einen Schluck Cognac, spülte ihren Mund damit wie mit Mundwasser und spürte, wie die Dämpfe ihre Nebenhöhlen durchzogen. Sie betrachtete das Glas mit der dunklen, goldenen Flüssigkeit am Boden und fragte sich, ob sie zu viel trank. Jedenfalls genoß sie das Gefühl des Vergessens, das der Alkohol jeden Abend hervorrief. Er ätzte die Nervenenden weg, die abgenutzt waren von einem Tag, an dem sie solche Greuel angehört hatte und die Verzweiflung, die sie mit sich brachten.

Was war mit ihrer eigenen Verzweiflung? Sie schien nicht mehr allzuoft aufzutauchen. Und wenn, dann machte sie sich schnell wieder davon, so wie gerade eben. Je älter Hannah wurde, desto weniger konnte irgend etwas sie lange aus dem Gleichgewicht bringen. Vielleicht war die einzig wirkliche Heilung für ihre Klienten das Älterwerden. Aber das konnte Jahre dauern.

261

6

«Ich habe gerade etwas Furchtbares getan», sagte Caroline zu Diana. Sie saßen auf Dianas Sofa, tranken Wein und hörten zu, wie Jackie und Jason drunten The Incredible Hulk spielten. Irgendwelche Helden drehten im tiefroten Licht des Spätnachmittags mit ihren Autos auf dem schmelzenden Schnee von Lake Glass Runden. Diana strickte einen Islandpullover für Suzanne. «Machst du ihr auch die dazu passenden Stiefelchen?» hatte Caroline gefragt, als Diana mit dem Pullover anfing. Heute war das erste Mal, daß sie miteinander redeten, seit Diana ihr gesagt hatte, sie solle ausziehen. Caroline fühlte sich dumpf.

«Was denn, um Gottes willen?»

«Ich habe gerade Hannah beschimpft.» Carolines Muskeln waren so angespannt, daß sie kaum die Schultern bewegen konnte.

«Weswegen?»

«Was weiß ich. Sie fing an, von Freude zu reden, und da habe ich losgelegt.»

Diana lächelte. «Nicht gerade dein Lieblingswort. Und was hat sie gesagt?»

«Bis nächste Woche.»

«Dann warst du vielleicht gar nicht so unmöglich, wie du denkst.» Sie war dabei, die Maschen zu zählen.

«Ich bin ziemlich sicher, daß ich unmöglich war. Und sie ist immer so nett zu mir gewesen. Ich kann es gar nicht glauben. Ich bin da reinmarschiert und habe alles kaputtgemacht.»

«Na ja, offensichtlich ist sie bereit, es zu übergehen. Warum machst du also nicht einfach das gleiche?»

«Ich wollte, ich wäre mit Stummheit geschlagen gewesen, als ich heute bei ihr zur Tür hereingekommen bin.»

«Sei nicht so melodramatisch», sagte Diana, stand auf und ging zur Anrichte. «Sie ist deine Therapeutin. Sie ist daran gewöhnt, daß Klienten sich aufspielen. Dafür bezahlst du sie ja. Ruf sie an. Sie gratuliert dir wahrscheinlich.»

«Du verstehst das nicht.» Caroline kippte die Hälfte ihres Weines mit einem Schluck hinunter. Diana klang belustigt. Vermutlich freute sie sich.

«Vielleicht nicht», sagte Diana und mischte den Salat, zu dem sie Caroline eingeladen hatte, eine kulinarische Friedenspfeife.

262

Caroline beschloß, nächste Woche würde sie ruhig und freundlich sein. Sie würde sich entschuldigen. Sie würde sagen, sie habe über den Diamanten auf schwarzem Samt nachgedacht und sei zu dem Schluß gekommen, daß Hannah recht habe. Sie begann zu frösteln und schlang ihre Arme um ihr Flanellhemd. Was wäre, wenn Hannah in der Zwischenzeit genug bekäme? Niemand mußte sich von irgend jemandem so ein Benehmen gefallen lassen. Was wäre, wenn Hannah anriefe, um ihren Termin abzusagen? Sie holte die Karte mit dem Termin aus ihrer Hosentasche und studierte sie.

«Mein Gott, du siehst ja furchtbar aus», sagte Diana, als sie sich an den Eßtisch aus grob bearbeitetem Ahornholz setzten. «Deine Lippen sind blau. Paßt gut zu deinen Augen.»

«Ich habe keinen Hunger.» Ihr Magen drehte sich wie eine Waschmaschine.

«Du mußt aber etwas essen.»

Caroline antwortete nicht.

«Komm, ruf sie an. Sie sagt bestimmt, daß alles in Ordnung ist.»

«Aber es ist nicht in Ordnung. Die Sachen, die ich gesagt habe. Ich habe mich ganz schrecklich benommen.»

«Na und? Das tun wir alle ab und zu.» Diana schaute sie aufmerksam an, die Gabel in der Luft.

«Ich gehe ins Bett.» Caroline stand auf und ging zur Treppe.

«Kann ich irgend etwas für dich tun? Soll ich dir den Rücken massieren?»

«Nein, danke.» Es sei denn, du möchtest mich mit Luftgewehrpatronen vollpumpen und in einer Schneeverwehung begraben, dachte Caroline.

«Hör zu, ich will nicht im Ernst, daß du ausziehst, Caroline», rief Diana. «Es tut mir leid, daß ich das gesagt habe. Wir finden schon eine Lösung.»

Caroline drehte sich um und schaute sie an. «Danke. Das hilft.»

Sie rief Brian an und sagte, sie könne nicht mit ihm ausgehen, weil ihr schlecht sei.

«Du klingst auch ganz furchtbar. Aber ich bin doch Arzt. Ich könnte einen Hausbesuch machen.»

«Ich bin zu abstoßend im Moment, Brian.»

«Ich bin kranke Leute gewöhnt.»

«Ich muß allein sein. Was sollte das denn? Eine schäbige Nacht, und schon gehörte sie ihm?

263

Er sagte einen Moment lang gar nichts, dann antwortete er: «In Ordnung, ich ruf dich morgen an. Gute Besserung.»

«Danke.»

Caroline sagte den Jungen, sie gehe einkaufen, stieg ins Auto und fuhr am Seeufer entlang. Im Radio hörte sie David Brinkley, der über die chinesische Invasion in Vietnam sprach. Ihre Hände am Lenkrad zitterten, und ihre Zähne klapperten. Ihr Magen knirschte wie ein Auto, das nicht anspringt. Jedesmal, wenn sie versuchte, sich zu beruhigen, indem sie sich Hannahs lächelndes Gesicht vorstellte, nahm ihre Erregung nur noch zu. Sie spürte erst recht das volle Ausmaß ihres Verlustes.

Als sie schon ein gutes Stück des Sees hinter sich hatte, hielt sie an einer Tankstelle und fragte nach dem Weg zu Hannahs Haus. Nach einigen Abbiegungen auf vereisten, nicht gepflasterten Straßen fand sie es. Es war überhaupt nicht das Landhaus, das sie sich vorgestellt hatte, sondern ein großes, renoviertes viktorianisches Sommerhaus. Licht strömte aus einem Blumenfenster auf einen Schneewall, den der Südwind im Laufe des Winters im Garten aufgehäuft hatte. Zwei Autos standen in der Einfahrt, unter einem Basketballtor ohne Ring.

Caroline parkte hinter einem kahlen Fliederbusch und schaute auf den gelblichen Lichtfleck im Schnee. Konnte sie an die Tür klopfen und sich entschuldigen? Oder vielleicht sollte sie nur durchs Fenster sehen, um sicherzugehen, daß Hannah da war? Aber sie würde Fußspuren im Schnee hinterlassen.

Ein Schatten bewegte sich über den Lichtfleck. Jemand ging drinnen umher. Was wäre, wenn Hannah herausschaute und sie hier sähe, zusammengekauert in ihrem Subaru? Zum Glück gab es keine Nachbarn, die die Polizei rufen könnten. Und wenn Hannah einen Hund hatte, der bellte?

Plötzlich sah Caroline sich selbst aus der Distanz: eine überreizte Frau, mit einem unordentlichen Afro, ohne Mantel, die mit einem irrsinnigen Verlangen zu Hannahs Fenster blickte. Das war total verrückt. Hannah hatte ein Zuhause, einen Mann, Kinder, Freunde, Arbeit. Ein ausgefülltes, volles Leben, zu dem Caroline nicht gehörte. Caroline bedeutete ihr nichts. Sie sind nichts als eine kleinbürgerliche Kompromißlerin! Caroline fuhr zusammen. Hannah wollte nach den Sitzungen nichts mit ihr zu tun haben. Und jetzt wahrscheinlich nicht einmal mehr während der Sitzungen.

264

Sie wollte aussteigen, zu Hannahs Mercury hinüberschleichen, irgendein Andenken suchen …

Ganz plötzlich wurde ihr klar, daß sie das alles schon einmal mitgemacht hatte – gelbe Papiertaschentücher aus Arlenes Auto stehlen, die Augen auf ihr Bürofenster geheftet, mit dem gleichen Gefühl der Einsamkeit und der Angst wie jetzt. Was bedeutete das? Verwirrt blieb sie in dem kalten Auto sitzen, und der zugefrorene See dehnte sich schweigend neben ihr aus.

Der Lichtfleck auf dem Schnee verschwand, ein neuer erschien oben. Hannah war dabei, mit ihrem Mann ins Bett zu gehen. Als das Licht oben ausging, fuhr Caroline nach Hause und stellte sich vor, wie Hannah ihren weißhaarigen Mann in den Armen hielt, so wie Caroline sich gewünscht hatte, daß Hannah sie halten möge. Nicht nur würde Hannah sie nie in den Armen halten, sie würde wahrscheinlich nicht einmal wieder mit ihr reden.

Nachdem sie die ganze Nacht trotz der Heizdecke krampfartig zitternd wach gelegen hatte, saß Caroline am nächsten Morgen in dem karierten Sessel und starrte auf das Telefon. An Weihnachten hatte ihr Hannah ihre Telefonnummer gegeben und gesagt, sie könne jederzeit anrufen. Zwar galt das vermutlich nur für die Reise nach Boston. Aber wenn sie anrief, dann mußte Hannah mit ihr reden. Oder vielleicht würde sie sie zum Teufel wünschen und auflegen. Aber Caroline war ja schon in der Hölle. Ihre Haut brannte, als würde sie auf einem Spieß gedreht.

Jackie kam herein, in seinem waldgrünen Jogginganzug und im Arm sein Gewehr, das er gerade mit einem Stück Stoff polierte. «Hallo, Mama, was machst du?»

«Äh, ich warte auf einen Anruf.»

«Kann ich bitte was zum Frühstück haben?»

Ganz mechanisch kochte sie, dann legte sie die Wäsche zusammen und dachte dabei, warum sie sich überhaupt die Mühe machte. Das Leben war sinnlos. Was bedeuteten da schon saubere Kleider?

Das Telefon klingelte. Caroline raste hin. Vielleicht war es Hannah, die ihr sagen wollte, es sei alles in Ordnung. Was wäre, wenn Hannah ihr sagen würde, sie solle bloß abhauen? Sie setzte sich hin und betrachtete das klingelnde Telefon. Jackie kam herausgerannt, nahm den Hörer und schaute sie komisch an.

«Es ist für dich, Mama.» Er reichte ihr den Hörer. Sie hielt ihn von sich weg und schaute ihn an, als wäre er ein Folterinstrument 265der spanischen Inquisition. Jackie verzog das Gesicht und strich sich die dunklen Haare aus den Augen. «Antworte doch, Mama.»

Es war Diana, die von oben anrief, um zu fragen, ob sie nicht mit Ski fahren gehen wolle. Caroline merkte, daß draußen ein strahlender Sonnentag stattfand. «Äh, ich kann nicht. Vielen Dank, Diana, aber ich habe zuviel zu tun.»

«Wie geht es dir?»

«Gut, danke.» Dann fügte sie hinzu: «Nicht so besonders, ehrlich gesagt.»

«Du klingst auch nicht so besonders. Glaub mir doch: Ruf die Frau an. Es sei denn, es macht dir Spaß, dich elend zu fühlen.»

In einem Zustand der Panik bezog Caroline die Betten und staubte ab. Sie mußte völlig den Verstand verloren haben. Sie rief sich ins Gedächtnis, daß Hannah ihr einen Termin für nächste Woche gegeben hatte. Aber sie würde das wahrscheinlich als Anlaß nehmen, ihr zu erklären, warum ihre Beziehung zu Ende sei. Verdammte Scheiße – wenn es vorbei war, dann war es eben vorbei. Warum sich abquälen und bis nächste Woche warten? Warum konnte Hannah ihr gegenüber nicht ehrlich sein?

Sie nahm den Hörer und wählte die erste Hälfte von Hannahs Nummer. Sie legte auf. Wenn sie Hannah Zeit ließ, sich zu beruhigen, würde sie es sich vielleicht noch einmal überlegen, ob es wirklich nötig war, aufzuhören. Vor allem, wenn Caroline sich gleich zu Beginn der Sitzung entschuldigte. Vielleicht konnte sie ihr irgend etwas mitbringen, um zu zeigen, daß es ihr leid tat. Den neuen Sonnenuntergangsschal? Aber das Brot war ein Reinfall gewesen. Sie sollte Hannah keine Geschenke mitbringen.

Als sie an den roten und orangefarbenen Schal auf ihrem Webstuhl dachte, ging sie ins Schlafzimmer, setzte sich hin und versuchte, daran zu arbeiten, weil sie dachte, die hypnotischen Bewegungen könnten sie beruhigen. Aber ihre Hände und Füße bewegten sich ruckartig und ungeschickt. Sie würde alles vermasseln, wenn sie weitermachte. Sie sprang auf und schlich in die Küche, um nach einer anspruchslosen Beschäftigung zu suchen.

Während sie den Kühlschrank putzte, beschloß sie, daß sie sterben wollte. Wer sich gegenüber einer so freundlichen Person wie Hannah derart aufführte, hatte den Tod verdient. Es wäre eine Erleichterung, alles hinter sich zu haben. Sie stellte sich die Pillenflaschen in ihrem Schrank vor. Sollten die Jungen ihre Gewehre 266nehmen und zu ihrem elenden Vater gehen. Sie hatte genug. Heute nachmittag würde sie Abschiedsbriefe schreiben. Sobald die Jungen heute abend im Bett waren, würde sie sämtliche Tabletten im Haus schlucken. Mit dem Gesicht nach unten legte sie sich auf den geknüpften Teppich im Wohnzimmer. Das Haus war still. Die Jungen waren mit Diana Ski fahren gegangen, und Sharon hatte sich im Badezimmer eingeschlossen und redete endlos am Telefon. Amelia kam daher und schnurrte um Carolines Kopf. Caroline war nicht imstande, eine Hand zu heben und sie zu streicheln. Schließlich versetzte die Katze Caroline mit dem Schwanz einen leichten Schlag ins Gesicht und stolzierte davon.

Die Jungen kamen zur Tür hereingeplatzt. Arnold wedelte um Caroline herum, bellte und schnüffelte an ihren Jeans.

«Geh weg», brummelte Caroline, unfähig, sich zu bewegen.

Diana stand über ihr, in brauner Bundhose aus Cordsamt, dicken Kniestrümpfen und einem Skipullover, den sie gestrickt hatte. «Nichts ist es wert, daß du deswegen völlig durchdrehst», sagte sie und betrachtete die reglos auf dem Boden liegende Caroline. «Bitte, ruf die Frau an. Was ist denn das Schlimmste, was passieren könnte?»

«Vielleicht ist sie tot», sagte Caroline mit tonloser Stimme. «Vielleicht hat sie sich so über mich aufgeregt, daß sie einen Herzschlag bekommen hat.»

«Sei nicht albern. Ruf sie an. Ich wette, es geht ihr gut.»

«Was geht es dich an, ob ich sie anrufe? Ich dachte, du wärst eifersüchtig auf sie. Du solltest dich freuen, daß ich unsere Beziehung zerstört habe.»

«Was für dich das Beste ist, ist mir wichtig. Es macht mir schon etwas aus, daß du von ihr so begeistert bist. Aber ich will nicht, daß du ohne sie bist. Ich möchte nur, daß du das alles ein bißchen in die richtige Perspektive kriegst. Komm jetzt, sag mir ihre Nummer. Ich wähle für dich.» Diana ging zum Telefon.

«Ich kann ihr nicht gegenübertreten. Nicht nach all dem, was ich gesagt habe.»

«Caroline, du wirst ja langsam völlig irre», sagte Diana und ging die Treppe hinauf, in die Sicherheit ihres eigenen Quartiers.

Wenn Hannah im Krankenhaus wäre, ging es Caroline durch den Kopf, dann könnte sie für sie sorgen – sie im Bett waschen, füttern, dafür sorgen, daß sie ihre Medikamente nahm, ihr die Kissen 267aufschütteln und die Blumen gießen, zu ihr laufen, wenn sie klingelte. Diese Vorstellung war verlockend: Hannah brauchte sie. Sie richtete sich auf. Dann kroch sie zum Telefontischchen, stellte das Telefon auf ihren Schoß und wählte Hannahs Nummer. Bestimmt würde ihr widerlicher Mann abheben. Sie würde herausfinden, in welchem Krankenhaus Hannah lag. Sie brauchte sich nicht als die Klientin zu erkennen geben, die dafür verantwortlich war. Das Telefon klingelte ein paarmal. Caroline legte beinahe wieder auf. Niemand war zu Hause. Sie waren alle im Krankenhaus. Oder im Leichenhaus. Schweiß trat auf ihre Stirn.

«Hallo?» sagte Hannah mit fröhlicher Stimme.

Caroline konnte nicht sprechen.

«Hallo?»

«Äh, hallo. Hier ist Caroline.»

«Oh, Tag. Wie geht's?»

«Äh, na ja, gut, glaube ich. Wie geht's Ihnen?»

«Gut, danke. Ich trinke gerade einen Martini, und dann habe ich vor, Seezunge in Weißweinsauce zu kochen.»

«Oh. Na ja, entschuldigen Sie die Störung. Sie haben gesagt, ich könnte anrufen, aber ich wußte nicht, ob das noch gilt.»

«Natürlich. Völlig in Ordnung. Warum sollte es nicht mehr gelten? Was gibt's?»

«Ja, also, ich habe gedacht, ob ich vielleicht einen Extratermin haben könnte.» Sie knackte dabei immer wieder mit demselben Fingergelenk am Daumen.

«Aber natürlich können Sie das. Nur bin ich ziemlich ausgebucht. Warum essen wir nicht am Montagmittag miteinander? Wie wäre es, wenn Sie mich um zwölf in meinem Büro abholten?»

«Was? Oh. Okay. Hervorragend. Bis dann. Und guten Appetit.» Sie legte auf, ließ den Kopf gegen die Stuhllehne fallen. Ihre Achselhöhlen waren feucht vor Schweiß. Hannah war nicht tot. Sie war nicht einmal krank. Sie trank gerade Gin. Wie war das möglich? Sie klang genauso wie immer – entschieden und freundlich. Nicht nur warf sie Caroline nicht hinaus, sie lud sie sogar zum Mittagessen ein. Es war ein Gefühl, als wäre sie in letzter Minute vor der Hinrichtung durch die Guillotine begnadigt worden.

Caroline stand auf, ging zum Küchenschrank und füllte ein Starwars-Glas von Burger King bis zum Rand mit Gordon's Gin. Sie trank das ganze in drei Schlucken, dann legte sie sich aufs Sofa 268und spürte, wie die betäubende Wärme langsam ihre Beine hinaufkroch, während Jason in seinem Darth-Vader-Kostüm sie mit seinem Luftgewehr in Dunst auflöste.

Als Brian anrief, konnte sie kaum die Lippen bewegen.

«Ist alles in Ordnung?» fragte er.

«Ehrlich gesagt, ich bin betrunken.»

«Machst du das oft?»

«Nur zu besonderen Anlässen.» Sie begann zu kichern.

Schweigen am anderen Ende.

«Es geht mir eigentlich wirklich gut, Brian. Ich seh dich dann bei der Arbeit.» Sie legte auf.

 

Hannah klammerte sich mit einer Hand am Sitz fest, als Caroline ihren Subaru durch den Verkehr auf der Schnellstraße wie eine Skifahrerin auf Slalomkurs an der Einkaufspassage vorbeisteuerte. Sie wünschte, sie hätte vorgeschlagen, sich im Restaurant zu treffen. Caroline wollte sie vernichten, aber sie würde dazu doch hoffentlich keine Kamikazetechnik wählen. Normalerweise waren die Klienten mit symbolischer Vernichtung zufrieden. War denn die Tirade letzte Woche nicht genug gewesen?

«Hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie fahren wie eine Lastwagenfahrerin?» fragte Hannah.

Caroline wurde rot. «Jage ich Ihnen Angst ein? Entschuldigen Sie bitte.» Sie wechselte in die äußere Fahrspur über und fuhr langsamer. Sie hatte sich gefreut, als Hannah vorgeschlagen hatte, sie solle fahren, und jetzt vermasselte sie mal wieder alles.

Als sie die Wirkung ihrer Worte bemerkte, wurde Hannah klar, daß sie unfair war. Sie gab nicht gerne die Kontrolle ab, an niemanden und über nichts, um sich so die Illusion zu bewahren, sie könne von nichts überrascht werden. Sie war ein absolutes Nervenbündel gewesen, als Joanna und Simon den Führerschein gemacht hatten, und saß zusammengekauert auf dem Rücksitz, wenn sie fuhren. «Lastwagenfahrer fahren in der Regel sehr gut», sagte sie. «Ich wollte nicht kritisieren, nur kommentieren.»

Caroline schaute sie kurz an. Sie war bereit, Hannah zuzugestehen, daß sie immer recht hatte. Daß Caroline letzte Woche verrückt gewesen war. Es klang jedoch eher so, als würde Hannah sich entschuldigen.

Es amüsierte Hannah, Carolines Verwirrung zu beobachten. Sie 269dachte an Simon und Joanna als Teenager, die sie eine blöde Kuh nannten, sie wegen ihrer Vorliebe für Gin kritisierten, ihre Mahlzeiten verächtlich zurückwiesen – und sich dann später am Abend an sie heranpirschten und ihr mit einer schuldbewußten Umarmung gute Nacht sagten.

«Ist Ihnen nicht kalt?» fragte Caroline. Hannah hatte keinen Mantel an, nur den dunkelblauen Hosenanzug und die Bluse, die sie angehabt hatte, als Caroline sie das erste Mal gesehen hatte.

«Nein. Ich habe in letzter Zeit so viele Anfälle von fliegender Hitze, daß ich vermutlich mühelos den ganzen Lake Glass aufzeizen könnte. Ich nehme mir immer wieder vor, zum Arzt zu gehen, aber jeden Monat beschließe ich wieder, daß ich die Wechseljahre endlich hinter mir habe.»

Caroline schaute sie betroffen an, als sie in den Parkplatz des Restaurants einbogen. Sie war gerade daran erinnert worden, daß Hannah auch ihre Schwierigkeiten hatte.

Hannah hatte Dooley's Restaurant vorgeschlagen: Das Essen war zwar nur mittelmäßig, aber dafür gab es zwischen den Tischen viel Platz, falls Caroline wieder eine Szene machen wollte. Sie saßen an einem Fenster mit Blick auf den Parkplatz, in Rohrsesseln mit hohen Rückenlehnen; Farnzweige hingen über ihren Köpfen. Sie redeten darüber, in welchem Winkel zum Horizont die Sonne zur Zeit stand, in welchem Zustand sich das Eis auf dem See befand, über die unmittelbar bevorstehende Rückkehr der Vögel aus dem Süden und über die Wahrscheinlichkeit eines weiteren späten Schneesturms.

Caroline staunte über Hannahs sichtliches Wohlbefinden und ihre gute Laune. Sie bestellten Sandwiches und Kaffee bei einer kaugummikauenden Kellnerin, die ihren Bleistift aus ihrer Hochfrisur zog. Hatte Hannah die furchtbaren Sachen, die Caroline gesagt hatte, nicht gehört oder vergessen?

«Ich nehme an, Sie fragen sich, warum ich Sie heute hierhergebeten habe», sagte Caroline, als die Kellnerin davonschlenderte.

«Ich habe Sie hierhergebeten», sagte Hannah. Sie hatte wahrscheinlich eine klarere Vorstellung davon als Caroline. Es machte ihr Spaß, munter daherzuplaudern, während Caroline erwartete, daß sie verletzt, wütend oder abweisend wäre. Bei solchen Gelegenheiten konnte man fast sehen, wie die Drähte im Gehirn ihrer Klienten aufflackerten und knisterten, weil es einen Kurzschluß gab.

270

«Ich wollte mich für meinen Tobsuchtsanfall von letzter Woche entschuldigen.» Sie spielte mit den Zinken ihrer Gabel.

Hannah zuckte mit den Schultern. «Warum sollten Sie sich dafür entschuldigen, daß Sie sagen, was Sie denken?»

«Ich hätte es ja nicht mit soviel Nachdruck sagen müssen.»

«Das hätten Sie nicht müssen, aber Sie haben es getan. Na und? Das ist ganz in Ordnung. Die Erde ist deswegen nicht aus dem Gleichgewicht geraten.»

«So kam es mir aber vor.» Caroline stach mit der Gabel durch ihre Papierserviette.

«Wie kam es Ihnen vor?»

«Katastrophal. Als ich nach Hause kam, dachte ich, ich hätte Sie vielleicht krank gemacht oder womöglich umgebracht. Das ist eigentlich der Grund, weshalb ich angerufen habe.»

«Ich weiß.»

Caroline schaute sie an. «Wirklich?»

«Das ist mein Job. Ist Ihnen klar, daß Sie in gewisser Weise gerne hätten, ich wäre tot? Und daß Sie deswegen solche Angst hatten, ich könnte tot sein?»

«Was?»

«Niemand ist gern auf jemand anderen angewiesen.» Von Carolines bestürztem Gesichtsausdruck wußte Hannah, daß sie noch nicht soweit war, das zu akzeptieren. «Sind Sie je auf Ihre Mutter wütend geworden?» Caroline zerfetzte ihre Serviette mit der Gabel. Hannah wünschte, es gäbe irgendeine simple Methode, sie wissen zu lassen, daß alles in Ordnung war.

Caroline ging all die ungültig gemachten gemachten Schecks in der Bank ihrer Erinnerungen durch. «Ich bin eines Sonntags nach unten gekommen und habe gesagt, ich würde nicht mit in die Kirche gehen, weil ich nicht an Gott glaubte. Denn wenn Gott so großartig war, warum hatte dann eine Welt erschaffen, in der so viele Menschen litten. Sie hat gesagt, ich hätte keine Ahnung von Gott. Ich habe gesagt, ich könnte glauben, was ich wollte.»

«Was ist dann passiert?» David Dickson, ein Exklient, dessen schlechtgebundene Fliegen Hannah die ganze Therapie über fasziniert hatten, kam mit einer Frau an ihrem Tisch vorbei, die nicht seine Ehefrau war. Er tat so, als sähe er Hannah nicht, also tat Hannah so, als sähe sie ihn nicht. Obwohl sie sich überlegte, ob er ihn wohl inzwischen hochkriegte.

271

«Sie hat sich aufgeregt und ist ins Bett gegangen.»

«Wie haben Sie sich da gefühlt?»

Caroline erinnerte sich mühsam. «Ich habe immer wieder versucht, ihr etwas zu bringen: Tee, etwas zu essen, Blumen, und sie hat alles abgelehnt. Ich glaube, es war damals, daß ich mir die Nase gebrochen habe.»

«Was haben Sie?» Die Kellnerin brachte den Kaffee. Hannah versuchte, die Kaffeesahne zu öffnen und verspritzte dabei die Sahne halb über den Tisch.

«Ich bin gegen ihre Tür gerannt und habe mir die Nase gebrochen.» Caroline versuchte, die Sahne mit den Überresten ihrer Serviette aufzutupfen, wodurch ein Sumpf aus zerfetztem Papier entstand.

«Hier?» fragte Hannah und rieb ihren Nasenrücken mit Daumen und Zeigefinger. Dann versuchte sie, mit ihrer Serviette die restliche Milch aufzuwischen.

Caroline nickte.

«Deshalb reiben Sie sich also immer den Nasenrücken?»

«Mache ich das?»

«Sind Sie sich dessen nicht bewußt?»

«Nein.» Caroline machte Hannahs Bewegung nach. Es fühlte sich bekannt an.

«Tja, mir ist es aufgefallen, weil ich es von Ihnen übernommen habe.»

«Wirklich?» Caroline war erstaunt, daß sie überhaupt einen Einfluß auf Hannah hatte. Sie versuchte, das damit in Einklang zu bringen, daß sie übers Wochenende überzeugt gewesen war, ihre Wut hätte Hannah umgebracht.

«Und was ist passiert, nachdem Sie sich die Nase gebrochen hatten?»

«Meine Mutter stand auf und fuhr mich zur Unfallstation.»

«War sie immer noch depressiv?»

«Nein, sie war richtig nett. Sie ging mit mir ein Eis essen, und wir lachten darüber, daß ich so furchtbar aussah.» Die Kellnerin stellte ihre Sandwiches auf mit Pommes frites überladenen Tellern vor sie hin.

«Wie haben Sie sich gefühlt?»

«Sehr gut. Mein Gesicht war ganz verschwollen und purpurfarben, aber ich war richtig glücklich.»

272

«Ist Ihre Mutter dann wieder ins Bett gegangen?» In mancher Hinsicht war es einfacher, mit eindeutiger Kindesmißhandlung fertig zu werden. Da wußte wenigstens jeder, was vor sich ging.

«Nein. Sie machte mir kalte Umschläge. Las mir Geschichten vor, weil ich mit meinen verquollenen Augen nichts sehen konnte.» Sie schaute zu, wie Hannah ihr Sandwich in die Hand nahm und hineinbiß. Gin, Seezunge, Sandwiches, fliegende Hitze, ein Ehemann. Caroline verbrachte so viel Zeit damit, das idealisierte Bild von Hannah in Gedanken um Rat zu fragen, daß es ein komisches Gefühl war, sich klarzumachen, daß sie einen Körper hatte, Nahrung und Schlaf brauchte.

«Sehen Sie das Muster?»

«Welches?»

«Sie treten sicher auf. Die andern gehen weg oder brechen zusammen. Sie bekommen Angst und Schuldgefühle. Die Welt wirkt plötzlich wie ein sehr bedrohlicher Ort. Sie bestrafen sich selbst oder versuchen, die anderen dazu zu bringen, Sie zu bestrafen – in der Hoffnung, ihren Schutz wiederzubekommen.»

«Wie bitte?»

«Denken Sie darüber nach. Gut, Sie sind also wütend geworden und haben mich beschimpft. Dann haben Sie Angst bekommen. Und Sie haben sich in einen fürchterlichen Zustand hineingesteigert, um einen Grund zu haben, mich anrufen zu können. Und was haben Sie herausgefunden?»

«Daß es Ihnen gut ging. Daß Sie Martini tranken.» Caroline merkte, daß sie ihr Sandwich mit Eiersalat nicht angerührt hatte. Sie hatte keinen Appetit. Sie knabberte halbherzig an einem gerippten Kartoffelchip.

«Was wäre, wenn es mir nicht gut gegangen wäre? Was wäre, wenn ich schlechter Laune gewesen wäre? Es wäre immer noch nicht Ihre Schuld gewesen. Vielleicht wäre mir gerade die Seezunge angebrannt, oder ich hätte keinen Gin mehr im Haus gehabt. Ich habe ein ausgefülltes, kompliziertes Leben, und der größte Teil davon hat mit Ihnen gar nichts zu tun. Sie haben schlicht gar nicht so viel Macht über mich, Caroline. Auch nicht über Ihre Mutter. Sie hat Ihr Verhalten als Ausrede genommen, um depressiv zu sein. Aber wir sind alle die Verfasser unserer eigenen Stimmungen.»

Caroline wußte, daß das stimmte. Sie hatte Hannah während all 273dieser Monate dafür benutzt, sich besser zu fühlen. «So wie ich meine rosarote Decke genommen habe.»

«Ja. Aber Sie können auf Menschen und Gegenstände verzichten und ohne solche Vermittler den Zustand empfinden, den Sie ihnen zugeschrieben haben.»

«Aber das leuchtet mir nicht ein. Wenn Menschen und Ereignisse irrelevant sind, warum sollte ich mir dann Depressionen aussuchen?»

Hannah zog die Augenbrauen hoch. «Warum sollten Sie das? Womit sind Sie aufgewachsen?»

«Nein, das ist lächerlich. Es passieren wirklich schreckliche Sachen. Es hilft nichts, so zu tun, als wäre es nicht so.» Caroline erinnerte sich an das Wort, dessentwegen sie letzte Woche ausgerastet war: Freude. Ich verkündige euch große Freude. Was für ein Witz.

«Es passieren Sachen. Ob Sie sie als schrecklich betrachten, ist Ihre Entscheidung.»

«Wie zum Beispiel diese argentinischen Bauern in der Zeitung am Sonntag, die ein Mädchen vergewaltigt haben und ihr einen Menschenkopf eingenäht haben?»

Hannah schloß die Augen und legte ihr Sandwich in einem plötzlichen Anflug von Übelkeit auf den Teller zurück. «Ja, ich habe das auch gesehen.»

«Und Sie können sich dafür entscheiden, das nicht als schrecklich anzusehen?»

Hannah zögerte. Sie klang bestimmter, als sie sich fühlte. «Das war schrecklich. Aber Sie können nur eins tun – sich nicht aus dem Gleichgewicht bringen zu lassen, in der Hoffnung, daß dies die Grausamkeit dämpfen kann. So wie eine erfahrene Reiterin ein bockiges Pferd beruhigen kann.» Indem sie auf Distanz zu ihrem eigenen Ekel ging, merkte sie, daß Caroline wieder ihre kosmische Nummer anbrachte.

«Haben Sie je ‹Middlemarch› gelesen?» fragte Hannah.

«Was ist das?»

«Ein englischer Roman, den ich im Internat gelesen habe. Also, in dem Buch sagt eine Frau zu jemandem, das Wichtigste, was sie im Verlauf ihres Lebens gelernt habe, sei die Notwendigkeit, auf der Welt die Begrenzungen des Lichts zu erweitern.»

«Die Begrenzungen des Lichts zu erweitern?»

274

«Ja.»

«Nachtisch?» fragte die Kellnerin, die Hand auf die Hüfte gestützt. Auf einem ihrer Brillengläser stand unten in kleinen goldenen Buchstaben «BABS».

«Für mich nicht, danke», sagte Hannah.

Caroline schüttelte verneinend den Kopf. Sie sagte lange nichts und starrte aus dem Fenster, an den Farnzweigen vorbei, auf den Verkehr hinter dem Parkplatz. Hannah zündete sich eine braune Zigarette an und stellte sich das kleine Kind in seiner Babyhüpfschaukel vor, so darum bemüht, niemandem auf die Nerven zu gehen, daß es nicht einmal hüpfte. «Machen Sie nicht zu», sagte sie sanft. «Ich bin nicht Ihre Mutter. Sie können mir widersprechen, soviel Sie wollen.»

Caroline schaute sie an, plötzlich wieder in die Gegenwart zurückgerufen. «Ich verstehe nicht, wie Sie in heiterer Gelassenheit hier sitzen können, während überall Schreckliches vor sich geht. Man muß doch tun, was man kann.»

«Aber das mache ich ja. Und Sie auch. Wir geben uns beide sehr große Mühe. Wir können nur unser Bestes tun, und das reicht oft nicht. Außerdem – Mädchen werden von Idioten vergewaltigt, aber es gibt auch Schwarzspechte.»

«Die Insekten umbringen. Und darauf warten, von Katzen umgebracht zu werden.»

Hannah konnte spüren, wie Carolines Schmerz sich staute wie Hochwasser hinter einem Damm. «Sehen Sie, Sie sind Krankenschwester. Denken Sie an den menschlichen Körper – das System der Nervenzellen, die das Gehirn bilden. Das Zusammenspiel der Hormone. Das Wunder ist überall um uns. Hören Sie auf, darauf zu bestehen, daß es Brote und Fische regnet.»

Caroline rieb sich den Nasenrücken. Sie blickte mit schmerzverschleierten Augen auf. «Die Sache mit dem Diamanten auf schwarzem Samt. Ich wollte, ich könnte Ihnen glauben.»

«Aber Sie sollten sich sowieso nicht einfach auf mich verlassen. Machen Sie nur einfach die Augen auf. Dann werden Sie sehen, was Sie sehen, wenn Sie nicht nur darauf aus sind, das Schreckliche zu sehen.»

«Sie tun so, als wäre das so einfach. Aber ich kann das nicht.»

«Will es nicht?» schlug Hannah vor.

Die Kellnerin brachte die Rechnung. Caroline griff danach, aber Hannah deckte sie mit der Hand zu.

275

«Ich würde Sie gerne einladen.»

«Ich glaube, wir sollten es uns besser teilen.»

«Aber ich habe Sie um die zusätzliche Zeit gebeten.»

«Irgendwann mal können Sie mich zum Mittagessen einladen. Aber jetzt noch nicht.»

«Warum nicht? Was würde das bedeuten?»

«Daß Sie dafür bezahlen müssen, daß die Leute Zeit mit Ihnen verbringen?»

«Aber das ist der Charakter unserer Beziehung», sagte Caroline und holte ihr Scheckheft heraus. «Das ist Ihr Beruf.»

«Ich habe keine Regeln dafür, wie ich meinen Beruf ausübe, also stellen Sie nicht welche für mich auf. Und bitte, stecken Sie Ihr Scheckheft weg. Ich bin mit Ihnen essen gegangen, weil ich es wollte.» Hannah merkte, daß das stimmte. Sie mochte die Sitzungen mit Caroline. Ihr Hunger zu verstehen entlockte Hannah Worte, die auch ihr selbst neu waren. Caroline war ein ernster Mensch. Im Gegensatz zu David Dickson, der Hannah flüchtig zunickte, als sie seinem Blick begegnete, während sie an seinem Tisch vorbeigingen. David drehte sich dauernd im Kreis, ein Eichhörnchen im Rad seiner eigenen Neurosen. Caroline dagegen war schon halb aus ihrem Käfig heraus.

Als Caroline zum Büro zurückfuhr, versuchte Hannah, sich an die Phase in ihrem Leben zu erinnern, die der von Caroline entsprach. An einem Tag war sie noch eine Vorstadthausfrau und Mutter von vier Kindern, mit ihren Flirts und der richtigen Plazierung der Tiffany-Lampen beschäftigt. Am nächsten Tag waren der Schrank aus Kiefernholz, Nigel und Mona nicht mehr da. Ihre Desillusionierung war brutal und verheerend gewesen. Bei Caroline hatte der Prozeß eher schrittweise stattgefunden. Aber das Endergebnis war dasselbe.

Sie erinnerte sich an die Monate voll dumpfen Unglaubens, während deren jeder Teenager mit Schmachtlocke, den sie auf der Straße entdeckte, Nigel war und jedes mollige zehnjährige Mädchen Mona. Einmal ertappte sie sich dabei, daß sie die Bettwäsche für Mona und Nigel wechselte, als hätten sie in der Nacht in den Betten geschlafen.

Dann kamen die Monate rasender Wut, in denen sie jemanden, irgend jemanden suchte, dem sie alles vorwerfen konnte – Arthur, der Heizungsmann, der Rettungsdienst, der Nordwind. Dann die 276Monate, Jahre vielleicht, als sie die Vorwürfe gegen sich selbst wandte. Jeden Tag fragte sie sich, in welcher Weise sie Nigel und Mona gegenüber versagt hatte – dachte an die Streitereien wegen schmutziger Turnschuhe, die verpaßten Gelegenheiten für Küsse und freundliche Worte, das Motorboot, das sie wollten und das zu kaufen sie sich geweigert hatte.

Schließlich begab sie sich aus Selbsterhaltungstrieb auf eine Stufe, wo eine angebliche Katastrophe keine Katastrophe war, also auch keine Vorwürfe nötig waren. Katastrophen und Verluste waren Illusionen, Produkte einer begrenzten Wahrnehmungsfähigkeit. Aber es war unmöglich, diese Überzeugung jemand anderem zu vermitteln.

«Ich wünsche Ihnen eine angenehme Woche», sagte sie zu Caroline, als sie aus dem Subaru ausstieg.

«Ich Ihnen auch. Und danke.»

«Ganz meinerseits.»

Caroline fuhr zum Lloyd Harris-Krankenhaus hinauf und dachte darüber nach, daß Hannah gesagt hatte, Caroline könne sie «irgendwann mal» zum Essen einladen. Das klang so, als glaube Hannah, ihre Bekanntschaft könnte eine Weile dauern. Oder war das Wunschdenken? Vermutlich war Hannah wie der Klempner und blieb so lange, bis der Abfluß wieder funktionierte. Aber immerhin war sie bis jetzt geblieben; ein Wunder in Anbetracht von Carolines Benehmen. Natürlich war das ihr Job. Aber sie brauchte dabei nicht so nett zu sein.

Als sie in die Unfallstation kam, begegnete sie Brian. «Ich habe dich überall gesucht.»

«Tag. Ich war bei Dooley's zum Essen.»

«Mit wem?»

Caroline machte den Reißverschluß ihres Anoraks auf und schaute Brian an, nicht sicher, ob ihn das überhaupt etwas anging. «Mit einer Freundin.»

«Ich habe gehofft, wir könnten schnell zu mir zum Essen gehen.»

«Vielleicht morgen.»

«Wie wär's mit einem Drink nach der Arbeit?» Er ergriff ihren Oberarm.

«Ich muß nach Hause und Abendessen machen.» Brenda kam vorbeigeeilt und zog ein spöttisches Gesicht, als sie Brians Hand auf Carolines Arm sah.

277

«Nur eine Stunde, Caroline. Ich möchte, daß du mein Haus siehst.»

Brians Natursteinhaus lag in einem Birkenwäldchen in der Nähe von Randy Eliots Haus; ähnlich hübsche Häuser, die den leitenden Angestellten der Elektronikfirma gehörten, standen auf beiden Seiten und auf der anderen Straßenseite. Innen komfortable Teppiche auf Schieferfußboden, ein riesiger offener Kamin aus Stein, eine hohe Decke mit Querbalken, bunte Navajo-Teppiche an weißen Wänden, Antiquitäten einfallsreich mit modernen skandinavischen Möbeln gemischt. Der eklektische Stil, den Caroline in Jacksons Neo-Tudor-Haus so mutig angestrebt hatte. Auf Grund der Einrichtung vermutete Caroline, daß sie und Irene Stone viele Gemeinsamkeiten hatten. Als sie mit Brian die Schlafzimmer inspizierte, konnte sie nicht anders, als jedem ihrer Jungen eines zuzuweisen. Diana hatte ihr gesagt, sie könne im Haus wohnen bleiben. Aber wer wußte, wann sie es sich wieder anders überlegte? Das Haus kam ihr verändert vor, seit Diana es für sich beansprucht hatte. Vertrag und Darlehen liefen auf Dianas Namen, mochte Caroline in den letzten fünf Jahren auch noch so viel Zeit, Energie und Geld investiert haben. Sie war dumm gewesen, daß sie nicht auf einer schriftlichen Vereinbarung bestanden hatte. Aber im Rausch der Leidenschaft waren ihr solche praktischen Erwägungen gar nicht in den Sinn gekommen.

Durch die Glasschiebetür im Wohnzimmer konnte Caroline Schaukeln sehen, deren Sitze mit einem dicken Schneekissen bedeckt waren. Als sie zum Elternschlafzimmer kamen, liebte Brian sie auf dem großen Doppelbett, mit Finesse und Begeisterung. Danach lag sie in seinen Armen und hielt ihrem Herzen eine Aufmunterungsrede. Brian war nett und einfühlsam, ein guter Liebhaber und Hausbesitzer. Warum konnte sie sich nicht einfach in ihn verlieben, und das wär's dann?

Als sie sich anzog, sagte sie: «Das Haus ist wunderbar, Brian. Nett, daß du es mir gezeigt hast.»

«Ich bin froh, daß es dir gefällt», antwortete er vom Bett. «Kommst du bald mal und bleibst über Nacht bei mir?»

«Ja, sicher.» Wenn sie sich Mühe gab, konnte sie sich vielleicht in ihn verlieben. War das nicht die protestantische Arbeitsmoral? Mit harter Arbeit konnte man seine Ziele verwirklichen? Nur daß sie halb katholisch war …

 

278

«Und?» fragte Diana, als Caroline mit einer flachen Schachtel aus der Pizzeria in der Hand ins Haus kam.

«Was?» Diana wollte wissen, warum sie so spät kam?

«Wie geht's Hannah?»

«Oh.» Caroline lächelte und zog ihre Snowboots aus. «Es geht ihr gut.»

«Und deine Wut hat sie nicht vernichtet?» Diana deckte ihren groben Holztisch mit Tellern und Servietten.

«Offensichtlich nicht. Sie war nicht einmal betroffen.»

«Ärgert dich das?»

Sie zog ihren Anorak aus und rief die Treppe hinunter nach Jackie und Jason. «Ich glaube, ja.»

«Deine Geheimwaffe ist also ein Reinfall?» Sharon kam in einem abgelegten seidenen Morgenrock von Diana aus ihrem Zimmer geschlichen und führte ihre Sophia-Loren-Nummer auf. Sie hatte sich neuerdings in Jimmy Soundso verliebt und seither kaum etwas gegessen, in dem Versuch, ihren Babyspeck in Kurven zu verwandeln, denen kein Achtkläßler widerstehen konnte. Den Sommer verbrachte sie immer in Ann Arbor bei ihrem Vater und seiner Frau Lauren. Verkleistert mit Make-up und vollgestopft mit all den übrigen Vorstellungen über weibliches Benehmen kam sie heim. Diana und Caroline hatten dann den Rest des Jahres damit zu tun, sie umzupolen, und dann war es gerade wieder Zeit, nach Ann Arbor zu gehen.

«Genau. Wenn die Waffe so wirkungslos ist, wie kommt es dann, daß ich die ganzen Jahre über die Leute davor beschützt habe?»

Diana lächelte. «Wäre es nicht schön, wenn das gleiche auch für Cruise-Missiles gelten würde?»

«Jason hat wieder auf Amelia geschossen», sagte Sharon und nahm sich ein Stück Peperoni-Pizza.

Amelia war eine gefleckte Katze, die Jackie eines Nachmittags auf dem Heimweg von der Schule gefunden hatte. Er flehte Caroline an, das abgemagerte, verschmutzte Tier behalten zu dürfen. Sie willigte schließlich ein, bestand aber darauf, sie müsse nach der Fliegerin Amelia Earhart genannt werden, weil sie hoffte, die Katze würde wie diese verschwinden.

«Hab ich nicht», sagte Jason mit einem bösen Blick auf Sharon.

«Warum ist sie dann schreiend aus dem Wald gerannt?»

«Ich habe es nicht absichtlich getan. Ich habe daneben gezielt.»

279

«Klar», sagte Jackie und nickte grinsend. Er hielt mit beiden Händen ein Stück Pizza vor dem Mund.

«Jetzt reicht's», sagte Caroline. «Diese Gewehre kommen morgen wieder zu eurem Vater.»

«Aber ich habe Amelia nicht angeschossen», sagte Jackie und ließ das Pizzastück auf seinen Teller fallen.

«O Gott», sagte Caroline, Salomon am Eßtisch, und blickte hilfesuchend zu Diana.

«Ich leihe Judy keine Kleider mehr», sagte Sharon.

«Ich dachte, sie ist deine beste Freundin», sagte Diana, während sie den Jungen Salat gab.

«Nicht mehr. Sie ist dieses Jahr so eine Wohltäterin geworden.»

«Wie meinst du das?» fragte Caroline.

«Ach, weißt du, sie sammelt für UNICEF. Solche Sachen.»

«Und was ist daran Schlechtes?» fragte Diana mit verblüfftem Lächeln.

«Es ist langweilig.»

«Und deshalb willst du ihr keine Kleider leihen?»

«Sie läßt sie zusammengeknüllt auf dem Boden liegen.»

Diana und Caroline warfen sich einen Blick zu. Sharons Zimmer sah aus wie Dresden nach dem Bombenangriff.

«Außerdem borge ich mir ihre Kleider nicht gerne aus. Sie sind billig.»

«Sharon …» Diana runzelte die Stirn.

«Es stimmt aber, Mama. Sie kauft sie bei Sears. Und sie hat Wrangler-Jeans.»

«Sharon, du bist ja so ein Snob», sagte Diana.

«Ja, Sharon», sagte Jackie, der gerade versuchte, ein Radieschen mit seiner Gabel aufzuspießen.

«Ich sage nur, daß ich billige Kleider nicht leiden kann, okay?» Sharon warf den Kopf zurück.

«Viele Leute können sich gar nichts anderes leisten», sagte Caroline und studierte Sharons roten Schmollmund und ihre grünen Augenlider.

«Ich möchte diese ganze Verhungerscheiße nicht hören, okay?» Sharon stand auf, fegte ihren Morgenrock vom Stuhl und stolzierte den Flur hinunter.

Diana und Caroline tauschten langmütige Blicke aus. Nachdem die Pizza verschlungen war, gingen die Jungen wieder in ihr Zimmer, 280um Hausaufgaben zu machen, und Diana und Caroline gingen zum Sofa hinüber. Das Telefon klingelte. Sharon kam aus ihrem Zimmer gerast und packte es. «Oh, Tag, Jimmy», sagte sie mit einer Stimme, de eine Oktave höher war als normalerweise. Sie warf ihnen einen verächtlichen Blick zu, trug das Telefon ins Bad und knallte die Tür zu.

«Das ist wahrscheinlich die Strafe dafür, daß wir lesbisch sind», sagte Diana. «Wir werden hier sitzen müssen und zusehen, wie sie sich in Raquel Welch verwandelt. Du solltest sehen, was sie in ihrem Zimmer an der Wand hängen hat – einen Mann-des-Monats-Kalender. Lauter Schränke.»

«Aber wir geben ihr doch so ein gutes Beispiel.»

«Seit wann hat irgend jemand vom Beispiel der Eltern profitiert?»

«Verhungerscheiße», sagte Caroline.

Diana lachte ein heiseres Lachen.

Sie tranken schweigend ihren Kaffee. Arnold kaute am Lampenkabel. Caroline war durchflutet von Wohlbehagen. «Was meinst du, können wir es mit unserem gemeinsamen Leben hier nicht genug sein lassen?» fragte sie und schaute in ihren Kaffee. «Warum müssen wir all diese Komplikationen schaffen?»

Diana griff nach ihrem Strickzeug in dem Korb neben dem Sofa. «Wenn du so an Streit gewöhnt bist, dann weißt du vielleicht gar nicht, wie du das Glück annehmen sollst, wenn es vor deiner Haustür sitzt.»

«Das klingt wie etwas, was Hannah sagen würde.»

«Mußt du jetzt von ihr anfangen?»

Caroline schaute sie an. «Entschuldigung. Du bist eifersüchtig. Das ist so weit hergeholt, daß ich es ganz vergessen habe.»

«Es ist nicht weit hergeholt. Ich weiß, an wen du denkst, um dich in bessere Laune zu versetzen, und das bin nicht ich.» Sie legte verschiedene Wollknäuel hin.

Weil sie das nicht leugnen konnte, fragte Caroline: «Woher weißt du das?»

«Ich kann es spüren. Man mußte schon ein Schrank sein, um es nicht zu merken.»

«Hannah ist mir wichtig. Aber du auch.»

«Vergiß es. Ich kann das nicht aushalten. Laß uns aufhören. Ich liebe dich eben. Ich möchte mit dir zusammensein, wenn ich nur kann.»

281

«Ich auch», sagte Caroline und fragte sich, ob es stimmte. Sie wußte nicht mehr, wen sie liebte und ob sie überhaupt liebte. Sie war nicht einmal sicher, was Liebe war. Das tröstliche Gefühl, mit Hannah zusammenzusein, war das Liebe? Die körperliche Leidenschaft mit der Freizeitleiterin, war es das? Was war mit dem Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit bei Brian? Oder mit der zärtlichen Freundschaft mit Diana? Sie würde es nicht beschwören wollen, aber sie glaubte, daß sie alle liebte. Hannah sagte, statt dauernd darauf herumzuhacken, daß alle sie verlassen hatten, sollte sie sich darauf konzentrieren, was sie ihr gegeben hatten. Aber wenn man das tat, wenn man die Wut und die Vorbehalte und die Angst beiseite schob, dann lief man offensichtlich Gefahr, von Liebe überschwemmt zu werden, was immer das war.

Sie beugte sich hinüber und gab Diana einen zarten Kuß. Diana legte ihr Strickzeug weg, umfaßte ihren Kopf und verwandelte den Kuß in einen wilden Kuß. «Du bist an der Reihe, in meinem Bett zu erscheinen», sagte Diana.

«Ist das eine Einladung?» Sie hatte gedacht, Diana führe Regie.

«Klingt es so?»

«Mache ich», sagte Caroline.

«Wie wär's mit heute abend, wenn die Kinder schlafen?»

«Heute abend kann ich nicht. Ich brauche ein bißchen Zeit für mich.»

Dianas Gesicht fiel herunter. Sie senkte die Augen, zuckte mit den Schultern und sagte: «Wie du willst.»

Caroline ging nach unten, nervös, weil sie nicht tat, was Diana wollte, aber erleichtert, weil sie merkte, daß es Grenzen für ihr Verhalten gab. Daß sie nicht imstande war, direkt aus Brians Umarmung zu Diana überzugehen, ohne zumindest zwischendurch ein Bad zu nehmen.

Sie setzte sich an ihren Webstuhl in der Ecke ihres Schlafzimmers und begann, an ihrem Sonnenuntergangsschal zu weben, der fast fertig war. Während ihre Hände und Füße den richtigen Rhythmus suchten, kam ihr der Gedanke, daß sie und Diana wie Scarlett O'Hara und Rhett Butler waren. Immer wenn eine einen Schritt nach vorne tat, dann machte die andere einen Schritt zurück. Diana schien eine Versöhnung zu wollen, und zwar genau in dem Augenblick, als Caroline beschlossen hatte, daß die Beziehung mit Brian klappen sollte. Würden sie sich je in der Mitte treffen und beide gleichzeitig einen Schritt aufeinander zu machen?

282

Als ihre Hände und Füße endlich ihren vertrauten Rhythmus fanden und das Weberschiffchen hin und her flog, verblaßten die Gedanken an Diana und Brian und alles übrige.

Nachdem sie die Jungen ins Bett gebracht hatte, ging Caroline selbst ins Bett. Hannah wollte mit ihr zu Mittag essen, Brian mit ihr leben, Diana sie lieben, gutaussehende Fremde in der Sauna begehrten sie. Vielleicht war sie gar nicht so abstoßend, wie sie dachte?

Sie träumte, sie würde einen Dschungelpfad entlangwandern. Auf beiden Seiten dehnte sich ein fauliger Sumpf aus, in dem es von giftigen Schlangen und Blutegeln wimmelte. Lianen hingen von ineinander verstrickten Bäumen herunter, verflochtene Blätter verdeckten die Sonne. Sie ging langsam und ängstlich, schaute von einer Seite zur anderen und erwartete einen Haufen aufgedunsener Leichen, Jim Jones obenauf. Als sie in das dunkle, wirre Unterholz schaute, bebte das Bild plötzlich. Es wurde immer wieder abwechselnd scharf und unscharf, wie ein wildgewordenes Teleskop. Wenn sie genau hinschaute, wurde alles scharf und klar. Hunderte von leuchtend bunten tropischen Vögeln saßen auf den Bäumen. Aus den verstrickten Lianen wurden zitronengelbe, orangefarbene und feuerrote Schlangen, mit dümmlichen Gesichtern wie die Raupe in ‹Alice im Wunderland›. Der Waldboden war mit strahlenden Blumen bedeckt. Caroline stockte vor Verwunderung der Atem.

Sie erwachte plötzlich mit einem Lächeln auf dem Gesicht, und sie bewegte sich nicht, aus Angst, das warme und dankbare Gefühl in ihrem Herzen zu vertreiben.

III

283

1

In ihrem Daunenbademantel ließ Caroline Brian zur Tür herein.

«Ich bin leider noch nicht fertig, Brian. Wir hatten eine Krise. Mein Exmann hat den Jungen Luftgewehre geschenkt, und seither schießt Jason auf alles, was er sieht. Heute nachmittag habe ich im Garten ein totes Rotkehlchen gefunden.»

«So sind kleine Jungen eben.»

«Nicht meine kleinen Jungen.»

Jason saß auf dem Sofa und starrte mürrisch auf den Fernseher, die Arme vor der Brust mit dem Rugbyhemd verschränkt.

«Jason, kannst du Brian guten Tag sagen?»

Jason nickte Brian unfreundlich zu.

«Entschuldige, daß ich dich mit Mister Leutselig allein lassen muß», sagte Caroline zu Brian und ging in ihr Zimmer, um sich umzuziehen. Sie erzog einen jungen Mörder. Es war alles ihre Schuld. Sie hatte ihn eines Vaters beraubt. Sie hatte ihn von Haus zu Haus geschleppt. Sie hatte Affären mit Frauen gehabt. Sie war im Begriff, die Nacht mit einem Mann zu verbringen, mit dem sie nicht verheiratet war. Kein Wunder, daß Jason kleine Lebewesen quälte. Aber was hätte sie anderes machen können? Wäre eine Mutter, die Selbstmord begangen hat, besser für ihn? Es gab Situationen, für die es einfach keine Lösung gab.

Als sie in Jeans und Seidenbluse ins Wohnzimmer kam, fand sie Brian neben Jason auf dem Sofa. Er fächerte gerade ein Kartenspiel. «Zieh eine Karte, irgendeine Karte», sagte Brian wie ein Straßenverkäufer. Jason nahm eine.

«Und jetzt, junger Mann, schau sie dir an.»

Jason schirmte die Karte mit einer Hand ab und sah sie an.

284

«Gut, und jetzt zeig sie mir.»

Jason tat es und unterdrückte ein kleines Lächeln.

«Genau, das ist sie», sagte Brian.

Jason kicherte. Caroline gab ihm einen Abschiedskuß, dann ging sie in Jackies Zimmer, küßte ihn und strich seine dunklen Haare glatt. Er schaute nicht von seinem Science-fiction-Roman auf. Er war ebenfalls sauer auf sie, aber seine Art, das auszudrücken, war ihr eigener alter Trick: gespielte Gleichgültigkeit. Diana oben war ebenfalls sauer. Sie war diese Woche dran, auf die Kinder aufzupassen, aber als Caroline anrief, um zu sagen, sie werde die ganze Nacht wegbleiben, reagierte Diana auf Brians Namen wie ein Mungo auf eine Schlange. Caroline wußte, daß sie Diana wichtig war, aber Caroline mußte ihr eigenes Leben leben. Sie konnte nicht weiter hier herumsitzen und darauf warten, daß Diana genug hatte von Suzanne, denn vielleicht würde das nie eintreten.

Als sie und Brian aus dem Haus gingen, hörte sie, wie Jason zu Jackie sagte: «Zieh eine Karte, irgendeine Karte.»

«Das war lustig», sagte sie, als Brian die Tür zu seinem Pontiac aufhielt.

«Meine Kinder haben diesen Trick immer mit Besuchern gemacht.»

«Jackie und Jason sind sauer auf mich, wie du wahrscheinlich gemerkt hast», sagte sie, als Brian den Motor anstellte.

«Sie wollen nicht, daß es in deinem Leben einen anderen Mann gibt?»

«Ganz genau.» Im Grunde wollten sie schon einen Vater, sie wollten nur nicht, daß sie einen Liebhaber hatte.

Als sie in Brians Haus kamen, war Caroline betroffen von der Stille. Im Gegensatz zu ihrem Haus, das normalerweise voll war mit streitenden Kindern, jaulenden Haustieren, plärrenden Fernsehapparaten und Stereoanlagen, endlosen Telefongesprächen. Dauernd schwollen ganze Wogen von Emotionen an und schlugen gegen die Wände. Brian stand, mit den Schachteln mit chinesischem Essen in der Hand, das sie aus der Stadt mitgebracht hatten, da und schien nicht zu wissen, was er als nächstes tun sollte. Caroline wollte ihm schon die Behälter aus der Hand nehmen und Besteck, Teller und Getränke hinstellen. Aber es ist sein Haus, ermahnte sie sich.

«Äh, laß mich deinen Mantel nehmen», sagte er schließlich und wollte die Hand ausstrecken. Als er merkte, daß er die Schachteln 285in der Hand hatte, suchte er nach einem Platz, wo er sie abstellen konnte. Er hängte ihren Anorak auf, dann führte er sie in die Küche, wo er sich umblickte, als sähe er den Raum zum erstenmal. Er öffnete eine Schublade und holte zwei Gabeln heraus.

Er gab ihr einen Behälter, nahm sich selbst einen und sagte: «Wir können ja jeder die Hälfte essen und dann tauschen.»

Automatisch nahm Caroline ihm die Behälter aus der Hand und sagte mit einem kurzen Lachen: «Ehrlich, Brian, du bist ein hoffnungsloser Fall. Wo sind die Teller?»

Er deutete mit einfältigem Gesicht.

«Hast du Bier im Haus?» Er nickte. «Gut, du kannst das Bier eingießen, solange ich den Tisch decke.»

Sie ging über den Schieferfußboden in die dunkle Eßecke, die sich zum Wohnzimmer hin öffnete. Fenster, die vom Fußboden bis zur Decke reichten, blickten wie blinde Augen in die Nacht hinaus. Eilig zog sie die schweren Vorhänge aus goldenem Cordsamt zu. Dann stellte sie den Stufenlichtschalter an, bis der Metalleuchter ein warmes Licht verbreitete. Als sie eine Schublade in dem Mahagonischrank öffnete, entdeckte sie erfreut ein paar der Sets, die sie gewoben hatte und die bei Cheever's verkauft wurden. Und karierte Stoffservietten, zweifellos von Irene ausgesucht. Sie hatte Geschmack, sowohl beim Ausstatten von Häusern als auch in der Wahl von Männern. Es gab auch Kerzen in vielen verschiedenen Farben. Irene hatte Brian gut ausgestattet verlassen. Caroline nahm einen silbernen Leuchter vom Regal, steckte elfenbeinfarbene Kerzen hinein und zündete sie an.

Dann ging sie durchs Wohnzimmer und schaltete drei Lampen ein. Holz lag in dem riesigen offenen Steinkamin. Sie öffnete den Zugregler und zündete das Holz an; es flammte auf, als hätte es nur auf die Gelegenheit gewartet, endlich brennen zu können. Sie hockte sich neben die Stereoanlage und wählte ein paar Platten von Roberta Flack aus.

Brian kam mit zwei Flaschen Miller-Lite-Bier herein. Er blickte sich im Wohnzimmer um. «Mensch, hier sieht es schön aus. Wie hast du das gemacht?»

Sie schaute ihn an. «Die Vorhänge zugezogen und ein paar Lichter angemacht.» Es sah tatsächlich schön aus. Fürs erste hatte sie die Geister vertrieben, die im Schatten lauerten.

Während sie Mu-Gu-Gai-Pan von Royal-Doulton-Tellern aßen 286und Miller-Lite aus Waterford-Pokalen tranken, erkundigte sich Caroline bei Brian nach seinem Tag. Er beschrieb, wie er bei einem Bauarbeiter, der von einem Dachbalken gestürzt war und in eine aufrecht stehende Röhre gefallen war, eine Lunge entfernt hatte. «Er hat Glück, daß er es überhaupt überlebt hat», sagte Brian. «Ein paar Zentimeter höher, und sein Herz wäre durchbohrt worden.»

«Wie ein Vampir, was?» Brian schaute sie an, als erwarte er etwas. Aber was? Sie wußte nicht mehr, wie sie sich einem Mann gegenüber zu verhalten hatte. Sie hatte in den letzten Jahren nie viel Zeit mit Männern verbracht, wenn sie es vermeiden konnte. Sie spürte, wie seine traurigen, dunklen Augen abwartend auf ihrem Gesicht ruhten, obwohl sie gerade damit beschäftigt war, Erbsen mit ihrer Gorham-Fairfax-Gabel aufzuspießen. Was wollte er von ihr?

Dann fiel es ihr ein: Bewunderung. Er wollte sich selbst in ihren Augen überlebensgroß widergespiegelt sehen. Das konnte sie bieten. Sie schaute seine delikaten Hände an. Diese Hände retteten Leben, brachten Blutungen zum Stillstand, machten Schnitte, verknoteten Stiche. Sie war von Bewunderung erfüllt. Sie ließ ein bißchen davon für ihn herausströmen: «Mein Gott, das muß ja beängstigend gewesen sein, die Röhre zu entfernen, und das Herz liegt gleich daneben und schlägt immer weiter.»

«Nicht so besonders», sagte er.

«Na ja, Brian, du hast mehr Finesse und Gelassenheit als alle anderen Ärzte, mit denen ich zusammengearbeitet habe», sagte sie.

Er versuchte, nicht zu lächeln. Seine Augen liebkosten die ihren voll Dankbarkeit. «Und was hast du heute gemacht?»

«Hauptsächlich Hausarbeit. Wie hältst du dein Haus so gut in Ordnung?» Das Fehlen all des Krams, der ihr Haus zu verschlingen drohte, fiel auf – keine Bonbonpapiere, Comics, angemoderte Pullis, verkrustete Teller.

«Eine Frau kommt zwei Tage in der Woche hierher. Ich denke dauernd, ich sollte das Haus hier verkaufen und in eine Eigentumswohnung in der Gerberei oder so ziehen. Aber anfangs habe ich gedacht, Irene könnte es sich anders überlegen.»

«Du bist zu dem Schluß gekommen, daß sie nicht zurückkommt?»

«Richtig. Und in letzter Zeit hätte ich das auch gar nicht mehr gewollt.» Er warf Caroline einen bedeutungsvollen Blick zu.

Caroline blickte in ihr Bier. Das flackernde Kerzenlicht warf 287wechselnde Muster auf das Set. Roberta Flack sang: «The first time ever I saw your face». Ihr fiel ein, daß Brian eine Operationsmaske getragen hatte, als sie sein Gesicht das erste Mal sah, und er hatte den abgebrochenen Stiel eines Weinglases aus dem Unterleib einer Frau herausgeholt, den ihr Ehemann in sie hineingestoßen hatte. Sie blickte durch das Kerzenlicht in seine traurigen, dunklen Augen. Er war so nett zu Jason gewesen. Vielleicht würde es funktionieren.

«Laß uns am Kamin sitzen», sagte sie.

Als sie sich auf dem bequemen Cordsamtsofa niederließ, ging er zum Kamin und schloß die Glastüren. Während sie beobachtete, wie die Flammen hinter der Wand aus Glas tanzten, überkam sie ein leichtes Frösteln. Sie schüttelte es ab, goß sich noch ein Bier ein und zog die Füße hoch.

«Warum ist Irene weggegangen? Sie muß ja wirklich dumm gewesen sein.» Es kam alles wieder, die Schmeicheleien, mit denen man sich ein zweites Rendezvous sicherte.

«Irene? Um ganz ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Es war ein absoluter Schock. Ich verstehe es immer noch nicht. Sie packte einfach die Kinder in den Country Squire und fuhr nach Boston. Sie ist seither nicht wieder hiergewesen. Sie hat sich immer beschwert, ich würde ihr nicht zuhören. Aber das stimmte nicht. Kaum kam ich zur Tür herein, da fing sie schon an zu reden – über die Zeugnisse der Kinder, über das Winterreifensonderangebot, über die Risse in der Badezimmerdecke, über den Preis von Avocados. Gott weiß was. Klar, manchmal dachte ich noch an die Schilddrüsenoperation, die ich gerade gemacht hatte, oder ich überlegte, wie der Börsenindex aussah. Aber meistens hörte ich einfach zu. Vielleicht hätte ich lieber geduscht oder die Nachrichten gesehen. Aber statt dessen hörte ich zu. Ich glaube, ich bin ein ziemlich guter Zuhörer.»

Er schaute Caroline erwartungsvoll an. Er wollte wieder etwas von ihr, aber sie konnte nicht raten, was. «Das finde ich auch», antwortete sie schließlich.

Sie ermahnte sich, aufzupassen und ein bißchen Romantik aufzubringen. Brian war ein liebenswerter Mann. Sie konnte dafür sorgen, daß diese Beziehung funktionierte, und sich damit eine lebenslange Garantie auf Gesellschaft, Sicherheit und Waterford-Kristall verschaffen. Außerdem hatte sie auch genug davon, sexuell von der 288Hand in den Mund zu leben und nie zu wissen, wo die nächste Berührung herkam.

Als Roberta Flack «Killing me softly» sang, nahm sie Brian die Wollkrawatte ab, dann knöpfte sie sein buntes Hemd auf. Er lächelte. Sie fuhr mit der Zunge um sein Ohr. Als sie seinen Gürtel und den Reißverschluß aufmachte, hatte sich sein Lächeln eher in eine Grimasse verwandelt. Aber er hatte eine Erektion, die sie mit dem Mund unterstützte.

Als sie ihr Höschen auszog, versuchte er sich aufzurichten. «Du sollst dich nicht bewegen», flüsterte sie, kniete über ihm und ließ sich auf seinem Penis nieder. Brian gab ein verlegenes Lachen von sich. Sie spürte, wie er weich wurde.

«Du mußt mich kurz entschuldigen», sagte er und rollte unter ihr weg, wie ein Footballspieler, der von einem Gegenspieler angegriffen wird. Sie sank in die Sofaecke, die Arme um ihre Beine geschlungen. Offensichtlich mochte er es nicht, wenn Frauen die Initiative übernahmen. Bei Diana führte mal die eine von ihnen Regie, mal die andere, manchmal beide. Sie wußte nie, was passieren würde. Wenn sie allerdings nach Voraussagbarkeit suchte, dann war sie hier offensichtlich am richtigen Platz.

Brian machte einen Riesenaufwand mit fließendem Wasser und Klospülung. Als er zurückkam, nahm er sie bei der Hand und führte sie ins Schlafzimmer. In seinem Doppelbett legte er sich auf sie und sagte: «Laß es uns so machen, bis wir uns aneinander gewöhnt haben.»

«Wie du möchtest, Brian», sagte sie und nahm seine Stöße entgegen wie aufgebrochenes Pflaster einen Preßlufthammer.

Hör auf, fuhr sie sich selbst an. Das war nicht Sex mit einer Frau, aber es hatte seine eigene reizvolle Spannung, wie zum Beispiel die Angst, Brian könnte seine Erektion verlieren, bevor sie kam.

Hör doch auf! befahl sie sich selbst. Brian ist ein netter Mann und ein einfühlsamer Liebhaber. Hör auf, sei kein Idiot.

Sie erwachte viel später; Brian bewegte sich neben ihr. Er drehte sich um und nahm ihre Brustspitze in den Mund. Sie wiegte ihn in ihren Armen und streichelte seine Haare. Wellen des Verlangens überfluteten sie. Der Mann, der Leben rettete, brauchte sie. Er würde nach einem schweren Heldentag nach Hause kommen, und sie würde Leben und Wärme in ihm wiedererwecken. Entscheidungen, sagte Hannah immer wieder, und Caroline entschied sich jetzt 289für die bürgerlich-resptektable Heterosexualität, genau wie Hannah. Wenn sie wieder Teil eines heterosexuellen Paares würde, vielleicht wollte Hannah dann nach der Therapie ihre Freundin bleiben. Sie und Brian, Hannah und Arthur könnten an einem Winterabend Bridge spielen. Sie könnten zusammen in einem Wohnwagen verreisen. Während die Männer Golf spielten, könnten die Frauen einen ausgedehnten Mittagsschlaf halten. Im selben Bett …

Entschlossen konzentrierte sie sich auf Brian, der zufrieden seufzte. Er hielt sich ihre Brust mit beiden Händen an den Mund. Fast ohnmächtig vor Verlangen griff Caroline nach seiner Brust und suchte nach einem glatten, runden Busen. Als sie statt dessen in ein Gestrüpp rauher Haare geriet, verflog ihr Verlangen. Tränen drangen unter ihren Lidern hervor. Sie schnüffelte, dann schüttelte sie ein Schluchzer. Brian schien es nicht zu bemerken und machte keinerlei Anstalten, aufzuhören. Sie blickte auf ihn hinab, wie er seinen Mund an ihrer Brust hatte und sie aussaugte. Ärger überkam sie. Ihre Glieder zuckten. Er saugte immer weiter. Schließlich öffnete sich sein Mund, und ihre Brustwarze glitt heraus. Wie ein Baby hatte er sich sattgenuckelt und war jetzt fest eingeschlafen.

Caroline rollte aus dem Bett, ging ins Bad und wusch sich das Gesicht. Scheiße – sie hatte ihre Brüder und ihre Söhne großgezogen, sie wollte kein Mannkind, mochte es auch noch so reich, charmant und gutaussehend sein. Als sie in den Spiegel blickte, sah sie eine attraktive Frau mit einem grau werdenden Afro, verquollenen roten Augen und einem verwirrten Stirnrunzeln. Mama, mußt du denn eine Lessie sein?

Sie zog einen großen Morgenrock aus Frottee über, der an der Badezimmertür hing, und wanderte durch das stille Haus. Der Mond warf durch die Birken Schatten auf den Schieferfußboden, der sich unter ihren bloßen Füßen eiskalt anfühlte. Poster von Bobby Orr an der Wand eines der verlassenen Schlafzimmer. Starwars-Poster im anderen. Eine wunderschöne gold-braune Navajo-Decke hing über dem Kamin, ein weiteres Beispiel für Irenes guten Geschmack. Die Gegenstände, die Irene angeschafft hatte, gaben Caroline das sichere Gefühl, daß sie sie gerne mögen würde. Vermutlich lieber als Brian. Caroline stand auf dem Fußboden beim Kamin, betrachtete die Decke über ihr und überlegte, ob sie etwas Ähnliches weben könnte. Sie hatte sowohl den Sonnenuntergangsschal als auch den blaugrauen Schal zu Cheever's in die Ladenpassage 290gebracht. Der Einkäufer war begeistert gewesen und hatte sie gedrängt, noch mehr Schals zu weben, also hatte sie einen dritten angefangen, in Grün- und Blautönen – Frühling am Lake Glass. Aber die Verlockung, immer wieder neue Formen auszuprobieren, war groß jetzt, nachdem sie von den Tischsets befreit war.

Was Brians Haus anging, so war ihr jetzt eines klar: Er wohnte unter Geistern. Wenn sie sich zusammentun würden, dann würde er für die Höhle sorgen und sie für den Lichtschein des Feuers, der die Geister fernhielt. Er würde sie beschützen, und sie würde so tun, als fühle sie sich beschützt, und alles wäre gut. Aber waren Bridgepartien mit Hannah und Arthur das wert?

Sie ging in die Küche, machte das Licht an und suchte in den Regalen nach Kaffee. Außer einem kleinen Glas Nescafé fand sie nur eine zerdrückte Schachtel Miracoli. Sie öffnete den Kühlschrank. Keine Milch, nur eine einzige Orange, die vor sich hin schimmelte. Vielleicht war das ein Experiment mit hausgemachten Antibiotika. Sie nahm ihren Becher mit ins Wohnzimmer und setzte sich auf das Cordsamtsofa. Es war noch Glut im Kamin. Sie öffnete die Glastüren und legte ein bißchen Anzündholz und ein paar kleine Holzscheite darauf. Sie ließ die Türen offen, setzte sich wieder hin und rieb sich gähnend die Augen.

Sie blickte sich in dem dunklen Zimmer um. Es war einfach gewesen, es heute abend mit Licht und Wärme zu füllen. Warum sollte das nicht ihr Job sein? Sie konnte das gut. Wenn im Warteraum der Unfallstation aufgeregte Familien herumsaßen, konnte sie sie einfach durch ihre Art beruhigen und aufheitern – indem sie wie ein Rasensprenger ihr eigenes Vertrauen auf sie übertrug. Im Krankenzimmer konnte ihre kompetente, fürsorgliche Anwesenheit verhärmten Gesichtern ein Lächeln entlocken. Warum sollte sie das nicht auch für Brian tun? Es war nicht ihr Verdienst. Es war ihr Erbe als weibliches Wesen, Leben zu erschaffen und zu erhalten. Im Gegensatz zu den männlichen Wesen, die mit Tod und Dunkelheit zu tun hatten, die Katastrophen schufen und dann mit außerordentlichem Heldenmut und Kraft gemeinsam daran arbeiteten, die Menschen aus der Zerstörung herauszuholen …

Hör auf, sagte sie sich. Konzentriere dich auf das Positive, wie Hannah es dir beigebracht hat. Sie stellte sich Jackie und Jason vor, jeder in seinem eigenen Zimmer. Ein Kinderzimmer für die kleine Tochter, die sie und Brian bekommen würden. Eine Putzfrau zweimal 291in der Woche. Brian würde von seiner Lebensretterarbeit nach Hause kommen, und sie würde am Swimmingpool, den sie neben den Schaukeln bauen ließe, Piña Colada servieren. Sie würde lernen, für Abendessen mit Peugeothändlern Bœuf en Daube zu kochen. Lernen, wie Mischrosen beschnitten werden. Den ganzen Nachmittag Silhouette-Liebesromane lesen, eine Schachtel Godiva-Pralinen neben sich. Ihre Rückhand verbessern. Auf einem Kreuzfahrtschiff zu Ärztekongressen nach Guadeloupe reisen. In einem leichten Sommerkleid auf Deck tanzen, unter karibischen Sternen, während am Ufer die Trommeln der Eingeborenen dröhnten. Brian würde mit ihr im Foxtrott in ihre Luxuskabine erster Klasse tanzen, sie in die Arme schließen und aufs Bett legen …

Sie sah ihn vor sich, wie er, vollkommen blind für sie, an ihrer Brust nuckelte, und Ärger überkam sie. Jetzt war Brian aufmerksam, aber wenn er sie einmal sicher in seinem Haus installiert hatte, dann würde er zu jeder Tages- und Nachtzeit arbeiten, erschöpft nach Hause kommen und Unterstützung brauchen, wenn er überhaupt nach Hause kam. Diese abgeleierte Nummer hatte sie schon zweimal durchgespielt, mit Jackson und mit David Michael. Ihr Leben war nichts weiter als eine armselige Imitation der Seifenoper ‹General Hospital›, und alle paar Jahre wurde ein neuer Doktor ins Drehbuch aufgenommen. Sie war drauf und dran, es wieder zu tun; und bevor sie noch das Wort «Kadaver» aussprechen konnte, würde sie sich allein und einsam in einem widerhallenden Haus und einem leeren Bett wiederfinden.

Sie stellte sich vor, wie Hannah die Augenbrauen hochzog. Warum sollten Sie? Womit sind Sie aufgewachsen? Und alles paßte genau zusammen. Sie dachte daran, wie ihr Vater erschöpft vom Büro nach Hause kam und wie sie herumsauste, ihm ein Bad einlaufen ließ, seine Schuhe putzte und seine Schläfen massierte. Aber wenn sie ihn bei irgendeiner Pfadfinderfeier brauchte, dann war er gerade dabei, für einen unterprivilegierten Jugendlichen aus Süd-Boston Kaution zu hinterlegen. Als sie in ihrer frühen Kindheit seine Gegenwart brauchte, da war er im Südpazifik und sorgte für die Sicherheit der Welt und der Demokratie.

Es kann mehr an uns sein als nur das. Wenn man einmal wußte, daß man ein Hamster in einem Laufrad war, dann konnte man sich auch weigern weiterzulaufen, oder man konnte aussteigen. Sie würde Brian am Morgen sagen, es könne nicht funktionieren.

292

Sie begann zu weinen. Ihre Schultern zuckten. Sie hatte größere Hoffnungen in diese Beziehung gesetzt, als ihr bewußt gewesen war. Eine gegenwärtige Illusion aufzugeben, um zukünftigen Schmerz zu vermeiden, erforderte möglicherweise mehr Charakterstärke, als sie besaß. Sie lag zwischen den Sofakissen und schluchzte vor Trauer über den unwillkommenen Verlust ihrer bequemen Neurose.

Dann wurde ihr klar, daß Brian nicht ihr Vater war. Er war nicht Jackson, auch nicht David Michael. Vielleicht konnte es jetzt anders werden, weil sie ja inzwischen die Fallgruben kannte. Egal wie, sie mußte sich bald entscheiden, weil ihre Hormone wieder auf Touren kamen. Bald würde sie seinen Schwanz küssen und ihn anflehen, seine Kinder austragen zu dürfen. Wenn sie das nicht wollte, dann mußte sie schnell handeln.

Als sie zitternd zwischen den Kissen aufwachte, war es draußen hell. Ein Wind ging durch die Birken, und die eisgefüllten Schaukelsitze im Garten bewegten sich hin und her. Sie ging ins Bad, wusch ihr tränenverschmiertes Gesicht und kämmte ihren zerzausten Afro. Dann suchte sie ihre Jeans und ihre zerknitterte Seidenbluse aus dem Kleiderknäuel neben dem Sofa und zog sich an. Sie machte sich noch eine Tasse Kaffee, setzte sich an den Eßtisch und wartete auf Brian. Sie wußte nicht, was tun.

«Wo bist du denn hin?» fragte er, als er schließlich in Unterhemd und Boxershorts auftauchte.

«Ich konnte nicht schlafen, da bin ich aufgestanden.»

«Ich habe dich vermißt.» Er küßte ihren Hals.

Lügner, dachte sie. Du hast nicht einmal gemerkt, daß ich weg war, bis du mit einem Ständer aufgewacht bist.

«Komm wieder ins Bett.» Er knetete ihre Schultern.

«Ich muß nach Hause», hörte sie sich sagen.

«Ich dachte, wir hätten den ganzen Tag vor uns.»

«Leider nicht.» Sie hätten den ganzen Tag haben können, weil Diana sich um die Jungen kümmerte, aber sie hatte gerade entdeckt, daß sie den Tag nicht mit Brian verbringen würde. Er merkte doch bestimmt, daß sie aufgeregt war? Diana konnte ihre Stimmung aus einem einzigen Satz am Telefon heraushören.

Er holte sich einen Kaffee und setzte sich hin. «Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, Caroline …»

Ah, gut, dachte sie. Er will alles abblasen, also brauche ich es nicht zu tun. Ein Gentleman bis zum Schluß.

293

« … aber wir passen so gut zusammen.»

Sie schaute ihn an.

«Sieh mal, ich weiß, wir sind beide einsam und suchen jemanden, mit dem wir unser Leben teilen können. Wir beide wollen jemanden, der freundlich und rücksichtsvoll ist, sensibel, sanft und großzügig. Jemanden, der zuhören kann. Jemanden, mit dem man lachen kann. Wir beide wollen jemanden, mit dem im Bett die Funken sprühen und der außerhalb des Bettes die Räder in Bewegung bringt …» Sein leidenschaftlicher Eifer machte ihn verlegen. «Na ja, du weißt schon, was ich meine, Caroline. Was denkst du?»

Sie betrachtete sein freundliches Gesicht und flehte ihren Mund an, nicht die Worte zu sagen, die sie jetzt herauskommen hörte: «Du hast recht, Brian. Wir wollen beide Frauen.»

Er preßte die Lippen aufeinander. Caroline war voll Reue. «Brian, du bist ein liebenswerter Mann. Ich mag dich sehr. Und ich habe mir Mühe gegeben. Ich schwöre dir, ich habe mir ehrlich Mühe gegeben. Ich schwöre dir, ich habe mir ehrlich Mühe gegeben, daß es funktioniert. Aber ich glaube, ich bin eben eine hoffnungslose Lesbe. Bitte, verzeih mir, daß ich dir weh tue. Wenn ich die Wahl hätte, dann würde ich mich sofort für dich entscheiden.»

Sie konnte sehen, wie Tränen in seine Augen traten. «Aber ich verstehe das nicht, Caroline. Wir passen so gut zusammen. Und hier ist dieses Haus, das nur darauf wartet, daß du einziehst. Ich wäre ein guter Vater für deine Jungen.»

«Ich weiß, Brian. Und ich weiß es zu schätzen, mehr als ich sagen kann.»

«Wo liegt dann das Problem?»

Sie konnte keine Worte finden. «Das hier bin einfach nicht ich, Brian.» Sie war dabei, eine gewisse Vorstellung zu bekommen, er dieses «Ich» war.

Caroline konnte sehen, daß er anfing, sich zu ärgern. Vielleicht würde selbstanklagender Humor helfen. «Ich bin pervers, Brian. Bürgerlichkeit erstickt die Perversen. Es ist, wie wenn ein Hummer in frisches Wasser gelegt wird.»

Er schüttelte betäubt den Kopf. «Na ja, du warst von Anfang an offen, Caroline. Das muß ich dir zugute halten.»

Caroline sah ihm in die Augen. Sie spürte immer deutlicher, daß sie das Richtige tat. «Danke, daß du es mich hast versuchen lassen, 294Brian. Und ich habe es versucht. ich hae mir mehr Mühe gegeben, als du dir wahrscheinlich vorstellen kannst.»

Er schüttelte wieder den Kopf. «Ich habe noch nie eine Frau gekannt, die all dies so leichterdings zurückweisen würde.» Er machte eine vage Handbewegung zur Wohnung hin.

«Wer sagt, es war leicht?»

Während Brian sich anzog, um sie nach Hause zu fahren, saß Caroline mit dem Ellbogen auf dem Tisch und dem Kopf in den Händen da, und sie spürte die Angst und den Verlust so klar, daß sie merkte, es hatte wenig mit Brian zu tun, den sie kaum kannte. Um das Gefühl zu vertreiben, beschwor sie das Bild von Hannah. Aber als es erschien, war der Kopf abgewandt, schaute sie nicht mehr an, sagte ihr nicht mehr, sie sei ein feiner Mensch. Sie schlug einen anderen Kurs ein als Hannah. Kein Bridge, kein Wohnwagen, keine Kreuzfahrt durch die Karibik. Hannah würde sie hinauswerfen.

Ihre Hand zitterte, als sie die Tasse zum Mund führte. Entschlossen entließ sie Hannah und dachte statt dessen an einen Dschungel voll leuchtend bunter Vögel und wunderschöner Blumen. Brian kam mit den Autoschlüsseln aus dem Zimmer, sein Gesicht eine Maske; ein Pater, der eine Todeskandidatin den langen, letzten Flur entlang geleitet.

 

Caroline kam schwungvoll in Hannahs Sprechzimmer und blickte umher, wie um sicher zu gehen, daß die Möbel nicht wieder umgestellt waren. Hannah schaute von ihrem Stuhl auf, eine Tasse Kaffee in der Hand. «Meine Güte, Sie sehen aber heute entschlossen aus.»

«Wirklich?» Caroline setzte sich in ihrer weißen Uniform auf die Couch. «Ich glaube, das stimmt. Ich treffe zur Zeit Entscheidungen rechts und links.»

«Ach ja? Zum Beispiel?» Hannah trank einen Schluck Kaffee.

«Zum Beispiel, daß ich einen neuen Job will. Die Unfallstation hängt mir zum Hals heraus.»

«Ach ja?» sagte Hannah mit plötzlichem Interesse. Sie stellte ihre Tasse auf den Schreibtisch und drehte sich so, daß sie Caroline direkt anschaute. «Welche Art von Job?»

«Schon als Krankenschwester. Aber mit einem andern Schwerpunkt. Ich weiß nicht was. Ich habe das heute erst beschlossen.» Sie hatte am Operationstisch gestanden und assistiert, während eine Messerstichwunde genäht wurde, und sie hatte säuberlich die kleinen 295gelblichen Fettkügelchen unter zerfetzte Hautstückchen geschoben, als ihr plötzlich einfiel: Ich muß nicht hier sein.

«Möchten Sie einen Kaffee?» fragte Hannah.

«Nein, danke. Koffein würde mich jetzt wahrscheinlich völlig überdreht machen.»

«Und was haben Sie sonst noch beschlossen?»

Caroline sah Hannah plötzlich verängstigt an. «Ich habe am Wochenende mit Brian Stone Schluß gemacht.»

«Ach ja? Warum?»

«Na ja», sagte sie und betrachtete ihre Hände, «ich nehme an, ich habe gemerkt, daß der Märchenprinz ein Frosch war.» Sie war gerade im Krankenhaus mit Brian zusammengestoßen, im Flur vor dem Labor. Er war kühl und sachlich gewesen. Sie hoffte, es möge etwas von ihrer anfänglichen Freundschaft übrigbleiben, wenn er erst einmal seinen Haß auf sie überwunden hatte. Sie würde sich gerne wieder seine Trauergeschichten über Irene anhören. Aber sie hatte es nicht zu eilig damit. In der Zwischenzeit war es Folter zu wissen, daß jemand etwas von ihr wollte und sie es verweigern mußte.

«Was war an ihm falsch?»

Hannah sah nicht besonders enttäuscht aus und klang auch nicht so. Sie war vielmehr ein Abbild der Gleichgültigkeit, wie sie da saß und aus dem Fenster auf Lake Glass schaute wie früher Caroline. War es ihr wirklich egal, daß Caroline anormal war? «Mir ist mitten in der Nacht aufgegangen, daß er viel Ähnlichkeit mit Jackson und David Michael und mit meinem Vater hat und daß ein Leben mit ihm vermutlich nur ein neuer Aufguß wäre. Ich kam mir vor wie Aschenputtels Stiefschwester, die versucht, ihren Fuß in den Glasschuh zu zwängen.»

Hannah lächelte und hielt an sich, um nicht zu applaudieren. Es hatte tatsächlich manchmal eine Wirkung, was sie hier Tag für Tag machte. Dann ermahnte sie sich, nicht gleich zu begeistert zu sein. Caroline würde vermutlich wieder zurückrutschen. Was Leute sagten und was sie durchführen konnten, das waren meistens zwei Paar Schuhe. «Wie hätte denn das Leben, das Sie sich entschlossen haben, nicht zu leben, Ihrer Meinung nach ausgesehen?»

«Allein und einsam. Für ihn sorgen, wenn er mich braucht, aber nicht dasselbe von ihm bekommen.»

«Darin haben Sie ja einige Übung.»

296

Caroline nickte.

Hannah sah sie freundlich an. «Das tut bestimmt weh, das zu sehen.»

Caroline nickte wieder. Dann schaute sie auf. «Eine Weile dachte ich, es könnte mit Brian anders laufen, wenn ich mir des Verhaltensmusters bewußt bin.»

So wie es herauskam, klang es für Hannah wie eine Frage. «Das ist möglich, aber manche Leute müssen sich von ihrem Gift ganz schlicht fernhalten, so wie ein Alkoholiker vom Schnaps.»

Caroline war benommen. Nicht nur kritisierte Hannah sie nicht, sie sah sogar erfreut aus. Ihr Gesicht war sanfter geworden. Sie meinte offenbar sogar, daß Brian «Gift» für sie sei.

«Sind Sie sich bewußt», fragte Hannah, «daß Sie gerade eine Entscheidung getroffen haben? Daß Sie Ihr Leben in die Hand nehmen und es nicht einfach passieren lassen?»

«Ja.»

«Und sind Sie sich bewußt, daß Sie das schon immer gemacht haben? Auch wenn Sie es nicht gewußt haben?»

Caroline nickte mit zweifelndem Gesicht.

Sie saßen schweigend da. Caroline betrachtete untätig den Mimi-Geist an der Wand beim Schreibtisch. Sie hatte tatsächlich angefangen, das scheußliche kleine Wesen mit seinen hohlen Waisenkinderaugen gern zu haben. Es wirkte inzwischen freundlich und lebhaft, nicht mehr seltsam und bedrohlich.

Hannah schaute auf eine Reihe Eiszapfen, die draußen wie durchscheinende Hauzähne vom Fensterrahmen herunterhingen. Sie tropften in der Sonnenhitze. Zum erstenmal, soweit Hannah sich erinnern konnte, verlagerte Caroline ihr inneres Gefühl der Verlassenheit nicht auf andere Leute und auf die ganze Welt. Sie verließ Brian und betrachtete das als ihre Entscheidung und nicht als seine Schuld.

«Es kam mir nicht so vor, als wären Sie mit ganzem Herzen zu dieser Beziehung bereit», sagte Hannah.

«Wirklich? Warum nicht?»

«So wie Sie über ihn gesprochen haben. Daß Sie ihn Märchenprinz genannt haben, beispielsweise. Es klang immer leicht ironisch.»

«Ich dachte, ich hätte mir wirklich Mühe gegeben, daß es funktioniert. Aber vielleicht wußte ich, daß es nicht ging.»

297

«Warum wollten Sie das eigentlich? Sie haben doch von Anfang an betont, daß Sie lesbisch sind.»

Caroline schaute Hannah an. «Ich glaube, ich wollte, daß es funktioniert, weil ich so sein wollte wie Sie.»

Hannah lächelte leicht und dachte daran, daß sie hatte Jüdin sein wollen, um Maggie ähnlicher zu sein. «Was hat Sie daran gehindert?»

«Daß ich ich bin.»

Hannah schaute sie aufmerksam an, dann nickte sie. Caroline war mit Eltern aufgewachsen, die aneinander gekettet waren wie Gefangene. Kein Wunder, daß sie das alles so verachtete. Wohingegen Hannah, deren Mutter tot und deren Vater fortgegangen war, sich als Kind danach gesehnt hatte und sich jetzt daran klammerte.

«Vielleicht wäre ich gerne normal und bürgerlich wie Sie», sagte Caroline, «aber das bin ich nicht. Also scheiß drauf.»

Hannah lächelte.

«Was ist so komisch?»

«Ich weiß nicht, ob ich es erklären kann», sagte Hannah. «Es ist nur so, daß ich nicht sicher bin, ob wir wirklich so verschieden sind, wie Sie glauben. Ich hatte neulich einen Termin mit einer Freundin von Ihnen», fügte sie hinzu, um das Thema zu wechseln. Weil Caroline im Augenblick von ihren Unterschieden überzeugt sein mußte. Sie schärfte ihr Gefühl dafür, wer sie war, indem sie sich von anderen Menschen abgrenzte. Sie sah Carolines Freundin Jenny vor sich, mit ihrem einen silbernen Ohranhänger, einer geballten Faust in einem Frauenzeichen. Jenny saß in kampflustiger Stellung auf der Couch, die Füße breit und selbstsicher auf dem Boden. «Glauben Sie also, daß Sie mit mir fertig werden können?» wollte Jenny am Ende der Stunde wissen. «Na ja, ich habe keine Angst vor Ihnen, wenn Sie das meinen», antwortete Hannah und sah, wie sich Jennys Augen plötzlich mit Tränen füllten.

«Ich weiß. Jenny hat es mir erzählt.»

«Sie hat gesagt, Sie hätten ihr vorgeschlagen, doch zu mir zu kommen?»

«Ja.» Jenny war wieder einmal völlig geknickt wegen einer wahren Liebe, die zu ihrem Ehemann zurückgekehrt war. Sie hatte einen Abend weinend in Carolines Armen verbracht, und ihre Tränen hatten dazu geführt, daß Carolines neues rotes Flanellhemd das T-Shirt, das sie darunter trug, völlig verfärbte. Und da sie 298neuerdings ja eine Expertin in Sachen Herz geworden war, wußte Caroline, daß Jenny lernen mußte zu akzeptieren, daß sie Mama nicht Vati wegnehmen konnte, und Hannah würde ihr dabei helfen.

«Na ja, bitte empfehlen Sie mich niemandem mehr.» Caroline war jetzt dabei, ihr beruflich zu helfen.

«Warum nicht?»

«Was meinen Sie, warum nicht?»

Caroline runzelte die Stirn. «Ich weiß nicht. Ich habe gedacht, Sie würden sich freuen.» Gleichgültig, welche Reaktion Caroline bei Hannah erwartete – normalerweise trat das Gegenteil ein.

«Ich habe bereits genug Klienten.»

«Also, es tut mir leid, daß ich Ihnen noch jemanden aufgehalst habe.»

«Seien Sie nicht eingeschnappt», sagte Hannah. «Überlegen Sie sich, was Sie da arrangieren.» Sie hatte bei Maggie dasselbe getan – Freund an sie verwiesen und sich dann geärgert, daß sie sich mit ihnen beschäftigte. Genau wie ihre Kinder, die bettelten, sie wollten einen kleinen Bruder oder eine kleine Schwester, und sie dann haßten, wenn sie kamen. Genau wie sie selbst, wenn sie Eifersuchtsstiche empfand, weil sie beobachtete, wie Arthur die neugeborenen Kinder in den Armen wiegte und ihnen ganz verliebt in die Augen blickte.

Caroline sah nicht ein, warum Hannah alles in eine byzantinische Verschwörung verwandeln mußte. Manche Sachen waren so, wie sie schienen, und nichts mehr. Sie stellte sich vor, wie es war, mit ihr zusammenzuleben: «Arthur, du denkst vielleicht, das ist ein Rinderbraten, aber frag dich mal selbst, was unter dieser Sauce noch stecken könnte.»

«Was ist so komisch?» fragte Hannah.

«Sie sind komisch. Ich kann einfach nicht glauben, daß alles und jedes eine versteckte Bedeutung hat.»

Hannah lächelte, froh darüber, daß Caroline sie inzwischen auf eine angenehme Art herausfordern und sie sogar aufziehen konnte. «Aber vergessen Sie nicht, wie oft ich das schon mit anderen Leuten durchgemacht habe, Caroline.»

Caroline reagierte mit Eifersucht. «Also gut. Dann erzählen Sie mir, was ich da arrangiere.»

«Es leuchtet Ihnen mehr ein, wenn Sie es selbst herausfinden. Aber ich kann an Ihrer Kinnstellung ablesen, daß Sie heute stur 299sind.» Sie sah, wie Caroline zustimmend nickte, während sie irgendeinen Widerspruch murmelte. «Wenn Sie mir Klienten schicken, könnten Sie den Eindruck gewinnen, daß ich Sie durch die anderen ersetze. Wie Ihre Mutter Sie durch die jüngeren Geschwister ersetzt hat. Wie Arlene Sie durch, wie hieß sie gleich noch mal, ersetzt hat. Wie Diana Sie durch Suzanne ersetzt hat.»

Caroline sah verblüfft drein. «Ich dachte, es sei ein Kompliment, daß ich meine Freundinnen zu Ihnen schicke.»

«Ist es auch. Aber schicken Sie die Leute, wenn Sie selbst fertig sind. Nicht jetzt.»

«Ich verstehe das nicht.»

«Ich denke, daß Sie mir einen Ersatz schicken wollen, damit Sie sich zurückgewiesen fühlen können. Und ich glaube nicht, daß Sie wirklich ersetzt werden wollen, weil ich weiß, daß ich sehr wichtig für Sie bin.»

Caroline errötete, und ihre Augen begegneten Hannahs Blick. Sie empfand ein tiefes Verlangen nach ihr, in irgendeiner Form, wenn sie sie nur haben konnte. Therapie, Mittagessen, Bridge, Bett, irgend etwas. Sie senkte die Augen und sagte fast flüsternd: «Ja, das sind Sie.»

Sie saßen schweigend da, und Hannah beobachtete die tropfenden Eiszapfen und dachte über Golfbälle nach. Sie hatte oft in Hampstead Heath verirrte Golfbälle in den Brombeerbüschen gefunden. Sie schnitt dann die harte äußere Schicht auf und zog sie ab, um das Durcheinander von Fäden darunter aufzudecken. Sie entwirrte sorgfältig die Fäden, um die kleine runde Kugel in der Mitte herauszuholen, in deren glatter Oberfläche sich die schützenden Fäden eingegraben hatten, so daß sie einem Fossil glich. Mit einem Klienten zu arbeiten war ähnlich. Man mußte die Schutzschicht durchdringen, die ein Labyrinth der Verletzlichkeit verdeckte, das oft genau das Gegenteil dessen war, was die äußere Erscheinung nahelegte. Die wilden Lesben, die auf Motorrädern ankamen und ganz in Leder in ihr Sprechzimmer stolzierten, entpuppten sich als verängstigte kleine Mädchen. Und die überaus weiblichen Frauen waren oft so kalt und scharf unter der Oberfläche wie die Eiszapfen draußen vor dem Fenster.

Aber wenn der innere Kern einmal bloßgelegt war, so wie jetzt bei Caroline, dann empfand Hannah ehrfürchtiges Staunen und eine Spur von Angst. Man klopfte vorsichtig nach Lebenszeichen 300und wußte genau, daß jede Bewegung, die zu plötzlich oder zu stark wäre, einen neuen Erdrutsch auslösen könnte, der alle, die darin noch am Leben waren, für immer unter sich begraben könnte.

Hannah blickte zu dem Foto an der Wand über dem Bücherregal, das ein ehemaliger Klient gemacht hatte, ein Luftfotograf. Auf den ersten Blick sah es aus wie das, was es war – Schneeflecken auf einem gepflügten Feld. Aber eine leichte Verschiebung des Blickwinkels verwandelte die Teile des dunklen Feldes in die Silhouette eines verschleierten Frauenkopfes. Ihr Klient, der überzeugt gewesen war, es sei die Jungfrau Maria, hatte ein Bekehrungserlebnis, beendete die Therapie und wurde Priester. Hannah war skeptisch, was die Sache mit der Jungfrau Maria anging, aber sie glaubte voll und ganz an die Veränderung des Blickwinkels. Diese Veränderung würde Caroline jedoch wahrscheinlich noch mehr ängstigen als ihre ganze Abhängigkeit, Wut und Sexualität. Und sie sah auch wirklich erschrocken aus, erschrocken über das, was sie gerade gesagt hatte, während sie ihre Fingernägel studierte und blasiert zu wirken versuchte.

Caroline dachte darüber nach, wie wichtig Hannah für sie geworden war. Sie hatte sich von Brian getrennt. Wer wußte, was Diana vorhatte? Hannah war zum Zentrum ihres emotionalen Lebens geworden. Nachts dachte sie an sie, um die Angst zu vertreiben. Sie plante ihre Woche um diese Sitzungen herum, dachte über das nach, was in der vorhergehenden gesagt worden war, und sammelte Beobachtungen für die nächste. Wenn sie auf dem Weg zum Krankenhaus an Hannahs Büro vorbeifuhr, achtete sie darauf, ob Licht war. Wenn das Licht an war, kam ihr die Welt sicherer vor. Hier hatte sie nun Hannahs Wichtigkeit zugegeben. Und seit Pink Blanky und Marsha war sie davon überzeugt: wenn die Götter einmal wußten, was einem wichtig war, dann fühlten sie sich verpflichtet, es einem wegzunehmen, aus Gründen, die nur ihnen selbst einsichtig waren. Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben. Caroline hatte es nicht geschafft, kühl und gelassen vorzugehen. So oder so, Hannah würde verschwinden. Sie rieb den Nasenrücken mit den Fingerspitzen und spürte, wie ihre Achselhöhlen schweißnaß wurden und Flecken auf ihrer weißen Uniform erschienen.

«Was denken Sie gerade?» fragte Hannah sanft und sah, daß unter Carolines Achselhöhlen Schweißflecken auftauchten. War Caroline nicht zu jung für die fliegende Hitze?

301

Es zu erklären, das wußte Caroline, würde alles nur schlimmer machen. Man versuchte die Aufmerksamkeit nicht auf etwas zu lenken, was man bewahren wollte. Selbst wenn es schon zu spät war. «Ich habe gerade gedacht, daß Sie bei Jenny recht haben», antwortete sie mit unsicherer Stimme. «Sie hat mir am Telefon erzählt, wie gut ihre Sitzung mit Ihnen verlaufen ist. Und ich habe gesagt: ‹Ja, aber vergiß nicht, mich hat sie am liebsten.›»

Hannah lachte. Was für eine charmante Schmeichlerin Caroline war. «Sie haben recht. Das stimmt», hörte sie sich selbst sagen.

«Wirklich?»

Hannah nickte, leicht beunruhigt über ihre unprofessionelle Reaktion.

Caroline betrachtete sie. Wie konnte Hannah sie gerne mögen nach all dem Quatsch, den sie bei ihr abgeladen hatte? Vermutlich war diese Bemerkung nichts als eine therapeutische Technik. Hannah wies ja immer wieder darauf hin, daß sie nur ihre Arbeit tat. «Was ist das eigentlich für ein Foto, das Sie gerade angeschaut haben?»

Hannah schaute zu dem Foto. «Es ist ein gepflügtes Feld, das mit Schnee bedeckt ist. Aber wenn Sie es auf eine bestimmte Art ansehen, dann ist es die Silhouette eines Frauenprofils. Der Mann, der die Aufnahme gemacht hat, glaubt, es ist die Jungfrau Maria.»

Caroline lächelte. «Ich kann sie nicht sehen.»

«Nehmen Sie das Weiße als Hintergrund.»

Caroline machte die Augen erst weit auf, dann kniff sie sie zusammen. «Hilft nichts.»

«Versuchen Sie es immer wieder. Sie kommen schon drauf.»

 

Als Caroline in der Nachmittagssonne die Seestraße entlangfuhr, sah sie in der Mitte des Sees eine große Fläche offenes Wasser. Die Eisfischerhütten und die unerschrockenen Autos waren verschwunden.

Der ungepflasterte Weg zum Haus war matschig und hatte tiefe Furchen. Sie und Diana waren vor kurzem dazu übergegangen, nicht mehr über das Eis auf der Straße, sondern über den Matsch zu klagen. Und bald schon würden sie über den Staub klagen, der im Sommer durch die Ritzen ihres Holzhauses drang und die Möbel bedeckte. Demnächst würden Winterreifen, Anoraks und Vorfenster verschwinden. Türen und Fenster würden aufgerissen. Die 302Sonne würde herunterbrennen. Die Kinder würden im Gras liegen und in den Wolken Figuren bestimmen. Sie beschloß, der Sommer sei ihre Lieblingsjahreszeit.

Aber was war mit dem Herbst – wenn der Himmel über dem See so tiefblau war wie Hannahs Augen, die Luft so frisch wie ein Biß von einem eisgekühlten McIntosh-Apfel? Ganz zu schweigen von den leuchtend roten Ahornbäumen in den Wäldern um ihr Haus. Das, worauf es ankam, war das Nebeneinander, schloß sie. Der Sommer war himmlisch, weil er auf die Matschjahreszeit folgte. Aber wenn dauernd sengend die Sonne schiene, dann würde die ganze Vegetation ausdörren, und man säße im Schatten und würde vom Schnee träumen. Jede Jahreszeit war auf ihre Art vollkommen, und in Beziehung zu allen anderen. Es kam darauf an, das zu wissen und nicht im Frühling über den Matsch zu jammern, im Sommer über den Staub und im Winter über das Eis.

Mein Gott, sie wurde ja schon genauso eine naive Optimistin wie Hannah. Sie lächelte.

Ihr Lächeln verschwand. Sie hatte gerade Hannah gegenüber zugegeben, daß sie für sie wichtig war. Hannah fühlte sich wahrscheinlich belastet. Sie würde Caroline auf irgendeine höfliche Art und Weise loswerden. Caroline spürte, wie ein übereifriger Pfadfinder anfing, aus ihren Gedärmen Seemannsknoten zu machen.

Um Gottes willen, sagte sie zu sich selbst, warte bis nächste Woche und sieh, was sie tut. Rechne nicht schon im voraus mit einer Katastrophe. In der Zwischenzeit wollte sie diesen Scheißfrühling genießen. Sie dachte intensiv an ihren Traum mit den tropischen Vögeln und fühlte, wie sich die Knoten in ihrem Magen lockerten. Hannah konnte alles mögliche passieren. Sie konnte wegziehen, sterben, Immobilienmaklerin werden. Das tat sie jetzt wahrscheinlich auch, nachdem Caroline gestanden hatte. Aber niemand konnte ihr diese Vögel wegnehmen. Selbst der Schwarzspecht tauchte nur auf, wenn er Lust dazu hatte. Aber die Dschungelszene konnte sie sich vorstellen, wann sie wollte, indem sie einfach die Augen schloß. Und mit diesem Bild kam ein Gefühl warmer Dankbarkeit – sie hatte keine Ahnung, wofür – und löschte die Angst und die Unruhe aus.

Als sie durch den Matsch zur Eingangstür watete, blickte sie auf und sah Amelia, die bei Dianas Eingang auf dem Geländer saß und auf den paar Quadratzentimetern Holz geschickt das Gleichgewicht 303hielt. Caroline blieb stehen, ihre Stiefel sanken in den Matsch, und sie betrachtete die Katze. Amelia wandte den Kopf, begegnete Carolines Blick und blinzelte langsam mit ihren gelbgrünen Augen. Ihr Mund sah aus, als würde sie lächeln. Caroline war betroffen von ihrer grundlosen Schönheit. Warum existierte so ein blödes, freundliches, verschlossenes, graziöses Wesen überhaupt, mit seinen völlig überflüssigen braunen, schwarzen und weißen Flecken? Machen Sie die Augen auf und sehen Sie, was Sie sehen, wenn Sie nicht nur darauf aus sind, das Schreckliche zu sehen. Amelia war ein Wunder. Caroline traten Tränen in die Augen.

Amelia machte sich steif, ihr Kopf ging in Hab-acht-Stellung. Sie stieß sich von ihrem Sitz ab und sprang in einem erstaunlich graziösen Bogen herunter, um ein kleines Eichhörnchen, das durch den Garten huschte, zu jagen.

«Amelia, laß das, verdammt noch mal!» schrie Caroline, Hannahs Sichtweise beraubt und in ihre eigene zurückgeworfen. Hätte sie Jasons Gewehr gehabt, sie hätte selbst auf die verdammte Katze geschossen. Sie formte einen Ball aus aufgeweichtem Schnee und warf ihn nach Amelia. Er landete mit einem Plumps auf dem Schneefleck neben der Katze, die mit gekrümmtem Buckel und gesträubtem Fell zur Seite sprang.

In Carolines Wohnung war es still. Arnold lag schlafend auf dem geknüpften Teppich in der Sonne. Was für ein Versager von Wachhund! Die Jungen und Sharon waren bei Freunden. Sie ließ ihre matschigen Stiefel an der Tür stehen, holte ein Michelob-Bier aus dem Kühlschrank und ließ sich auf den karierten Sessel beim Telefon fallen. Während sie einen kräftigen Schluck Bier trank, spürte sie, wie ihre Stimmung nach unten ging wie ein Expreßaufzug. Vielleicht gab es überall Wunder, aber das gleiche galt für das Grauen. Was ist echt, fragte sie sich, die graziöse Sorglosigkeit Amelias auf dem Geländer oder der Schrecken in den Augen des Eichhörnchens, wenn es das riesige Katzenmonster erblickt? Die Luft wurde schwer, als Caroline zu atmen versuchte, und sie spürte, wie sich ihre Schultern verkrampften.

Als sie den Rest Bier hinunterkippte, hörte sie Diana oben herumlaufen. Wir sind alle die Verfasser unserer eigenen Stimmungen. Wenn sie hier unten sitzen und wegen der räuberischen Persönlichkeit ihrer Katze deprimiert sein wollte, dann war das ihre Entscheidung. Es gab andere Möglichkeiten, wie zum Beispiel die, Dianas 304Einladung von neulich abends anzunehmen. In einem plötzlichen Einfall sprang sie auf, raste in ihr Schlafzimmer und zog ihr weißes Kleid aus, das noch feucht war vom Schweiß der Therapiesitzung. Sie zog auch Strümpfe, Strumpfgürtel und Unterhosen aus und behielt nur ihr viktorianisches Spitzenunterhemd an, das Diana liebte. Dann zog sie ihren Daunenbademantel über und ging nach oben.

«Hallo, Süße», sagte Diana. Sie saß auf dem Sofa, blickte auf das schmelzende Eis auf Lake Glass hinunter und strickte an dem Islandpullover für Suzanne. Ein leeres Weinglas stand neben ihr auf dem Hirtenteppich. «Komm, setz dich. Was hast du vor?» Sie schaute auf Carolines Bademantel.

«Ich bin auf dem Weg ins Bett. Möchtest du mit?»

Diana lächelte, ohne einen Augenblick aufzuschauen. «Möchte ein Schwein im Abfall wühlen?» Sie legte ihr Strickzeug weg, stand auf und reckte sich träge und genußvoll. Ihre roten Haare leuchteten in der Sonne wie glühende Kohlen.

«Mein Gott, was bist du für ein herrliches Geschöpf», murmelte Caroline und berührte Dianas vertrautes Gesicht mit den Fingerspitzen.

«Du bist auch nicht übel.» Diana streckte die Hand aus, um den Gürtel von Carolines Bademantel zu öffnen. «Meine Güte», sagte sie, als der Bademantel aufklaffte und das Unterhemd zu sehen war. Ihre grünen Augen verengten sich vor Begierde. «Du siehst so gut aus, daß ich dich aufessen möchte.»

«Dann mal los.»

Dianas Körper – so anders als Brians Körper, ihrem eigenen so ähnlich. Lesbisch zu sein war vermutlich die höchste Stufe von Narzißmus. Sie wußte, was Diana empfand, wenn sie sie berührte, sie konnte es bei sich selbst spüren, und das ging so weit, daß sie schließlich nicht mehr wußte, wer was bei wem machte. Wenn das Narzißmus war, dann war es eben so. Was konnte an ein bißchen Selbstliebe falsch sein?

Als sie danach auf dem Hirtenteppich in der Sonne lagen und die zwei Evas im Paradies von Carolines Wandteppich auf sie herunterlächelten, fragte Diana mit erschöpfter Stimme: «Was machen wir, wenn jetzt die Kinder hereingeplatzt kommen?»

«Ich sage ihnen, daß ich dich sehr liebe und daß ich hoffe, sie finden einmal genausoviel Glück, wenn sie erwachsen sind.» Caroline 305strich ein paar verirrte Haarsträhnen aus Dianas Stirn und küßte sie auf die geschlossenen Augen.

«Aha. Und dann gibst du ihnen Geschenkgutscheine für Besuche bei Hannah Burke?»

«Richtig.» Caroline war nicht sicher, ob sie je so glücklich gewesen war. Sie hatte das Gefühl, als sei sie nach einem langen Aufenthalt in fremden Ländern nach Hause zurückgekehrt. Alles erschien plötzlich einfach. Man brauchte nur die Komplikationen, die man sich zusammengebraut hatte, hinter sich zu lassen, wie ein Einsiedlerkrebs aus einer Muschel auszieht, in der es ihm zu eng geworden ist. Brian war von der Bildfläche verschwunden. Diana würde Suzannes Pullover endlich fertigstricken und sie sausen lassen. Die Kinder würden bald aus dem Haus gehen, und sie und Diana würden ihre späten Jahre in den Armen und zwischen den Beinen der anderen verbringen.

«Könnte ich dich um einen Gefallen bitten?» sagte Diana.

«Natürlich. Was?» Selbst wenn Diana den ganzen Lake Glass in einen Fingerhut gesaugt haben wollte – im Augenblick hätte Caroline alles versucht.

«Könntest du bitte mit diesem Mann nicht hier im Haus schlafen?»

Caroline spürte, wie sich ihr Herz zu einer Faust verkrampfte. «Schlechtes Timing.»

«Schlechtes Timing oder nicht, es ist mir wichtig.»

«Diana, warum den ganzen Mist von draußen daherbringen, wenn gerade alles so perfekt zwischen uns ist?»

«Gerade weil es perfekt zwischen uns ist. Ich kann es nicht ertragen, zu wissen, daß du da unten bist und mit ihm dasselbe machst, was wir gerade gemacht haben.»

«Wenn du mit Suzanne hier schläfst, warum soll ich dann nicht mit Brian schlafen?» Warum ihr nicht einfach sagen, daß es vorbei war mit Brian? Aber es ging ums Prinzip. Außerdem, wenn Diana wußte, daß Caroline außer ihr niemanden hatte, dann würde sie sich überfordert fühlen und sich zurückziehen. Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben. Wieso in aller Welt war ihr das alles vor einem Augenblick noch einfach vorgekommen?

«Weil er ein Mann ist. Wenn er eine Frau wäre, hätte ich nichts dagegen. Ich würde dich anfeuern.»

«Und wie du das tun würdest.»

306

«Doch, das würde ich. Aber ich kann es nicht ertragen, wenn du direkt vor meiner Nase mit einem Mann zusammen bist. Es ginge dir genauso, wenn ich das machen würde.»

«Ich habe fünf Jahre lang die Hälfte der Hypothek für dieses Haus bezahlt, und ich kann hier tun und lassen, was ich will.»

«Meinetwegen tu das», sagte Diana, stand auf und suchte ihre zerknautschten Kleider zusammen. «Aber wundere dich nicht, wenn du eines Morgens aufwachst, und ich bin nicht mehr da.»

Caroline packte ihr viktorianisches Unterhemd, riß es in zwei Stücke und warf es nach Diana. «Du bist schon seit einigen Monaten nicht mehr da. Ich würde nicht einmal einen Unterschied spüren.»

Als sie wieder unten war und wütend die Pedale ihres Webstuhls bediente, fing Caroline an, über Mord nachzudenken – da war Amelia, die Eichhörnchen ermordete, Jason, der Amelia ermordete, irgendein Sexualpsychopath, der Jason ermordete, wenn er heute abend von seinem Freund Hank durch den Wald nach Hause ging …

Dann saß sie ganz still, starrte hinaus auf den tauenden See und merkte, was sie gerade machte: Sie verlagerte ihre Wut, die Diana galt, auf die ganze Welt und steigerte sich in einen Angstzustand hinein. Ihre Hände fielen herunter, und ihre Schultern sanken zusammen. Sie können nicht kontrollieren, was passiert, aber Sie können Ihre Reaktion kontrollieren. Hartnäckig begann sie, ihre Sitzung vom Nachmittag mit Hannah noch einmal durchzugehen. Aber als sie das tat, steigerte sich ihre Angst. Sie würde auch Hannah verlieren. Sie sagte Diana, sie liebe sie, und Diana teilte ihr mit, sie werde aufwachen, und sie sei dann nicht mehr da. Sie konnte nicht herumlaufen und den Leuten sagen, daß sie ihr wichtig waren. Das vertrieb sie. Und das hatte sie heute nachmittag mit Hannah gemacht. Hannah würde verschwinden, wie all die anderen. Wie Jackson, David Michael, Arlene, Diana. Niemand blieb übrig.

Verzweifelt versuchte sie, die beruhigende Dschungelszene in ihrem Kopf zu orten, aber diesmal konnte sie die Vögel und die Blumen nicht finden. Nur der Sumpf war noch da, wirr und faulend.

307

2

Hannah beobachtete, wie Chip mit seinem Bedürfnis wegzugehen und seinem Bedürfnis zu bleiben kämpfte. Er schwebte über der Couch, halb sitzend, halb stehend. Sie hatte eben angedeutet, daß sie nur noche eine Angewohnheit sei, wie Rauchen; daß er die Sitzungen vermissen, aber die Lücke bald mit anderen Menschen und Aktivitäten füllen würde. Er wirkte wenig überzeugt, wie er da hockte, in enganliegenden braunen Cordjeans und einem karierten Sporthemd. Er hatte endlich diese Overalls abgelegt, die er seit dem Kongreß der Demokratischen Partei 1968 in Chicago ungewaschen getragen hatte. Er hatte auch seinen Vollbart abrasiert und war dabei, an der Schnellstraße in der Nähe der Einkaufspassage einen Burger King zu eröffnen. Es war faszinierend, wie sich das Aussehen der Klienten veränderte, wenn sich ihr Selbstbild veränderte. Computerprogrammierer wurden Slalomfahrer und Skihasen wurden Richter. In ihren wildesten Träumen hätte sie nicht darauf getippt, daß Chip einen Burger King eröffnen würde. Aber es war nicht ihre Aufgabe, die Transformationen zu beurteilen, sondern nur, ihren Klienten zu helfen, die Ziele, die sie sich setzten, zu erreichen, wie bizarr sie auch waren.

«Ich weiß nicht, Hannah. Ich weiß, es ist Zeit aufzuhören. Aber ich, Mensch, ich kann nicht.» Er sank in die Couch zurück.

«Natürlich können Sie, Chip», sagte sie und bekämpfte ihre Ungeduld. Sie fühlte sich wie eine Sportlehrerin, die einen verängstigten Knaben vom Sprungbrett schiebt. Chip schien ihre Begeisterung angesichts seiner Weggehversuche zu beunruhigen. Er war daran gewöhnt, daß sich weibliche Wesen an ihn klammerten, wenn er sich anschickte, dem wilden amerikanischen Hamburger-Traum zu folgen, und er begriff nicht, daß ihr Erfolg als Therapeutin davon abhing, daß sie sich selbst um die Arbeit brachte.

Während Chip in ausweglosem Schweigen dasaß und über sein bartloses Kinn strich, dachte Hannah darüber nach, wie chaotisch die Beendigung einer Therapie normalerweise verlief. Ein so entschieden klingendes Wort für eine derart nebulöse Reihe von Ereignissen. Manche Klienten fingen Streit an, so daß sie weggehen konnten, ohne sie zu vermissen. Andere schwanden dahin, verpaßten Termine und erschienen schließlich gar nicht mehr. Manche erwarteten, daß sie ein großes Finale orchestrierte, wie die ‹Ode an die Freude308in Beethovens Neunter. Andere brachten Sekt und Pralinen mit. Manche umgingen das ganze Problem, indem sie jahrelang herumhingen und die Sitzungen als wöchentliche Aufmunterungsveranstaltung für ihren Status quo gebrauchten, bis sie genug bekam und sie zur Tür geleitete. Manche gingen weg, nur um immer wiederzukommen. Einige wenige setzten sich mit ihrer Methode des Abschiednehmens auseinander, sahen, daß ihr Verhalten auch für andere Gebiete in ihrem Leben zutraf, und lernten etwas.

Aber welchen Stil ihre Klienten auch hatten, sie selbst konnte nur durch Distanzierung überleben. Jeder Klient konnte jederzeit für immer weggehen. Die paar Male, bei denen es mit ihrer Distanzierung nicht funktioniert hatte, vermißte sie die Klienten und machte sich Gedanken, was sie wohl getan hatte, um sie zu vertreiben. Sie übte diesen Beruf zum Teil wahrscheinlich darum aus, weil sie ihre Fähigkeiten nicht verlieren wollte, die sie entwickelt hatte, um mit dem Tod all der Verstorbenen, die ihr lieb gewesen waren, fertig zu werden. Ihr Sprechzimmer war ein Zeitraffermodell der Welt: Menschen strömten hindurch, und sie mußte tieferen Verbindungen mit ihnen widerstehen – oder Qualen erleiden, wenn sie aufbrachen, was sie ja normalerweise tun mußten. Jeden Tag spürte sie die Anziehungskraft ihrer Klienten, und jeden Tag mußte sie sich von ihnen lossagen.

«Kommen Sie mal vorbei, und ich lade Sie zu einem Whopper ein», sagte Chip, der nun endlich aufstand und zur Tür ging.

«Das kann durchaus sein.» Hannah stand auf.

Chip blieb an der Tür stehen, ohne Hannah anzuschauen. «Danke, Hannah. Sie haben mir das Leben gerettet.»

«Nein. Sie haben sich das Leben gerettet.»

Chip lächelte und zuckte mit den Schultern. Als er hinausging, schloß Hannah die Tür fest hinter ihm. Sie dachte, wenn sie Leben retten könnte, dann hätte sie als erstes Monas und Nigels Leben gerettet.

Sie begegnete Klienten überall in der Stadt. Manche begrüßten sie herzlich. Andere nickten und gingen schnell weiter. Andere redeten von ihr als «Freundin». Aber in ihren eigenen Augen waren sie das ganz selten, und es stimmte sie traurig für die Klienten, wenn Therapie das war, was sie Freundschaft nannten – eine einseitige Unterhaltung, bei der sie im Zentrum standen.

 

309

«Erzähl mir was Lustiges», forderte Hannah Harriet Sullivan bei einem Meeresfrüchte-Salat in Dooley's Restaurant auf.

«Du siehst aus, als hättest du das nötig. Was ist los?»

Harriet, mit ihrer silbernen Marie-Antoinette-Frisur, trug alles Ton in Ton. Hannah, die immer anzog, was morgens zuoberst auf dem Wäschestapel lag, kam sich wie eine Schlampe vor. «Ich hatte mitten in der Nacht einen Notruf, und ich bin heute ein Monster. Ich habe es Arthur beim Frühstück spüren lassen.»

«Allen mag es auch beim Frühstück», sagte Harriet, ihre Gabel anmutig zwischen den Fingern mit den langen, violetten Nägeln. «Und beim Mittagessen und beim Abendessen. Seit er im Ruhestand ist, mag er es, wann er es nur kriegen kann. Es ist ermüdend. Ich sage ihm immer wieder, er solle sich ein Hobby suchen.»

Hannah lächelte. «Es sieht so aus, als seist du das Hobby, meine Liebe.»

«Und was war mit Arthur?» Harriet tupfte ihre violetten Lippen mit der Serviette ab.

«Er ist losgegangen und hat einen Golfwagen gekauft. Um deinen Mann und sich selbst stilgemäß über den Golfplatz zu kutschieren. Aber wir haben noch Steuerschulden. Er ist manchmal so unpraktisch, daß ich schreien könnte.»

«Nicht hier, Liebling.»

«Ich habe für heute schon genug geschrien.»

«Armes Ding. Aber irgendwie kann ich mir dich nicht schreiend vorstellen.»

«Ich habe nicht richtig geschrien. Ich habe mich laut beschwert. Der Scheißkerl saß einfach nur da, mit diesem süßen, langmütigen Gesichtsausdruck. Also habe ich jetzt natürlich Schuldgefühle. Ich wollte, er würde wenigstens einmal zurückbrüllen.» Hannah legte die Gabel weg, schob ihren Stuhl zurück und zündete sich eine braune Zigarette an.

«Sie fühlen sich anscheinend all diesen chaotischen weiblichen Emotionen wirklich überlegen. Aber kannst du dir die Wirkung vorstellen, wenn Arthur nach all den Jahren tatsächlich zurückbrüllen würde?»

Hannah hielt ihr Feuerzeug an Harriets Virginia Slim und fragte sich dabei, wie Harriet mit so vielen großen Ringen an den Fingern ihre Hand zum Mund führen konnte. «Ich würde wahrscheinlich zusammenbrechen.»

310

«Schieb's auf den Frühling», sagte Harriet und wandte den Kopf ab, um Hannah nicht den Rauch ins Gesicht zu blasen.

«Du hast vermutlich recht. Meine Klienten springen über Tische und Bänke. Alle streiten sich entweder, oder sie verlieben sich wie Schafe in der Brunstzeit.»

«Was mich betrifft», sagte Harriet, ich werde mir jetzt gleich einen teuren neuen Hosenanzug kaufen.» Sie legte die Zigarette an den Aschenbecherrand und trank einen Schluck Kaffee.

«Du solltest dich mit Arthur zusammentun. Du könntest in deinem teuren neuen Hosenanzug mit seinem teuren neuen Golfwagen herumfahren.»

«Schöner als Steuerzahlen.»

«Aber auch schöner als Gefängnis? Ich habe noch nie verstanden, warum es euch in bessere Laune versetzt, wenn ihr euch etwas kauft. Für mich ist das jedesmal nur noch etwas, worum man sich kümmern muß.»

«Gib's zu, liebe Hannah, du bist keine Konsumentin.»

Hannah blies den Rauch aus und merkte, daß das stimme. Heute wollte sie nur eines von der Welt: nichts wie weg.

Bei Cheever's in der Einkaufspassage saß Hannah in einem grünen Samtsessel und wartete auf Harriet, die gerade einen hübschen graugrünen Hosenanzug aus Seide anprobierte. Sie blickte um sich: all diese Sachen, die sie nicht kaufen wollte. Da bemerkte sie einen dreieckigen Wollschal, der über einem Blusenständer an der Wand hing. Streifen in Orange-, Rot- und Lilatönen gingen ineinander über, wie bei einem Wintersonnenuntergang über Lake Glass. Sie schaute sich im Geschäft um. Ein zweiter Schal, Weiß-, Grau- und Blauschattierungen, hing an der gegenüberliegenden Wand. Sie betrachtete den Schal: Er erinnerte sie an einen kalten Wintermorgen am See. Sie schaute zwischen den Schals hin und her und erwog die Möglichkeit, einen zu kaufen und ihn in ihrem Sprechzimmer aufzuhängen, an der Wand über der Couch. Oder ihn im Winter zu tragen, wenn sie zu ihrer fliegenden Hitze nur noch einen Schal brauchte. Vielleicht war an Harriets Einkaufstherapie doch etwas dran?

Sie ging zu dem Sonnenuntergangsschal hinüber, nahm ein Ende zwischen die Finger und rieb es mit dem Daumen. Sie verstand nichts von Weberei, aber ihrer Meinung nach war der Schal gut gemacht. Als sie das Schild anschaute, las sie: «Handgewoben am 311Webstuhl von Caroline Kelley.» Hannah ließ das Ende des Schals gegen die Wand fallen.

«Das ist hübsch, nicht wahr?» sagte die lauernde Verkäuferin. Hannah nickte. «Caroline Kelley ist sehr talentiert», fügte die Frau hinzu, die grüne Nylonstrümpfe trug. «Wir führen ihre Arbeiten seit Jahren. Ihre Sachen sind sehr beliebt. Diese Schals sind etwas ganz Neues für sie. Sie macht normalerweise Tischsets und Tischdecken. Würden Sie gerne ein paar sehen?»

Du lieber Gott, dachte Hannah, während sie einen Stapel Tischsets durchsah. Caroline war begabt. Was konnte sie wohl sonst noch alles, wovon Hannah keine Ahnung hatte? Wie hatte sie solche Schwierigkeiten mit ihrem Selbstwertgefühl bekommen? Wie hatte sie es fertiggebracht, ihre Weberei während all der Monate in der Therapie nie zu erwähnen?

Kopfschüttelnd setzte sich Hannah hin und studierte erneut den Sonnenuntergangsschal. Die grauen und braunen Sets waren hübsch, aber dieser Schal war atemberaubend. Sie hätte ihn vielleicht gekauft, wenn nicht Caroline ihn gewoben hätte. Sollte sie ihn trotzdem kaufen? Und ob sie ihn kaufte oder nicht – sollte sie Caroline gegenüber ihre Reaktion erwähnen? Jetzt oder später? Was würde das für Carolines Therapie bedeuten? Was bedeutete es, daß sie in den letzten Monaten von Sets auf Schals übergegangen war?

Hannah ging nicht zu Ausstellungen von Klienten, die Maler oder Bildhauer waren, sie las die Bücher der Schriftsteller nicht, sie ging nicht zu den Aufführungen der Schauspieler und Tänzer, weil das ihren klaren Blick verwischte. Sie wollte, daß sie direkt zu ihr sprachen, nicht durch ihre Produktionen. Und sie wollten sowieso normalerweise für das, was sie waren, anerkannt werden, und nicht für das, was sie taten. War das der Grund, weshalb Caroline ihre Weberei nie erwähnt hatte? Aber nachdem sie jetzt die Schals entdeckt hatte, konnte Hannah nicht mehr so tun, als hätte sie sie nicht gesehen. Und Caroline war ihr erster Termin nach der Mittagspause.

Sie stützte den Ellbogen auf die Armlehne, die Stirn in der Hand. Das Leben war ihr heute einfach zu viel. Harriet erschien in dem grünen Seidenanzug. «Kauf ihn», sagte Hannah mit einer abschließenden Geste. Sie spürte, wie die fliegende Hitze sie überkam. Ihre Kehle begann sich zusammenzuziehen.

312

«Ist alles in Ordnung?» fragte Harriet und hielt mit ihrem Posieren vor dem großen Spiegel inne. «Du siehst erhitzt aus.»

«Fliegende Hitze», brummelte Hannah. Die Wände fingen an, auf sie einzustürzen.

«Komm hierher zum Fenster.» Harriet nahm sie beim Arm.

«Ich muß hier raus. Ich warte im Auto auf dich. Mach dir keine Sorgen. Es geht mir gleich besser. Das ist erst mein zwölfter Anfall diese Woche.»

Als sie sich gegen ihren Mercury lehnte und darauf wartete, daß die fliegende Hitze nachließ, empfand sie eine grimmige Belustigung. Dieser Körper und seine Ansprüche hatten ihr Leben so sehr bestimmt. Aber sein Benehmen während der Wechseljahre hatte sie gezwungen, wahrzunehmen, daß sie und er nicht identisch waren. Ihr Körper war ein Gebilde aus Fleisch und Blut, mit seinem eigenen Zeitplan und seinen eigenen Zyklen, und er schleppte sich langsam aber sicher seiner Auflösung entgegen. Sie selbst war etwas völlig anderes. Aber sie war sich nicht sicher, was.

 

Caroline setzte sich auf die Couch, dankbar, Hannah noch hier vorzufinden, auf ihrem Stuhl sitzend und rauchend, die bloßen Füße auf dem Fußschemel. Sie war offensichtlich nicht weggezogen und hatte auch nicht ihre Arbeit aufgegeben, als sie hörte, daß sie für Caroline wichtig war. Caroline wollte darauf achten, daß ihr nicht noch einmal so ein Geständnis über die Lippen kam. Sie konnte es sich nicht leisten, Hannah zu vertreiben. Hannah war alles, was sie noch hatte.

Hannah betrachtete Caroline, die so still dasaß wie eine Gottesanbeterin, die versucht, wie ein Zweig zu wirken. Was jetzt, fragte sie sich, unfähig, sich daran zu erinnern, was letzte Woche vor sich gegangen war. In solchen Augenblicken hatte sie den Verdacht, daß es ein Fehler war, sich keine Notizen zu machen. Sie schloß die Augen und versuchte, sich ihre letzte Sitzung ins Gedächtnis zu rufen. Ihr Gedächtnis ließ offensichtlich nach. Frühzeitige Vergreisung. Wenn sie Caroline zum Reden bringen konnte, würde sie vielleicht ein paar Fingerzeige bekommen.

«Wie war Ihre Woche?» fragte Hannah.

«Gut, danke. Wie war Ihre?»

«Nicht schlecht, danke.» Carolines «Gut, danke» konnte alles 313mögliche heißen. Offensichtlich gab sie keine Hinweise. «Worüber sollen wir reden?»

«Es ist mir gleichgültig», sagte Caroline. Es war besser, überhaupt nicht zu reden. Auf diese Weise konnten ihr keine schädlichen Wörter entschlüpfen. Vor allem war es wichtig, Hannah nichts von ihrem Streit mit Diana zu erzählen. Wenn Hannah wußte, daß Caroline außer ihr niemanden mehr hatte, würde sie sich überfordert fühlen und sich zurückziehen.

Wenn es dir gleichgültig ist, dann ist es mir das schon lange, dachte Hannah. Sie war von sich selbst angewidert, daß sie auch nur eine Minute darauf verschwendet hatte, zu Arthur unfreundlich zu sein. Man dachte, man habe endlos viel Zeit mit jemandem, und im nächsten Augenblick waren sie für immer fort. Wie Nigel und Mona. Sie und Arthur hatten noch ein gemeinsames Jahrzehnt vor sich, wenn sie Glück hatten, und da kam sie daher und nannte ihn gedankenlos, egoistisch, einen Verschwender. Gott weiß was sonst noch alles, wenn sie einmal in Fahrt kam. Aber er war der großzügigste Mensch, den sie je kennengelernt hatte: Er hatte sein ganzes bisheriges Leben aufgegeben, um mit ihr zusammenzusein.

Caroline sah sie unsicher an. Verdammt noch mal, dachte Hannah, warum muß ich für diese Leute bloß dauernd so ruhig und gelassen sein? Sie erwarteten, daß Hannah den Felsen von Gibraltar spielte, damit sie der traurigtrübe Sumpf sein konnten. Sollten sie sich doch in drei Teufels Namen um sich selber kümmern. Wer kümmert sich um mich? Selbst der Heilige Arthur machte Schulden, die sie abbezahlen mußte.

Sie bremste sich, weil sie merkte, daß es lächerlich war. Das hier war ihr Job. Sie verdiente damit ihren Lebensunterhalt. Sie machte ihren Job gut, und normalerweise machte er ihr Spaß. Aber wenn sie erschöpft war, verfiel sie manchmal in die Märtyrerrolle.

Sie probierte noch ein paar Eröffnungsphrasen aus, auf die Caroline nicht ansprang. Es kam ihr vor wie eine dieser Sitzungen, die nirgendwohin führten, wie das Totenschiff des fliegenden Holländers. Sollte sie die Schals erwähnen? Sie war nicht imstande gewesen, sich zu entscheiden, konnte sich kaum entscheiden, in welcher Parklücke sie nach dem Mittagessen ihr Auto abstellen sollte. Ihr Urteilsvermögen war heute gleich Null. Es war wahrscheinlich besser, nicht irgend etwas Besonderes auszuprobieren. «Wenn es nichts Dringendes gibt, Caroline, glauben Sie dann, wir 314könnten vielleicht früher Schluß machen? Ich war die ganze Nacht auf, und ich bin nicht sehr gut in Form.» Es war gut für Caroline herauszufinden, daß die Naturgesetze auch für Autoritätsfiguren galten. Sie würde alle Termine für heute nachmittag absagen und nach Hause gehen. Sie war in diesem Zustand sowieso zu nichts zu gebrauchen.

Caroline schaute sie an und sagte nichts. Ihr Gesicht war zur Maske erstarrt.

Scheiße, dachte Hannah, die sich danach sehnte, sich bei Arthur zu entschuldigen, am Kamin einen Martini zu trinken und Arthur ins Bett zu zerren. Aber Caroline flüchtete sich in ihren abgegriffenen alten Babyhüpfschaukeltrick: dumpfes Sich-Zurückziehen.

«Klar. Gut.» Caroline spürte, wie der Globus unter ihren Füßen schwankte. Ihre Einschätzung war richtig gewesen. Du konntest nicht herumlaufen und den Leuten sagen, daß sie dir wichtig waren. Das vertrieb sie.

«Es sieht nicht so aus, als fänden Sie es gut», seufzte Hannah. «Was ist los?»

«Nichts ist los.» Brian war weg. Diana war weg. Hannah war weg. Niemand blieb übrig.

Hannah betrachtete sie und bemühte sich, ihre eigene Erschöpfung und ihren Ärger beiseite zu schieben. «Was geht in Ihnen vor, Caroline? Ihr Gesicht ist völlig ausdruckslos. Sagen Sie mir, was los ist. Ich kann nicht Gedanken lesen. Ich kann es nicht wissen, wenn Sie es mir nicht sagen.»

Caroline spürte, wie ihr ausdrucksloses Gesicht sich angsterfüllt zerknitterte, wie ein eingedrückter Kotflügel. Keiner ihrer alten Tricks funktionierte bei Hannah. «Ich habe das Gefühl, als würden Sie mich hinauswerfen.» Halt den Mund, fuhr sie sich selbst an. Stelle keine Forderungen, beschwere dich nicht. Sei still und ruhig und brav. Dann läßt sie dich hierbleiben.

«Ich schwöre Ihnen, das war nicht meine Absicht, Caroline.» Jedes Kind war durch diese Phase gegangen und hatte herumgejammert, sie liebe es nicht. Sie hatte es mit Arthur und Maggie durchgemacht. Einmal schrie sie Nigel an: «In Gottes Namen, was willst du denn von mir, du kleines Biest? Ich widme dir schließlich nur mein ganzes Leben!» Er stand einfach nur da, starrte sie an und nuckelte an seiner zerbeulten rosaroten Flasche. Einer der Augenblicke, auf die sie alles andere als stolz war, und jetzt gab es keine 315Möglichkeit, es an ihm wiedergutzumachen. Sie hätte wahrscheinlich den Schal kaufen und an die Wand hängen sollen. Dann wüßte Caroline, daß Hannah viel von ihr hielt – außer an Tagen wie heute, an denen sie von niemandem viel hielt, am allerwenigsten von sich selbst.

«Warum in aller Welt denken Sie, ich würde Sie hinauswerfen?» fragte Hannah und versuchte zu lächeln.

Caroline holte zitternd Luft. Sie konnte es ihr jetzt ja auch erzählen. Das Schlimmste war schon passiert. Mit bebender Stimme sagte sie: «Ich habe Ihnen letzte Woche gesagt, Sie seien wichtig für mich, und diese Woche sind Sie nicht einmal richtig hier. Und jetzt werfen Sie mich hinaus. Ich nehme an, ich habe Sie vertrieben.» Sie wandte den Blick von Hannah ab und schaute auf das abstrakte Foto über dem Bücherregal. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte sie, die Jungfrau Maria ausfindig zu machen. Aber sie sah nur bedeutungslose schwarze und weiße Flecken.

Hannah seufzte erleichtert auf, weil sie endlich verstand, was vor sich ging. Sie hatte diesen Austausch von letzter Woche ganz vergessen. «Bitte, glauben Sie mir, daß ich Sie nicht hinauswerfe, Caroline. Sie haben völlig recht, wenn Sie sagen, ich sei heute nachmittag nicht ganz hier. Ich habe eine anstrengende Woche hinter mir, viele Notrufe. Heute morgen hatten Arthur und ich eine Auseinandersetzung. Ich habe den ganzen Morgen über unter fliegender Hitze gelitten. Es hat überhaupt nichts mit Ihnen zu tun.»

Caroline schaute sie an und wollte ihr gerne glauben. Hannah hatte wirklich dunkle Ringe unter den Augen.

«Ist Ihnen klar, daß ich das Gefühl hatte, Sie seien nicht richtig da? Sie wollten anscheinend nicht reden. Und Sie sitzen so steif und still da wie eine Statue. Warum sitzen Sie so da?»

Caroline hörte sich zu ihrer Überraschung sagen: «Ich warte darauf, daß das Beil fällt.»

Hannah lachte kurz auf. «Welche Farbe hat das Beil?»

Carolines finstere Miene verwandelte sich, als sie sich mit der Frage zu beschäftigen begann, ob es Beile in verschiedenen Farben gab.

«Ich gehe nirgendwohin, Caroline. Sie müssen diesmal weggehen. Dafür bin ich hier – daß man von mir weggeht.» Ihr fiel ein, daß das der ganze Inhalt des Lebens war – zu lernen, davon wegzugehen. Meine Güte, welch düstere Gedanken der Frühling 316mit sich bringt, dachte sie. Sie schaute aus dem Fenster, auf das tauende Eis auf Lake Glass, und fühlte sich erschöpft, eine weitere mühselige Runde neuen Lebens mitmachen zu müssen.

«Warum sollte ich weggehen wollen?»

«Sehen Sie nicht, wenn Sie aus eigenem Antrieb die Entscheidung treffen wegzugehen, dann durchbrechen Sie Ihr Verhaltensmuster, so lange abzuwarten, bis Sie sich zurückgewiesen fühlen?» Es stimmte, Caroline hatte Brian Stone verlassen. Aber sie hatte sich nie so ganz auf ihn eingelassen. Sie mußte sich von einer Person lossagen, die ihr so teuer war wie ihr eigenes Leben – und dadurch sich selber finden. Wie Hannah es gezwungenermaßen immer wieder getan hatte. Sie war aus Versehen mit sich selbst bekannt geworden. In verschiedenen Situationen war sonst niemand dagewesen.

Caroline sah verwirrt aus. Hannah merkte, daß sie zu schnell vorging. Darüber zu reden, daß irgend jemand weggehen würde, ängstigte sie. «Wie haben in der Vergangenheit die Leute darauf reagiert, wenn Sie ihnen sagten, daß Sie sie mögen?»

Caroline konnte den Mund nicht aufmachen. Sie war zu sehr mit der Farbe der Beile beschäftigt.

«Können Sie bis nächste Woche bitte darüber nachdenken?»

Caroline nickte.

«Und können wir für heute bitte Schluß machen? Ich bin ein Wrack.»

Caroline nickte wieder, mit verwirrtem Gesichtsausdruck, ein Schimmer von Verständnis am Rande.

Während Hannah ihre Zigarette zu Ende rauchte und Energie zum Heimfahren sammelte, fand sie heraus, warum alte Frauen in anderen Kulturen als weise angesehen wurden: weil sie es waren. Sie hatte gerade gemerkt, daß sie sich heute so mies fühlte, weil es Zeit für ihre Periode war. Ihre Hormone hatten nach mehreren Jahren immer noch nicht kapiert, daß sie keine Periode mehr bekam. Sie tanzten weiterhin ihre monatliche Polka im Salon der Emotionen. Sie sollte wirklich zur Ärztin gehen. Aber eines konnte eine Frau aus dieser ganzen Quälerei lernen: ihre Emotionen nicht zu ernst zu nehmen. Daher die Weisheit. Sie hoffte nur, daß sie zunächst einmal die Wechseljahre überlebte.

Jonathan erschien in der Tür, sein Gesicht war erhitzt und angespannt, sein tadelloser grauer Afro unordentlich und zerzaust. «Ich fürchte, ich habe schlechte Nachrichten.»

317

«Das gehört zur Jahreszeit», sagte Hannah und drückte ihre Zigarette in Nigels Stein aus.

«Mary Beth hat sich umgebracht.»

Hannah starrte ihn an.

«Sie haben sie vor ein paar Stunden in ihrer Wohnung gefunden. Mit einer Rasierklinge in der Badewanne.»

Hannah senkte den Blick und sagte nichts.

«Ich nehme an, es war nur eine Frage der Zeit. Sie hat es vorher schon zweimal versucht.»

«Gott, ein perfektes Ende für eine perfekte Woche. Setz dich, Jonathan. Du siehst mitgenommen aus.» Sie sah Mary Beth mit ihrem angestrengten Lächeln vor sich, wie sie nervös an ihrer Frisur herumfingerte, in ihren Rotkäppchenkleidern. Eine Rasierklinge? Was für ein wüster Tod für ein so ordentliches Wesen. Sie stellte sich ihren blassen, knochigen Körper vor, in der Badewanne ausgestreckt, blutverschmiert.

«Ich habe mehrere Male gehört, wie sie ihre Klienten anschrie», sagte Hannah kopfschüttelnd. «Ich hätte etwas unternehmen sollen. Oder zumindest merken müssen, daß sie am Durchdrehen war.» Sie hatte sich über Mary Beths «Novizinnen-Nerven» aufgeregt. Sie war beschämt.

«Das ist Quatsch, meine Liebe, und du weißt das», sagte Jonathan, der sich auf der Couch ausgestreckt hatte. «Ihr Vater hat sie vergewaltigt, als sie drei war. Sie hatte alle möglichen Probleme, die mit dir überhaupt nichts zu tun hatten. Du warst nicht für sie verantwortlich.»

Hannah schenkte Jonathan einen dankbaren, einfältigen Blick. Die gleichen Worte, die sie immer ihren Klienten sagte. Normalerweise konnte sie diese Worte sich auch selber sagen, aber heute war eindeutig nicht ihr bester Tag. Sie dachte dauernd an Evakuierungshubschrauber vom Roten Kreuz, die auf Schlachtfeldern abstürzten. So wie sie sich heute fühlte, hatte Mary Beths Lösung der Probleme des Lebens eine nicht zu leugnende Anziehungskraft. «Wahrscheinlich hat die Tatsache, daß sie ihre Klienten angeschrien hat, sie überhaupt so lange am Leben erhalten», sagte Hannah.

«Wahrscheinlich.» Jonathan stand müde auf. «Ich gehe besser und verbreite die fröhliche Botschaft.»

Hannah war erschüttert. Es war gefährlich, dieses Herumforschen in den Höhlen der Psyche. Sie zündete sich eine weitere 318Zigarette an und überlegte, was wohl ihre eigenen verleugneten Eigenschaften waren und ob sie diese auf ähnliche Weise ihren Klienten unterschob. Wenn sie das tatsächlich machte, dann wäre sie die letzte hier, die es erfahren würde, weil das in der Natur der Abspaltung lag.

Ach, halt doch den Mund, fuhr sie sich an. Du müßtest doch erkennen, ob du dich abspaltest, und zwar an der Intensität, die du für die Situation eines Klienten aufbringst. Immer wenn du ungewöhnlich viel Wut empfunden hast oder ungewöhnlich viel Unterstützung geben wolltest, konntest du sicher sein, daß du ein persönliches Interesse hattest. Und dann solltest du das lieber mal ans Tageslicht holen und es dir anschauen, sonst legst du dich noch zu Mary Beth in die Badewanne.

Mit einem Seufzer atmete sie den Rauch aus und dachte über ihren Anfall von Märtyrertum während Carolines Sitzung nach. Was für eine unattraktive Haltung, und sie hatte sie schon früher an sich beobachtet. Aber warum kam es gerade zu diesem Zeitpunkt auf? Sie war erschöpft, das war Grund genug. Aber sie war den ganzen Morgen erschöpft gewesen. War Caroline daran gewöhnt, bei Leuten Ärger auszulösen, wenn sie Unterstützung wollte? Oder wollte sie wirklich beruhigende Unterstützung? Vielleicht wollte sie das, was sie bekommen hatte: Spielraum. Hannah erinnerte sich plötzlich daran, daß sie ihr letzte Woche gesagt hatte, sie sei ihr auch wichtig: Sie haben recht. Ich mag Sie am liebsten. Offensichtlich hatte Caroline das nicht aufgenommen. Caroline sagte, sie habe Angst, daß sie Hannah vertrieben habe. Hatte ihr herzlicher Austausch Caroline vertrieben? Aber vielleicht hatte er Hannah angst gemacht. Warum war er ihr bis jetzt nicht wieder in den Sinn gekommen? Sie wußte, sie war damals schon nicht allzu begeistert darüber gewesen, daß sie das gesagt hatte. Sie wurde nicht dafür bezahlt, ihre Klienten gerne zu mögen, sie wurde dafür bezahlt, ihnen den Kopf zurechtzurücken. War etwas Wahres an dieser Bemerkung, oder war es nur das, was Caroline in jenem Augenblick hören mußte? Ach, Scheiße. Es war zu verwirrend nach einem Streit, einer schlaflosen Nacht, Anfällen von fliegender Hitze und einem Selbstmord.

 

«Es tut mir leid», sagte sie zu Arthur, als sie ins Wohnzimmer kam. Arthur stand auf dem Teppich und schlug gerade einen Golfball in das Plastikloch.

319

«Was?» Er blickte auf, mit gebeugten Knien.

«Daß ich dich heute morgen einen Verschwender genannt habe.» Sie plumpste auf das Sofa.

«Ich bin wahrscheinlich einer.»

«Ja, vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wer weiß? Wen interessiert es? Aber es tut mir leid, daß ich mich deswegen wie eine wildgewordene Furie aufgeführt habe.»

«Du bist keine Furie.» Er kam zum Sofa und lehnte seinen Golfschläger gegen das Tischchen.

«Lügner.»

Er lächelte.

«Wenn du nicht so verdammt nachsichtig wärst, könnten wir uns richtig versöhnen.»

«Seit wann brauchen wir dafür eine Ausrede?» sagte er und nahm sie bei der Hand.

Als sie durch das Wohnzimmer zur Treppe schlenderten, die Arme umeinander gelegt, sah Hannah Mary Beth in ihrer blutigen Badewanne vor sich. Sie würde es Arthur später erzählen. In der Zwischenzeit – sie hatte schon immer am besten in der Horizontalen getrauert.

3

Mit einem Pappbecher Rum-Cola in der Hand saß Caroline auf der glatten roten Plastikbank und schaute zu, wie Brenda in ihrem orangefarbenen Lake Glass-Hundezwinger-Hemd den Arm beugte, der die Bowlingkugel hielt. Lucille erzählte Barb gerade von ihren Trizepsvergrößerungsübungen, die sie bei Gloria Stevens mit Fünf-Pfund-Gewichten machte, um die Unterseite ihrer Oberarme zu kräftigen. «Man sollte doch annehmen, daß es reicht, den ganzen Tag über Patienten auf Tragbahren zu heben und sie wieder herunterzuholen», sagte Lucille und fingerte an ihren Korkenzieherlocken herum. «Aber du kannst selbst sehen, daß das nicht stimmt.» Sie kniff in das blasse, schlaffe Gewebe an ihrem Unterarm.

Caroline kaute an einem Doughnut mit Puderzucker und dachte 320bekümmert darüber nach, was passierte, wenn sie den Leuten sagte, daß sie ihr wichtig waren. Marsha war von einem Lastwagen überfahren worden. Sie hatte versucht, es ihren Eltern mit Hilfe von Geschenken zu zeigen. Aber ihr Vater ließ sich immer in den Geschäften das Geld dafür wiedergeben, und ihre Mutter tauschte die Geschenke um. Jahrelang hatte sie Howard und Tommy gewickelt und ihnen die Tränen getrocknet. Aber jetzt zählten sie auf, wie oft Caroline sie gezwungen hatte, die Kannibalen zu spielen, während sie die Missionsärztin war; wie oft sie Howards Teddy gelyncht und die Luft aus ihren Fahrradreifen herausgelassen hatte. Als sie Arlene zum Abendessen einlud, hatte Arlene gesagt, sie solle verschwinden. Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben.

Brenda setzte sich hin, begeistert über ihren fünften Volltreffer. «He, wie kommt es eigentlich, daß Dr. Stone dauernd bei deinem Schreibtisch herumhängt?» Sie stieß Caroline leicht in den Arm.

«Das macht er nicht mehr.» Caroline staubte den Puderzucker von ihrem orangefarbenen Teamhemd. Brian hatte eine neue Freundin, eine Krankenschwester namens Audrey mit schwarzen Locken. Sie saßen beim Mittagessen und während der Kaffeepausen eng beieinander in der Cafeteria. Zweifellos tischte Brian ihr seine Geschichten über Irenes Abgang auf. Caroline empfand grimmige Belustigung darüber, daß er sich viel schneller von ihr erholt hatte als sie sich von ihm. Offensichtlich graute es Brian, wie der Natur, vor dem Vakuum. Und jede beliebige Frau konnte es füllen.

Brenda schaute sie an. «Warum hat er es denn gemacht?»

«Wir sind ein paarmal miteinander ausgegangen.»

«Du und Dr. Stone?»

Caroline lächelte. «Ich hatte letzten Monat einen kurzen Anfall von Respektabilität, aber ich habe mich wieder erholt.»

«Du und Dr. Stone?»

«Diana und ich haben Schwierigkeiten.»

«Ich habe gemerkt, daß sie viel Zeit mit diesem neuen Mädchen von der Kinderstation verbringt.»

«Mädchen stimmt genau.» Caroline stand auf und ging zur Rücklaufbahn hinüber.

Als sie das entfernte Kegeldreieck betrachtete und über die geringe Wahrscheinlichkeit spekulierte, die Kugel in einer geraden Linie dorthin zu befördern, fiel ihr ein, wie sie Jackson das erste Mal gesagt hatte, daß sie ihn liebe. Im Wohnzimmer seines Back-Bay-Apartments, 321bei ihrem allerersten Streit über die Frage, ob man die Cellophanschicht auf Schallplattenhüllen lassen solle. Sie hatte ihm vorgeworfen, er verbiege das Beatles-Album, das sie ihm zum Geburtstag geschenkt hatte.

«Also gut, wenn ich so dumm bin», sagte er, «warum bist du dann noch hier?»

Caroline merkte, daß es ihr gleichgültig war, ob die Schallplatten verbogen wurden. Sie sagte: «Weil ich dich liebe.»

Er wurde rot. Er strich sich mit einer Hand die dunklen Haare aus der Stirn und lachte hart. Er blickte sich im Zimmer um wie ein gefangener Vogel, der nach einem offenen Fenster sucht. «Du liebst mich? Wie meinst du das? Du mußt mir deine Begriffe erklären.»

«Ich weiß nicht, wie ich es meine. Vergiß es. Es tut mir leid. Ich habe den Kopf verloren.»

«Ich habe nur gefragt, was du damit meinst. Wir meinen vielleicht verschiedene Sachen. Du willst vielleicht mehr Engagement, als ich zu geben bereit bin.»

«Ich meine überhaupt nichts. Es ist mir nur so herausgefahren.»

«Genau das fällt mir immer bei dir auf, Caroline. Du bist so verdammt … intensiv, oder was.» Sein Piepser ging los, und er raste ins Krankenhaus, während sie sich Gedanken darüber machte, wie sie entspannter sein könnte. Wenn Jackson ihre Intensität nicht mochte, würde er sie verlassen. Also würde sie ihre Intensität ablegen. Sie würde still und ruhig und brav sein, versprach sie ihm schweigend, während sie reglos auf dem Teppich lag.

Caroline holte mit der Kugel aus, tat ein paar Schritte nach vorn, schlitterte bis zur Straflinie und ließ die Kugel mit einem Plumps los. Sie rollte in die Seitenrille und schaffte es kaum bis zum anderen Ende der Bahn. Sie sollte sich lieber auf das konzentrieren, was sie gerade machte. Im letzten Herbst war sie über diese Bowling-Idiotie verzweifelt gewesen. Jetzt fand sie die Idiotie unterhaltsan. Ein Fortschritt?

Nachdem sie bei ihrem nächsten Wurf sieben Kegel getroffen hatte, setzte sie sich hin, nahm sich einen Becher Rum mit Cola und dachte daran, wie sie David Michael das erste Mal gesagt hatte, sie liebe ihn. Seine Erektion war dahingeschmolzen wie ein Butterstengel bei Zimmertemperatur. Er rollte von ihr herunter und kehrte ihr seinen haarigen Rücken zu. Die amerikanischen Flagen bewegten sich unruhig in der Nachtluft, die durch den Fensterrahmen drang.

322

«Was ist los?» fragte Caroline.

«Herrgott, Caroline, das ist, wie wenn man jemandem ein Messer an die Kehle hält. Du sagst: ‹Ich liebe dich, David Michael.› Was kann ich darauf anderes sagen als: ‹Ich liebe dich auch, Caroline.› Und was ist, wenn ich dazu keine Lust habe?»

Caroline starrte in dem Licht, das von der Straße kam, auf seinen gekrümmten Rücken. «Dann sag es nicht.»

«Ja, ja, und dann regst du dich maßlos auf.»

«Du regst dich auf.» Sie streichelte seinen Rücken und überlegte, wie sie ihn dazu bringen könnte, zu Ende zu bringen, was er mit ihrem Körper begonnen hatte.

«Du hast mich dazu gebracht, daß ich mich aufrege.»

«Aber ich habe nur versucht, dir zu sagen, daß ich dich für einen tollen Menschen halte.»

«Wer hat dich denn gefragt?»

«Niemand.»

«Ich bin kein toller Mensch, und es kotzt mich an, das dauernd von dir zu hören.»

«Meinetwegen, dann bist du eben kein toller Mensch.» Sie würde sagen, was er hören wollte. Wenn sie das nicht tat, würde er weggehen.

«Ach ja? Warum nicht?» wollte er wissen. «Was stimmt mit mir nicht?»

«Dr. Stone, hm?» Brenda setzte sich und legte ihre kräftigen Arme auf die Rückenlehne der Bank. «Es kommt mir nicht so vor, als wärst du sein Typ.»

«War ich auch nicht.»

«Hast du seine Frau mal kennengelernt?»

«Irene? Nein. Du?»

«Ja. Sie ist überhaupt nicht wie du. Eine richtige Heulsuse. Ruft ihn während einer Schilddrüsenoperation an, weil sie ihr Scheckheft verloren hat. Solche Sachen. Das ging ihm runter wie Honig.»

Caroline schaute Brenda an. «Heulsuse» war eines der Wörter auf der Liste, die sie letzten Herbst für Hannah gemacht hatte. Aber Hannah sah sie nicht so, und Brenda offensichtlich auch nicht.

«Erzähl mir doch mal von dem Mädchen auf der Kinderstation», sagte Brenda.

«Suzanne Sanders heißt sie. Sie bringt Diana dauernd Kaffee und 323Erdnußtoffees. Und stellt ihr einfältige Fragen und tut beeindruckt, wenn Diana sie beantwortet.»

Brenda schüttelte den Kopf. «Bei solchen Sachen ist jede Konkurrenz unmöglich. Wir alle lieben Bewunderung.»

«Ich ging heute aufs Klo, und Suzanne stand gerade vor dem Spiegel und rückte ihre Schwesternhaube zurecht. Ich ging in eine Kabine, ohne etwas zu sagen. Und sie sagte: ‹Weißt du, Caroline, es wäre alles viel einfacher, wenn ich dich nicht leiden könnte. Aber es kommt mir so vor, als wärst du eine nette Frau.›»

Brenda zog eine Grimasse. «Und was hast du gesagt?»

«Ich habe gesagt: ‹Ich bin nett.›»

Brenda lachte. «Apropos Klo – würdest du mich kurz entschuldigen?»

Als sie aufstand, kam Caroline der Gedanke, daß von dem Zeitpunkt an, als sie und Diana ihre Liebe zugegeben hatten, ihr Zusammenleben ein Wettrüsten geworden war: Jede versuchte, stärkere Mittel zu finden, um ihre Hingabe auszudrücken. Seit der Unterhemd-Kapriole letzte Woche eskalierte das Wettrüsten wieder, weil sie versuchten, ihre Auseinandersetzung zu verkleistern wie Tapezierer, die klaffende Risse in einer Gipswand überdecken. Diana schickte ihr mit der Post eine sexy französische Postkarte in einem einfachen braunen Briefumschlag. Dann ließ Caroline einen Button auf Dianas Kommode, auf dem stand «Trust your lust». Dann stellte Diana ein Kilo Mokka-Eis in Carolines Gefrierfach. Dann hinterließ Caroline einen Strauß Margeriten in einer Vase auf Dianas Tisch.

Brenda plumpste auf die Plastikbank und wickelte ein Mars aus. Caroline schaute sie an und sagte: «Brenda, ich finde, du bist ein toller Mensch. Ich mag dich sehr.»

Brenda schaute auf ihr halb aufgegessenes Mars. Sie hob die Hand und berührte das «Plus que hier, moins que demain»-Medaillon an ihrem Hals. «Äh, ja, ich mag dich auch, Caroline.» Ihre Augen schossen unruhig durch die riesige Bowling-Allee. «Aber ich bin wirklich glücklich mit Barb.»

«Das meine ich auch nicht.»

«Ich bin dran an der Straflinie!» Brenda stand auf und raste zur Rücklaufbahn.

Warum habe ich das getan, fragte sich Caroline, wenn ich doch längst herausgefunden habe, daß es die Leute vertreibt? Wollte sie die Leute vertreiben? Aber warum?

324

Nach dem Bowling ging Caroline in die Einkaufspassage, um ihren Vorrat an kleinen Geschenken für Diana aufzustocken. Sie wanderte durch die hellerleuchteten Geschäfte und entschied sich für Seidenstrümpfe und das März-Heft von Penthouse. Bald war St. Patricks-Tag, der Tag des irischen Nationalheiligen, also kaufte sie grünen Lidschatten und eine witzige Karte. Im Weingeschäft kaufte sie eine Flasche Chartreuse. Während die Bedienung bei Baskin-Robbins, dem großen Eisgeschäft, das Pistazieneis in den Karton füllte, schlug Caroline das Penthouse-Heft in der Mitte auf, wo Miss März in schwarzen Strümpfen, hohen Absätzen und einem Spitzenstrumpfhalter dalag und onanierte. Im wirklichen Leben war sie Buchhalterin und schrieb ihren Erfolg ihrer umgänglichen Persönlichkeit zu. Neben Caroline stand ein Teenager, der einen breiten Ledergürtel mit einer Silberschnalle in der Form von New Hampshire trug, in die «Live Free or Die» eingraviert war. Er studierte ebenfalls Miss März und Carolines Interesse an ihr, also schlug sie die Zeitschrift wieder zu.

Als sie sich ihre Päckchen ansah, wurde Caroline plötzlich klar: Das ist keine Liebe, das ist eine Psychose. Sowohl sie als auch Diana litten wieder einmal an tödlicher Fürsorglichkeit. Sie würden einander zu Tode verwöhnen. Was sollte das alles? Haben Sie das Gefühl, daß Sie nette Sachen tun müssen, damit die anderen Sie lieben? Sie fühlten sich beide unfähig, jemandes Interesse wachzuhalten, ohne diese Person mit dem gesamten Inventar mehrerer kleiner Läden zu überschütten.

Sie drückte das Penthouse-Heft dem verblüfften Teenager in die Hand und ließ die Bedienung mit dem halbgefüllten Eiskarton stehen. Sie warf alle Päckchen in den Papierkorb auf dem Korridor, wie eine Alkoholikerin, die Schnaps in den Abfluß gießt. Wenn Diana sie nicht so wollte, wie sie war, ohne Hilfsmittel, dann zum Teufel damit.

Auf der Fahrt nach Hause fragte sie sich, ob überhaupt jemand sie wollte, wenn sie sich nicht mit Geschenken und guten Taten dekorierte. Etwas in ihr bestand darauf, das herauszufinden. Aber sie fühlte sich mit leeren Händen nackt und verängstigt.

Sie stellte sich Hannahs Gesicht vor. Aber es war angespannt und müde, so wie bei ihrer letzten Sitzung. Dafür bin ich hier – daß man von mir weggeht. Um Hannah eine Freude zu machen, mußte sie von ihr weggehen. Außerdem konnte sie sich ja nicht unbegrenzt an sie 325anlehnen. Sie würde sich anderswo anlehnen müssen. Aber wo? Brian war weg. Ohne Geschenke, die sie festhielten, würde Diana wahrscheinlich auch bald weg sein. Hannah würde weg sein.

Hektisch beschwor sie die wunderschönen Dschungelvögel und Blumen herauf. Das Wunder ist überall um Sie. Das seltsame Gefühl warmer Dankbarkeit überkam sie langsam, wie die Betäubung, die ihre Beine hinaufkroch, wenn sie zu viel trank. War es möglich, daß sie keinen anderen Menschen brauchte, um sich glücklich und geborgen zu fühlen? Daß der Inhalt ihres eigenen Kopfes, den niemand ihr wegnehmen konnte, genügte? Sicher nicht.

 

Caroline saß in ihrem Subaru und beobachtete, wie zwei Männer in rostbraunen Skipatrouille-Anoraks einen grauen Metallschreibtisch in einen kleinen Möbelwagen luden, der auf dem Parkplatz vor dem Therapiezentrum stand. Vielleicht wurde Hannah doch Grundstücksmaklerin. Vielleicht hatte sie letzte Woche gelogen, als sie gesagt hatte, Caroline sei es, die weggehen müsse. Aber sie würde doch sicher ihren Klienten vorher Bescheid geben? Carolines Magen fühlte sich gereizt an, wie an dem Morgen, als sie Hannahs Sprechzimmer umgestellt vorgefunden hatte. Hier sollte sich nichts verändern. Caroline war es, die sich veränderte.

«Was ist los?» fragte sie, als sie in Hannahs intaktes Büro kam.

«Was meinen Sie?» Hannah drehte sich mit ihrem Stuhl um und sah Caroline an, die nervös von einem Stiefel auf den andern trat.

«Wer zieht aus?»

«Oh. Die Frau im Büro nebenan hat sich umgebracht. Ihre Eltern räumen ihre Sachen aus.»

Caroline sank auf die Couch.

«Beunruhigt Sie das?» Es könnte Teil der großen Desillusionierung sein, Caroline wissen zu lassen, daß Therapeuten manchmal größere Probleme hatten als die Klienten. Hannah hatte einige von Mary Beths Klienten übernommen und versucht, sie davon abzuhalten, Mary Beths Beispiel nachzuahmen. «Dadurch werden meine ganzen Monate hier zu einem einzigen Witz», klagte eine Studentin, an deren Jeansjacke Buttons mit Aufschriften wie «Fuck Authority» und «Chaste Makes Waste» steckten. Aber wenn Mary Beth ihr geholfen hatte, was offensichtlich der Fall war, spielte es dann eine Rolle?

«Ich glaube schon.» Caroline rieb ihren Nasenrücken.

326

«Wissen Sie, warum?»

«Ich glaube, ich möchte, daß Sie hier alle alles im Griff haben. Oder irgend jemand.»

«Warum nicht Sie selbst?»

«Ich arbeite daran», sagte Caroline.

«Ja, das stimmt. Sie arbeiten sehr hart. Sie hören zu, und Sie hören richtig, und Sie wenden das an, was Sie hören. Es ist beeindruckend.»

«Danke», sagte Caroline und lächelte schwach. Sie überlegte sich, was für Wracks die anderen Klienten sein mußten, wenn sie trotz ihrer Angst, ihrer Wut und ihrer Sehnsucht beeindruckend war. Sie betrachtete das verdammte Foto über dem Bücherregal. Sie konnte die Jungfrau Maria einfach nicht finden. Vielleicht war es ein Trick, um die Ehrlichkeit der Klienten zu testen, wie des Kaisers neue Kleider.

«Worüber sollen wir heute reden?» Hannah legte die Füße auf den Schemel und machte es sich in ihrem Stuhl bequem.

«Ich würde gerne über Diana reden.»

Hannah verkniff sich eine Bemerkung über Carolines bisheriges Zögern, mit einer Heterosexuellen über Diana zu reden. Da Caroline sich selbst jetzt mehr akzeptierte, mußte sie vielleicht ihre Unfähigkeit, sich zu akzeptieren, nicht mehr anderen Leuten anhängen. «Was ist mit ihr?»

«Wir haben uns vor ein paar Wochen gestritten. Und wir haben solche Angst bekommen, einander zu verlieren, daß wir wieder angefangen haben, einander im Verwöhnen zu übertreffen. Gestern abend habe ich also in der Einkaufspassage Karten und Süßigkeiten und Zeugs gekauft, und plötzlich hatte ich die Nase voll. Ich dachte, verdammte Scheiße, wenn ich nicht genug bin, so wie ich bin, dann hat es sowieso keinen Sinn. Also habe ich alles, was ich gerade gekauft hatte, in den Mülleimer geworfen.»

Hannah lachte. «Das war mutig.» Und extravagant. Diese Frau sollte Arthur kennenlernen.

Caroline zögerte. «Zuerst hatte ich das Gefühl, ich sei aus einem Käfig befreit worden. Aber je näher ich nach Hause kam, desto ängstlicher wurde ich. Denn vielleicht bleibt sie wirklich nicht da, wenn ich nicht nette Sachen für sie tue.»

«Ich bin sicher, Sie sehen inzwischen, woher dieses Gefühl kommt?»

327

Caroline nickte. «Aber vielleicht bleibt sie wirklich nicht.» Sie wollte die Versicherung bekommen, daß Diana bleiben würde.

«Vielleicht bleibt sie nicht. Das ist das Risiko, das Sie eingehen, wenn Sie sich verändern: daß die Leute, mit denen Sie zu tun haben, Ihr neues Ich nicht mögen. Aber andere Leute, die es mögen, werden daherkommen.»

Caroline strich mit den Fingerspitzen über den Tweedbezug des Sofas. Ihre Hand bebte. Sie wollte keine anderen Leute. Sie wollte Diana.

«Worum ging der Streit?»

«Wir hatten uns gerade geliebt. Ich fühlte mich friedlich und glücklich, als könnten wir es vielleicht trotz allem schaffen.» Caroline wurde rot und studierte ihre Fingernägel. War es wirklich möglich, Mutter all diese Dinge zu erzählen? «Äh, ich habe ihr gesagt, ich liebe sie. Und sie hat mich gebeten, nicht in unserem Haus mit Brian Stone zu schlafen, und da bin ich ausgeflippt.»

«Ich dachte, Sie hätten mit ihm Schluß gemacht?»

«Habe ich auch. Es ging ums Prinzip. Ich zahle die Hälfte der Hypothek. Ich kann in dem Haus machen, was ich will.»

Hannah betrachtete Carolines ungehaltenes Gesicht und fragte sich, ob es wirklich so schwierig war, Diana einfach in den Arm zu nehmen und ihr zu sagen, daß Brian von der Bildfläche verschwunden sei. Diese Spiele, die alle spielten, waren ermüdend. «Prinzipien verursachen Kriege.»

Caroline sagte nichts. Hannah hatte sie eben betrogen.

«Sie haben ihr also gesagt, daß Sie sie gern haben, und dann hat sie zugeschlagen», sagte Hannah. «Genau wie Sie es letzte Woche von mir erwartet haben, weil Sie mir gesagt hatten, ich sei Ihnen wichtig?»

Betroffen sagte Caroline nichts und schaute aus dem Fenster auf den Möbelwagen auf dem Parkplatz. «Ich glaube, ja», sagte sie schließlich. «Ach ja – ich habe meine Aufgaben gemacht und darüber nachgedacht, was passiert ist, wenn ich den Leuten gesagt habe, daß ich sie gern habe.»

Während Caroline ihre Niederlagen auf dem Schlachtfeld der Zuneigung beschrieb, dachte Hannah an ihre eigenen Erfahrungen. Das eine Mal, als sie ihrem Vater sagte, sie liebe ihn, lachte er verlegen und kehrte mit dem nächsten Flugzeug nach Trinidad zurück. Als sie Colin sagte, sie liebe ihn, schmiß er die Walnußuhr 328auf den Boden und zerhackte sie. Aber mit Arthur war es umgekehrt. Als er ihr sagte, er liebe sie, warf sie ihn aus dem Bett. Und immer, wenn die Männer, mit denen sie auf den Parties flirtete, ihrer Hingabe Ausdruck verliehen, war das für sie das Stichwort, sie loszuwerden. Wovor hatten denn alle eine derartige Angst?

Als Caroline aufhörte zu reden, fragte Hannah: «Können Sie sehen, warum die anderen so reagiert haben?»

Mit düsterem Blick schüttelte Caroline verneinend den Kopf. «Ich nehme an, ich bin zu intensiv. Genau wie Jackson immer gesagt hat.»

«Nein, Sie sind nicht zu intensiv. Sie sind nicht zu irgendwas. Aber andere Leute wollen nicht hören, was nicht in ihre Sicht von sich selbst paßt. Wenn Diana daran gewöhnt ist, sich ungeliebt zu fühlen, wird sie nicht hören wollen, daß Sie sie lieben, und sie wird versuchen, ihre Unliebbarkeit wiederherzustellen. Es ist wie bei einer Herztransplantation: Der Körper weist genau das zurück, was ihn am Leben erhalten würde, weil sein Immunsystem es nicht annehmen will. Ich mußte nicht fliehen, als ich gehört habe, ich sei Ihnen wichtig, weil ich mir ebenfalls wichtig bin.»

Lachend sagte Caroline: «Aber ich verstehe nicht, warum jemand nicht gern hören möchte, daß er geliebt wird.»

«Fragen Sie sich selbst. Warum haben Sie in der letzten Sitzung meine Bitte, früher Schluß zu machen, sofort als Beweis dafür genommen, daß ich Sie nicht mag? Nachdem ich Ihnen in der vorhergehenden Woche gesagt hatte, daß ich Sie mag.»

Caroline konnte Hannah kaum hören. Sie sah die Mundbewegungen, aber sie konnte die Wörter nicht ausmachen.

Hannah versuchte, sich eine andere Art einfallen zu lassen, die selbe Sache aufzuzeigen. Wenn sie fünf oder sechs Versionen anbringen konnte, dann sahen die Klienten manchmal später in der Woche die Zusammenhänge. Oder später in ihrem Leben. «Caroline, eine Person, die Ihnen wichtig ist, sagt Ihnen, daß sie Sie mag. Wissen Sie, warum Sie mich nicht hören?»

Caroline saß in verwirrtem Schweigen da.

«Sie können mich nicht hören, weil Sie keine Erfahrung mit einer Autoritätsfigur haben, die nicht distanziert und abweisend ist. Entweder müssen Sie mich in dieselbe Kategorie wie die Flüchtlingshausmädchen und Ihre kleinen Brüder einordnen, die nett zu Ihnen waren, weil sie keine Wahl hatten. Oder Sie müssen mich als 329abweisend sehen. Aber ich bin weder noch. Können Sie das annehmen?»

Caroline verstand nicht einmal, was sie annehmen sollte. Sie beobachtete einen der Männer in grüner Arbeitskleidung und Skipatrouille-Anorak, der gerade einen Karton in den Lastwagen hob. Wenn Hannah sich umbringen sollte, würde Caroline sie umbringen.

«Sehen Sie, die Menschen, die Sie wirklich wollten – Ihre Eltern -, waren abwesend oder distanziert. Also sehnen Sie sich jetzt nach der Zuneigung einer solchen Person. Aber wenn eine solche Person Ihnen Zuneigung schenkt, dann hört er oder sie auf, unerreichbar zu sein. Also versuchen Sie, die Person dazu zu bringen, sich zurückzuziehen. Oder Sie fangen an, sich nach neuen Unerreichbaren umzusehen. Verstehen Sie, was ich meine?»

«Ich glaube nicht.»

«Das Entscheidende ist», sagte Hannah eindringlich, «die meisten von uns haben eine schwierige Kindheit gehabt, und wir müssen lernen zu akzeptieren, daß wir akzeptiert werden.»

Caroline bemerkte das «Wir». «Hatten Sie eine schwierige Kindheit?»

«Meine Mutter starb an Typhus, als ich vier war, und mein Vater ließ mich allein, als ich fünf war.»

Caroline betrachtete Hannah. Eine tote Mutter, tote Kinder, ein zurückweisender Vater. Ihr denkt, ihr habt Probleme? Wie kam es, daß Hannah meistens so gut gelaunt war?

Die Umzugsleute polterten den Flur hinunter und knallten Türen zu. «Also gut, denken Sie an Jackson», sagte Hannah, um einen anderen Kurs zu verfolgen, so wie Nigel es immer gemacht hatte, wenn er sein Segelboot gegen den Nordwind landen lassen wollte. «Was sagte er, als Sie ihm sagten, daß Sie ihn lieben?»

«Er fragte mich, was ich damit meine.»

«Und was haben Sie gemeint?»

«Daß ich ihn liebe?»

«Was meinen Sie mit Liebe?»

Caroline sah sie an. «Daß ich gerne mit ihm zusammen war. Daß ich ihn nett fand. Ich weiß nicht.»

«Wenn manche Leute sagen ‹Ich liebe dich›, denn meinen sie eigentlich ‹Ich will mit dir ins Bett gehen›. Oder ‹Ich möchte, daß du mich finanziell unterstützt›. Oder ‹Bitte laß mich nicht allein›.»

330

Caroline erinnerte sich an die Schlager, die aus dem Autoradio kamen, wenn sie mit Kevin hinter dem Supermarkt herumschmuste – «Young love first love», «When will I be loved», «When I fall in love», «I can't help it if I'm still in love with you». Die Schlager gingen ganz selbstverständlich davon aus, daß alle wußten, was Liebe war. «Was ist Liebe?»

Hannah lachte. «Ich habe Sie zuerst gefragt.»

«Na ja, Sie haben gerade gesagt, was Liebe nicht ist. Was bleibt da noch übrig?»

«Warum überlegen Sie sich das nicht bis nächste Woche?» Hannah lächelte, da die meisten Menschen ihr ganzes Leben damit verbrachten zu versuchen, das herauszufinden, und dabei scheiterten. Weil sie annahmen, Liebe sei etwas, was mit anderen Menschen zu tun hatte.

«Nichts bleibt übrig, soweit ich das sehen kann.»

«Vielleicht ist Liebe das, was übrigbleibt, wenn Sie einmal alles andere eliminiert haben.»

«Wie?»

Als Caroline hinausging, zündete Hannah sich eine Zigarette an und ging noch einmal Carolines Kindheitsdilemma durch. Wenn sie ein Bedürfnis äußerte, wurde sie zur Heilsarmee geschleppt. Wenn sie Wut äußerte, legte sich ihre Mutter mit Depressionen ins Bett. Wenn sie Liebe äußerte, standen alle auf und gingen. Was blieb da noch, außer so still wie möglich zu sein und zu hoffen, daß ihre pure Existenz niemandem lästig war? Ein emotionaler Selbstmord.

Während sie zusah, wie ein Möbelmann mit einer Bücherkiste an ihrer offenen Tür vorbeiging, dachte sie, daß Caroline sich in der schwierigsten Phase der Therapie befand. Abhängigkeit, Wut und Sexualität – damit konnte Hannah gut umgehen, aber die Alternative war so verschwommen, daß sie sich jeder Beschreibung entzog. Entweder jemand fühlte es – oder nicht. Wenn sie es nicht fühlte, würde auch noch so viel Reden nicht helfen. Außerdem konnte eine Klientin nicht wirklich tiefe Liebe für eine Therapeutin empfinden. Die ungleiche Natur der Beziehung schloß das aus.

Auf dem Parkplatz ließ der Möbelwagen den Motor an, spuckte schwarze Abgase aus und rollte davon. Leb wohl, Mary Beth, dachte Hannah. Vielleicht findest du endlich ein bißchen Frieden. Obwohl sie den Verdacht hatte, daß Selbstmord keine langfristige 331Lösung war. Mary Beth würde vermutlich als Barbier wiedergeboren, um den richtigen Gebrauch von Rasierklingen zu lernen.

Als sie ihre Zigarette, ein Räucherstäbchen gegen die bösen Geister von nebenan, an Nigels Stein abklopfte, dachte Hannah an ihr erstes Mittagessen mit Maggie, nachdem sie ihre Therapie beendet hatte. Sie trafen sich in einem Restaurant mit Aussicht auf den See und saßen auf einer Holzveranda an einem Tisch in der Sonne.

«Ich muß mich leider ein bißchen beeilen», sagte Maggie und studierte die Speisekarte, auf der lauter Seemannsknoten abgebildet waren. «Ich habe um zwei Uhr einen Termin.»

Hannah war eingeschnappt. Sie war gleichzeitig erleichtert. In Maggies Sprechzimmer hatte sie immer genug zu reden gehabt, aber außerhalb fühlte sie sich wie ein Backfisch bei seinem ersten Rendezvous mit einem Unbekannten.

Nachdem sie bestellt hatten, holte Hannah tief Luft und sagte: «Erinnern Sie sich an diesen Streit zwischen Arthur und mir, ob wir nach Maine in Urlaub fahren sollen oder nach Cape Cod?»

Maggie nickte ohne jede Begeisterung.

«Wir haben beschlossen, nach Cape Cod zu fahren.»

Maggie preßte die Lippen eng zusammen und schwieg.

«Ich habe gemerkt, als Arthur damit einverstanden war, nach Maine zu fahren, da war es mir gar nicht mehr wichtig.»

Maggie setzte ihre Brille mit den dicken Gläsern auf. Hannah konnte ihre Augen nicht sehen.

«Ich nehme an, ich wollte eigentlich nur, daß Arthur nachgibt?»

Maggie saß weiterhin schweigend da.

«Was meinen Sie?» fragte Hannah, nervös und irritiert angesichts dieser Sphinx-Nummer.

Maggie spitzte die Lippen, stützte einen Ellbogen auf den Tisch und legte ihr Kinn auf die Faust. «Ich meine, daß es schade ist, daß ich Ihnen nicht einfach vorschreiben kann, mich als gleichgestellt zu behandeln.»

«Wie bitte?»

Maggie wandte den Kopf ab und schien über den See zu blicken, wo die weißen Segel sich wie Möwen wiegten.

Hannah dämmerte langsam, daß es zweierlei Dinge waren, Maggies Klientin oder ihre Freundin zu sein. Während der übrigen Mahlzeit beschränkte Hannah ihre Unterhaltung auf Witze, Tratsch 332und Zusammenfassungen von Filmhandlungen, um Maggie zu verstehen zu geben, daß sie nicht mehr eine Mama oder kostenlose Therapie wollte. Allerdings hatte sie plötzlich Angst verspürt: Nicht nur konnte sie nicht länger mit all ihren Problemen zu Maggie rennen, sondern Maggie wollte womöglich zu ihr gerannt kommen.

Im Lauf der Monate fanden sie beide eine entspanntere Form des Umgangs, bis sie schließlich wirklich Freundinnen wurden. Aber dann ging Maggie fort und starb.

Aufs ganze gesehen waren Freundschaften mit Klienten nicht der Mühe wert, dachte Hannah, obwohl sie es selbst ein paarmal probiert hatte. Es gab ohnehin genug Leute in ihrem Leben. Eigentlich wollte sie die alten Freunde, die noch übrig waren, gehen lassen, bevor sie ihr wie all die anderen entrissen wurden. Manchmal fühlte sich ihr Herz wie ein Friedhof in Flandern an. Ihr fehlte die Energie, neue Namen in ihr Adreßbuch aufzunehmen.

Sie drückte die Zigarette aus, schaute aus dem Fenster und entdeckte, daß gerade ein Sonnenuntergang stattfand. Sie betrachtete die leere weiße Wand über der Couch. Wenn sie Carolines Schal dort aufhängen würde, könnte sie in ihrem Liegesitz liegen und den Sonnenuntergang draußen vor dem Fenster beobachten und ihn im Schal widergespiegelt sehen. Aber war das Psychotherapie?

 

Diana schnitt die Brokkoli-Quiche auf, die sie zum St. Patricks-Tag gemacht hatte, und legte jedem ein Stück auf den Teller.

«Quiche! Igitt!» sagte Jason. Caroline starrte ihn böse an. Er begegnete ihren Augen mit einem trotzigen Blick.

Caroline war am Nachmittag bei dem Erzieher an seiner Schule gewesen, der ihr mitgeteilt hatte, Jason werfe Tafellappen durchs Klassenzimmer und werde auf dem Pausenhof dauernd verprügelt.

«Was ist bei Ihnen zu Hause los?» fragte der kräftige junge Mann. Sein Schreibtisch war voll mit Fotos seiner eigenen, zweifellos wohlerzogenen Kinder.

Seine Mutter versucht zur Zeit, Ordnung in ihren Kopf zu bringen, dachte sie. Es konnte für ein Kind nicht leicht sein, wenn seine Mutter auf der gleichen Entwicklungsstufe stand wie er selbst. «Nichts Besonderes.»

«Versuchen Sie, ihm ein bißchen zusätzliche Aufmerksamkeit zu schenken», schlug er vor.

333

Das wichtigste war, aus diesem Büro herauszukommen, ohne irgend etwas von Bedeutung preiszugeben, also nickte sie. Und dachte: Haben Sie je versucht, mit einem Mörder zu schmusen, junger Mann?

«Findest du John Travolta nicht auch wunderbar?» seufzte Sharon und stocherte mit der Gabel in ihrer Quiche herum.

«Diese Tunte?» sagte Jackie.

Diana und Caroline schauten sich an und versuchten zu entscheiden, ob sie das Abendessen durch eine Vorlesung über den Begriff «Tunte» ruinieren sollten.

«Findest du ihn nicht Spitze, Caroline?»

Caroline öffnete den Mund, um zu sagen, sie interessiere sich nicht für Männer, aber sie brachte es fertig, das nicht zu tun. «Mir gefällt Mick Jagger besser.»

«Der ist süß», sagte Sharon. «Aber so alt.»

Lachend fragte Diana: «He, wie kommt es dann, daß du alle meine Platten von den Rolling Stones und von Janis Joplin an dich genommen hast?»

«Mutter, das ist nicht deine Art von Musik.»

Diana und Caroline lächelten sich an.

«Jackie hat eine Freundin», sagte Sharon und nahm beide Handrücken, um die Seiten ihrer Haare nach hinten zu werfen, so daß sie die glatten Flügel bildeten, die in ihrer Clique modern waren.

Jackie schaute sie böse an, die Gabel in der Hand und bereit, sie in Sharons sich neuerdings entwickelnden Busen zu stoßen. «Das ist gelogen.»

«Er sitzt im Bus neben ihr.»

«Immerhin gebe ich ihr nicht während der Essenspause im Wald einen Zungenkuß», sagte Jackie.

Diana und Caroline schauten sich an, um herauszufinden, welche Rolle sie in dem beginnenden Liebesleben ihrer heterosexuellen Sprößlinge spielen sollten. Caroline dachte daran, was für süße kleine Kinder die drei gewesen waren, wie sie durch Wald und Wiesen spazierten und komplizierte Spiele inszenierten, bei denen sie Mitglieder einer Zirkustruppe waren. Bald würden sie vor Begierde schwitzen und unter Verlusten leiden, genau wie ihre Eltern.

«Ich muß mir das nicht anhören», sagte Sharon, stand auf und ging in ihren engen Levis-Jeans mit dem orangefarbenen Firmenschild bockig den Flur hinunter.

334

«Setz dich hin und iß dein Essen auf, Sharon», rief Diana.

«Vergiß es!» Sharon knallte die Tür zu.

Diana seufzte. «Sie würde alles tun, nur um kein Gemüse essen zu müssen.»

«Wenn Sharon diesen Scheiß nicht essen muß», sagte Jason, «dann muß ich das auch nicht.»

«Jason!» sagte Caroline. «Das ist nicht sehr höflich, wenn Diana dieses gute Essen für euch gemacht hat.»

«Ich hasse Quiche, Mama!»

«Steck ihn dir doch in den Arsch», schlug Jackie vor.

Jason hielt ihm den Mittelfinger hin. «Gleichfalls, Jackie.»

«Geht ruhig nach unten, ihr zwei», sagte Caroline. «Aber sagt später nicht, ich soll euch was zu essen machen.»

Als sie nach unten polterten, sagte Caroline zu Diana: «Ich finde die Quiche großartig.»

«Ich habe längst aufgehört, mir Gedanken darüber zu machen, was die drei von irgend etwas halten.»

«Sonst würdest du dir wahrscheinlich gleich die Kehle durchschneiden.»

«Kannst du dir vorstellen, was unsere Eltern gemacht hätten, wenn wir uns so aufgeführt hätten?» Diana stellte Sharons Teller auf den ihren und begann, Sharons Quiche aufzuessen.

Caroline kicherte. «Sofortige Hinrichtung.»

«Insgeheim gefällt es mir ja. Sie müssen sich wirklich geliebt fühlen, wenn sie glauben, sie können es sich leisten, sich so unmöglich zu benehmen.»

«Stimmt», sagte Caroline, die Jasons Quiche aß. «Ich hatte bei uns zu Hause immer das Gefühl, ich würde auf Eiern laufen.»

«Ich auch. Und trotzdem war meine Mutter nie zufrieden mit mir.»

«Merkst du, daß wir das miteinander auch machen?» Als sie von der Arbeit nach Hause gekommen war, hatte sie auf ihrem Bett eine Karte zum St. Patricks-Tag und ein paar grüne Spitzenunterhosen vorgefunden. Sie empfand Panik, wie ein Junkie ohne Spritze: Sie hatte nichts für Diana.

«Was?»

«All die Geschenke und Nettigkeiten. So haben wir uns unseren Müttern gegenüber verhalten, und wir machen das miteinander immer noch. Ich glaube, es ist an der Zeit, damit aufzuhören.»

335

«Bleib mir bloß damit weg», sagte Diana und legte ihre Gabel hin.

«Entschuldigung.» Sie saßen schweigend da. Caroline fing an, gedankenabwesend die Blütenblätter einer der Margeriten auszuzupfen, die sie Diana geschenkt hatte und die in einer Töpfervase zwischen zwei goldenen Kerzen standen.

«Vielen Dank übrigens», sagte Diana, «daß du Brian nicht herbringst.»

«Das war nicht besonders schwierig. Ich habe vor ein paar Wochen mit ihm Schluß gemacht.»

Diana blickte auf. Kerzenlicht schimmerte auf ihren roten Haaren. «Was sollte dann der ganze Streit? Warum hast du es mir nicht gesagt?»

«Es ging ums Prinzip.»

«Ach, Gott, Caroline. Was denkst du denn, was das hier ist – ‹Zwölf Uhr mittags›?»

«Na ja, immerhin hat jemand hier Prinzipien.» Sag das nicht, sagte sie zu sich, zu spät.

«Was soll das heißen?»

«Nichts.» Caroline hatte gerade das letzte Blütenblatt aus der Blume gerupft, und das Ergebnis war «liebt mich nicht».

«Du meinst Suzanne?»

«Ist doch egal.»

«Was ist daran prinzipienlos?»

«Nur die Tatsache, daß sie fast so jung ist wie Sharon.» Halt den Mund, Caroline, bat sie.

Dianas grüne Augen blitzten im Kerzenlicht. «Und Hannah ist so alt wie deine Mutter. Na und?»

«Hannah ist meine Therapeutin, nicht meine Geliebte.»

«Nicht dein Verdienst. Wenn sie schwul und willens wäre, würdest du sofort mit ihr unter die Bettdecke kriechen.»

Caroline dachte über diese Bemerkung nach und wußte nichts dagegen zu sagen. «Was habe ich denn mit Hannah? Eine Stunde in der Woche, die mich fünfunddreißig Dollar kostet. Tolle Sache.»

«Aber du denkst dauernd an sie. Es ist praktisch dasselbe.»

Irgendwie hatte Diana den Spieß umgedreht. Sie redeten doch eigentlich über die Kindsbraut. «Jetzt bleib bloß du mir weg.»

«Kannst du es leugnen?»

336

Caroline war plötzlich traurig und erschöpft. «Ich brauche sie. Ich brauche einen Menschen, auf den ich zählen kann.»

«Und auf mich kannst du nicht zählen?»

«Du bist die Hälfte der Zeit mit Suzanne unterwegs. Und wenn wir zusammen sind, haßt du mich meistens. So wie gerade jetzt.»

«Du brauchst eine Person, die findet, du bist wunderbar? Weil du sie dafür bezahlst?»

Caroline zerquetschte das braune Innere der Blume, bis es in Stücken auf den groben Holztisch fiel. Abrupt kam ihr Hannahs Bild in den Sinn. Sie zuckte mit den Schultern und sagte: «Na ja, ich verstehe, so siehst du es, Diana.»

Diana saß mit halboffenem Mund da, unfähig, irgend etwas in Carolines Aussage zu finden, was sie widerlegen könnte. «Du bist so weit weg, seit du die Therapie machst», sagte sie schließlich. «Wenn wir zusammen sind, habe ich manchmal das Gefühl, als wärst du gar nicht da. Vielleicht brauche ich Suzanne, weil ich dich nicht mehr erreichen kann.»

Wieder zuckte Caroline mit den Schultern. Das ist das Risiko, das Sie eingehen, wenn Sie sich verändern: daß die Leute, mit denen Sie zu tun haben, Ihr neues Ich nicht mögen.

«Also?» sagte Diana.

«Also was?»

«Verdammt noch mal, Caroline!» Sie schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Geschirr klirrte. «Das beweist genau, was ich sage.» Sie ahmte Carolines Schulterzucken übertrieben nach. «Würdest du dich bitte auch mich einlassen? Suzanne hört mir wenigstens zu und nimmt mich ernst.»

Auf Grund ihrer Monate bei Hannah hatte Caroline den Verdacht, daß Diana nicht mit ihr redete, sondern mit ihrer Mutter. Aber das konnte man jemand anderem nicht sagen. Vor allem würde es einem nicht geglaubt. Anhänglich, egoistisch, fern – das hatte wenig mit Caroline zu tun. Sie saß in verwirrtem Schweigen da, und es fiel ihr nichts ein, was sie sagen könnte. Diana schaute sie erwartungsvoll an. Jetzt, da Caroline wußte, wie man sich auf dem Tummelplatz des Lebens streitet, fand sie fast nichts mehr einen Streit wert. Aber sie wußte nicht, was sie statt dessen tun sollte, und es gab keine Möglichkeit, Hannah anzurufen und sie zu fragen. Also stand sie auf und ging zur Treppe.

«Hergott noch mal», stöhnte Diana, «du stehst einfach auf und 337gehst weg, mitten im Gespräch?» Ein Teller segelte wie eine Frisbee-Scheibe an Carolines linkem Ohr vorbei und zerschellte an der Wand. Sie starrten beide auf die Scherben auf dem Boden.

 

Diana und Caroline lagen auf Kissen auf dem geknüpften Teppich, hielten einander in den Armen und beobachteten, wie das Feuer in Carolines dunklem Wohnzimmer flackerte. Die Kinder schliefen, und das einzige Geräusch war das Schnappen und Knistern der Flammen. Sie hatten mindestens eine Stunde kein Wort gesprochen. Caroline spürte kaum ihren eigenen Körper, obwohl ihr lebhafte Bilder durch den Kopf gingen, wie die Dias einer heimgekehrten Touristin. Sie stellte sich die Haushalte vor, zu denen sie gehört hatte – ihre Eltern in Brookline, Jackson in Newton, David Michael in Somerville. In allen Fällen ein Haus voller Menschen, Besitztümer, Möbel. Verschiedene Nahrungsmittel waren auf verschiedenen Tellern auf verschiedenen Sorten von Tischen erschienen. Sie hatte jede dieser Varianten als «Liebe» bezeichnet, wie sie auch diese Szene mit Diana als Liebe bezeichnet hatte. Wie sie bereit gewesen war, das Arrangement mit Brian Liebe zu nennen. Aber was sie als Liebe bezeichnete, war keine Liebe – es war Überleben, Nahrung, Wohnung, Schutz, Sex, Fortpflanzung. Hannah schlug vor, Liebe könnte das sein, was übrigblieb, wenn man alles andere abzog. Aber was blieb übrig? Nichts, soweit sie das sehen konnte.

Sie versuchte, alles aus ihrem Bewußtsein zu löschen: das Haus, die schlafenden Kinder, die flackernde Wärme des Feuers, die Brokkoli-Quiche in ihrem Magen, Dianas langsam atmenden Körper in Flanellhemd und Levis-Jeans, ihren eigenen, ähnlich gekleideten Körper, umschlungen von Dianas Körper. Was blieb übrig? Etwas. Selbst wenn es nur das klare, geschärfte Bewußtsein wäre, aus dem sie alles andere gelöscht hatte.

Diana bewegte sich in Carolines Armen, gerade genug, daß Caroline ihr Gesicht sehen konnte. Ihre grünen Augen waren weit offen, sie starrte ins Feuer. Sie war vor eine Stunde nach unten gekommen, mit belämmertem Gesicht, einen Kuchen mit grünem Guß in Form eines irischen Kleeblattes in der Hand.

Caroline verlagerte ihre Hand ein bißchen, so daß sie auf Dianas üppigem Busen lag, der sich mit Dianas Atem hob und senkte. Ohne Zweifel hatte Diana in sich einen Bereich leeren Bewußtseins, genau wie Caroline. Dieser Bereich in Diana war genau in diesem 338Augenblick mit dem entsprechenden Bereich in Caroline verbunden. Sie waren eins, mehr noch, als wenn sie sich liebten, wenn körperliche Empfindungen und sexuelle Phantasien sich vordrängten. Das ist es, beschloß Caroline, dieser Stromaustausch zwischen zwei Flecken leeren Bewußtseins, durch den sie nicht mehr zwei waren. Hören Sie auf, Brot und Fisch zu erwarten …

Diana richtete sich abrupt auf und nahm Carolines Hand von ihrer Brust. «Ich kann dir nicht ewig Sachen an den Kopf werfen, Caroline.»

Caroline richtete sich auf. «Das war meine Schuld, Diana. Es tut mir leid. Ich habe zu spät gemerkt, daß ich nicht streiten wollte, aber ich wußte nicht, was ich statt dessen tun könnte.»

«Mir tut es auch leid, aber wir sollten es vielleicht endlich einsehen: Es geht nicht mehr.»

Caroline schloß die Augen, um einen Schlag abzuwehren.

«Wir müssen aufhören, Geliebte zu sein. Wenn das bedeutet, daß eine von uns ausziehen muß, dann muß es eben sein.»

«Aber ich habe mich dir gerade so nahegefühlt.»

«Ich auch, und das macht mir wahnsinnig angst. Jedesmal, wenn wir uns nahekommen, schlägt eine von uns zu.»

«Aber wenn wir das jetzt wissen, können wir es vielleicht verhindern. Laß es uns noch mal versuchen, Diana.»

«Wir haben es doch schon tausendmal versucht. Ich habe genug vom Versuchen. Ich möchte Frieden. Ich bin zu alt für diese ganze Quälerei.» Sie stand auf und ging zur Treppe. «Wir können morgen darüber reden, was wir tun wollen.»

Caroline legte sich wieder zurück und bedeckte die Augen mit dem Unterarm, während Tränen durch ihre zusammengepreßten Augenlider sickerten. Sie war schuld, daß ihre Geliebte sich quälte. Sie hatte versagt und keine Geschenke zum St. Patricks-Tag gekauft. Sie fing Streit an und lief mittendrin weg. Sie war ein schrecklicher Mensch.

Aber Hannah sah sie als freundlich und großzügig, erinnerte sie sich. Nur würde sie bald von Hannah weggehen.

Sie löschte das ganze Zimmer, samt Diana und Hannah, und stellte sich die Dschungelvögel vor, bis der Schmerz in ihrem Herzen so weit nachließ, daß sie ins Bett gehen konnte.

339

4

In Wollhosen und Anorak ging Hannah den durchfurchten Weg hinter ihrem Haus entlang und blickte über dem schmelzenden Eis auf dem See zum Nachthimmel hinauf. Tausende von kleinen Lichtpunkten leuchteten wie die Reflexion eines Mondstrahls im Neuschnee. Hannah war von diesen Sternen fasziniert, seit sie nach Nordamerika gekommen war. Die englische Wolkendecke war normalerweise zu dicht, als daß ein Kind dort ein großes Interesse für die Sterne entwickeln konnte. Aber in Australien mußte jemand in ihr die Begeisterung für den weiten, klaren Nachthimmel geweckt haben, weil es ihr so vertraut vorkam, dazusitzen und zu den Sternen aufzublicken.

Sie kam zu einer flachen Bucht, an der sie oft mit ihren Kindern gesessen und die Sternbilder identifiziert hatte, um den Kindern zu helfen, gute Pfadfinder zu werden. Als sie über die Sternbilder nachlas, merkte sie erst, um was für willkürliche Zusammenstellungen es sich handelte. Der Große Wagen galt anderswo als Großer Bär. Die Hirten in verschiedenen Ländern, jeder Indianerstamm verband die Sterne wie die numerierten Punkte eines Kinderpuzzles zu verschiedenen Bildern – und dann reimten sie sich Geschichten zusammen, um ihre Erfindungen zu erklären. Diese Geschichten riefen Angst und Entzücken hervor, die ganze Skala der Gefühle.

Sie konnte über Mona und Nigel nachdenken, über Colin, Maggie, ihre Eltern, ihre Großeltern; sich ihre Gesichter vorstellen, sich die liebenswerten Dinge ins Gedächtnis rufen, die sie zu tun pflegten; darüber brüten, wie oft sie die anderen im Stich gelassen hatte; und sich dann bald elend fühlen. Aber sie konnte die Ereignisse auch zu einem anderen Muster zusammenfügen und andere Emotionen heraufbeschwören. Die zugrunde liegende Wirklichkeit waren jene Lichtpunkte, genannt Nigel, Mona, Maggie, Mama, Oma, die für eine Zeitlang in ihr Leben getreten und dann wieder fortgegangen waren. Aus Gründen, die sie nicht ganz verstand, die sie aber zu akzeptieren gelernt hatte.

Im Wald bellte ein Hund, als hätte er ein Stachelschwein erwischt. Das Geräusch hallte über den See. Sie hoffte nur, daß es nicht ihr Hund war. Ihm die Stacheln aus Nase und Schnauze zu ziehen war so mühselig.

340

Als sie sich anschaute, was sie gerade getan hatte, wurde ihr klar, daß sie nicht über diese Menschen nachgrübeln mußte, die ihr so viel Freude, Ärger und Kummer bereitet hatten. Sie konnte sich statt dessen einen Hund vorstellen, der vor Stachelschweinstacheln strotzte. Oder die Walnußmokkatorte, die Arthur zum Abendessen gebacken hatte. Wenn sie auf Walnußmokkatorte scharf war, dann war es unmöglich, irgend etwas anderes als Gier zu empfinden, unmöglich, das wirre Chaos widerstreitender Gefühle zu empfinden, das zu diesem Geisterzug gehörte, der mit Nagelschuhen auf dem Paradeplatz ihres Herzens herummarschierte. Und wenn man das einmal herausgefunden hatte, konnte man die ganze Show auslöschen, als wäre der Nachthimmel eine riesige Tafel, bedeckt mit den unbegreiflichen Kritzeleien eines verrückten Wissenschaftlers. Oder man konnte an diesem felsigen Seeufer sitzen und auf die Dämmerung warten, darauf, daß die einzelnen Sterne im Sonnenlicht verblassen würden.

Hannah setzte sich auf ein Stück Treibholz und streckte die Beine vor sich aus. Ihre Finger begannen automatisch, den Strand um sie herum nach kleinen, flachen Steinen abzusuchen, die man gut hüpfen lassen konnte. Sie merkte, was sie da machte, und faltete die Hände im Schoß. Selbst wenn sie Steine gefunden hätte, es wären keine Kinder da, denen sie die Steine geben könnte. Tot oder erwachsen. Fort.

Unvermittelt leuchtete der Nachthimmel über Kanada flackernd auf, in einem unheimlichen Grün. Hannah schaute voll Erstaunen zu, wie das Nordlicht über den White Mountains pulsierte und flackerte, immer wieder anschwellend und abnehmend. Ein Lichterzauber vom Mars, der ihre Sonnenaufgangsmetapher null und nichtig machte. Das war es, was sie am Leben am meisten verblüffte: Man dachte, man habe es im Griff, und dann wurde einem etwas um die Ohren gehauen, womit man überhaupt nicht gerechnet hatte.

 

Hannah beobachtete, wie Caroline dasaß. Sie kauerte nicht mehr in ihrer weißen Uniform am Rand der Tweedcouch wie eine Seemöwe, die gleich losfliegen will. Sie saß auch nicht hilflos hingegossen da, wie in den ersten Wochen. Heute saß sie aufrecht, die Beine überkreuzt, die Arme neben sich. Aber nicht so, als gehöre ihr das Zimmer, wie sie es in letzter Zeit ein paarmal gemacht hatte. Sie 341wirkte ruhig, selbstbewußt und ein bißchen traurig – wie jemand, die kurz davor ist, das Gleichgewicht in ihrer Persönlichkeit zu finden.

Caroline spürte Hannahs Augen auf sich ruhen und überlegte, was sie wohl sah. Diese scharfen blauen Augen, die ihr bei ihrem ersten Besuch hier so durchbohrend vorgekommen waren, erschienen ihr immer noch durchdringend, aber auf eine sehr freundliche Weise. Es gab fast nichts, was sie nicht schon gesehen hatten, aber nur sehr wenig, was sie verurteilten.

«Wie geht es Ihnen denn heute?» fragte Hannah.

«Nicht schlecht.»

«Nur nicht schlecht?»

«Das ist ziemlich gut, wenn man es sich überlegt.»

«Wenn man sich was überlegt?»

«Daß Diana den sexuellen Teil unserer Beziehung nicht mehr möchte. Wieder einmal. Daß ich vielleicht aus ihrem Haus ausziehen muß. Daß ich nirgendwohin kann.» Seit Dianas Ankündigung hatte Caroline die Tage damit verbracht, zwischen der Angst vor dem Unbekannten und der Aufregung angesichts neuer Möglichkeiten hin und her zu pendeln. Sie landete schließlich genau in der Mitte, wobei eines das andere aufhob und sie bereit war für alles, was kommen mochte.

Hannahs Augen wurden groß vor Überraschung – daß Caroline so gut aussehen konnte, nachdem sie sozusagen einen Schlag unter die Gürtellinie erhalten hatte. «Das ist es, worauf alles hinausläuft, nicht wahr? Wenn jemand sich in einer Beziehung machtlos fühlt, dann schließt er oder sie den Sex aus.»

«Machtlos? Diana ist eine der am wenigsten machtlosen Frauen, die ich je gekannt habe.» Dieses kleine rothaarige Wesen gab Erlasse in einem Tempo von sich, das selbst mittelalterliche Päpste bewundert hätten.

«Offenbar sieht sie sich selbst nicht so.» Hannah zündete sich eine Zigarette an.

«Wie könnte Diana sich machtlos fühlen? Es ist ihr Haus. Sie hat Suzanne. Ich bin diejenige, die machtlos ist.»

«Nein, nicht mehr.» Hannah blies den Rauch mit einem zischenden Geräusch aus. «Sie sind jetzt eine starke Frau. Tut mir leid, aber das ist nicht zu übersehen.»

Caroline lächelte. Caesars Lob war wirkliches Lob. «Aber ich 342dachte, Diana würde mich besser leiden können, wenn ich nicht mehr so eine Heulsuse bin.»

«Was hat sie vor einiger Zeit gesagt: Wenn Sie merkten, was für eine tolle Frau Sie sind, warum sollten Sie dann bei ihr bleiben? Ich glaube, Sie haben angefangen, das zu merken. Diana hat wahrscheinlich große Angst, daß Sie aufbrechen.» Hannah schaute aus dem Fenster auf den See. Mitten in dem matschigen Eis war eine weite, offene Wasserfläche.

«Also bricht sie auf, bevor ich die Möglichkeit dazu habe?»

«Warum nicht? Sie hat wahrscheinlich das Gefühl, daß Sie schon aufgebrochen sind. Sie sind nicht mehr die gleiche Person, in die sie sich vor fünf Jahren verliebt hat, oder?»

Caroline schüttelte verneinend den Kopf. Die Frau, die Diana verführt hatte, war heimatlos gewesen, arbeitslos, desillusioniert in puncto Liebe, verzweifelt über den Zustand der Welt, ohne Freunde in einer neuen Stadt, taumelnd unter der Verantwortung für zwei kleine Kinder. Diana selbst war sitzengelassen worden und mit einem Kind allein. Sie hatten sich gegenseitig wieder zusammengekleistert, wie zerbrochene Teetassen. «Aber ich bin jetzt so viel netter und lustiger.» Caroline wirkte verblüfft.

«Wie haben Sie sich also bei alldem gefühlt?» fragte Hannah.

«Nicht übel. Ich scheine meine Vorliebe für das Leiden verloren zu haben.»

Hannah lachte. «Herzlichen Glückwunsch.»

«Ich weiß, ich kann eine neue Wohnung finden. Ich kann andere Liebschaften finden. Brian Stone wollte mich. Und die Frau in Boston. Ich habe einen Job, gute Freundinnen, nette Kinder. Ich habe das Gefühl, daß ich mit allem, was ich tun muß, fertig werden kann.»

«Wonach würden Sie bei einer neuen Liebschaft suchen?»

Caroline dachte darüber nach, während sie die Luftaufnahme an der Wand über dem Bücherregal studierte. Sie grinste und schaute Hannah an. «Als erstes würde ich nach guter Auge-Hand-Koordination suchen.»

Hannah lachte kurz auf. Während der Sitzungen mit Caroline lachte sie meistens ein paarmal. Das würde ihr fehlen, wenn Caroline nicht mehr kam. Die meisten Sitzungen waren so humorlos wie eine Wagneroper. Aber Caroline hielt ihren Humor meistens gut versteckt. Wie ihre Weberei.

343

«He, wie kommt es eigentlich, daß Sie mir nie erzählt haben, daß Sie weben?» fragte Hannah.

Caroline wurde rot und blickte auf ihre Hände. «Woher wissen Sie das?»

«Ich habe Ihre Schals bei Cheever's gesehen. Sie sind phantastisch.» Sie betrachtete die leere Wand über der Couch.

«Danke.»

«Aber warum haben Sie es nie erwähnt?»

«Es kam mir nie wichtig vor.»

«Alles, was Sie tun, ist wichtig hier. Apropos Macht – es ist interessant, daß Sie etwas, was Sie so gut können, hier nie angebracht haben.»

«Warum ist das interessant?»

«Sie bestehen immer darauf, sich selbst als hilflos und jämmerlich darzustellen, während in Wirklichkeit eindeutig das Gegenteil der Fall ist. Sie sind eine Tiefstaplerin, Caroline.»

Caroline lächelte und nahm ihre Betrachtung der Luftaufnahme wieder auf. Ganz plötzlich trat das Weiße in den Hintergrund und heraus sprang ein verhüllter Kopf. «He, ich habe gerade den Kopf gesehen! Er sieht tatsächlich aus wie die Jungfrau Maria.»

Hannah wandte sich dem Bild zu, die Zigarette zwischen den Lippen. «Hmmm ja, ein bißchen schon, fürchte ich.»

Ihre Blicke begegneten sich, und sie schauten sich lange voll gegenseitiger Anerkennung an. Das ist es, dachte Caroline, diese Verbindung zwischen zwei Flecken leeren Bewußtseins, die ich mit Diana auf dem Fußboden in meinem Wohnzimmer empfunden habe. Sie hatte plötzlich Angst. Diana empfand es auch und ging einfach weg. Vielleicht würde Hannah ihr gleich einen überziehen.

«Ich habe in dieser Woche über Liebe nachgedacht», sagte Caroline abrupt.

«Ach ja? Sind Sie dafür oder dagegen?» Die Kunst des Schweigens war schwierig zu meistern. Hannah erinnerte sich daran, wie sie als kleines Kind bei der Familie einer eingeborenen Spielgefährtin in deren Hütte bei der Schafsfarm saß, in völligem Stillschweigen, immer eine ganze Stunde lang. Schließlich rannten die Kinder zum Spielen hinaus, aber die Erwachsenen blieben sitzen, sehr viel stärker miteinander verbunden als Leute, die darauf bestanden, über ihre Verbundenheit zu diskutieren.

«Daß es nichts ist, worüber man wirklich reden kann.»

344

Hannah lächelte. «Ganz meine Meinung.»

«Weil das die Fähigkeit, Liebe zu erfahren, durchbricht.»

Hannah nickte unverbindlich.

«Ich habe also nichts weiter zu diesem Thema zu sagen.» Der eine Zusatz, den sie noch machen wollte – daß sie jetzt, da sie eine gewisse Vorstellung hatte, was Liebe war, Hannah liebte -, das konnte sie nicht sagen. Hannah warnte sie immer, sie suche nach einer Möglichkeit, zurückgewiesen zu werden, und sie wollte Hannah nicht unter Druck setzen. Hannah war ein Profi, eine Seelenklempnerin. Sie war nicht dazu da, ihre Klienten gern zu haben, sie war dazu da, die verstopften Rohre ihrer Herzen durchzuputzen. Offensichtlich konnte sie nicht für all die Menschen, die durch ihr Sprechzimmer krochen, persönliches Engagement aufbringen. Aber die Sehnsucht, ihre Zuneigung zu besitzen, blieb. Zuneigung von einer Person zur anderen, nicht von der Klempnerin zum Abflußloch.

«Woran denken Sie gerade?» fragte Hannah. Carolines blaue Augen waren vage und träumerisch geworden.

«An verstopfte Abflußrohre.»

«Was?»

«Ich habe mich gefragt, woran ich merken werde, wenn das hier vorüber ist.»

«Vermutlich wachen Sie eines Morgens auf und haben keine Lust mehr zu kommen.» Hannah fühlte einen Stich des Bedauerns, aber sie schlüpfte sofort in ihren Kettenpanzer und griff nach ihrem Schild. Caroline mußte gehen, und Hannah mußte ihr dabei helfen.

Caroline war sicher, daß das nie eintreten würde. Sie wollte vielleicht keine Klientin mehr sein, aber sie konnte sich nicht vorstellen, Hannah nicht mehr sehen zu wollen. Das war sicher unvernünftig. Die Natur ihrer Beziehung war anders. «Na ja, ich habe so ein Gefühl, daß es fast vorüber ist. Aber ich kann es nicht ertragen.»

«Wie wollen Sie dann die Schlußphase gestalten?» fragte Hannah. «Möchten Sie eine Weile alle zwei Wochen kommen?»

Caroline war entsetzt. Sie hatte gerade erst angefangen, darüber nachzudenken. Sie hatte keine Ahnung, daß Hannah so darauf erpicht war. Vermutlich langweilte sie sich und konnte es nicht abwarten, Caroline los zu sein. Sie erkannte ihr altes Muster, Zurückweisung vorwegzunehmen, und sie wich ihm aus. «Eigentlich 345wollte ich sagen, daß ich Sie gerne in der Stadt treffen würd. Weil Klienten weggehen müssen, aber Freunde nicht.»

Sie saßen da und inspizierten diese Aussage wie einen Meteor von einer fernen Milchstraße. Caroline hatte sich nicht zurückgezogen und war nicht in Dumpfheit versunken. Sie hatte einen Schritt nach vorne getan.

Caroline spürte, wie Angst ihren Magen verknotete, ihre Schultern verkrampfte und ihre Stirn zerfurchte. Sie hatte getan, was sie bewußt nicht tun wollte – Hannah ihre Karten gezeigt. Und da war nur Herz, kein Pik. Wie alle andern würde Hannah sich überfordert oder erstickt fühlen, wütend werden oder fliehen. Ich weiß, was du willst, und du kannst es nicht haben.

«Wenn Sie sich beeilen und das hier hinter sich bringen», hörte Hannah sich zu ihrer Beunruhigung sagen, «vielleicht können wir dann zusammen essen gehen und ganz von vorne anfangen.»

Caroline betrachtete sie. War es möglich, daß Hannah nicht nur ihre Arbeit machte? Daß sie wirlich die Person mochte, die sie unter all dem Elend und der Verwirrung durchschimmern sah? In diesem komplizierten Tango der Gefühle hatte keine von beiden einen Schritt zurück getan. Caroline war so verblüfft, daß sie sich einer intensiven Betrachtung der Bücher auf Hannahs Regal widmete: ‹Sex und Masochismus in der amerikanischen Gesellschaft›, ‹Die neurotische Persönlichkeit in unserer Zeit›, ‹Die innere Welt der Geisteskrankheit›, ‹Über Tod und Sterben›.

«Möchten Sie also eine Woche überspringen?» fragte Hannah und holte ihren Terminkalender.

Caroline sagte nichts und versuchte, sich eine Woche ohne diese Stunde vorzustellen.

«Sie sehen erschrocken aus. Ist das wirklich so beängstigend?»

«Ich fühle mich wie eine Hochseilartistin auf dem Trapez, bei Sturm und ohne Sicherheitsnetz.»

Hannah lachte. «Hoffen wir, daß das Ergebnis erfolgreicher ist. Stürzen die nicht dauernd ab und sterben?»

Caroline nickte. «Ja. Gut. Überspringen wir eine Woche.»

Hannah reichte ihr eine Terminkarte. Caroline nahm sie und ging zur Tür. Als sie schon die Klinke in der Hand hatte, drehte sie sich um, plötzlich von dem Gefühl des Verlustes überwältigt.

«Sie werden gut zurechtkommen», sagte Hannah. In Carolines Augen sah sie die Panik eines angeschossenen Rehs.

346

Caroline nickte zweifelnd, öffnete die Tür und ging hinaus.

Hannah sah sie gehen und überlegte, warum sie das mit dem Essengehen gesagt hatte. Das letzte, was sie brauchte, war eine weitere Exklientin, die herumging und zusah, wie sie sich in eine stinknormale Person verwandelte. Sie schienen immer so enttäuscht zu sein, daß sie im wirklichen Leben nicht die Urmutter ihrer Träume war. Ihre Fähigkeit, diese Rolle zu spielen, hing damit zusammen, daß sie sich nur eine oder zwei Stunden in der Woche sahen; die Fähigkeit der Klienten, sie so zu sehen, basierte vor allem auf ihren eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten. Und Hannah mußte zugeben, daß für sie das Schwierigste beim Beenden einer Therapie war, die Bewunderung aufzugeben. Maggie hatte das immer gesagt.

Na ja, es gab wahrscheinlich einen Grund, warum sie vom Essengehen gesprochen hatte. Sie wußte selten, was aus ihrem großen Mundwerk herauskommen würde, aber normalerweise waren die Ergebnisse ganz gut. Viele Exklienten wollten sich mit ihr zum Essen verabreden, aber ein paar Mahlzeiten überzeugten sie davon, daß Hannah auch keine exotischeren Speisen bestellte als alle anderen Leute in ihrem Leben. Manchmal schlich sich jedoch trotz ihrer Wachsamkeit jemand ein, und das war dann, als fände sie eine Kakerlake in ihrer Küche. Jemand Neues in ihr wirkliches Leben einzulassen, bedeutete, eine weitere Straße zu öffnen, die schließlich zum Verlust führen würde. Und das brauchte sie ungefähr so dringend wie eine Einkommenssteuerüberprüfung.

Als sie auf dem Parkplatz ihre Wagentür aufschloß, hörte sie die Schreie der Kanadagänse, die aus dem Süden zurückkehrten. Sie suchte den Himmel ab, der mit kleinen Schäfchenwolken gesprenkelt war, und entdeckte schließlich ihr wankendes V. Über die Stadt hinweg und den See hinauf strebten sie zur kanadischen Grenze. Wie brachten sie es fertig, Tausende von Meilen so zu fliegen? Wenn sie sich zu nahe kamen, stürzte die ganze Formation zusammen. Wenn sie zu weit voneinander entfernt waren, gab es gar keine Formation, nur ein paar einsame Gänse, die über den Himmel zogen.

Als Hannah ins Auto stieg, sah sie den orangefarbenen Le Car die Straße hinter dem Parkplatz heraufkriechen. Sie startete den Motor und tat so, als würde sie das Hupen nicht hören, und fuhr rückwärts aus ihrer Parklücke heraus. Dann trat sie auf das Gaspedal, flog aus 347dem Parkplatz heraus und die Straße entlang, während der orangefarbene Le Car in einer Einfahrt wendete, um hinter ihr her zu fahren.

Sie fühlte sich wie eine von Charlie's Angels und machte einen Umweg durch die Straßen, die von Häusern der Elektronikmanager gesäumt waren, in der Hoffnung, den Le Car abzuschütteln. Als sie in die Seestraße einbog und kein Le Car in Sicht war, fand sie heraus, warum sie Caroline so geantwortet hatte. Caroline sprach eine echte Einladung aus, die direkt von Herzen kam, ungetrübt durch irgendwelche Klientenspielchen, und Hannah spürte keine andere Möglichkeit, als genauso zu antworten. Gleich und gleich gesellte sich gern. (Außer wenn Gegensätze sich anzogen.) Einmal versuchte sie, aus Maggie herauszubekommen, warum sie sich nach der Therapie mit ihr angefreundet hatte. Maggie schaute über ihre Brille und sagte brüsk: «Manchmal kommen Leute in dein Leben, zu denen du einfach nicht nein sagen kannst, gleichgültig, wie wenig willkommen sie sind.»

Als sie in die ungepflasterte Straße zum Haus einbog, erinnerte sie sich an den Stich des Bedauerns, den sie am Nachmittag empfunden hatt, als Caroline auf die Beendigung der Therapie zu sprechen kam. Welches persönliche Interesse hatte sie an Carolines Verhalten? Es war normalerweise leicht, Klienten beim Weggehen zu helfen, sogar ein Vergnügen, weil es ihren Erfolg als Therapeutin zeigte. Mona wäre etwa so alt wie Caroline, wenn sie am Leben wäre … Aber ein bißchen Gegenübertragung konnte eine nützliche Sache sein. Weil sie sich mit Carolines Kampf identifizierte, wußte sie, wie sie ihr helfen konnte. Weil Caroline sie an Mona erinnerte, wollte sie ihr helfen, denn sie war daran gehindert worden, Mona zu helfen.

Ja, schon gut, sie gab es zu: Ihre Distanz war im Schwinden. Verkörperte Caroline Qualitäten, die bei ihr nicht entwickelt waren, so wie sie ihren Klienten immer erklärte, welche Bekannten sie aussuchten? Sie bewunderte in der Tat die Energie, den Mut und die Integrität, die Carolines Generation dazu trieben, ihr Leben immer wieder neu zu gestalten, mochten die Ergebnisse auch noch so chaotisch sein. Sie beneidete sie um das Gefühl der Sicherheit, das ihnen erlaubte, so überschäumend zu experimentieren. Diejenigen, die deutsche Torpedos auf dem Nordatlantik erlebt hatten, hatten wenig Interesse daran, das Schiff ins Wanken zu bringen.

348

Sie parkte in der Einfahrt hinter Arthurs Auto, und plötzlich wurde ihr klar, was Caroline tat. Hannah sagte ihr, sie müsse die Entscheidung über das Weggehen treffen, um das Muster zu durchbrechen, daß sie immer abwartete, bis sie sich zurückgewiesen fühlte. Jetzt machte sie also genau das – sie ging weg, aber sie ritt nicht in den Sonnenuntergang davon, sondern sie bat darum, als gleichberechtigt anerkannt zu werden. Carolines Verhaltensmuster zu durchbrechen bedeutete, ein paarmal zu Mittag zu essen. Sie freute sich darüber, daß Caroline ihr Verhaltensmuster in Frage stellte, freute sich über sich selbst, daß sie angemessen reagiert hatte, und sie freute sich, daß sie schließlich alles verstanden hatte.

Beim Aussteigen lächelte sie vor sich hin. Alles war in Ordnung, wenn sie es nur in einem therapeutischen Kontext einordnen konnte, denn dann war sie der Chef. Gib's zu, Kumpel, teilte sie sich selbst mit, als sie die Autoschlüssel in ihre Handtasche fallen ließ: Du magst diese Frau einfach gern.

5

Caroline fuhr von Hannahs Büro mit einem komischen Gefühl im Magen nach Hause, wenn sie daran dachte, daß sie zwei Wochen ohne eine Spritze sein würde. Da entdeckte sie ein V von Kanadagänsen, die über das offene Wasser in der Mitte von Lake Glass flogen. Sie parkte ihren Subaru am Straßenrand neben einem matschigen, gepflügten Feld, das zum Ufer hin abfiel. Weißer Schnee lag in den Furchen wie die Streifen eines Zebras. Als sie ausstieg, hörte sie schwach das Schreien der Wildgänse, die im Flug schnatterten.

Sie suchte einen Weg durch den Matsch zum See und stellte sich dabei die tote Gans vor, die letzten Herbst vor ihrer Türschwelle gelegen hatte. Welcher Verrückte konnte sein Gewehr auf dieses V richten und einen dieser majestätischen Vögel herunterholen? Vermutlich die gleichen Verrückten, die kleinen Kindern vergiftete Limonade spritzten.

Als sie am Rand des Sees stand und die Stiefelspitze in das weiche Eis bohrte, beobachtete sie sich. Wenn sie so weitermachte, würde 349sie sich bald elend fühlen. Man mußte nicht Gänse über einem See sehen und dabei an Dschungelmorde denken. Es sei denn, es machte einem Spaß, das Grauen zu spüren. Was nicht mehr der Fall war. Wenn es überhaupt je der Fall gewesen war. Sie hatte Angst davor, von Hannah wegzugehen; und dieses Angstgefühl projizierte sie auf die Welt. So einfach war das und war es schon immer gewesen. Hannah hatte versucht, ihr das zu verstehen zu geben. Aber sie würde Hannah ja in zwei Wochen sehen und mit ihr essen gehen, wenn die Therapie vorbei war. Kein Grund, Angst zu haben, also auch kein Grund, diese Welt, in der es so grundlose Wunder wie bewegliche V-Formationen fliegender Gänse gab, als einen grauenhaften Ort zu sehen, um so zu erklären, warum sie Angst hatte.

Sie atmete die schwüle Frühlingsluft tief ein und betrachtete die zurückkehrenden Gänse, wie sie langsam den See hinaufflogen, die wellenförmigen Berge hinter ihnen und den wolkengesprenkelten Himmel über ihnen. Statt als Vorboten des Dschungelgrauens konnte sie in ihnen Herolde des Frühlings sehen. Sie konnte dankbar sein, daß sie die Stürme des Winters überlebt hatte. Sie ging ein paar Schritte auf das schmelzende Eis hinaus, das verhängnisvoll knirschte. Ein Muster aus Rissen bildete sich unter ihren Stiefeln, wie ein zersplitternder Spiegel. Bald würden die Kinder die grüne Wiese vor dem Haus hinunterrasen, um sich ins Wasser zu stürzen.

Als sie wieder an ihrem Auto stand, konnte Caroline die Gänse nicht mehr hören und sie kaum noch sehen, ein fliegender Keil auf dem Weg nach Hause. Diese Gänse wußten mühelos, wie sie ihr Leben führen sollten, und sie selbst spürte, daß in ihr eine ähnliche Leichtigkeit heraufdämmerte. Alles würde gut sein.

Sie stieg ins Auto und fragte sich, ob sie sich in eine Spinnerin verwandelte. All diese Träume, Zeichen und Vorahnungen waren Sachen, über die sie sich immer lustig gemacht hatte. Was wäre, wenn sie als nächstes einen Aufkleber an ihr Auto machte, auf dem stand: «Ich bremse bei Einhörnern.»

Zu ihrer Beunruhigung stellte sie fest, daß sie gerade John Denvers Song «Sunshine on my shoulders» pfiff. Also schob sie eine Kassette aus der Krankenhausbibliothek in ihren Kassettenrecorder: «Tod auf Grund selbstinduzierter Abtreibung bei weiblichen Jugendlichen». Obwohl sie versuchte, sich auf die Blutungen zu konzentrieren, die durch Stricknadeln hervorgerufen wurden, 350dachte sie dauernd daran, daß Hannah bereit war, mit ihr essen zu gehen. Unerwartet. Wie üblich. Caroline war dahin gekommen, von Hannah das Unerwartete zu erwarten. Sie hatte sich dagegen gewappnet, Hannah nie wieder zu sehen, weil sie wußte, daß sie nicht bleiben konnte – jetzt, da es ihr besser ging. Um bleiben zu können, waren neue Krisen erforderlich, damit sie etwas hatten, womit sie sich beschäftigen konnten. Aber genau darauf kam es an: dieses Krisenklima loszuwerden. Sie hatte gewußt, daß es Zeit war zu gehen, und hatte sehr bewußt Hannah nicht gefragt, ob sie in Kontakt bleiben könnten, damit Hannah sie nicht zurückweisen mußte. Und jetzt schlug Hannah vor, sie könnten zusammen Mittag essen gehen. Ich weiß, was du willst, und du kannst es haben?

Caroline fühlte sich unwohl. Sie war nicht einmal sicher, ob sie mit Hannah essen gehen wollte. Was sollten sie denn miteinander reden? Hannah wußte zu viel, hatte sie weinen und kriechen und toben sehen. Keine der normalen geselligen Taktiken würde bei ihr funktionieren. Und doch konnten sie außerhalb des Sprechzimmers nicht weiterhin Therapeutin und Klientin sein. Was wäre, wenn Caroline eine Krise hätte und eine Therapeutin bräuchte? Vielleicht wäre es besser, Hannah als ein Denkmal in ihrem Gedächtnis zu bewahren und nicht wieder mit ihr essen zu gehen und zu entdecken, daß sie Tofu mochte.

Als sie in den ungepflasterten Weg zum Haus einbog und den Motor für eine Fahrt durch den Matsch auf Hochtouren brachte, begriff Caroline: wenn Hannah nicht bereit gewesen wäre, mit ihr essen zu gehen, hätte das die ganze Therapie in Frage gestellt. Wenn Caroline so liebenswert war, wie Hannah immer wieder sagte, dann war es doch nur natürlich, daß Hannah mit ihr essen gehen wollte. Wenn sie nicht so liebenswert war, dann war Hannah eine Lügnerin. Hannah war eine kluge Frau. Es war anzunehmen, daß sie sich dessen bewußt war, denn das war ja ihr Job, wie sie immer betonte. Sie hatte also unter Druck ein gemeinsames Mittagessen vorgeschlagen, nicht weil sie es wirklich wollte. Caroline ging ihr furchtbar auf den Wecker. Mittag essen war eine Methode, sie schneller loszuwerden. Sie zwang Caroline praktisch, eine Woche zu überspringen. Hannah konnte es nicht abwarten, sie durch eine interessantere Klientin mit echten Problemen, wie zum Beispiel einer gespaltenen Persönlichkeit oder dergleichen, zu ersetzen. Was hatte sie über Diana gesagt? Daß Fürsorgerinnen manchmal nicht wußten, wie sie sich gegenüber 351Gesunden verhalten sollten. Aber Hannah war selbst eine Fürsorgerin, und Caroline war jetzt gesund. Hannah wollte sie nicht mehr um sich haben, genausowenig wie Diana. Der einzige Weg, sie beide zu halten, war ein Rückfall. Carolines Optimismus strömte aus wie die Luft aus einem angestochenen Reifen.

Als sie vor dem Haus parkte, sah sie Diana in Latzhosen und Anorak, wie sie die Holzabdeckung von einer immergrünen Pflanze neben der Hausmauer entfernte. Diana blickte auf, winkte beiläufig und begann, die rostfarbenen Blätter abzuschneiden, die im Winter erfroren waren. Seit Dianas Ankündigung am Kamin hatten sie sich höchstens so im Vorbeigehen zugewinkt. Es war unklar, wie lange es so weitergehen konnte. Sie schienen in einem sinnlosen Patt angelangt zu sein, und keine von beiden wußte, wie sie es durchbrechen sollte. Caroline überlegte, ob sie ernsthaft anfangen sollte, einen Umzug zu planen. Aber sie hegte immer noch eine schwache Hoffnung, Diana könnte es sich anders überlegen, und sie würden dann glücklich und in Freuden hier leben. Es war schlimmer, als einfach eine Liebesbeziehung zu verlieren. Diana war auch ihre beste Freundin. Bei den Männern hatte man immer noch seine Freundinnen, die einem halfen, das Ende einer Romanze zu überstehen. Aber Diana war eine dieser Freundinnen, zu denen sie laufen wollte, um getröstet zu werden, nachdem sie sich mit Diana, der Geliebten, gestritten hatte. Keine Diana, keine Hannah, und niemand, der sie ersetzen könnte.

Caroline schaute im Auto nach, was sie mit hineinnehmen sollte. Ihre Terminkarte lag auf dem Armaturenbrett. Sie nahm sie in der Absicht, das gottverdammte Ding in tausend Stücke zu zerreißen. Sie konnte den Termin ja gar nicht einhalten. Lieber schnell alles hinter sich bringen. Sie schaute auf die Karte. Dann starrte sie darauf. Das Datum stimmte nicht. Es war für nächste Woche. Hannah hatte keine Woche übersprungen. Ein Lächeln schlich über ihr angespanntes Gesicht. Lieber Gott – war es möglich, daß Hannah sie auch nur widerwillig gehen ließ?

 

«Ich verstehe euch zwei wirklich nicht», sagte Jenny, als sie und Caroline an einem Tisch in Maude's Corner Café unter einem Deckenfächer aus Holz saßen. Jenny trug ihre dunkelblaue Maomütze mit dem roten Stern vorne. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und tiefe Falten zwischen den Augenbrauen.

352

«Damit sind wir schon zwei», sagte Caroline. «Vermutlich drei.»

«Ich glaube nicht, daß ihr euch je für eine bestimmte Art von Beziehung entschieden habt. Seid ihr ein normales Paar, oder wohnt ihr nur zusammen, oder seid ihr gemeinsame Eltern, oder seid ihr gelegentliche Geliebte, oder beste Freundinnen, die miteinander schlafen, oder was?» Jenny löffelte Humus mit ihrem Pitta-Brot und streute kleine Bermudazwiebelstückchen darauf.

Caroline lachte. «Ich bin erstaunt, daß das von dir kommt, Jenny. Warum sollten wir eine bestimmte Art von Beziehung haben?» Sie biß in ihr Sandwich.

«Aus keinem Grund eigentlich. Aber es kann ziemlich verwirrend sein, wenn du nicht weißt, was du machst. Ich meine, ich sage jeder Frau, mit der ich zusammen bin, daß ich nicht die Hälfte eines Paares sein kann. Dann wissen wir alle, woran wir sind. Aber du und Diana, ihr macht ja wohl alles.»

Caroline zuckte die Schultern. «Na ja, ich verstehe, daß du das so siehst, Jenny.»

Jenny hörte mitten im Biß auf, um sie anzuschauen. «Was soll das heißen?»

«Das heißt, daß ich mich nicht mit dir streiten will.»

Jenny lachte. «Ich wollte auch nicht kritisieren, nur meine Meinung sagen. In der Hoffnung, hilfreich zu sein.»

«Die Beziehung zwischen Diana und mir hat ihre eigene Logik. Wir haben mitgemacht, was die andere jeweils zu jedem Zeitpunkt wollte. Aber die Logik ist jetzt zusammengebrochen, weil wir beide glücklich sind. Dieses verzweifelte Bedürfnis, das viele Paare zusammenhält, ist weg. Es wird vielleicht eine Belastung für dich, Jenny. Ich bin sicher, wir werden dich beide belästigen und um Verständnis angehen.»

«Kein Problem, mein Schatz. Ich liebe euch beide. Belästige mich, soviel du willst. Und wenn du je mit einer Frau, die nicht die Hälfte eines Paares sein kann, das Bett teilen willst, dann laß es mich wissen.»

Caroline lächelte. «Danke, ich werde es mir merken.» Sie beugte sich über den Humus und küßte Jenny auf den Mund, während den anderen Gästen der Mund offenstehen blieb. «Aber ich habe den Verdacht, daß unsere Lebensstile nicht gut zusammenpassen würden. Du hast dich auf mehrfache Beziehungen spezialisiert und ich mich auf mehrfache Orgasmen.»

353

Jenny lachte. «Du hast vermutlich recht.»

«Wie geht es denn mit Hannah?»

«Gut. Sie ist wirklich ganz toll.»

«Allerdings. Ich beneide dich. Ich wollte, ich hätte gerade angefangen.» Caroline betrachtete die Ringe unter Jennys Augen. Jenny ging es schlecht, und sie konnte Hannah sehen. Wenn es Caroline wieder schlechtginge, könnte sie auch bei Hannah weitermachen. Sie würden vielleicht zusammen essen gehen, aber das war freiwillig. Ein Mittagessen konnte Hannah ablehnen, aber nicht einen Therapietermin. Der Preis des Glücks war hoch.

«Aber vergiß nicht, wie strapaziös es ist», sagte Jenny.

«Warte, bis du aufhörst. Das ist ein Gefühl wie Selbstamputation.»

«Na ja, ich habe dich noch nie so gut in Form gesehen. Ich wußte schon immer, daß hinter deiner Mutter-Teresa-Nummer ein John Wayne steckt.» Jenny grinste.

«Solche Freunde brauche ich?» lachte Caroline.

Als Caroline die Haupteinkaufsstraße hinunterging, kam sie an einem Blumengeschäft vorbei. Auf dem Gehweg standen viele Töpfe mit blutroten Tulpen und sonnten sich in der Frühjahrssonne. Caroline blieb stehen. Sie hatte so viele Monate weißen Schnee, grauen Himmel und glitzerndes Eis gesehen, daß sie jetzt ganz geblendet war von dem Rot. Sie ging in die Hocke und berührte die wachsigen Blütenblätter mit den Fingerspitzen. Diese Welt ist wie ein Diamant auf schwarzem Samt. Sie ging in das Geschäft und bezahlte für zwei Töpfe, einen für Hannah und einen für Diana, ihre beiden Lieblingsfrauen. Was nicht hieß, daß sie Jennys Einladung nicht ernsthaft in Betracht ziehen würde. Obwohl es ihr unwahrscheinlich vorkam, daß sie annehmen würde. Für die Generation ihrer Eltern war die größte Herausforderung gewesen, Leute zu finden, mit denen sie ins Bett gehen konnten. Die Herausforderung für Carolines Generation war, mit Leuten nicht ins Bett zu gehen.

Sie stellte die Tulpen vor dem Beifahrersitz auf den Boden. Da fiel ihr ein, daß sie dem Schenken abgeschworen hatte. Sie hatte die Absicht herauszufinden, ob jemand sie nur um ihrer selbst willen gern haben konnte. Außerdem sollte sie Hannah keine Geschenke machen, und Diana und sie redeten nicht miteinander. Sie betrachtete die frischverwaisten Tulpen. Sie konnte sie selbst behalten. Warum nicht?

354

Ach, zum Teufel. Hannah wollte nicht, daß sie ihr Geschenke brachte, aber sie tat nicht mehr alles, nur um anderen eine Freude zu machen, und sie wollte Hannah Geschenke bringen. Auf dem Weg zu ihrer Sitzung hielt sie bei Cheever's in der Einkaufspassage bei der Schnellstraße und nahm ihren Sonnenuntergangsschal wieder mit, trotz des Protests von seiten des Managers.

Als sie in das Sprechzimmer kam, drückte sie Hannah die Tulpen in die Hand. «Sie müssen mich mein Bedürfnis, Geschenke zu machen, ausleben lassen. Ich weiß, Sie freuen sich nicht darüber, aber das ist Ihr Job.» Sie warf die Tüte mit dem Schal auf die Couch. Sie würde sie Hannah später geben, nachdem sie ihre Reaktion auf die Tulpen gesehen hatte.

Hannah lachte. «Danke. Sie sind schön. Ich liebe Tulpen.»

«Sie können sie in den Garten pflanzen, als Erinnerung an mich.» Hannah schien nicht ungehalten zu sein. Vielleicht hatten sich die Spielregeln geändert, weil sie jetzt fast am Ende waren?

«Das werde ich.» Genau das, was ich brauche, dachte Hannah, noch jemand, an den ich mich erinnere.

«Apropos – warum bin ich heute hier?» Caroline ließ sich auf die Couch fallen, neben ihr Päckchen, und betrachtete Hannah. Sie fühlte sich seltsam gut gelaunt – trotz der Entfremdung von Diana, trotz der Notwendigkeit, Hannah zu verlassen. Es hatte etwas mit der Terminverwechslung zu tun.

«Was meinen Sie?»

«Letzte Woche habe ich beschlossen, eine Woche zu überspringen, aber Sie haben mir einen Termin für heute gegeben.»

Konnte das stimmen? Hannah drehte sich mit dem Stuhl herum und studierte ihren Terminkalender. Caroline hatte recht. «Warum haben Sie dann nicht abgesagt?»

Hannah klang irritiert. Caroline lächelte spöttisch. «Ich wollte nicht absagen. Ich war entzückt. Ich dachte, es zeigte, daß Sie auch nicht wollen, daß ich aufhöre.»

Hannah blickte nach unten. Verdammt. Du bringst ihnen deine Tricks bei, und dann setzen sie sie gegen dich ein. Sie blickte auf und begegnete Carolines ruhigem blauen Blick. Sie bestaunte die Verwandlung des verängstigten kleinen Mädchens, das sich letzten Herbst auf dieser Couch ausgebreitet hatte. «Meinetwegen. Ja. Sie haben recht. Ich werde Sie vermissen. Unsere Sitzungen sind für mich ein Vergnügen, beruflich und persönlich.» Sie merkte, daß das 355stimmte. Sie freute sich, wenn Carolines Name in ihrem Terminkalender stand. Sie machte nicht nur ihre gottverdammte Arbeit.

«Danke. Für mich auch. Ich treffe so selten eine Frau, die klüger ist als ich.» Sie grinste. Es war Realität, was all diese Monate über vor sich gegangen war, nicht nur ein Schattenspiel, manipuliert von einer meisterhaften Puppenspielerin, aus beruflichem Pflichtgefühl heraus.

Hannah lachte. «Na ja, nachdem wir nun diese Liebesfeier hinter uns haben – worüber würden Sie heute gerne reden?»

«Ich würde Ihnen gerne erzählen, was ich gestern geträumt habe.»

«Gut, schießen Sie los.»

«Sie und ich gingen im Grand Union in der Einkaufspassage einkaufen. Ich ging zur Fleischtruhe hinüber und holte eine Lammkeule heraus. Ich wickelte sie aus, nahm ein Vorlegemesser und schnitt das Fett ab. Dann reichte ich Ihnen das, was übrigblieb. Sie schienen sich zu freuen. Ich fühlte mich … wie ein Schaf.» Sie lachten.

«Wie verstehen Sie das?» Hannah schaute die roten Tulpen auf ihrem Schreibtisch an. Sie waren schön. Sie sollte ihre Klienten nicht mehr entmutigen, ihr Geschenke zu bringen. Sie könnte hier im Zimmer ein paar neue Pflanzen brauchen. Und sie hatte keine großen Einwände gegen Süßigkeiten, Schmuck, Parfüm …

«Ich habe angefangen zu überlegen, wie ich diesen ganzen Mist loswerde und zum Mark vordringe.»

«Genau das habe ich auch gedacht. Sehen Sie? Sie brauchen mich nicht mehr. Sie können es selber.»

Caroline verspürte eine plötzliche Panik und begann, nach einem Problem zu suchen. Jason schoß immer noch mit seinem Luftgewehr auf kleine Tiere. Jackie hatte angefangen, geheimnisvoll zu tun, was seine Freundin anging. Suzanne war öfter als je im Haus. Aber das alles interessierte sie ziemlich wenig.

Hannah beobachtete, wie Carolines Augen durchs Zimmer schossen. «Sie werden überrascht sein, wie leicht es ist, ohne mich auszukommen», sagte sie. «Millionen von Menschen tun es.»

Caroline lachte trotz ihrer Angst. Verdammt noch mal, sie hatte das Gefühl, daß sie zurechtkommen konnte. Bestimmt gab es irgendwo eine Katastrophe, für die sie Hannahs Hilfe brauchte. Was war mit Harrisburg? Dem Yorkshire-Ripper? Aber wir können 356nur unser Bestes tun, und das reicht oft nicht. Und Kanadagänse flogen immer noch in ordentlichen Vs den See hinauf. Tulpen blühten auch weiterhin.

«Erinnern Sie sich an die Liste, als Sie hier angefangen haben?» fragte Hannah und blickte auf ihre Steinvenus. «Wie würden Sie sich jetzt beschreiben? Zählen Sie Ihre zehn typischsten Eigenschaften auf.»

Caroline saß schweigend da, Wörter marschierten durch ihr Gehirn wie eine Parade von Fahnenträgerinnen. Jämmerlich, hinterhältig, bösartig, hatte sie letzten Herbst geschrieben. Aber das klang nicht mehr richtig. «Klug, phantasievoll, großzügig, ernst …»

«Begabt?» Hannah sah diese Schals vor sich. «Witzig?»

Caroline nickte mit einem verlegenen Lächeln. «Bescheiden.»

Sie lachten. Hannah schaute ihr in die Augen und sagte: «Sie sind all das.»

Sie saßen lange schweigend da und horchten auf das erste zaghafte Zwitschern vor dem Fenster – Vögel, die aus dem Süden zurückgekommen waren. Hannah schaute auf den gekräuselten See, golden geädert von der Frühlingssonne.

«Was wollen Sie also tun?» fragte Hannah. Es schien nicht mehr viel zu besprechen zu geben. Wenn Caroline weiterhin kam, würden sie nur auf der Stelle treten, bis Caroline den Mut aufbrachte zu gehen. Aber das war natürlich Grund genug, um weiterzumachen.

Caroline konnte nicht antworten: Sie wußte, es war Zeit aufzuhören, aber sie wollte nicht. Es war im letzten Herbst schwierig gewesen, Hannah zu akzeptieren. Jetzt kam es ihr unmöglich vor, sie aufzugeben. Aber es war Carolines Entscheidung. Sie wußte, Hannah würde bis zum Jüngsten Tag hier sitzen, wenn das nötig war, um Caroline dazu zu bringen, die Initiative zu ergreifen – und indem sie das tat, ihr altes Verhaltensmuster zu durchbrechen, daß sie immer wartete, bis sie sich weggeschickt fühlte. Sie schaute über den Parkplatz hinweg wie ein Astronaut, der die dunkle Seite des Mondes überblickt, und sagte schließlich mit leiser Stimme: «Okay. Ich bin soweit. Ich weiß, es ist Zeit.»

Hannah betrachtete Caroline, die ein bißchen grün um die Nase aussah. Aber wenn sie sich einmal entschlossen hatte, dann machte sie offensichtlich keine großen Umstände. Auch gut – es schnell hinter sich bringen. «Manchmal mache ich noch eine Sitzung nach sechs Wochen. Möchten Sie das? Oder ziehen Sie eine Radikalkur vor?»

357

«Ja. Gut. In sechs Wochen.»

Caroline stand auf und nahm die Terminkarte. «Vielen Dank. Sie haben mir so sehr geholfen», sagte sie mit erstickter Stimme. Sie streckte die Hand aus und berührte Hannahs Unterarm, als klopfe sie auf Holz.

«Sie haben die ganze Arbeit getan. Ich war nur die Ausrede dafür.»

«Quatsch.» Caroline drückte ihr die Tüte von Cheever's in die Hand.

«Danke. Was ist das?»

«Nichts Besonderes.» Caroline ging schnell zur Tür. Sie hatte das Gefühl, als würde sie nach der Bombe durch die Straßen von Hiroshima wandern. Aber sie würde es bis zur Tür schaffen. Sie mußte weitergehen, oder sie war geliefert.

Mit der ungeöffneten Tüte in der Hand stand Hannah auf, um Caroline weggehen zu sehen. Sie dachte an Mona, als sie fünf Jahre alt war und radfahren lernte. Sie hatte mit Stützrädern angefangen und war den Gehweg hinauf- und hinuntergesaust. Einmal kam sie in Tränen zu Hannah, die auf der Terrasse saß, und jammerte: «Mama, das Fahrrad lehnt sich immer auf die Seite.»

Als die Stützräder abmontiert waren, lief Hannah mit und hielt das Fahrrad fest. An dem Nachmittag, als Mona die Sache begriff, ganz plötzlich, nach all den Unfällen und aufgeschürften Knien, trottete Hannah neben ihr her und hielt ihren Arm fest. Mona, die das Gleichgewicht fand und schneller trat, packte Hannahs Hand. Während sie sich entfernte, lockerte Mona ihren Griff. Bis sich nur noch ihre Fingerspitzen berührten, Monas Finger mit Druck nach unten, die Augen auf die Straße vor ihr gerichtet.

Hannah sah, daß Mona nur merken mußte, daß sie jetzt allein radfuhr, also ließ sie die Finger sinken und blieb zurück. Als sich ihre Fingerspitzen das letzte Mal berührten und einander streiften, da empfand Hannah Freude und Stolz, gemischt mit Schmerz – über den Verlust des kleinen Mädchens, das nicht radfahren konnte. Hannah und die anderen Kinder applaudierten, als Mona mit triumphierend glänzenden Augen zurückkam, und Hannah wurde das erste Mal klar, daß Elternschaft eine Serie solch kleiner, täglicher Tode war und daß es genauso wichtig war zu lernen, Verantwortung abzugeben wie sie zu übernehmen.

Sie war jedoch nicht darauf vorbereitet gewesen, Mona und 358Nigel so früh oder so endgültig loszulassen. Manchmal träumte sie von diesem letzten Moment mit Mona, als ihre Fingerspitzen auseinanderstreiften, und dann wachte sie auf und merkte, daß ihr Gesicht tränennaß war.

Weshalb sie jetzt versuchte, dafür zu sorgen, daß nichts und niemand für sie je wieder so wichtig war. Nenne es Selbsterhaltung. Wenn du dein Herz an Leute und Gegenstände hängst, dann verurteilst du dich selber zu einem gebrochenen Herzen, weil sie alle eines Tages verschwinden.

Aber sie spürte immer noch ein Ziehen, wenn Klienten weggingen, und manchmal einen echten Schmerz, wie jetzt in diesem Augenblick, als sie beobachtete, wie Caroline einen herankommenden Wagen schnitt, um ihren Subaru in den Verkehr die Straße hinauf einzufädeln. Hannah zuckte mit den Schultern, weniger selbstbewußt als sonst, und sie ärgerte sich über Caroline, weil sie so eine Gefahr im Straßenverkehr darstellte. Daß sie in ihr verdammtes Leben gekommen war und dann wegging wie alle andern auch.

 

Die Bremsen des braunen Maverick, den Caroline gerade geschnitten hatte, quietschten. Ihr Körper erstarrte in einem Anfall physischer Angst. Aber ihrem dumpfen Gehirn war es scheißegal. Sollte er doch in sie reinfahren. Was juckte sie das? Sie konnte genausogut gleich tot sein, als die kommenden Wochen ohne Hannah zu ertragen.

Als sie im Rückspiegel das weißglühende Gesicht des wütenden Fahrers sah, rief sie sich ins Gedächtnis, daß Hannah bereit war, mit ihr essen zu gehen, wenn sie die Therapie beendet hatte. Aber das war vermutlich ihre Art, Caroline zu entlassen. Warum sollte Hannah mit einer Mücke essen wollen? Dann fiel Caroline der heutige Zusatztermin ein. Die Leute sagten alles mögliche, aber auf das, was sie taten, konnte man sich verlassen. Außerdem, wenn sie nicht ohne Hannah auskommen konnte, dann brauchte sie nicht aufzuhören.

Sie bog in die Seestraße ein und versuchte, sich Schwarzspechte, Kanadagänse, tropisches Gefieder vorzustellen. Aber ihr Magen drehte sich weiterhin dumpf. Sie mußte vielleicht an den Straßenrand fahren und sich übergeben. Sie dachte daran, wie sie in den Gully gekotzt hatte, als Arlene das letzte Mal in die Straßenbahn 359gestiegen war. Wieso zum Teufel hatte es ihr je geholfen, sich besser zu fühlen, wenn sie an blöde Vögel dachte? All diese Sachen, die sie während der Therapie gelernt zu haben glaubte – das war eine Fata Morgana. Die ganze Therapie war eine einzige Farce. Sie fühlte sich besser, weil sie sich an Hannah anlehnen konnte. Ohne Hannah fühlte sie sich so schlecht wie am ersten Tag, als sie in ihr Sprechzimmer kam, vor all den Monaten und all den Dollars. Sie fühlte sich schlechter, weil Gefühle, die sie unter Kontrolle gehabt hatte, aufgewühlt worden waren wie ein widerliches Hexengebräu. Froschaugen und Eidechsenschwänze kamen immer wieder an die Oberfläche gewirbelt.

Sie parkte neben Suzannes Toyota vor dem Haus und trommelte auf das Lenkrad. Diese verdammte Hannah hatte wirklich Nerven – sie kam in ihr Leben, rief all diese Gefühle hervor, und dann ging sie weg und ließ Caroline mit ihren Gefühlen sitzen.

Als sie den zweiten roten Tulpenstock auf ihren Tisch knallte, fiel ihr ein, daß sie den ersten Topf genauso auf Hannahs Schreibtisch gestellt hatte wie viel früher die Plastikhortensien auf Marshas Grab. Als sie Hühnchen auf dem Grill briet, kam sie mit der Hand an den heißen Herd. «Hergott noch mal, verdammte Scheiße!» schrie sie, hielt die Hand unter den Wasserhahn und stellte das kalte Wasser an. Der Geruch von verbranntem Fleisch stieg ihr in die Nase. Ihr drehte sich der Magen um. Vielleicht sollte sie einfach mit Marsha und Hannah sterben. Sie könnte ein Körperteil nach dem anderen unter den Grill halten. MUTTER ZU TODE GEGRILLT, würde dann in der Zeitung stehen.

«Ist alles in Ordnung?» rief Diana die Treppe herunter.

«Nein!»

Lange Pause. «Kann ich irgend etwas für dich tun?»

«Ja. Bleib mir aus den Augen.»

«Mit Vergnügen.»

Beim Abendessen fragte Jackie: «He, Mama, was hast du mit deiner Hand gemacht?»

«Verbrannt.»

«Tut es weh?»

«Ja.» Als sie die weißen Blasen und die feuerrote Haut ansah, begann sie zu weinen.

«Was ist los, Mama?» fragte Jason, einen Hühnerschlegel in der Hand.

360

«Ich glaube, ich bin traurig heute abend.» Sie stopfte ihre Serviette in ihre Faust. Ihre Schultern begannen zu beben. Sie begrub die Augen in der Serviette und gab sich tiefen Schluchzern hin. Es hatte keinen Sinn. In ihrem Herzen herrschte eine gähnende Leere, die Hannah sonst bewohnt hatte. Was sollte sie da machen? Sie hatte nicht einmal einen Termin für nächste Woche vor sich, bei dem sie mit Hannah darüber sprechen könnte, wieviel es ihr ausmachte, Hannah nicht mehr zu sehen.

Jason stand neben ihr, streichelte ihre Schultern und bat: «Sei nicht traurig, Mama.» Seine Welt geriet ins Wanken, genau wie ihre Welt an Tagen, an denen Hannah deprimiert oder müde war. Sogar noch mehr, weil Jason nicht einmal Auto fahren oder Schecks ausstellen konnte. Aber sie konnte die Welt nicht mehr für ihn zusammenhalten. Sie legte ihren Kopf auf ihre Arme auf dem Tisch und weinte. Es war alles aus. Sie konnte nicht mehr.

Jetzt stand Jackie auf der anderen Seite und streichelte sie ebenfalls. Jason sagte: «Ich hab dich so lieb, Mama. Jackie auch. Stimmt doch, Jackie?» Sie mußte sich irgendwie zusammenreißen. «Und Amelia auch», sagte Jason und drückte Caroline die widerstrebende Katze ins Gesicht. «Arnold auch. Stimmt doch, Arnold? Hierher, Mensch!» Arnold sprang bellend auf und ab. Bei seinem letzten Sprung schnappte er die Hühnerbrust von Carolines Teller.

Caroline richtete sich mit einem Seufzer auf. «Könnt ihr diesen Idioten hier rauswerfen?» Sie tupfte sich die Augen mit ihrer zerknüllten Serviette ab.

«Geht's dir besser?» fragte Jackie und betrachtete sie mit seinen dunklen, ernsten Augen.

«Ja. Es ist wieder in Ordnung. Ich habe einen schweren Tag hinter mir. Macht euch bitte keine Sorgen. Egal was passiert, ich werde gut für euch beide sorgen.» Sie sahen erleichtert und gleichzeitig gelangweilt aus, als hätten sie genau das hören wollen, aber als könnten sie es sich nicht leisten zuzugeben, wie sehr sie es hören wollten. «Erzählt mir ein paar Witze», sagte sie matt und nahm sich noch eine Hühnerbrust, während Arnold auf dem geknüpften Teppich die Knochen zersplitterte.

Die Jungen kramten jeden Klowitz aus, den sie je gehört hatten. Sie faßten außerdem die Handlungen sämtlicher laufender Fernsehserien zusammen. Während sie so tat, als höre sie zu, streckte Caroline die Hand aus, um die wachsigen roten Blütenblätter der 361Tulpen mit den Fingerspitzen zu berühren. Ja, sie waren schön. Sie waren ein verdammtes Wunder. Aber in ein paar Wochen würden sie verwelkt und tot sein. Wie alles übrige in ihrem Leben. Genau wie Hannah vor vielen Wochen gesagt hatte: Ihre Eltern, Marsha, Arlene, Jackson, David Michael, Hannah selbst – sie alle hatten ihr wunderbare Erfahrungen vermittelt, hatten ihr geholfen, Fähigkeiten und Kräfte zu entwickeln. Aber wo waren diese Idioten jetzt? Nie mehr würde sie auf der Tweedcouch sitzen, Hannah mit ihren bloßen Füßen ihr gegenüber, an ihrem Rauch ersticken, ihre scharfen blauen Augen und ihr warmes Lächeln beobachten, ihren schlechten Witzen und weisen Worten zuhören.

Jackies Stimme überschlug sich, als er irgend etwas von R2D2 erzählte. Er hatte ein paar mickrige Haare in den Achselhöhlen und eine Freundin, die im Schulbus einen Platz für ihn freihielt. Jason verbrachte seine Freizeit im Wald und pirschte sich mit seinem Luftgewehr an Vögel und Eichhörnchen heran. Bald würden sie nicht mehr dasein. Würden nie wieder hereingeplatzt kommen und ihr die kleine Schlange zeigen, die sie gerade gefangen hatten. Nie wieder ihr Wohnzimmer in ein Raumschiff oder in des Innere eines U-Boots oder in einen Hockeyring verwandeln.

Caroline konnte die Geräusche von Dianas und Suzannes Unterhaltung oben hören. Bald würde Diana fort sein. Um nie wieder den ganzen Morgen in Carolines Armen zu liegen und den Schnee am Fenster vorbeiwirbeln zu sehen. Nie wieder würden sie zusammen durch die sonnigen grünen Wiesen rennen, durch glühendrote Ahornwälder gehen, im Neuschnee Ski fahren, sich eine laue Frühlingsnacht hindurch lieben.

Selbst Amelia, die dasaß und zusah, wie Arnold die Hühnerknochen zerkaute, die sich den ganzen Winter über auf Carolines Bett zusammengerollt hatte, zog es jetzt vor, die ganze Nacht draußen auf Jagd zu gehen. Wo blieb dabei Caroline? Allein.

Beruhigt gingen die Jungen in ihr Zimmer, um Hausaufgaben zu machen. Während Caroline das Geschirr abwusch, wobei ihr die verbrannte Hand so weh tat, daß ihr Tränen in die Augen stiegen, versuchte sie, positiv zu denken. Wie bei der Luftaufnahme in Hannahs Sprechzimmer hing das, was man sah, davon ab, worauf man sich konzentrierte. Ihr Leben lag in Trümmern, das stimmte. Aber irgendwo unter den Ruinen blühte doch sicherlich ein Gänseblümchen? Sie hatte immer noch Freundinnen, mit denen sie 362Poker spielen und zum Bowling gehen konnte. Sie hatte immer noch einen schlechtbezahlten Job und einen gesunden Körper. Sie konnte neue Zutaten verwenden, jetzt, da sie wußte, daß sie die Chefköchin war. Vielleicht sollte sie Makramee anfangen. Sie könnte ein Leichentuch in vielen verschiedenen Farben weben. Oder ein neues Pink Blanky. Wie wäre es mit Rauchen? Sogar Hannah rauchte. Irgendwie mußte die Leere gefüllt werden. Aber womit?

Sie machte sich einen Kaffee, stellte den Fernseher an und setzte sich aufs Sofa, um die Nachrichten zu sehen, in der Hoffnung, die Leere vorübergehend mit vertrauten Alltagshandlungen zu füllen. An manchen Abenden schien Walter Cronkite die Welt unter Kontrolle zu haben, und man konnte relativ zuversichtlich ins Bett gehen und denken, daß man am nächsten Morgen lebendig aufwachen würde. Unglücklicherweise heute nicht. Walters Lakai beschrieb gerade Idi Amins Vorliebe für Steak aus Kinderfleisch. Caroline spürte, wie das schwache Knirschen in ihrem Magen sich beschleunigte, wie ein B 52-Bomber, der sich zum Abheben bereit macht. Aber diesmal war sie soweit: Sie fühlte sich schutzlos ohne Hannah, und sie projizierte ihre Angst auf die ganze Welt.

Abrupt stand sie auf und stellte den Fernseher ab. Sie konnte sich dafür entscheiden, nicht in diesen Wahnsinn verwickelt zu werden. Sie konnte jemanden anrufen. Nicht Hannah, nicht Diana, nicht Brian. Ihr Vater haßte Ferngespräche, weil sie teuer waren. Marsha war tot. Sie hatte keine Nummer von Rorkie oder David Michael. Jackson fand sie sowieso schon hysterisch. Jenny! Vielleicht würde sie sogar die Einladung annehmen, mit ihr das Bett zu teilen. Alles, nur heute abend nicht alleine schlafen. Sie wählte Jennys Nummer. Keine Antwort. Sie wählte Pams Nummer. Keine Antwort.

«Hallo Kindchen. Was gibt's?» fragte Brenda.

«Nichts Besonderes. Ich fühle mich nur mies und wollte eine freundliche Stimme hören.»

«Stimmt was nicht?»

«Diana und ich haben mal wieder Schluß gemacht, und ich habe gerade mit der Therapie aufgehört.»

«Beides auf einmal? Habt ihr denn nie genug davon, euch zu trennen? Und warum hörst du schon so schnell mit der Therapie auf? Mein Gott, es ist ein Wunder, daß du nicht in der Irrenanstalt 363bist. Hör zu – Barb und ich gehen in Maude's Café essen. Willst du uns da treffen? Ein bißchen trinken, ein bißchen lachen?»

«Danke, aber das geht nicht. Ich habe die Kinder heute abend.»

«Gut, dann kommen wir auf dem Weg schnell vorbei.»

«Es geht schon, Brenda. Wirklich. Ich komme schon zurecht.»

«Wir sind in zehn Minuten da.»

Caroline hatte vergessen, daß sie es mit einer Unfallschwester zu tun hatte. Bis sie die Kissen aufgeschüttelt und die Baseballschuhe weggeräumt hatte, standen Barb und Brenda schon vor der Tür, mit einer Flasche Whisky und einem Teller Schokoladenkekse.

«Jesses, du siehst ja nicht besonders gut aus», sagte Brenda, führte Caroline zum Sofa und gab ihr einen Keks. «Iß das. Das hebt deinen Blutzuckerspiegel.»

Während Caroline den Keks aß, mixte Barb in der Küche Drinks. Brenda erzählte von einem kräftigen Mann, der am Abend zuvor aus einer wilden Bar auf die Unfallstation gebracht worden war, sturzbesoffen und mit gebrochenem Bein. Als sie seine Hosen aufschnitt, sah sie, daß er Spitzenunterhöschen trug und eine Wurst auf die Innenseite seines Schenkels geklebt hatte. Barb lachte so, daß sie den Whisky über die ganze Anrichte verschüttete.

Nach ein paar Drinks und nachdem Brenda alle Unfälle geschildert hatte, die sich in der letzten Woche in der Gegend ereignet hatten, sagte Barb zu Caroline: «Bist du sicher, daß du nicht mit uns essen gehen willst?»

Caroline sagte: «Nein, danke. Ich bin heute abend für die Heimfront verantwortlich. Aber danke, daß ihr vorbeigekommen seid, Kinder. Ihr habt mich aufgeheitert.» Während sie das sagte, wußte sie, daß es gelogen war.

«Nimm zwei Aspirin und geh mit einer Freundin ins Bett», sagte Brenda und ging mit einem herzhaften Lachen ab.

Als ihr Auto wegfuhr, fragte sich Caroline, ob sie selbst je wieder so lachen würde. Brenda hatte ihr Bestes getan, aber sie konnte im Grunde nichts machen. Niemand konnte etwas machen. Es war vorbei. Sie hatte alles versucht. Das einzige, was noch übrigblieb, war, hundertundzwei Aspirin zu nehmen und allein ins Bett zu gehen. Sie trug ein Glas Wasser in ihr Schlafzimmer und stellte es auf den Nachttisch. Dann ging sie zum Schrank, sammelte alle Pillenflaschen ein und gruppierte sie um das Wasser.

Methodisch zog sie ihre Kleider aus und legte sie zusammen. 364Dann zog sie ihr Flanellnachthemd an. Nachdem sie sich die Zähne geputzt hatte, ging sie in das Zimmer der Jungen. Sie waren so mit ihren Hausaufgaben beschäftigt, daß sie kaum aufblickten, als sie sich mit einem Kuß verabschiedete und ihnen über die Haare strich.

Als sie ins Bett ging und ihre Pillenflaschen betrachtete, fiel ihr ein, daß sie den Jungen beim Abendessen versprochen hatte, sie würde für sie sorgen. Verdammt. Sie schaute das mit Wasser gefüllte Luke Skywalker-Glas an. Sie brach nie ein Versprechen. Das gab ein schlechtes Beispiel. Scheiße. Sie konnte nicht einmal ihre Möglichkeiten abwägen und sich dann entscheiden, am Leben zu bleiben. Sie war hier angebunden. Sie fegte die Flaschen vom Tisch und in den Papierkorb auf dem Boden.

Mit einem enttäuschten Seufzer legte sie sich hin, machte das Licht aus und zog die Bettdecke bis zum Kinn. Sie begann, die Leere von allen Seiten zu prüfen. Schließlich merkte sie, daß das alles überhaupt nichts Neues war. Sie hatte dieses Gefühl der Leere ihr ganzes Leben mit sich herumgetragen. Es flackerte periodisch auf, wie Malaria. Sie sah das kleine Mädchen vor sich, wie es versuchte, seinen Weg zum Klo zu finden, über den dunklen Flur, die rosarote Decke um die Schultern gewickelt, als Schutz gegen Monster und Japaner, die im Dunkel lauerten. Sie empfand die gleiche angsterfüllte Leere, als sie mit dem Bus zu Marshas Grab fuhr, die Blumen in der Hand. Und als sie auf den Rasen schaute, der mit Rorkies Klopapier bedeckt war. Und als sie auf der Straße stand und Arlene mit Dusty in ihrem Büro sah. Und als sie in Jacksons Neo-Tudor-Haus begraben war, in das er kaum je zurückkehrte. Und wenn sie das Kopfbrett von David Michaels Bett während seiner Nächte mit Clea gegen die Wand rattern hörte. Und als sie Diana neulich abends vor dem Kamin sagen hörte, ihre Beziehung funktioniere nicht. Blitzartig begriff sie, daß ihr Gefühl der Verlassenheit und der Verzweiflung fast nichts mit diesen anderen Menschen zu tun hatte. Sie waren nur normale Menschen mit kleinen Fehlern, und sie taten ihr ungeschicktes Bestes, mit einem gewissen Maß an Vergnügen und Sinn durchs Leben zu kommen. Ihre Leere gehörte ihr, und ihr allein.

Laß sie gehen, kam ihr plötzlich in den Sinn. Laß sie alle gehen. Laß sie alle in Frieden gehen. Ihre Eltern, Marsha, Rorkie, Arlene, Jackson, David Michael, Diana, Hannah – sie alle mußten gehen. Sie hatte sich um jeden einzelnen von ihnen gedreht wie ein Israelit 365um das Goldene Kalb. Auf wen sie auch den Scheinwerfer ihrer Seele richtete – dieser Mensch war sofort vergöttert worden. Aber jetzt mußten sie alle gehen. All diese Menschen, Orte und Besitztümer; all ihre Erinnerungen, Vorstellungen und Sehnsüchte. Sie bereiteten ihr zu viel Schmerzen. Die einzige Lösung war, sie freiwillig aufzugeben, ehe sie ihr entrissen wurden. Es gab mehr als eine Art, sich umzubringen, und sie machte sich daran, genau das zu tun, indem sie mit der Machete des Verzichts den verworrenen Dschungel ihrer Vergangenheit durchschlug.

Als der Kampf vorüber war, blickte Caroline sich um und fand, daß die Leere, die sie gerodet hatte, keineswegs leer war. Sie war ausgefüllt mit der dunklen, heilenden Stille, die sie empfunden hatte, als sie von den Dschungelvögeln träumte. Sie empfand sie, als sie mit Diana auf dem Fußboden vor dem Kamin saß und als sie schweigend mit Hannah dasaß. Aber die Vögel, Diana und Hannah waren nicht mehr anwesend. Sie hatte sie aufgegeben, zusammen mit allem übrigen. Und sie hatte gerade entdeckt, daß es nicht notwendig war, die Lücke auszufüllen, weil sie bereits gefüllt war.

Ein Plumps am Fußende ihres Bettes ließ sie aufschrecken. Sie setzte sich auf und sah Amelias gelbgrüne Augen blitzen, die es sich gerade auf ihrer Bettdecke gemütlich machte. Caroline konnte sie gleichmäßig schnurren hören.

Sie legte sich zurück und schloß die Augen, in der Hoffnung, den Zustand wiederfinden zu können, aus dem Amelia sie aufgeschreckt hatte. Und plötzlich sah sie, wie das erschrockene kleine Mädchen zu voller Größe heranwuchs und die rosarote Decke abwarf wie Wonder Woman ihren Umhang. Das kleine Mädchen stand im Dunkeln und erwartete frierend den Angriff der Monster. Als nichts passierte, schaute sie sich um und sah, daß da überhaupt keine Monster waren, nur wechselnde Schatten, die das Mondlicht spielerisch durch die Bäume vor dem Fenster warf. Nicht nur waren da keine Monster, da war auch kein verängstigtes kleines Mädchen mehr. Und durch Carolines Kopf schoß der Gedanke: Die Kraft, die du so beharrlich anderen zugewiesen hast, liegt in Wahrheit in dir selbst.

366

6

«Ich komme mir vor wie eine Versagerin.» Caroline saß hingegossen auf der Tweedcouch, in Jeans und einem Arbeitshemd. Was sollte dieser Anfall von Verzicht letzten Monat, wenn sie jetzt wieder auf Hannahs Schoß weinte?

«Unsinn. Das Wort verwenden wir hier nicht.» Obwohl Hannah, zumindest sich selbst gegenüber, zugeben mußte, daß sie enttäuscht gewesen war, als sie morgens am Telefon die verängstigte Stimme gehört hatte, mit der Caroline um einen dringenden Termin bat. Hatten sie zu schnell gemacht? Hannah hatte dies mit so vielen Leuten durchlebt, daß sie manchmal vergaß, daß es für jeden Klienten das erste und einzige Mal war.

«Na ja, egal, danke, daß Sie mich kommen ließen.» Caroline hatte den Telefonhörer heute morgen ans Ohr gehalten wie eine Pistole an ihre Schläfe. Es war ihre letzte Rettung.

«Sie können zurückkommen, wann Sie wollen.» Hannah betrachtete sie, um herauszufinden, ob es das war, was Caroline hören mußte, oder ob es ein echtes Problem gab. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen und den gleichen verbissenen Mund und die gequält zusammengekniffenen Augen wie damals, als Hannah sie das erste Mal sah. Sie kam ins Sprechzimmer geschlichen, plumpste auf die Couch wie ein geprügelter Hund und bemerkte nicht einmal den Schal, der über der Couch hing.

«Sie sehen ziemlich schlecht aus», sagte Hannah. «Was ist los?»

Caroline seufzte. «Ich bin drei Wochen lang ganz toll zurechtgekommen. Habe mich wohl gefühlt. Konnte mit allem, was kam, gut umgehen. Aber vor ein paar Tagen bin ich zusammengeklappt. Schließlich habe ich beschlossen, Sie anzurufen, weil ich zu einem zweiwöchigen Kurs nach Boston muß, und ich kann mir nicht vorstellen, wie ich das machen soll, wenn ich mich so fühle.»

«Wenn Sie sich wie fühlen?»

Caroline rieb ihren Nasenrücken. «Ich habe maßlos Angst.»

«Wovor?»

Caroline versuchte zu entscheiden, welches Etikett sie dem nagenden Gefühl in ihrem Magen diesmal geben sollte. «Davor, die Jungen allein zu lassen.»

«Bei wem lassen Sie sie?»

«Bei Diana.»

367

«Hat sie das schon mal gemacht?»

«Oft. Es ist immer gutgegangen.» Diana war wie eine zweite Mutter für die Jungen, genau wie sie selbst das für Sharon war. Gleichgültig, was sonst zwischen ihr und Diana ablief, das wurde nie in Zweifel gezogen.

«Ist Ihre Beziehung schlecht?»

«Nein. Alles ist in bester Ordnung. Seit wir einander völlig aufgegeben haben, kommen wir großartig miteinander aus.»

Hannah lächelte. «Was ist also das Problem?»

«Das klingt bestimmt gesponnen, aber Sie sind das ja bei mir gewöhnt.»

Hannah schüttelte energisch den Kopf. «Machen Sie sich hier nicht schlecht.»

«Ja, okay. Also, ich habe letzte Woche in der Zeitung über diesen Widerling in Vermont gelesen, der einen achtjährigen Jungen vergewaltigt und umgebracht hat. Sie haben ihn noch nicht gefaßt, und ich denke dauernd, er taucht bei unserem Haus auf und tut Jackie oder Jason etwas an. Oder er entführt sie, wenn sie von der Schule nach Hause gehen. Gestern nacht habe ich geträumt, eine ganze Wagenladung von Männern hätte die Haustür aufgebrochen und die Kinder gefoltert.»

«Ich finde das überhaupt nicht gesponnen», sagte Hannah. «Die meisten Mütter sind nervös, wenn sie von ihren Kindern weggehen. Das ist vollkommen normal. Das hat die Menschheit über all die Jahrtausende am Leben erhalten. Aber wenn Sie erst mal unterwegs sind und nicht mehr die verantwortliche Erwachsene, geht es Ihnen wahrscheinlich gut.» Nach Monas und Nigels Tod war es ihr jahrelang unmöglich gewesen, Simon und Joanna allein zu lassen, und sie hatte Ferien mit Arthur quer durch die Karibik abgelehnt.

«Ich nehme an, meine Phantasie ist zu lebhaft. Ich kann mir die ganze Szene mit dem kleinen Jungen in allen scheußlichen Details vorstellen. Und ich werde so … wütend.»

Hannah spürte, wie die Spannung im Raum stieg. «Das ist verständlich. Es war furchtbar. Ich habe auch darüber gelesen. In Gedanken habe ich diesen Scheißkerl umgebracht, langsam und schmerzlich.» Eigentlich hatte sie ihn erst kastriert, dann umgebracht. Das Wichtige zuerst.

«Ich habe gedacht, wenn kleine Kinder sich nicht auf Erwachsene verlassen können, auf wen können sie sich dann verlassen?»

368

«Haben Sie gehört, was Sie gerade gesagt haben? Erinnern Sie sich, was Sie in unserer ersten Sitzung gesagt haben, als ich Sie gefragt habe, was die schmerzlichste Erfahrung sei, die Sie in der letzten Zeit gemacht hätten?»

Caroline versuchte mühsam, sich zu erinnern.

«Sie haben gesagt, die Sache mit Jim Jones.»

«Wie können Sie sich daran erinnern, wenn ich es nicht mehr weiß?»

«Das ist mein Beruf. Sie sollten sich statt dessen fragen, was Sie hindert, sich zu erinnern. Jedenfalls haben Sie darüber gesprochen, wie seine Anhänger ihn anbeteten und ihn Daddy nannten, und daß er sie dann einfach umgebracht hat. Verrat durch Elternfiguren ist die ganze Zeit über eines Ihrer Themen gewesen, nicht wahr? Vati zog in den Krieg, und Mama ging mit Depressionen ins Bett. Marsha starb. Arlene nahm sich eine neue Schülerin. Und was ist gerade zwischen Ihnen und mir passiert?»

Caroline sah gequält und verwirrt aus, während sie den Bezug der Tweedcouch mit den Fingerspitzen rieb.

«Ich habe Sie nicht verraten. Aber wir haben unsere therapeutische Beziehung beendet. Das kann sich wie Verrat anfühlen.»

Caroline runzelte die Stirn.

«Aber wer entscheidet diesmal über das Weggehen?» Hannah schüttelte eine Zigarette aus einer Packung More.

«Ich», sagte Caroline.

«Und wer hat in Wahrheit immer zumindest die halbe Entscheidung getroffen?» Sie steckte die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie an.

Caroline runzelte wieder die Stirn.

«Der schmerzliche Teil des Wachsens ist die Notwendigkeit, das hinter sich zu lassen, woraus man herausgewachsen ist.» Simon und Joanna hatten alles versucht, um ihr Bedürfnis, auszuziehen, als Hannahs Schuld hinzustellen. Sie warfen ihr an einem Tag vor, sie sei ein erdrückender Hans Dampf. Am nächsten Tag, sie sei eine abweisende Hexe. Hannah beobachtete ihre wechselnden Einschätzungen mit einer Faszination, die die beiden bis aufs Blut reizte. Aber Nigel und Mona waren so abrupt weggegangen. Dieser endlose Unsinn mit Simon und Joanna war ein echter Luxus.

«Sie machen es zu kompliziert», sagte Caroline. «Ich muß nach 369Boston, und ich habe wahnsinnige Angst, daß irgendein Psychopath meine Söhne umbringt. So einfach ist das.»

Hannah zuckte mit den Schultern. Kaum etwas war so einfach. «Na ja, es ist sicherlich eine begründete Angst, angesichts der Welt, in der wir leben. Ob Sie wollen, daß eine begründete Angst Sie handlungsunfähig macht, das ist eine andere Frage.» Sie blickte zu dem Schal über Carolines Kopf, auf die vielen Lila-, Rot- und Orangeschattierungen, die ineinander übergingen. Schwer zu glauben, daß die talentierte Frau, die diesen Schal gewoben hatte, dieselbe Frau war, die jetzt auf Hannahs Couch saß und vor Angst zitterte. Vermutlich waren die beiden Frauen nicht dieselben. Diese Caroline hier war eine Schwindlerin. Hannah mußte sie loswerden, damit die wirkliche Caroline zurückkommen konnte.

«Was ich möchte», sagte Caroline und rieb sich den Nasenrücken, «ist, nicht in einer Welt zu leben, in der Verrückte die Kinder umbringen, für die sie eigentlich sorgen sollten.»

Während sie ihre Zigarette an Nigels Stein abklopfte, schüttelte Hannah den Kopf. Caroline war gerade wieder kosmisch geworden. Es sah aus, als sei es an der Zeit, hart zu werden: «Na ja, meine liebe Freundin, es ist Ihnen jetzt lange ziemlich gut gegangen. Ich würde sagen, Sie suchen nach einer Ausrede, damit es Ihnen wieder schlechtgehen kann.» Sie hielt inne, beunruhigt durch ihre Worte. Caroline könnte sich ärgern und dadurch ihre zunehmenden Depressionen abschütteln, oder sie könnte hinausstürmen und sich umbringen. Hannah versuchte mühsam, ihre Fassung zu bewahren, und wartete, welche furchtbaren Sachen sie sich selbst als nächstes sagen hören würde. «Sehen Sie, um diese Welt zu begreifen, brauchen Sie Vertrauen und Demut. Und ich bin nicht sicher, ob Sie auch nur eines davon haben.» Päng, dachte Hannah und schaute Caroline aufmerksam an.

Caroline betrachtete Hannah böse und mit zusammengekniffenen Augen. Was hatte diese Frau für Vorstellungen? Caroline kam in einer Krise – zu ihrer Therapeutin, zu ihrer potentiellen Freundin -, und Hannah schlug ihr ins Gesicht. Das war es, was man von den Leuten zu erwarten hatte. Sie ließen dich letztlich alle im Stich. Sie hätte wissen müssen, daß Hannah sich schließlich gegen sie wenden würde, wie alle anderen auch …

Der gesunde Teil ihrer selbst, der Teil, der während der vergangenen Monate aufgedeckt und gestärkt worden war, hörte diesen 370Gedanken zu und erkannte in ihnen das Muster, so abstoßend wie die Essensreste von letztem Jahr, die in einem weggeworfenen Kühlschrank vor sich hin faulen. Hannah hatte gerade die Verantwortung für Carolines Zustand genau dahin verwiesen, wo sie hingehörte – zu Caroline. Wenn sie sich besser fühlen wollte, dann sollte sie sich daranmachen, sich besser zu fühlen. Denn sie wußte jetzt, wie das ging. Sonst sollte sie den Mund halten, es genießen, daß es ihr schlechtging, und nicht länger Hannahs Zeit verschwenden.

Hannah sah, wie sich Carolines Gesicht verzog, wie sie mit sich kämpfte. Carolines Augen ruhten auf der Steinvenus. Vielleicht würde Caroline ihr die Statue an den Kopf werfen. Das hatte noch niemand versucht. Hannah war entschlossen, eine eindeutige Reaktion zu provozieren: «Niemand hat je gesagt, das Leben sei einfach.»

Hannah sah zu ihrer Überraschung, wie sich ein kleines Lächeln auf Carolines angespanntem Gesicht ausbreitete, wie die Sonne, die durch die aufgetürmten Gewitterwolken blinzelt. «Was ist so komisch?» Hannah merkte, daß sie ebenfalls mit einem Lächeln reagierte. Die wirkliche Caroline war soeben aus dem Trübsinn zurückgekehrt. Die Verspanntheit um Mund und Augen lockerte sich ein bißchen.

«Ich versuche, nicht zu sagen: ‹Ich habe dir nie einen Rosengarten versprochen›», sagte Caroline.

«Vergeblich, was?»

Caroline lachte. «Wissen Sie, ich habe immer gedacht, es ginge darum, einen permanenten Zustand der Ruhe zu erreichen.»

«Nirwana oder so etwas?» Selbst Carolines Stimme klang anders als noch vor einem Augenblick.

«Genau, aber das ist es nicht. Es ist eher wie Surfen lernen. Die Wellen kommen dauernd angerollt, jede ist anders als die vorhergehende, und man muß auf ihnen reiten, anstatt sich von ihnen zerschmettern zu lassen.»

«So sehe ich das auch.»

«Gut. Dann muß es ja stimmen.»

«Überlegen Sie gut, bevor Sie antworten», sagte Hannah. «Was ist die nächste Frage, die ich stellen werde?»

Caroline runzelte die Stirn, während sie diese Sitzung und vorhergegangene Sitzungen noch einmal durchging. «Sie wollen wissen, 371ob ich je versucht habe, wieder nach Hause zu gehen, nachdem ich einmal weg war.»

«Sie erhalten hiermit Ihr Juniorenabzeichen als Therapeutin.»

«Junioren?»

«Übertreiben Sie nicht gleich, oder ich lehne Sie ab. Wie lautet also die Antwort?»

«Ich habe gerade versucht, mich zu erinnern. In einer Nacht war ich für die Unfallstation zuständig. Ich hatte wahnsinnig Angst. Arlene hatte mich gerade sitzenlassen, und ich hatte das Gefühl, als hätte ich mein Zauberamulett verloren. Da war ich nun, verantwortlich für all die potentiellen Krisen. Ein fünfjähriges Mädchen wurde eingeliefert, mit Hirnhautentzündung oder so etwas. Sie starb in meinen Armen, in der Morgendämmerung, ehe der Arzt, der Dienst hatte, kommen konnte. Ich weiß immer noch nicht, wieweit es meine Schuld war. Wenn überhaupt. Ich glaube, ich hatte einen Nervenzusammenbruch. Hörte auf zu arbeiten, hörte auf zu essen und zu schlafen, lag den ganzen Tag in meiner Wohnung, bei heruntergelassenen Jalousien, und hörte in den Nachrichten von den Gettos, die überall im Land in Flammen aufgingen. Ich bekam einen Ausschlag am ganzen Körper. Ich rief meinen Vater an und sagte, ich wollte wieder nach Hause kommen. Er sagte nein, weil ich schon ein halbes Jahr Miete für meine Wohnung bezahlt hatte. Ich rief meine Mutter an, und sie sagte, mein Vater wisse das am besten. Dann ging sie mit einer Depression ins Bett.»

«Arlene hat Sie also im Stich gelassen. Dann haben Sie dieses Kind im Stich gelassen. Dann haben Ihre Eltern Sie im Stich gelassen. Erwachsene, die Kinder im Stich lassen. Sehen Sie, wie das mit der Jim Jones-Sache zusammenhängt? Und mit Ihrer Angst, Ihre Söhne allein zu lassen? Sie allein zu lassen ruft bei Ihnen Ihre eigene Angst hervor, allein gelassen zu werden.»

Caroline nickte zweifelnd.

«Als Sie ein kleines Kind waren», sagte Hannah, «zog Vati in den Krieg, und Mama zog sich in Angstzustände und Depressionen zurück. Und ließen Sie allein mit dem Gefühl, unbeschützt in einer bedrohlichen Welt zu leben. Mit dem Gefühl, daß Sie irgendwie schuld an all diesen Katastrophen seien. Und in dieser Atmosphäre haben Sie seither immer gelebt. Aber, Caroline …» Hannah schaute sie eindringlich an. «Das ist alles. Es ist jetzt vorüber. Sie 372sind kein hilfloses kleines Kind mehr. Sie sind eine starke, kompetente Frau, die sich selbst verteidigen und beschützen kann.»

Sie saßen schweigend da. Caroline blickte über den Parkplatz, umgeben von kleinen Dünen aus Sand, der im Winter auf das Eis gestreut worden war. Während ihrer Monate hier hatte sich an der Oberfläche nicht viel verändert, aber darunter war alles anders. Sie schaute zu der Luftaufnahme über dem Bücherregal und entdeckte mühelos den verhüllten Kopf von der Kuhweide. Welche Überraschung, daß man den Inhalt seines Kopfes umstellen konnte wie Möbel in einem Zimmer.

«Was haben Sie also heute herausgefunden?» fragte Hannah.

«Daß ich nach Hause gehen kann zu Mama, wenn ich will.»

«Ja. Gut. Und?»

Ein Lächeln kehrte auf Carolines Gesicht zurück. «Jetzt, da ich weiß, daß ich es kann, will ich es nicht.»

«Wie fühlen Sie sich?»

«Großartig.» Caroline stand auf. «Ich kann es nicht glauben. Es geht mir gut.»

«Ehrlich?» Hannah konnte es auch nicht glauben.

«Sie machen gute Arbeit.» Caroline streckte sich genüßlich und spürte, wie sich ihr Körper das erste Mal seit Tagen entspannte.

«Ich glaube, ja.» Hannah betrachtete Caroline voll Erstaunen. Sie wußte nie genau, was passieren würde. Diese ganze Sitzung war unerwartet, aber richtig. Caroline hatte gerade eine komplette Wendung vollzogen.

Caroline mußte noch einmal hinschauen, als ihre Augen den Schal an der weißen Wand über der Couch wahrnahm. «Er sieht gut aus hier», sagte sie mit einem zufriedenen Lächeln.

«Nicht wahr? Ich habe schon viele Komplimente deswegen bekommen.»

«Danke.»

«Danke Ihnen. Wann fahren Sie also nach Boston?»

«Übermorgen.»

«Und was für ein Kurs ist das?»

«Habe ich Ihnen das nicht erzählt? Ich habe mich in die Entbindungsstation versetzen lassen. Es ist ein Auffrisch-Kurs.»

«Das macht bestimmt Spaß.»

«Ich arbeite nur zwei Stockwerke über der Unfallstation, aber es ist wie eine andere Welt. Alle Leute sind so glücklich.»

373

«Glauben Sie, daß Sie damit umgehen können?»

Caroline lachte. «Es ist anstrengend, aber ich lerne das schon. Ich habe gerade noch ein anderes Angebot bekommen, ich kann also jederzeit aufhören.»

«Ach ja? Was für ein Job?»

«Meine alte Weblehrerin aus Boston hat geschrieben und mich gebeten, an ihrer Kunsthandwerkschule zu unterrichten.»

«Wie schön.»

«Ja, das stimmt. Aber ich mag Lake Glass.»

Hannah nickte und versuchte der Frage, wo Caroline die nächsten Jahre verbringen würde, neutral gegenüberzustehen. «Wohnen Sie in Boston bei Ihren Eltern?»

Caroline nickte.

«Wie ist das?»

«Gut, glaube ich. Es ist interessant, herauszufinden, ob ich mich in ihrer Gegenwart wie eine Erwachsene benehmen kann, wo ich jetzt schon fast im mittleren Alter bin.»

An der Tür hielt Caroline inne. Würde Hannah sich noch mit ihr zum Mittagessen treffen wollen, oder war sie gerade beim Freundschaftstest durchgefallen? Sie schaute Hannah an, deren blaue Augen durch einen blauen Rollkragenpullover noch unterstrichen wurden. Caroline wollte die Möglichkeit haben, die Frau hinter all den Rollen kennenzulernen, die Caroline ihr zugeschoben hatte. Aber sie hatte es wahrscheinlich vermasselt, indem sie hier völlig aufgelöst angekrochen kam. Sie merkte, daß das Muster wieder daherkam. Nur weil sie um Hilfe gebeten hatte, war sie noch lange nicht zu einer abstoßenden Kröte geworden.

«Ich möchte darauf hinweisen», sagte Hannah von ihrem Stuhl, «daß Sie aufgestanden sind und zur Tür hinausgehen, ehe Ihre Stunde abgelaufen ist. Ich würde also gerne noch einmal fragen, wer über das Weggehen entscheidet.»

Caroline hielt inne, die Klinke in der Hand. Sie drehte sich um und schaute Hannah mit einem schiefen Lächeln an. «Ein bißchen mehr Übung, und ich kann es im Schlaf.»

Hannah grinste. «Warum rufen Sie mich nicht in ein paar Monaten an?» Sie fragte sich, wer Caroline dann sein würde, da sie es jetzt aufgab, zu versuchen, so zu sein, wie andere Leute sie ihrer Meinung nach gerne haben wollten.

«Das werde ich. Aber zum Mittagessen oder zu einer Sitzung?»

374

«Wir können das eine oder das andere machen. Aber ich kann nicht beides gleichzeitig tun. Sie müssen also entscheiden, was.»

«Mittagessen», sagte Caroline zögernd. Mittagessen war der Punkt ohne Wiederkehr, aber was war, wenn sie wiederkehren mußte?

«Gut, in Ordnung», sagte Hannah resigniert. Das letzte auf der Welt, was sie wollte, war noch jemand, den sie vermissen konnte. Aber das wäre, wie wenn man aus Angst vor einem Kater nicht trinken würde. Und sie hatte noch nie zu den Leuten gehört, die einen Martini ablehnten. Sie stand auf und schlüpfte in ihre Schuhe.

Sie gingen zusammen nach draußen. Der See breitete sich unter ihnen aus, eine sanft zinnfarbene Fläche unter dem bedeckten Himmel. Das ganze Eis war geschmolzen. Der Sommer kam. Sie hörten ein Geschrei in den Bäumen am Rande des Hofes. Als sie nach oben blickten, sahen sie, daß die Zweige mit ihren prallen Knospen dicht besetzt waren mit zwitschernden gelben Gimpeln, eben zurückgekehrt aus südlicheren Ländern, die ihre eleganten Masken zur Schau trugen wie Nachtschwärmer, die gerade von einem karibischen Karneval zurückkommen.

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